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PREMIEREN - Piper Verlag GmbH

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ZUGABE LESEPROBE ZUGABE LESEPROBE<br />

weiter, ohne auf Frau von Kanters langsame Geräusche zu warten,<br />

der Verkehr da draußen, der war wie immer, wahnsinnig eben, sei<br />

froh, daß dir das alles erspart bleibt, du sitzt hier wie die Kaiserin<br />

von China. Reginas Stimme wird lauter und schrill, und sie merkt es,<br />

gleichzeitig merkt sie auch, daß sie die Blumen vergessen hat, ich<br />

sage nichts, denkt sie, ich muß mich ja nicht entschuldigen, schließlich<br />

werde ich nicht vertragsbrüchig, ich mache das freiwillig, weil<br />

ich großzügig sein will, großzügiger, als Mutter jemals zu mir gewesen<br />

ist.<br />

Heftiger als gewollt sagt sie, du rührst dich nicht vom Fleck, oder?<br />

Aber du hast ja alles, was du brauchst, wo ist denn die Schnabeltasse,<br />

hat Maik sie wieder verräumt. Sie zieht die Cassislimonade aus<br />

dem Beutel, füllt die Tasse randvoll mit dem lila schäumenden<br />

Sprudel, hier, was Besonderes, zum Wohl. Frau von Kanter hat sich<br />

nicht bewegt, starr sitzt sie da, die Finger um die Mahagonischnekken<br />

des Sessels geschlossen. Etwas in Regina gibt nach. Ich weiß, an<br />

die Blumen hätte ich denken sollen, zwingt sie heraus, ich habe einfach<br />

zuviel um die Ohren, und sie hält Frau von Kanter die Limonade<br />

unter die Nase. Frau von Kanter zuckt zurück und schließt abwehrend<br />

die Augen. Sie versucht, einen Arm zu heben, und schlägt<br />

dabei den Becher um. Ein Schwall ergießt sich zischend auf ihre<br />

Oberschenkel und tropft zwischen ihren Beinen auf den Teppich.<br />

Früher als sonst verläßt Regina das Heim, sie hat noch aufgewischt,<br />

so gut es ging, aber das Polster des Sessels war schon vollgesogen.<br />

Den Rest der Flasche hat sie in das Waschbecken gekippt. Auch<br />

Ernst steht schon um kurz vor halb sechs vor dem Haupteingang,<br />

doch obwohl er tief durchatmet, stellt sich die Freiheit heute nicht<br />

ein, er fühlt sich nicht erleichtert und auch nicht verjüngt. Der Professor<br />

ließ sich heute nicht aus seiner Verwirrung locken, die Whis-<br />

keygläser hat er nicht einmal angeschaut, stur hat er darauf beharrt,<br />

mit dem fremden Besucher Ernst seine Aufzeichnungen zu diskutieren,<br />

aber als Ernst sich vorbeugte, sah er, daß auf dem Notizblock<br />

nur winzige Bleistiftkrakel waren, Seite um Seite gefüllt mit zarten<br />

Linien und Strichen. Da mußte er aufstehen und sich rasch verabschieden,<br />

er gab dem Professor, der sich heute nicht umarmen ließ,<br />

die Hand und eilte an der überfüllten, dunstigen Cafeteria vorbei<br />

ins Freie.<br />

Nun steht er beklommen herum, eigentlich könnte er gehen, aber es<br />

ist viel zu früh, er hat die Besuchszeit nicht erfüllt, gar nichts hat er<br />

erfüllt, und als er Regina an ihrem roten Golf eine Zigarette rauchen<br />

sieht, geht er gleich hinüber und fragt, ob er auch eine haben kann.<br />

Er füllt Mund und Lunge mit dem bitteren Rauch, das werde ich<br />

wieder den ganzen Abend nicht los, denkt er, und krank macht es<br />

auch, da sagt Regina, sonst rauche ich eher selten, aber dienstags<br />

abends brauche ich eine. Ja unbedingt, sagt Ernst, ich sollte mir<br />

auch eine Packung kaufen. Sie lachen ein wenig. Wie geht es denn<br />

Ihrer Mutter, fragt Ernst. Ach, sagt Regina. Wo soll ich anfangen? Ihr<br />

Vater scheint aber noch ganz gut in Form zu sein. Ernst lacht bitteren<br />

Rauch, den hätten Sie mal heute sehen sollen. Er hat mich nicht<br />

einmal erkannt. Und ich ihn auch nicht. Meine Mutter hat mich<br />

heute angestarrt, als wollte ich ihr an die Gurgel, sagt Regina. Mein<br />

Vater auch, sagt Ernst.<br />

Sie schauen sich an, verblüfft, daß sie nicht allein sind in ihrer Not.<br />

Kann ich Sie noch mitnehmen, fragt Regina. Ernst schüttelt den<br />

Kopf, aber er bleibt stehen, auch Regina steigt noch nicht ein. Sie<br />

schweigen und spüren nun doch die Erlösung sich allmählich ausbreiten,<br />

die Zeit vergeht wieder, sie sind entkommen, beide, sie haben<br />

getan, was in ihrer Macht stand, der Abend ist noch nicht zu Ende.<br />

Sie drehen sich gleichzeitig zum Heim um, wo die Gesichter der<br />

Immergleichen hinter der Scheibe weißlich schimmern. Bevor ich<br />

ins Heim gehe, bringe ich mich um, sagt Ernst plötzlich zu Regina.<br />

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