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Autoren: Kunczik, Michael / Zipfel, Astrid.<br />

Titel: Wirkungen von Gewaltdarstellungen.<br />

http:/ /www.mediaculture- <strong>online</strong>.de<br />

Quelle: Walter Klingler/Gunnar Roters/Oliver Zöllner (Hrsg.): Fernsehforschung<br />

in Deutschland: Themen - Akteure - Methoden. SWR Schriftenreihe,<br />

Medienforschung Bd. 1. Baden- Baden 1998. S. 561- 577.<br />

Verlag: Nomos Verlagsgesellschaft.<br />

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren.<br />

Michael Kunczik /Astrid Zipfel.<br />

Wirkungen von Gewaltdarstellungen.<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

1. Zur Aktualität des Themas.......................................................................................1<br />

2. Zur Einschätzung des Forschungsstandes.............................................................4<br />

3. Ausgewählte Thesen zur Wirkung von Gewaltdarstellungen..............................7<br />

4. Lerntheoretische Überlegungen............................................................................11<br />

5. Problemgruppenanalyse.........................................................................................16<br />

6. Ausblick .....................................................................................................................20<br />

1. Zur Aktualität des Themas<br />

Die Thematik "Medien und Gewalt“ 1 ist auch heute noch von großer Aktualität. 2<br />

Obwohl es keinen Bereich der Medienwirkungsforschung gibt, zu dem mehr<br />

1 Unter personaler Gewalt (Aggression) wird im folgenden die beabsichtigte physische und/oder<br />

psychische Schädigung einer Person, von Lebewesen und Sachen durch eine andere Person<br />

verstanden.<br />

2 Eine zusammenfassende Diskussion der Medien- und- Gewalt- Forschung gibt: Kunczik, M.:<br />

Medien und Gewalt. Köln, Weimar, Wien, 1996.<br />

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Studien vorliegen, ist die Publikationsflut ungebrochen. 3 Schätzungen gehen von<br />

inzwischen über 5.000 Studien zur Gewaltthematik aus, wobei die Quantität der<br />

Veröffentlichungen allerdings wenig über die Qualität der Forschungsergebnisse<br />

aussagt, auf deren Defizite noch näher eingegangen wird.<br />

Nicht nur die Wissenschaft, auch die Politik befaßt sich immer wieder mit dein<br />

Problem der Mediengewalt. So unterzeichnete Präsident Bill Clinton im Februar<br />

1996 ein neues Mediengesetz (Telecommunications Reform Act), demzufolge in<br />

zwei Jahren jedes neue Fernsehgerät mit einem sogenannte V- Chip (Violence-<br />

Chip) ausgestattet sein muß. Mit Hilfe dieses V- Chips sollen Kinder vor dem<br />

Konsum von Gewalt, Sex und vulgärer Sprache geschützt werden. Clinton, der<br />

sich für diese Regelung stark engagiert hat, 4 führte aus, der Chip sei "designed to<br />

strengthen families in their abilities to protect their children from televised<br />

violence and other inappropriate programs as they determine" 5 .<br />

Angesichts der Alternative, daß die Regierung ein Bewertungssystem entwickelt,<br />

entschied sich die Fernsehindustrie dafür, selbst ein Klassifikationsschema (zum<br />

Beispiel nach Alter, Ausmaß von Gewalt und so weiter) für ihre Programme zu<br />

erarbeiten. Nachrichtensendungen und Sportübertragungen sollen von der<br />

Codierung zunächst ausgenommen bleiben. 6 Ted Turner kommentierte die<br />

3 Als jüngste Veröffentlichungen sind zu nennen: Felson, R. B.: Massmedia effects on violent<br />

behavior. In: Annual Review of Sociology, 22 (1996); Schooler, S./J. A. Flora: Pervasive media<br />

violence. In: Annual Review of Public Health, 17 (1996); Friedrichsen, M./G. Vowe (Hg.):<br />

Gewaltdarstellungen in den Medien. Opladen 1995; Fischer, H.- D./J. Niemann/O. Stodiek: 100<br />

Jahre Medien- Gewalt- Diskussion in Deutschland. Synopse und Bibliographie einer zyklischen<br />

Entrüstung. Frankfurt am Main 1996; Bundesministerium des Innern (Hg.): Medien und Gewalt.<br />

Bonn. 1996; Charlton M. et al.: Zugänge zur Mediengewalt. Untersuchungen zu individuellen<br />

Strategien der Rezeption von Gewaltdarstellungen im frühen Jugendalter. Villingen-<br />

Schwenningen 1996; National Television Violence Study. Vol. 1. Thousand Oaks, London. New<br />

Delhi 1997 und Kleiter, E. F.: Film und Aggression - Aggressionspsychologie. Theorie und<br />

empirische Ergebnisse mit einem Beitrag, zur Allgemeinen Aggressionspsychologie. Weinheim<br />

1997.<br />

4 Gegenüber Newsweek äußerte er: "l did fight hard for the V- Chip." („I fought for the V- Chip. In<br />

an exclusive interview, President Clinton talks tube". In: Newsweek, March 11, 1996, S. 46).<br />

5 Rede Clintons bei der Unterzeichnung des Gesetzes, abgedruckt in: Information USA<br />

NewsIetter, 1, 1996, S. 2 ("Clinton calls new telecom act ‚truly revolutionary‘: Remarks at signing<br />

of reform measure").<br />

6 Vgl. Lueken, V: Der kleine Schutzengel. Ein Mikrochip soll Amerikas Kinder vor Femsehgewalt<br />

schützen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. April 1996, S. 33.<br />

2


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Regelung mit den Worten: "Were voluntarily having to comply". 7 Angesichts der<br />

großen Menge der täglich ausgestrahlten Fernsehstunden (zur Zeit circa 1.640<br />

Stunden in über 70 Kanäle), 8 stellt sich allerdings die Frage, ob sich die geplanten<br />

Maßnahmen tatsächlich erfolgreich umsetzen lassen. Außerdem ergeben sich<br />

Probleme hinsichtlich der Bewertungskriterien der Programme sowie der<br />

zugrundeliegenden Gewaltdefinition.<br />

Im Zusammenhang mit der Einführung des V- Chips äußerte Clinton bei der<br />

Unterzeichnung des Gesetzes am 8. Februar 1996: "A comprehensive study<br />

released just yesterday confirms what every parent knows; televised violonce is<br />

pervasive and numbing, and if exposed constantly to it, young people can<br />

develop a numbing, lasting, corrosive reaction to it." 9 Hier scheint der Präsident,<br />

wie bei Politikern nicht unüblich, sich selbst zum Wirkungsexperten zu ernennen,<br />

Die erwähnte Studie, die im Auftrag der "National Cable Television Association-<br />

an vier Universitäten durchgeführt wird, ist auf drei Jahre angelegt (Beginn: Juni<br />

1994). Das Projekt umfaßt eine Inhaltsanalyse fiktionaler und realer<br />

Fernsehsendungen, eine Untersuchung der Gewalteinstufungen (violence ratings)<br />

und der im Fernsehen gegebenen Empfehlungen und deren Wirkung auf die<br />

Sehentscheidung von Eltern und Kindern. Zudem wird die Effektivität von Anti-<br />

Gewalt- Botschaften und Erziehungsinitiativen analysiert, die von der<br />

Fernsehindustrie ausgehen. 10<br />

7 Zitiert in: "Blocking the Box". In: Newsweek, March 11, 1996, S. 44.<br />

8 Vgl. Lueken, V., a.a.O.<br />

9 Clinton calls new telecom act ‚truly revolutionary', a.a.O., S. 2.<br />

10 Anfang 1996 wurden die Resultate des ersten Jahres der Untersuchung veröffentlicht. Die<br />

wichtigsten Ergebnisse der Inhaltsanalyse sind dabei folgende: 57 Prozent der Programme<br />

enthielten Gewalt, wobei zwei Drittel der Gewalt verhaltensmäßige Aggression beinhaltete; ein<br />

Drittel der Gewalt bestand aus glaubwürdigen Drohungen. Die Gewalt ausübenden Personen<br />

waren überwiegend männliche, weiße Erwachsene, die eher als schlecht denn als gut<br />

charakterisiert wurden und typischerweise keine "Helden" waren. Die Gewaltempfänger waren<br />

ähnlich charakterisiert. Die Hauptmotive für Aggression waren persönliche Vorteile, Wut/Ärger<br />

sowie Schutz. Etwa die Hälfte der Gewaltakte wurden als gerechtfertigt gezeigt. Schußwaffen<br />

wurden in einem Viertel der Gewaltakte eingesetzt. Gewalt wurde überwiegend nicht in "closeup<br />

shots" gezeigt. Blut und Wunden wurden selten gezeigt. Zur Realitätsnähe der Gewalt wurde<br />

festgehalten: "Very little of TV violence is based on actual events in the real world, bot most<br />

events seem fairly realistic in that they could happen in real life." (National Television Violence<br />

Study, a.a.O., S. 137). Aus lerntheoretischer Warte ist der Befund wichtig, daß Gewalt nicht sofort<br />

3


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Die Diskussion um den V- Chip nimmt mittlerweile auch in Europa konkrete<br />

Gestalt an. Am 30. Juli 1997 ist die veränderte europäische Fernsehrichtlinie in<br />

Kraft getreten. Danach ist vorgesehen, daß die Kommission binnen eines Jahres<br />

eine Untersuchung durchführt, in der unter anderem geprüft wird, ob die<br />

Vorschrift, neue Fernsehgeräte mit einer technischen Vorrichtung wie dem V-<br />

Chip auszustatten, zweckmäßig ist und die sich mit der Festlegung geeigneter<br />

Bewertungssysteme befaßt. Zudem legt die Fernsehrichtlinie fest, daß<br />

unverschlüsselte Programme, die die Entwicklung Minderjähriger beeinträchtigen<br />

können, durch akustische Zeichen anzukündigen oder durch optische Mittel<br />

kenntlich zu machen sind. 11<br />

Erwähnenswert ist in diesem Kontext auch die Tatsache, daß die internationale<br />

Diskussion zur Wirkung von Mediengewalt inzwischen von der UNESCO<br />

aufgegriffen worden ist. 1997 wurde eine. internationale Clearingstelle 12 für die<br />

Thematik "Kinder und Gewalt auf dem Bildschirm" gegründet. 13 Das Ziel ist die<br />

Sammlung und Verbreitung von Informationen über Forschungsergebnisse zum<br />

"Thema Kinder und Mediengewalt", den Zugang von Kindern zu Massenmedien<br />

und ihre Mediennutzung, Ausbildungsmöglichkeiten im Bereich Kinder und<br />

Medien, positive Alternativen zu Mediengewalt sowie Maßnahmen und Aktivitäten<br />

zur Begrenzung unnötiger Gewalt in Fernsehen, Filmen und interaktiven<br />

Medien. 14<br />

bestraft wurde, sondern erst am Ende des Programms - und zwar nur für die schlechten<br />

Charaktere. Die "good guys", die Gewalt ausüben, wurden in der Regel nicht bestraft.<br />

Gewalttätige Protagonisten hatten keine Gewissensbisse. In ungefähr der Hälfte der Gewaltakte<br />

wurde kein Leiden des Opfers gezeigt. In etwa einem Drittel der violenten Programme wurden<br />

keine negativen Konsequenzen von Gewalt gezeigt. Etwa 40 Prozent der violenten Szenen waren<br />

humorvoll. Lediglich vier Prozent der Programme mit Gewalt enthielten eine starke Anti- Gewalt-<br />

Botschaft.<br />

11 Vgl. den am 30. Juni 1997 vom Europäischen Parlament und dem Rat unterzeichnete Richtlinie<br />

97/36 EG zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Rates über die Koordinierung<br />

bestimmter Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der<br />

Fernsehtätigkeit ("Fernsehrichtlinie").<br />

12 UNESCO International Clearinghouse on Children and Violence on the Screen at the Nordic<br />

Information Center for Media and Communication Research (Nordicom, Göteborg University).<br />

13 Vgl. IRIS - Rechtliche Rundschau der europäischen audiovisuellen Informationsstelle, 3 (1997),<br />

H. 6. S.12.<br />

4


2. Zur Einschätzung des Forschungsstandes<br />

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In der Forschung besteht weitgehend Konsens, daß durchaus eine negative<br />

Wirkung von Gewaltdarstellungen anzunehmen ist, zumindest was bestimmte<br />

Individuen und Problemgruppen angeht. Gleichwohl ist davor zu warnen, daß das<br />

Kind voreilig mit dem Bade ausgeschüttet wird, die legitimen Rechte des<br />

Zuschauers auf spannende Unterhaltung, die auch Gewalt und Horror umfaßt,<br />

mißachtet werden und schließlich Zensur ausgeübt wird, die immer die Neigung<br />

in sich trägt, letztlich auch Informationssendungen einzuschließen.<br />

Hinsichtlich der Qualität der Forschung gilt noch immer ein Resümee, das die<br />

DFG- Kommission .“Wirkungsforschung“ im Jahre 1986 gezogen hat: Man wisse<br />

zuwenig über den Zusammenhang zwischen Massenkommunikation und<br />

Gesellschaft, über die Wirkungsgesetze der Medien. 15 Ferner wurde konstatiert,<br />

daß die vorliegenden Forschungsarbeiten zwar thematisch vielfältig, aber<br />

zugleich auch disparat wären. Oft gebe es zu einem bestimmten Problem nur<br />

eine einzige Studie. Anschlußuntersuchungen, Replikationen oder<br />

Falsifikationsversuche seien die Ausnahme. Dadurch entstehe der Eindruck von<br />

bruchstückhaften, zerstückelten Befunden, zwischen denen kein Zusammenhang<br />

bestehe, die einander sogar widersprechen würden. Bei einer solchen Datenlage<br />

sei an eine theoretische Integration der vielen Einzelergebnisse nicht zu denken.<br />

14 Gleichzeitig zu dieser Entwicklung ist hinsichtlich des Schutzes der Kinder vor Mediengewalt<br />

allerdings in Dänemark ein vollkommen entgegengesetzter Trend zu beobachten. Die dänische<br />

Kulturministerin Jytte Hilden schlug im Frühjahr 1996 vor, alle Altersbegrenzungen für Kinofilme<br />

ersatzlos abzuschaffen. Ihre Forderung begründet sie damit, daß die dänischen Eltern so<br />

gebildet und vernünftig seien, daß sie wüßten, was sie ihren Kindern zumuten könnten.<br />

Außerdem hielten sich die Kinder aus eigenem Antrieb von allzu brutalen oder<br />

pornographischen Filmen fern. Vgl. Schümer, D.: Kinder vor Kettensägen. Dänemark will die<br />

Altersbegrenzung im Kino abschaffen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Mai 1996.<br />

Der Verfasser bezeichnet als unausgesprochenes Hauptargument für die Liberalisierung die<br />

Tatsache, daß Videofilme den Kindern die Möglichkeit geben, zu Hause das zu schauen, was im<br />

Kino verboten ist.<br />

15 Vgl. DFG - Deutsche Forschungsgemeinschaft: Medienwirkungsforschung in der<br />

Bundesrepublik Deutschland. Weinheim 1986.<br />

5


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Die Forderung nach der einen Theorie der Medienwirkung sei nicht erfüllbar, weil<br />

die Medien und ihre Inhalte viel zu verschieden wären. Auch seien die<br />

Randbedingungen, unter denen die Medien wirkten, viel zu komplex, als daß es<br />

möglich wäre, sie in einem konsistenten Satz von Hypothesen<br />

zusammenzufassen. Von der Kommission werden deshalb Bemühungen um<br />

Wirkungstheorien geringer oder mittlerer Reichweite gefordert; angemahnt<br />

werden in diesem Kontext auch Theorien zur Wirkung von Gewaltdarstellungen.<br />

Ein Musterbeispiel für die verworrene Forschungslage ist der Forschungsbericht<br />

„Television and Behavior", in dem im Jahre 1982 die amerikanische<br />

Wirkungsforschung der zehn davorliegenden Jahre zusammenfassend gewürdigt<br />

wurde (U.S. Department of Health and Human Services). Auf Seite 89 ist innerhalb<br />

eines einzigen Absatzes zu lesen, daß die jüngsten Forschungsergebnisse die<br />

früheren Befunde bestätigen würden, wonach zwischen Fernsehgewalt und<br />

späterer Aggressivität eine Kausalbeziehung bestehe. Wenige Zeilen später steht,<br />

bislang habe keine einzige Studie den eindeutigen Nachweis dafür erbracht, daß<br />

der Konsum von Fernsehgewalt zu späterer Aggressivität führe.<br />

Auch sogenannte Meta- Analysen , bei denen versucht wird, die zu einem<br />

bestimmten Untersuchungsgegenstand vorliegenden Studien einer statistischen<br />

Reanalyse zu unterziehen, reflektieren den desolaten Forschungsstand. Es ist<br />

bislang nicht gelungen, die zur Problematik "Medien und Gewalt“ vorliegenden<br />

Studien in ihrer Aussagekraft zu bündeln. 16 Bereits eine Analyse der zum<br />

speziellen Forschungsbereich "Habitualisierung durch Mediengewalt"<br />

vorliegenden Befunde zeigt, daß die in den Studien erhaltenen Ergebnisse<br />

bruchstückhaft, zusammenhanglos und widersprüchlich sind. 17 Auch die von<br />

Haejung Paik und George Comstock 18 durchgeführte Meta- Analyse, 19 die eine<br />

16 Vgl. Kunczik, M.: Medien und Gewalt, a.a.O., S. 136 f.<br />

17 Vgl. Fröhlich, W./M. Kunczik/G. Vossel/W. Bleh/R. Streit: Habituation an Mediengewalt - Eine<br />

Meta- Analyse. Unveröffentlichter Forschungsbericht, Mainz 1993.<br />

18 Vgl. Paik. H./G. Comstock: The effects of television violence on antisocial behavior: A<br />

metaanalysis. In: Conununication Research, 2 1 ( 1994).<br />

19 Eine detaillierte Darstellung und Diskussion der Methode der Meta- Analyse sowie der<br />

Unterscheidung in deskriptive und inferenzstatistische Methoden der Meta- Analyse findet sich<br />

in: Fröhlich, W. et al., a.a.O.<br />

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durchaus brauchbare - wenn auch unkritische - Systematisierung der Forschung<br />

darstellt, entspricht nicht den an eine Meta- Analyse gestellten Anforderungen. So<br />

werden etwa im Design einzelner Studien liegende Probleme nicht berücksichtigt<br />

(es sei nur auf das Feldexperiment zur "cognitive support hypothesis" von<br />

Seymour Feshbach und Robert D. Singer 20 sowie die absolut unbegründete<br />

Überinterpretation älterer lerntheoretischer Studien von Albert Bandura, Dorothea<br />

und Sheila A. Ross 21 oder die Datenfehlinterpretationen im Rahmen der<br />

Langfriststudie von Monroe M. Lefkowitz et al 22 verwiesen). Schlechte Studien<br />

werden nun einmal nicht dadurch besser, daß man sie immer wieder zitiert oder<br />

unkritisch einer Meta- Analyse unterzieht.<br />

Ein erhebliches Problem der Medien- und- Gewalt- Forschung besteht in der<br />

mangelnden Weiterentwicklung der Forschungsinstrumente. Dies bestätigt eine<br />

Untersuchung von Mike Friedrichsen und Stefan Jenzowsky über Methoden und<br />

Methodologie ausgewählter Studien der 90er Jahre zum Thema Gewalt in den<br />

Medien. Die Autoren überprüften, ob beziehungsweise inwieweit neuere Studien<br />

aus den Fehlern älterer Untersuchungen gelernt haben und kamen zu dem<br />

enttäuschenden Ergebnis, daß in bezug auf Design und Forschungsmethoden nur<br />

geringe Fortschritte erzielt wurden. 23<br />

Ein gutes Beispiel für die Wiederholung alter Fehler in Form abenteuerlich<br />

anmutender Kausalbeziehungen ist eine Studie von Brandon S. Centerwall 24 , in<br />

der die Einführung des Fernsehens für eine zehn bis 15 Jahre später - nach dem<br />

Heranwachsen der ersten TV- Generation - konstatierte Verdoppelung der<br />

Mordrate verantwortlich gemacht wird. Der Autor versteigt sich gar zur<br />

20 Zur Kritik vgl. Kunczik, M.: Medien und Gewalt, a.a.O., S. 67- 70.<br />

21 Zur Kritik vgl. ebenda, S. 89.<br />

22 Zur Kritik vgl. ebenda, S. 113- 116.<br />

23 Vgl. Friedrichsen, M./S. Jenzowsky: Methoden und Methodologie: Ein Vergleich ausgewählter<br />

Studien der 90er Jahre zur Gewalt in den Medien. In: Friedrichsen, M./G. Vowe (Hg.), a.a.O.<br />

24 Vgl. Centerwall, B. S.: Television and violence. The scale of the problem and where to go from<br />

here. In: Journal of the American Medical Association, 22 (1992) H. 267.<br />

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Quantifizierung der Anzahl von Straftaten, die ohne das Fernsehen hätten<br />

verhindert werden können.<br />

3. Ausgewählte Thesen zur Wirkung von Gewaltdarstellungen<br />

im folgenden soll ein kurzer Überblick über einige zentrale Thesen der Medien-<br />

und Gewaltforschung gegeben werden: 25<br />

Die Katharsisthese , die sich bis auf Aristoteles zurückführen läßt, findet ihre<br />

zweite Quelle in der von Josef Breuer und Sigmund Freud entwickelten<br />

expressiven Psychotherapie oder Katharsistherapie. Hierbei wird Hypnose dazu<br />

verwendet, den Widerstand gegen das Auftreten des Verdrängten zu überwinden<br />

und dadurch das Abreagieren unterdrückter Affekte zu ermöglichen. Anhänger<br />

der Katharsisthese gehen oft von der Existenz eines angeborenen<br />

Aggressiontriebes aus; sie behaupten, durch das dynamische Mitvollziehen von<br />

an fiktiven Modellen beobachteten Gewaltakten in der Phantasie werde die<br />

Bereitschaft des Rezipienten abnehmen, selbst aggressives Verhalten zu zeigen<br />

(Postulat der funktionalen Äquivalenz der Aggressionsformen).<br />

Es gibt mehrere Varianten der Katharsisthese: Zuerst wurde behauptet, jede Form<br />

der Phantasieaggression habe kathartische Effekte. Dann wurde argumentiert, ein<br />

in der Phantasie erfolgendes Mitvollziehen aggressiver Akte reduziere nur dann<br />

Aggression, wenn der Rezipient emotional erregt oder selbst zur Aggression<br />

geneigt sei. Eine dritte Variante legt das Schwergewicht auf inhaltliche Aspekte<br />

und postuliert das Auftreten kathartischer Effekte, wenn Schmerzen und<br />

Verletzungen des oder der Aggressionsopfer(s) in aller Ausführlichkeit gezeigt<br />

würden. Alle drei Formen der Katharsisthese können als empirisch widerlegt<br />

betrachtet werden. Eine durch das Ansehen violenter Medieninhalte bewirkte<br />

Aggresivitätsminderung aufgrund des "Abfließens" des Aggressiontriebs erfolgt<br />

25 Zu einem ausführlicheren Überblick über die Thesen der Medien- und- Gewalt- Forschung und<br />

zu weiteren Thesen vgl. Kunczik, M.: Gewalt und Medien, a.a.O.<br />

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nicht. Inzwischen ist auch Seymour Feshbach, der die Katharsisthese lange Zeit<br />

vertreten hat, von seiner Position abgewichen und wertet die vorliegenden<br />

Befunde neu: "Die Ergebnisse zeigen mir, daß die Bedingungen, unter denen eine<br />

Katharsis auftreten kann, nicht alltäglich sind, während die<br />

aggressionsfördernden Bedingungen sehr viel häufiger vorkommen.“ 26<br />

Allerdings stellte Jürgen Grimm in einer 1993/94 durchgeführten Studie 27 fest,<br />

daß der Konsum von Spielfilmgewalt zumindest kurzfristig eine<br />

Aggressionsminderung bewirken kann. Die reaktive Aggressivität seiner<br />

Probanden, das heißt die Neigung, in verschiedenen sozialen Situationen selbst<br />

mit Gewalt zu reagieren, war nach dem Filmerlebnis vermindert. Dieser Befund<br />

steht jedoch vollkommen isoliert da. Zudem stellte Grimm eine Stimulation von<br />

Aggressionsangst durch die Thematisierung vor Gewalt fest. Die<br />

Aggressionsreduktion kann daher auch mit Hilfe der Inhibitionsthese erklärt<br />

werden, derzufolge beim Rezipienten durch die Beobachtung gewalttätiger<br />

Verhaltensweisen Aggressionsangst ausgelöst wird, die die Bereitschaft<br />

vermindert, selbst aggressiv zu handeln.<br />

Nach der Habitualisierungsthese nimmt durch den ständigen Konsum von<br />

Fernsehgewalt die Sensibilität gegenüber Gewalt ab, die schließlich als normales<br />

Alltagsverhalten betrachtet werden soll. Insbesondere William A. Belson 28 kann in<br />

einer Langzeitstudie keine Belege dafür finden, daß mit dem Ausmaß des<br />

Konsums violenter Sendungen eine Abstumpfung gegenüber Gewalt einhergeht,<br />

Gewalt als geeignetes Konfliktlösungsinstrument angesehen wird und der Glaube<br />

herrscht, Gewalt sei unvermeidlich. Insgesamt gesehen liegen keine Daten vor,<br />

die diese These stützen und eine Veränderung der Persönlichkeitsstrukturen der<br />

Rezipienten dahingehend belegen, daß sich Gleichgültigkeit gegenüber realer<br />

26 Feshbach, S.: Fernsehen und antisoziales Verhalten. Perspektiven für Forschung und<br />

Gesellschaft. In: Groebel. J./P. Winterhoff- Spurk (Hg.): Empirische Medienpsychologie. München<br />

1989. S. 71.<br />

27 Grimm, J.: Das Verhältnis von Medien und Gewalt - oder welchen Einfluß hat das Fernsehen auf<br />

Jugendliche und Erwachsene? In: Bundesminister des Innern (Hg.): Medien und Gewalt. Bonn<br />

1996.<br />

28 Vgl. Belson, W. A.: Television violence and the adolescent boy. Westmead 1978.<br />

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Gewalt entwickelt. Angemerkt sei, daß gemeinsam mit dem Psychologischen<br />

Institut der Universität Mainz eine Meta- Analyse der zur Habitualisierungsthese<br />

vorliegenden Forschungsbefunde durchgeführt worden ist. 29 Insgesamt 30<br />

Studien wurden zu dieser Thematik für den Zeitraum 1983 bis 1992 identifiziert,<br />

wobei sich aber zeigte, daß die wiederholte Betrachtung von Fernsehgewalt sehr<br />

unterschiedlich operationalisiert wurde. Gesucht wurden schließlich alle<br />

Untersuchungen, die in irgendeiner Form im Bereich Medienwirkungsforschung<br />

die Auswirkung violenter Inhalte in zumindest quasiexperimentellen Designs<br />

durch entweder die wiederholte Darbietung ebensolchen Materials oder die<br />

einmalige beziehungsweise mehrfache Vorführung solchen Materials unter<br />

gleichzeitiger Berücksichtigung der Medienbiographie zum Gegenstand hatten.<br />

Das Ergebnis der Studie war, daß die meisten der gefundenen Untersuchungen<br />

sich eher mit anderen Wirkungsformen beschäftigen. Die Habitualisierungsthese<br />

bedarf, und dies ist angesichts der Quantität der Studien zur Fernsehgewalt<br />

überraschend, noch der empirischen Untersuchung.<br />

Dessenungeachtet betrachten diverse Autoren eine Habitualisierung als bereits<br />

nachgewiesen. So behauptet Werner Glogauer, ohne empirische Belege<br />

anzugeben, zur Wirkung von Filmen: "Eine Folge ist auch die Unempfindlichkeit<br />

bei ausgeübter Gewalt gegenüber anderen, und was in letzter Zeit immer mehr<br />

auffällt, auch die Unempfindlichkeit gegenüber sich selbst - man ist darauf<br />

eingestellt, selbst physisch und psychisch geschädigt zu werden. Damit ist ein<br />

hoher Grad an Verrohung erreicht." 30 Auch Jürgen Grimm vertritt die These, der<br />

ungehemmte und inflationäre Einsatz von Gewaltbildern in den Nachrichten<br />

würde die Zuschauer im Sinne einer Habitualisierung an Gewalt gewöhnen -<br />

Allerdings sei man derzeit von einer solchen Desensibilisierung noch weit<br />

entfernt: "Die von uns untersuchten Nachrichtenseher zeigten bei<br />

Gewaltdarstellungen so starke körperliche Erregungszustände, daß<br />

29 Vgl. Fröhlich, W. et al., a.a.O.<br />

30 Glogauer, W.: Auswirkungen von Gewalt, sexuellen Darstellungen und Pornographie in den<br />

Medien auf Kinder und Jugendliche. In: Der Bundesminister des Innern (Hg.): Medien und Gewalt.<br />

a.a.O., S.160.<br />

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sozioemotionaler Schaden eher in bezug auf emotionale Überforderung als in<br />

Richtung auf Abstumpfung zu erwarten ist.“ 31<br />

Die eher simple Suggestionsthese , die besagt, daß die Beobachtung von<br />

Mediengewalt beim Rezipienten zu einer mehr oder weniger direkt<br />

anschließenden Nachahmungstat führe, wird in der wissenschaftlichen Literatur<br />

nicht mehr vertreten. In den USA sind aber eine Reihe von Studien veröffentlicht<br />

worden, deren Resultate die These stützen, daß für bestimmte erwachsene<br />

Rezipienten das Konzept der Suggestion unter bestimmten Bedingungen zur<br />

Erklärung von in der natürlichen Umgebung auftretenden Effekten des Konsums<br />

von Mediengewalt geeignet zu sein scheint. So konnte David P. Phillips aufzeigen,<br />

daß die Selbstmordziffer nach der Veröffentlichung von Berichten über<br />

Selbstmorde (zum Beispiel Marilyn Monroe) sowohl in den USA als auch in<br />

Großbritannien anstieg (Werther- Effekt). 32<br />

Phillips behauptet zudem, die Nachahmung fiktiver Selbstmorde im Rahmen von<br />

Soap Operas nachgewiesen zu haben. Im Jahre 1977 stieg demnach in den USA<br />

die Zahl der Selbstmorde unmittelbar nach der Sendung von fiktiven<br />

Selbstmorden in Soap Operas statistisch signifikant an: Der Autor führt diesen<br />

Zusammenhang kausal auf die massenmedialen Inhalte zurück, die imitative<br />

Selbstmorde auslösen könnten. 33 In einer Reanalyse der Daten weisen Ronald C.<br />

Kessler und Horst Stipp allerdings den Schluß zurück, zwischen Selbstmorden in<br />

Soap Operas und in der Realität bestehe ein Kausalnexus. Der entscheidende<br />

Kritikpunkt ist, daß Phillips als Quelle für die Sendung der fiktiven Selbstmorde<br />

Inhaltsangaben in Zeitungen benutzt hat. In acht der dreizehn von Phillips<br />

angeführten Fällen lag eine Fehldatierung vor, das heißt der Anstieg der<br />

31 Grimm, J., a.a.O., S. 142.<br />

32 l. Phillips, D. P.: The influences of suggestion on suicide: substantive and theoretical<br />

implications of the Werther effect. In: American Sociological Review 39 (1974).<br />

33 Vgl. ders.: The impact of fictional television stories on U.S. adult fatalities: New evidence on the<br />

effect of the mass media on violence. In: American Journal of Sociology, 87 (1982).<br />

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Selbstmordrate erfolgte, bevor die jeweilige Sendung, die kausal verantwortlich<br />

sein sollte, im Fernsehen gezeigt worden war. 34<br />

Die Behauptung, gewalttätige Medieninhalte bewirkten nicht nur in Einzelfällen,<br />

was unumstritten ist, sondern regelmäßig monokausal und direkt violentes<br />

Verhalten, wird noch immer von den Massenmedien, insbesondere von der<br />

Boulevardpresse, sowie von anderen nicht wissenschaftlich geschulten<br />

Beobachtern vertreten. Es ist anzunehmen, daß derartige Berichte Tätern nicht<br />

selten als Informationsquelle für die Rationalisierung beziehungsweise<br />

Rechtfertigung (ex ante und ex post facto) ihres Verbrechens dienen. 35<br />

Möglicherweise liegt hier eine Gefahr massenmedialer Gewaltdarstellung (besser:<br />

der öffentlichen Diskussion über deren Wirkungen): Das Wissen des potentiell<br />

delinquenten beziehungsweise violenten Individuums, durch den Verweis auf die<br />

Massenmedien die Verantwortung für das eigene Verhalten ex post facto als<br />

minimal hinstellen beziehungsweise gar ganz abwälzen zu können.<br />

Die Vertreter der Rationalisierungsthese argumentieren, aggressive Individuen<br />

würden deshalb violente Programme konsumieren, weil sie ihr eigenes Verhalten<br />

dann als normal einstufen 36 beziehungsweise sich die Illusion aufbauen könnten,<br />

sie agierten wie ein populärer Fernsehheld. Das Erlernen kriminellen<br />

beziehungsweise violenten Verhaltens schließt das Erlernen von<br />

Rationalisierungstechniken ein, die es einem Individuum erlauben, ein günstiges<br />

Selbstbild zu bewahren, wenn zugleich ein mit einem solchen Selbstbild<br />

unvereinbares Verhalten gezeigt wird. Rechtfertigungen (Rationalisierungen)<br />

schützen das Individuum vor Selbstvorwürfen nach dem Begehen einer Tat. Es<br />

besteht auch die Möglichkeit, daß sie einer Tat (zum Beispiel einer<br />

Vergewaltigung) vorausgehen und das kriminelle Verhalten erst ermöglichen.<br />

34 Vgl. Kessler, R. C./H. H. Stipp: The impact of fictional television stories on U.S. adult fatalities:<br />

Areplication. In: American Journal of Sociology, 90 (1984).<br />

35 Vgl. dazu auch Abschnitt 5 dieses Beitrags.<br />

36 Vgl. Kaplan, R. M./R. D. Singer: Television violence and viewer aggression. In: Journal of Social<br />

Issues, 32 (1976).<br />

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Solche Rechtfertigungen wären zum Beispiel Verneinung des Unrechts oder die<br />

Ablehnung des Opfers, das bekomme, "was es verdiene".<br />

Die Zurückweisung der Verantwortung als Rationalisierungstechnik erlaubt es<br />

dem Delinquenten, sich selbst als fremdbestimmt und als Spielball externer<br />

Kräfte zu sehen (Billardball- Konzeption): Die Bereitschaft, externe Kräfte für das<br />

eigene delinquente Verhalten verantwortlich zu machen, ist offenbar um so<br />

größer, je mehr ein Individuum sich als machtlos wahrnimmt.<br />

4. Lerntheoretische Überlegungen<br />

Zur Einordnung der hinsichtlich mittel- und langfristiger Wirkungen erhaltenen<br />

Befunde sind unseres Erachtens lerntheoretische Überlegungen 37 am besten<br />

geeignet. Allerdings kann auch die Lerntheorie nicht alle Aspekte<br />

berücksichtigen, wie etwa auf der Ebene von Individuen die Angstproblematik<br />

oder auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene die Frage der Schaffung anomischer<br />

Situationen. Aus der Sicht der Lerntheorie werden die Menschen weder als allein<br />

durch innere Kräfte angetrieben noch als allein durch Umweltstimuli<br />

vorwärtsgestoßen gesehen. Die psychischen Funktionen werden vielmehr durch<br />

die ständige Wechselwirkung von Determinanten seitens der Person und seitens<br />

der Umwelt erklärt. Dieser reziproke Determinismus besagt, daß Erwartungen<br />

beeinflussen, wie Menschen sich verhalten, und daß die Folgen dieses Verhaltens<br />

wiederum ihre Erwartungen verändern. Das Verhalten der Menschen ist dadurch<br />

ausgezeichnet, daß sie durch die symbolische Repräsentation absehbarer<br />

Ereignisse zukünftige Konsequenzen zu Beweggründen gegenwärtigen Verhaltens<br />

machen können. Die meisten Handlungen sind also weitgehend antizipatorischer<br />

Kontrolle unterworfen. Diese Fähigkeit fördert vorausschauendes Verhalten und<br />

zwar auch in bezug auf violentes Verhalten. Die Ausübung aggressiven<br />

Verhaltens ist normalerweise Hemmungen unterworfen, das heißt regulative<br />

37 Vgl. Bandura, A.: Aggression. Eine sozial- lerntheoretische Analyse. Stuttgart 1979; zuerst 1973<br />

und ders.: Sozial- kognitive Lerntheorie. Stuttgart 1979; zuerst 1973.<br />

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Mechanismen wie soziale Normen, Furcht vor Bestrafung und Vergeltung,<br />

Schuldgefühle und Angst unterbinden vielfach das Manifestwerden von<br />

Aggression. Ferner ist Verhalten nicht situationsübergreifend konsistent, das<br />

heißt es dürfte praktisch unmöglich sein, zum Beispiel Jugendliche aufzufinden,<br />

die sich gleichermaßen aggressiv gegenüber Eltern, Lehrern, Gleichaltrigen und<br />

so weiter verhalten. Im Kontext der Lerntheorie wird berücksichtigt, daß Handeln<br />

durch Denken kontrolliert wird, daß verschiedene Beobachter verschiedene<br />

Merkmalskombinationen von identischen Modellen übernehmen und auch zu je<br />

neuen Verhaltensweisen kombinieren können. So gesehen ist auch der Befund<br />

von Brent D. Slife und Joseph F. Rychlak, 38 daß Kinder, die keine Präferenz für<br />

violente Medieninhalte besitzen, auch nach langdauerndem Kontakt mit<br />

Mediengewalt keinerlei Neigung zeigen, dieses Verhalten nachzuahmen, kein<br />

Widerspruch zur Lerntheorie. Im Rahmen der Lerntheorie wird berücksichtigt, daß<br />

verschiedene Rezipienten identische Inhalte unterschiedlich wahrnehmen. Früh<br />

untersuchte die Rezeption von Fernsehgewalt, wobei er von einem dynamisch-<br />

transaktionalen Ansatz ausging, das heißt Wirkungen werden nicht als einseitige,<br />

kausale Beeinflussung gesehen, sondern als Resultat einer Wechselwirkung von<br />

Medienbotschaft und Publikumswahrnehmung verstanden. Früh sieht folgendes<br />

grundsätzliches Problem: "Kann in einem Wirkungszusammenhang eine<br />

Fernsehszene als Gewalt wirksam werden, wenn sie der Rezipient gar nicht als<br />

solche identifiziert? Oder ist in einem Medienangebot Gewalt enthalten, wenn das<br />

Publikum keine Gewalt erkennt? Wenn aber nicht sicher ist, ob das Publikum die<br />

Inhalte auch als Gewalt erkennt, ist es sinnvoll, im transaktionalen Sinne das<br />

wirksame Gewaltpotential zu evaluieren, das heißt, als interpretiertes normatives<br />

Gewaltangebot zu beschreiben.“ 39 Früh stellt differenzierte kognitive Reaktionen<br />

auf unterschiedliche Formen von Gewalt fest, das heißt Rezeption ist ein aktiver<br />

Prozeß.<br />

38 Vgl. Slife, B.D./J.F. Rychlak: Role of affective assessment in modeling aggressive behavior. In:<br />

Journal of Personality and Social Psychology, 43 (1982).<br />

39 Vgl. Früh, W.: Die Rezeption von Fernsehgewalt. In: Media Perspektiven (1995), H. 4, S.172.<br />

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Differenzierte Ergebnisse legen auch Michael Charlton et al. in einigen jüngeren<br />

Studien vor. 40 Die Autoren untersuchten zunächst die individuellen<br />

Voraussetzungen der Rezeption von Fernsehgewalt bei Kindern und Jugendlichen<br />

im Alter von zwölf bis 15 Jahren. Eine zweite Studie befaßte sich mit dem<br />

Vorwissen zu Beginn der Rezeption, wobei sich zeigte, daß aggressionsbereite<br />

Jugendliche eine relativ homogene Gruppe mit einem differenzierten Wissen über<br />

Filmgattungen darstellen: sie wissen, was sie sehen wollen und was sie erwartet,<br />

wenn sie einen bestimmten Film auswählen. In einer dritten Studie wurden 20<br />

Jungen und zehn Mädchen mit dem Film ,Terminator 2" (mit Arnold<br />

Schwarzenegger) konfrontiert, wobei in diesem Film sowohl männliche als auch<br />

weibliche Protagonisten aggressiv waren. Die Probanden wurden in<br />

Einzelgesprächen zu ihren Seherlebnissen befragt. Es ergaben sich deutliche<br />

geschlechtsspezifische Unterschiede. Mädchen waren vom Film stärker betroffen<br />

als Jungen und machten öfter Aussagen über innere Vorgänge, die der Film bei<br />

ihnen ausgelöst hatte. Eine vierte Studie schließlich befaßte sich mit<br />

Kommunikation über Medienerfahrung nach der Rezeption. Dabei wurden die<br />

Probanden aufgefordert, Nacherzählungen beziehungsweise einen fiktiven Brief<br />

zu schreiben. Nach der Analyse konnten die Autoren vier Typen unterscheiden.<br />

Die "Realisten" berichteten über die gewalttätigen Szenen entsprechend deren<br />

Bedeutung im Film. Die "Abschwächer“ spielten das Ausmaß der Gewalt herunter.<br />

Weiter wurde ein "Meta- Typus", der eher reflektierend über den Film schrieb, und<br />

ein, "Mischtypus" unterschieden. Zusammenhänge mit der<br />

Aggressionsbereitschaft konnten nicht aufgefunden werden.<br />

Insgesamt zeigen die Studien, wie unterschiedliche kognitive und soziale<br />

Strategien bei der Rezeption von Gewaltfilmen eingesetzt werden. Allerdings sind<br />

die Beziehungen zwischen Persönlichkeitsvariablen und der Wahrnehmung<br />

beziehungsweise Verarbeitung von Mediengewalt derart komplex, daß die<br />

Forschung hier erst am Anfang steht.<br />

40 Charlton, M./M. Borcsa/G. Mayer/B. Haaf/G. Kleis: Zugänge zur Mediengewalt. Untersuchungen<br />

zu individuellen Strategien der Rezeption von Gewaltdarstellungen im frühen Jugend- alter.<br />

Villingen- Schwenningen 1996.<br />

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Angesichts der vorangegangenen Überlegungen sowie des Tatbestandes, daß das<br />

Fernsehen nur ein Faktor neben vielen die Persönlichkeitsentwicklung<br />

beeinflussenden Faktoren ist, wäre ein Muster von relativ schwachen positiven<br />

Korrelationskoeffizienten zwischen dem Konsum von Fernsehgewalt und der<br />

späteren Aggressivität zu erwarten. Betrachtet man die in den verschiedenen<br />

Ländern durchgeführten Studien, dann ergibt sich - von einigen Ausnahmen<br />

abgesehen - genau dieses Muster, obwohl die auch qualitativ sehr<br />

unterschiedlichen Studien in doch recht verschiedenen Umwelten durchgeführt<br />

worden sind. Neben dem Problem der interkulturellen Vergleichbarkeit gibt es<br />

noch weitere methodische Probleme, die bei diesem Verfahren des Vergleichs von<br />

Studien nicht beachtet werden. So ist neben der Messung der Aggression auch<br />

die Operationalisierung des Konsums von Mediengewalt (zum Beispiel durch die<br />

Erfassung der Programmpräferenzen) sehr problematisch. Während die einzelnen<br />

Korrelationskoeffizienten jeweils für sich nicht kausal interpretierbar sind, deutet<br />

das Gesamtmuster der Befunde auf einen Einfluß des Fernsehens auf spätere<br />

Aggressivität hin. Die in den Feldstudien erhaltenen Resultate entsprechen auch<br />

von der Stärke her den Erwartungen, die aufgrund lerntheoretischer<br />

Überlegungen gehegt werden. Die Koeffizienten variieren ungefähr zwischen 0,1<br />

und 0,2, das heißt etwa zwischen einem und vier Prozent des späteren<br />

aggressiven Verhaltens wird in den Feldstudien durch den zuvorigen Konsum von<br />

Fernsehgewalt erklärt.<br />

Allerdings ist darauf hinzuweisen, daß sich die Konvention durchgesetzt hat,<br />

Korrelationskoeffizienten, deren Stärke geringer als 0,2 ist, als unbedeutend und<br />

uninterpretierbar nicht weiter zu beachten. Der Einwand, daß die erhaltenen<br />

Koeffizienten zur schwach sind, berücksichtigt nicht, daß eine im Schnitt recht<br />

schwache Beziehung für alle Probanden eines Samples für einige Probanden<br />

beziehungsweise Subpopulationen eine durchaus starke Beziehung bedeuten<br />

kann. So scheint bei bestimmten Personen ein sich selbst verstärkender Prozeß in<br />

dem Sinne vorzuliegen, daß der Konsum violenter Medieninhalte die<br />

Wahrscheinlichkeit des Auftretens aggressiven Verhaltens, (aggressiver)<br />

Einstellungen und/oder (aggressiver) Phantasien erhöht. Dadurch wiederum<br />

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steigt die Wahrscheinlichkeit, daß violente Medieninhalte als attraktiv angesehen<br />

werden, was wiederum die Zuwendung zu aggressiven Medieninhalten fördern<br />

kann. 41 Zu den Faktoren, die einen derartigen Prozeß begünstigen, können unter<br />

anderem niedriges Selbstbewußtsein und soziale Isolation, die mit erhöhtem<br />

Fernsehkonsum verbunden ist, gehören. Von entscheidender Bedeutung<br />

hinsichtlich möglicher negativer Effekte von Mediengewalt auf Kinder und<br />

Jugendliche ist aber die familiäre Situation. Kinder aus intakten Familien sind im<br />

Grunde sehr wenig gefährdet. Auch für das Erlernen von Aggression gilt, daß<br />

zunächst erstens die unmittelbare familiäre Umwelt sowie zweitens die Subkultur<br />

beziehungsweise die Gesellschaft, in der man lebt, die Quellen sind, aus denen<br />

aggressives Verhalten erlernt wird. Erst an dritter Stelle treten dann die<br />

massenmedial angebotenen symbolischen aggressiven Modelle hinzu. Es scheint<br />

so zu sein, daß Gewaltdarstellungen auf die Mehrheit der Betrachter keine oder<br />

nur schwache Effekte haben, aber bei bestimmten Problemgruppen womöglich<br />

starke Wirkungen zeigen.<br />

Hier setzt Ekkehard F. Kleiter mit einer ausgesprochen aufwendigen Studie und<br />

einem neuen, sehr komplexen Untersuchungsansatz an. 42 Kleiter entwickelt ein<br />

"Modell der moderiert- intervenierten und sozial- kognitiv gesteuerten Aggression<br />

(MISKA), in dessen Zentrum eine "Aufschaukelungsspirale" von Filmkonsum und<br />

Aggressivitätserwerb steht, das nach unterschiedlichen Personentypen<br />

aufgesplittet wird und den Faktor "Reflexivität" berücksichtigt. Reflexivität wird<br />

im Sinne der kognitiven Psychologie als Steuergröße verstanden, welche die Wahl<br />

und Entscheidung für oder gegen eine aggressive Lösung in einer aktuellen<br />

Situation trifft. Nach den von Kleiter vorgelegten Befinden werden durch das<br />

Ausmaß der Reflexivität unter anderem die Qualität und Menge des Konsums von<br />

Filmen, die Motivation zum Filmkonsum sowie der Erwerb und die Übernahme<br />

gesehener Gewalt in Form von Disposition zur Aggressivität gesteuert. In seinem<br />

41 Vgl. zum Beispiel Groebel, J.: Mediengewalt: Sich ändernde Perspektiven - neue<br />

Fragestellungen. In: Schorb, B. et al. (Hg.): Gewalt im Fernsehen - Gewalt des Fernsehens?<br />

Sindelfingen 1984.<br />

42 Vgl. Kleiter. E. F.. a.a.O. Kleiter hat für seine Untersuchung 2.305 Grund- , Haupt- und<br />

Realschüler in Schleswig- Holstein und Mecklenburg- Vorpommern befragt.<br />

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sehr komplexen "Modell der moderierten und hierarchisch intervenierten<br />

Aufschaukelung“ wird eine Vielzahl von Variablen berücksichtigt, die zur Wirkung<br />

der Medien auf die Herausbildung aggressiver Verhaltensweisen beitragen<br />

können. Dazu gehören unter anderem: ungünstiges Milieu (zu wenig Platz, keine<br />

alternativen Freizeitangebote), Eltern, die selbst aggressive Filme konsumieren<br />

beziehungsweise keine Vorbilder vermitteln können, Inkompetenzüberzeugung,<br />

Neugier, Reizsuche, mangelnde Bildung, Identifikation mit Siegern im Film,<br />

Männlichkeitsstereotyp, Aggressivität als Persönlichkeitseigenschaft, Erfolg durch<br />

aggressives Verhalten, Vergeltungsethik, eine negative Sicht des Weltzustandes,<br />

ein rauhes Klima in der Peergruppe, ein Klima der Konkurrenz in der Schule, das<br />

Gefühl, die Umwelt nicht kontrollieren zu können sowie ein aggressiver<br />

Erziehungsstil der Eltern. Insgesamt trägt Kleiter durch die Einbeziehung<br />

zahlreicher intervenierender und moderierender Größen der Komplexität von<br />

Medienwirkungsprozessen Rechnung. Durch die Berücksichtigung dieser diversen<br />

Faktoren stellt Kleiter in seiner Studie weit höhere Effekte fest, als dies in den<br />

meisten bisherigen Untersuchungen der Fall war. Der Verfasser unterscheidet<br />

dabei "eher Aggressive" (circa 40 Prozent) mit den Untertypen "manifest<br />

Aggressive" (circa 22 Prozent) und latent Aggressive" (circa 27 Prozent) sowie<br />

„eher Friedliche" (circa 60 Prozent) mit den Untertypen der "aktiv Friedlichen"<br />

(circa 26 Prozent) und der "passiv Friedlichen" (circa 34 Prozent). Als besonders<br />

bedenklich betrachtet Kleiter nicht die 2,5 Prozent extrem Aggressiven, sondern<br />

argumentiert: "Für die Zukunft der Gesellschaft ist die leise schlummernde<br />

Aggressivität der latent Aggressiven viel gefährlicher. Eine vorhandene hohe<br />

latente Aggressivität kann jederzeit aktiviert werden.“ 43<br />

5. Problemgruppenanalyse<br />

43 Ebd., S. 449.<br />

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Am Institut für Publizistik der Universität Mainz wurde ein anderer Versuch<br />

unternommen, um herauszufinden, wie man solche Problemgruppen erreicht.<br />

Einen ersten Schritt stellte eine Befragung von klinischen Psychologen und<br />

Psychiatern dar. 44 Es bestand die Vermutung, daß Kinder und Jugendliche, die mit<br />

psychischen Störungen in psychologischer oder psychiatrischer Behandlung sind,<br />

eine derartige Problemgruppe bilden dürften. 45<br />

Die Expertenbefragung ergab unter anderem, daß der Medienkonsum der<br />

Klienten, die ja vor allem wegen anderer Probleme den Kontakt suchen, als sehr<br />

hoch einzuschätzen ist: 75 Prozent der Psychologen und 60 Prozent der<br />

Psychiater halten ihre Klienten für Vielseher.<br />

Die Experten gehen zum überwiegenden Teil von einer eher schädlichen Wirkung<br />

der Gewaltfilme aus (71 Prozent der Psychologen und 62 Prozent der Psychiater).<br />

Zu den Symptomen, die für die Befragten in Zusammenhang mit Effekten<br />

medialer Gewalt stehen, gehören insbesondere aggressives Verhalten,<br />

Schlafstörungen und Übererregbarkeit. Besonders die Aktivation aggressiven<br />

Verhaltens durch den Konsum von filmischer Gewalt wird berichtet. Jeweils<br />

ungefähr drei Viertel der Befragten gaben an, schon häufig oder gelegentlich<br />

Erfahrungen mit solchen Wirkungen gemacht zu haben (Psychologen: 80 Prozent;<br />

Psychiater: 76 Prozent).<br />

Sehr häufig wurde angeführt, daß Kinder und Jugendliche, wenn sie darauf<br />

angesprochen werden, versuchen, ihr eigenes aggressives Verhalten durch<br />

Vorbilder aus Gewaltfilmen zu rechtfertigen. Bei den Psychologen haben 63<br />

Prozent, bei den Psychiatern 66 Prozent diese Erfahrung schon häufig oder<br />

44 Aus den Äußerungen und Einschätzungen der befragten Psychologen und Psychiater kann<br />

natürlich kein Kausalzusammenhang bezüglich der Wirkungen von Mediengewalt auf junge<br />

Menschen konstruiert werden. Es handelt sich ja nicht um "objektives“ Datenmaterial, sondern<br />

um subjektive Meinungen zu sehr komplexen Sachverhalten, die durch die Einstellungen der<br />

Befragten, ihre Einschätzung des Problems aufgrund ihrer Ausbildung und so weiter beeinflußt<br />

werden können. Es war jedoch zu erwarten, daß die Experten aufgrund ihrer Erfahrungen aus<br />

„erster Hand" wichtige Aspekte in die Diskussion um die Folgen von Mediengewalt einbringen<br />

können.<br />

45 Vgl. zum folgenden Kunczik, M./W. Bleh/S. Maritzen: Audiovisuelle Gewalt und ihre Auswirkung<br />

auf Kinder und Jugendliche. Eine schriftliche Befragung klinischer Psychologen und Psychiater.<br />

In: Medienpsychologie (1993), H. 5.<br />

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gelegentlich gemacht. Daß Kinder oder Jugendliche von sich aus sagen, das<br />

Fernsehen habe Einfluß auf ihr Verhalten genommen, ist ebenfalls keine<br />

Seltenheit in der beruflichen Praxis der Psychologen und Psychiater. Jeweils gut<br />

40 Prozent gaben an, solche Erfahrungen schon häufig oder gelegentlich gemacht<br />

zu haben.<br />

Hinsichtlich des Alters, in dem Kinder und Jugendliche besonders durch<br />

Gewaltfilme beeinflußt werden, nahm die überwiegende Mehrheit an, dies sei bei<br />

Kindern unter zwölf Jahren der Fall (Psychologen: 82 Prozent, Psychiater: 63<br />

Prozent). Allerdings bestand Konsens, daß die Medienwirkungen sich nicht auf<br />

eine bestimmte Altersstufe eingrenzen lassen. Auch hinsichtlich des<br />

Zusammenhangs zwischen Geschlecht und Medienwirkungen bestand hohe<br />

Übereinstimmung: 94 Prozent der befragten Psychologen und 85 Prozent der<br />

Psychiater sahen mögliche Auswirkungen häufiger bei Jungen. Kein Befragter sah<br />

Mädchen als eher gefährdet an. Der Einfluß des Konsums von Gewaltfilmen auf<br />

die schulische Entwicklung wurde ebenfalls eindeutig beurteilt: 80 Prozent der<br />

Psychologen und 75 Prozent der Psychiater sahen hier eher negative<br />

Auswirkungen. Besonders wichtig ist, daß die Befragten einen deutlichen<br />

Zusammenhang zwischen der häuslichen Situation und dem Gewaltfilmkonsum<br />

annahmen. Die Bedeutung des elterlichen Vorbildes wurde herausgestellt, und<br />

zwar sowohl deren Fernseh- und Videokonsum als auch die Aggressivität der<br />

Eltern: Am häufigsten wurde ein Zusammenhang zwischen vernachlässigendem<br />

Erziehungsstil und Gewaltfilmkonsum der Kinder vermutet: 42 Prozent der<br />

Psychologen und 50 Prozent der Psychiater sahen einen kausalen Zusammenhang<br />

zwischen dieser Verwahrlosungsproblematik und dem Konsum von<br />

Mediengewalt. 46 Fernseh- oder Gewaltfilmkonsum wurde in keinem Fall von den<br />

Experten als Alleinverursacher einer Verhaltensauffälligkeit beziehungsweise<br />

Verhaltensstörung genannt, sondern immer nur im Zusammenhang mit anderen<br />

Problemen aufgeführt. Trotzdem waren die Psychologen und Psychiater bei fast<br />

46 Bei der Bewertung dieses Ergebnisses ist allerdings zu berücksichtigen, daß familiäre Probleme<br />

beziehungsweise Familientherapien zu den Hauptaufgabengebieten der Beratungsstellen und<br />

der niedergelassenen Psychiater gehören. Kinder aus intakten Familien dürften daher in der<br />

Klientel unterrepräsentiert sein.<br />

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jeder Fragestellung bereit, den Gewaltfilmen eine negative, verursachende Rolle<br />

zuzugestehen: Gewaltfilme bewirken Aggressivität, prägen Rollenverhalten und<br />

haben negativen Einfluß auf die Schulleistung. Auffällig ist der in vielen Fällen<br />

genannte Zusammenhang zwischen der häuslichen Situation - also dem<br />

Gewaltfilmkonsum der Eltern, der Gewalttätigkeit der Eltern untereinander oder<br />

den Kindern gegenüber, dem vernachlässigenden Erziehungsstil - und dem<br />

kindlichen Konsum von Gewaltfilmen. Dies ist nicht überraschend, denn wenn ein<br />

kompensierender Einfluß der Eltern fehlt, dann ist die Gefahr besonders groß,<br />

daß negative Effekte auftreten. Es kann als gesichert angesehen werden, daß<br />

bestimmte Subpopulationen durch Gewaltdarstellungen gefährdet sind. während<br />

Kinder- und Jugendliche, die in einem "intakten" sozialen Umfeld (Familie) leben,<br />

nicht gefährdet zu sein scheinen. In zukünftigen Untersuchungen sollten<br />

Personen mit einer starken Ausprägung des Persönlichkeitsmerkmals<br />

„Aggressivität“, Kinder aus Problemfamilien, Personen aus sozialen Brennpunkten<br />

und so weiter besonders berücksichtigt werden.<br />

Eine zweite Untersuchung widmete sich einer Expertenkategorie, die aufgrund<br />

ihrer Erfahrungen mit straffälligen Jugendlichen möglicherweise auch Aussagen<br />

über die Ursachen von Gewalt beziehungsweise der den Medien dabei<br />

zukommenden Rolle machen können, nämlich Richter und Staatsanwälte. 47 Eine<br />

Befragung dieser Berufsgruppe in Nordrhein- Westfalen ergab, daß vor Gericht ein<br />

Einfluß massenmedialer Gewalt auf die Straftat relativ häufig in Betracht gezogen<br />

wird. Fast die Hälfte der Befragten gab an, eine solche Begründung ein- oder<br />

mehrmals von den Tätern gehört zu haben, wobei die offenen Antworten<br />

vermuten lassen, daß es sich hierbei zum Teil um Rationalisierungsversuche<br />

handelt. Daß die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Mediengewalt und<br />

Straftat jedoch nicht nur auf interessengeleitete Erklärungen zurückzuführen ist,<br />

legt die Tatsache nahe, daß auch ein relativ hoher Anteil der Befragten angab,<br />

derartige Argumente von Richtern, Verteidigern und Staatsanwälten (jeweils circa<br />

40 Prozent) gehört zu haben. Bei Juristen ist offensichtlich unabhängig von ihrer<br />

47 Vgl. Kunczik, M./W. Bleh/A. Zipfel: Gewalt und Medien. Eine Expertenbefragung bei Richtern<br />

und Staatsanwälten. Unveröffentlichter. Forschungsbericht, Mainz 1995.<br />

21


Funktion ein Problembewußtsein für die Folgen massenmedialer<br />

Gewaltdarstellungen vorhanden.<br />

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Die Jugendgerichtshilfe, welche die erzieherischen, sozialen und fürsorgerischen<br />

Gesichtspunkte im Verfahren gegen jugendliche Straftäter zur Geltung bringen<br />

soll, berücksichtigt Medieneinflüsse nach Angabe der Befragten dagegen eher<br />

selten (knapp 55 Prozent der Befragten verneinten die Frage, ob sich die<br />

Jugendgerichtshilfe häufiger mit der Mediennutzung jugendlicher Straftäter<br />

befasse, nur 26,5 Prozent bejahten sie).<br />

Was den Stellenwert der Medien bei der Verursachung von Straftaten betrifft, so<br />

fanden zwar Aussagen, die die von Mediengewalt ausgehende Wirkung auf die<br />

kriminelle Entwicklung von Jugendlichen betonen, starke Zustimmung bei den<br />

Befragten, jedoch bestand die Tendenz, den Faktor Medien nicht als alleine<br />

ausschlaggebend zu betrachten, sondern die Rolle des erzieherischen Umfeldes,<br />

des Milieus sowie auch des Alkohol- und sonstigen Drogengebrauchs zu<br />

betonen. Hinsichtlich konkreter Wirkungsvorstellungen wurde sowohl eine<br />

veränderte Einstellung der Straftäter zur eigenen Gewalt als auch eine<br />

Abstumpfungswirkung von über 90 Prozent der Befragten angenommen. Direkte<br />

Nachahmung und situationale Erregung dagegen hielten jeweils nur knapp zwei<br />

Drittel der Befragten für wahrscheinlich. Eine Persönlichkeitsveränderung nahm<br />

nur gut die Hälfte der Befragten an. Das größte Wirkungspotential schrieben die<br />

Experten gewaltverherrlichenden Filmen (Horrorfilme, Actionfilme), realistischen<br />

Darstellungen von Gewalttaten gegen Menschen und gewaltverherrlichenden<br />

Musikvideos zu, während sie die Darstellung realer Gewalt gegen Menschen (zum<br />

Beispiel in Nachrichtensendungen) und vor allem die realistische Darstellung von<br />

Eigentumsdelikten im Rahmen von Fernsehunterhaltung als eher ungefährlich<br />

einstuften.<br />

Insbesondere bei schweren, mit Personenschäden verbundenen Delikten (95<br />

Prozent) und Sexualdelikten (63 Prozent) wurde dem Konsum von Mediengewalt<br />

eine wichtige Rolle zugemessen, während nur relativ wenige Befragte einen<br />

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Einfluß der Massenmedien auf politisch motivierte Gewalt (41 Prozent) und<br />

Eigentumsdelikte (25 Prozent) annahmen.<br />

6. Ausblick<br />

Die Thematik "Medien und Gewalt" wird auch in nächster Zeit nicht von der<br />

Agenda genommen werden. Es sei nur auf die Diskussion um die Entwicklungen<br />

im Internet verwiesen. 48 Angesichts von spektakulären Verbrechen, die scheinbar<br />

durch Mediengewalt ausgelöst wurden und in der Öffentlichkeit immer hohe<br />

Beachtung finden, neigen Politiker dazu, das Fernsehen als Sündenbock<br />

aufzubauen und als Hauptverantwortlichen für eine angebliche Verrohung der<br />

Gesellschaft hinzustellen, Mit dieser Fixierung auf die Medien wird zugleich<br />

davon abgelenkt, daß zur Bekämpfung der tatsächlichen Ursachen von Gewalt<br />

(Armut, Arbeitslosigkeit, mangelnde Zukunftsperspektiven und so weiter)<br />

womöglich nicht genügend getan worden ist beziehungsweise mehr getan<br />

werden könnte. Dies ist ein wichtiger Aspekt der Gewaltdiskussion. Auch Fischer,<br />

Niemann und Stodiek sind der Ansicht, die Diskussion entlarve "sich zusehends<br />

als politische Ersatzhandlung für unbestreitbar notwendige Maßnahmen zur<br />

Eindämmung gesellschaftlicher Gewalt." Die Autoren fahren fort: "Der Glaube,<br />

eine Gesellschaft durch Schwärzung des Bildschirms zu befrieden, kann also<br />

bestenfalls als Einfalt, schlimmstenfalls als Ablenkungsmanöver interpretiert<br />

werden." 49 Hierbei erfolgt zudem gerne eine Instrumentalisierung der Forschung<br />

durch die Politik, wie am Beispiel Präsident Clintons und der "National Television<br />

Violence Study" eingangs aufgezeigt wurde.<br />

48 Im August 1996 rief zum Beispiel eine im Internet abrufbare Bildserie, die die Zerstückelung<br />

eines Ermordeten detailliert zeigte, intensive Diskussionen hervor (vgl. "Mordbilder im Internet.<br />

Polizei machtlos gegen grausame Photoserie aus den USA". In: Süddeutsche Zeitung vom 14.<br />

und 15. August 1996, S. 10).<br />

49 Vgl. Fischer, H.- D./J. Niemann/O. Stodiek, a.a.O., S. 280.<br />

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Ansonsten aber ist die in der Öffentlichkeit und Politik generell vorhandene<br />

Skepsis gegenüber den Sozialwissenschaften hinsichtlich der Befunde der<br />

Wirkungsforschung besonders ausgeprägt. Es gibt, da jeder täglich Umgang mit<br />

den Massenmedien hat, weit verbreitete populärwissenschaftliche Vorstellungen<br />

über die Wirkungen der Massenmedien, zu deren Popularisierung die<br />

Massenmedien selbst entscheidend beitragen. Häufig sieht man sich selbst als<br />

überlegenen, kritisch distanzierten Medienkonsumenten, aber die "anderen" (die<br />

Masse der Bevölkerung) werden als durch die Massenmedien extrem gefährdet<br />

betrachtet. Die weite Verbreitung laienhafter Vorstellungen über die<br />

Medienwirkung bildet ein ausgesprochen starkes Hindernis für die Akzeptanz<br />

wissenschaftlicher Erkenntnisse. Entsprechen die Resultate einer Studie den<br />

Erwartungen, dann wird dies als Beweis dafür gewertet, daß man ohnehin schon<br />

alles weiß und die Kommunikationswissenschaft nichts Neues zu bieten hat. Sind<br />

die Resultate einer Studie mit diesen Vorstellungen nicht kompatibel, dann<br />

werden sie in der Regel zunächst ignoriert.<br />

So scheint das Denken in simplen Ursache- Wirkungs- Modellen, das in bezug auf<br />

die Wirkungen der Massenmedien sozusagen in die Mottenkiste gehört,<br />

unausrottbar. Hier liegt ein Beispiel für "Do It Yourself Social Science" (DYSS) 50 vor,<br />

wobei als Faustregel gilt: Je simpler eine These aussieht, desto attraktiver und<br />

erfolgreicher ist sie bei Außenstehenden.<br />

Eines der Hauptprobleme der Kommunikationswissenschaft besteht in diesem<br />

Kontext auch darin, den Einfluß populärwissenschaftlicher Vorstellungen (zum<br />

Beispiel auch auf medienpolitische Entscheidungen) zurückzudrängen. Gemeint<br />

ist damit die Traktätchen- Li teratur, wie sie etwa von Neil Postman ("Das<br />

Verschwinden der Kindheit", „Wir amüsieren uns zu Tode“) stammt, dessen<br />

grandiose Irrtümer beziehungsweise abstruse Vorstellungen von den Wirkungen<br />

der Medien Hertha Sturm 51 so trefflich entlarvt hat. Auch Mary Winn ("Die Droge<br />

im Wohnzimmer") oder Jerry Mander ("Schafft das Fernsehen ab") verdienen<br />

50 Vgl. Heller, F. (Hg.): The use und abuse of social science. London 1986<br />

51 Vgl. Sturm, H.: Die grandiosen Irrtümer des Neil Postman. Fernsehen wirkt anders. In: Kunczik,<br />

M./U. Weber (Hg.): Fernsehen. Aspekte eines Mediums. Köln 1990.<br />

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Erwähnung. Diese Werke sind wissenschaftlich nur aus einer Warte interessant:<br />

Ihre hohe Popularität ist ein Indikator für weitverbreitete kollektive Ängste<br />

hinsichtlich möglicher negativer Wirkungen des Fernsehens. Der Erfolg solcher<br />

Publikationen liegt darin begründet, daß einfache, für jedermann leicht<br />

nachvollziehbare, monokausale (wenngleich auch falsche) Erklärungen für die<br />

Problematik der Medienwirkung angeboten werden. Die Logik der vorgebrachten<br />

Ratschläge ist zumeist schlicht: Schafft das Fernsehen ab, und die Welt ist wieder<br />

in Ordnung. Bezüglich der Wirkungen von Gewaltdarstellungen wird<br />

argumentiert: Beseitigt diese Inhalte und die Gesellschaft wird wieder friedlich.<br />

Noch immer trifft der von Peter Glotz 52 gegen die Kommunikationswissenschaft<br />

erhobene Vorwurf zu, daß sie im Umgang mit der Öffentlichkeit unfähig ist. Die<br />

seriöse Forschung, so lautet das Argument, gebe sich versonnen dem Design von<br />

interessanten Detailstudien hin und überlasse zugleich das Feld der öffentlichen<br />

Meinung solchen Autoren wie Neil Postman und Marie Winn.<br />

Ein weiteres wichtiges Problem der Gewalt- in- den- Medien- Forschung besteht<br />

darin, daß die Untersuchungen nach dem immer gleichen Strickmuster erfolgen.<br />

Noch immer werden in ungezählten Laborexperimenten die gleichen<br />

Fragestellungen leicht modifiziert und untersucht. Der Erkenntnisfortschritt ist<br />

zumeist minimal. Auch ist es kein Zeichen für einen reifen Zweig der<br />

Wissenschaft, wenn noch immer die Ergebnisse von Leichenzählereien, die oft<br />

euphemistisch als Inhaltsanalyse bezeichnet werden, durchgeführt und diskutiert<br />

werden, obwohl doch spätesten seit den Ende der 20er Jahren durchgeführten<br />

Payne- Fund- Studies bekannt ist, daß man vom Inhalt nicht direkt auf die Wirkung<br />

schließen kann. Unseres Erachtens ist es an der Zeit, nach neuen Ansätzen (wie<br />

zum Beispiel der Expertenbefragung) zu suchen.<br />

52 Glotz, P.: Das Spannungsfeld Wissenschaft - Politik - Medien. In: Roß, D./J. Nilke (Hg.):<br />

Umbruch in der Medienlandschaft. München 1991, S. 22.<br />

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