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und Leseprobe (PDF) - Vandenhoeck & Ruprecht

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

V<br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525670064 — ISBN E-Book: 9783647670065


Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

Täglich leben – Beratung <strong>und</strong> Seelsorge<br />

In Verbindung mit der EKFuL<br />

herausgegeben von Rüdiger Haar<br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525670064 — ISBN E-Book: 9783647670065


Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel<br />

Unfall als Krise<br />

Seelsorge <strong>und</strong> Beratung von Menschen<br />

nach einem traumatischen Erlebnis<br />

<strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong><br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525670064 — ISBN E-Book: 9783647670065


Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />

im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

ISBN 978-3-525-67006-4<br />

ISBN 978-3-647-67006-5 (E-Book)<br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen /<br />

<strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> LLC, Oakville, CT, U.S.A.<br />

www.v-r.de<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Das Werk <strong>und</strong> seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf<br />

der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.<br />

Printed in Germany.<br />

Satz: SchwabScantechnik, Göttingen<br />

Druck <strong>und</strong> Bindung: e Hubert & Co, Göttingen<br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525670064 — ISBN E-Book: 9783647670065


Inhalt<br />

Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

2. Unfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

2.1 Unfall <strong>und</strong> Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13<br />

2.2 Autounfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15<br />

2.2.1 Unfallursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

2.2.2 Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />

2.2.3 Merkmale von Autounfällen . . . . . . . . . . . . . 20<br />

3. Psychische Folgen von Unfällen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

3.1 Psychodynamische Aspekte von Unfällen . . . . . . . 21<br />

3.2 Seelische <strong>und</strong> körperliche Verletzungen –<br />

Gemeinsamkeiten <strong>und</strong> Unterschiede . . . . . . . . . . 24<br />

3.3 Zur Diagnostik psychischer Verletzungen . . . . . . . 29<br />

3.3.1 Akute Belastungsreaktion . . . . . . . . . . . . . . . 31<br />

3.3.2 Psychisches Trauma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32<br />

3.3.3 Verlauf der traumatischen<br />

Erlebnisverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

3.4 Folgen für die Krisenintervention . . . . . . . . . . . . . 35<br />

4. Notfallseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

4.1 Der Unfallzeuge <strong>und</strong> seine Angehörigen . . . . . . . . 40<br />

4.1.1 Der Augenzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41<br />

4.1.2 Die Angehörigen des Augenzeugen . . . . . . . 44<br />

4.2 Das Familiensystem bei Todesfällen . . . . . . . . . . . . 46<br />

4.2.1 Überbringen der Todesnachricht . . . . . . . . . 46<br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525670064 — ISBN E-Book: 9783647670065


Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

6 Inhalt<br />

4.2.2 Der Umgang mit Gefühlen . . . . . . . . . . . . . . 50<br />

4.2.3 Die Frage nach den Bewältigungsstrategien 52<br />

4.3 Nachsorge für die Helfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56<br />

4.3.1 Nachsorge für die Notfallseelsorger . . . . . . . 57<br />

4.3.2 Nachsorge für die Einsatzkräfte<br />

der Feuerwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />

4.3.3 Das vertrauliche Einzelgespräch . . . . . . . . . . 67<br />

5. Gemeindeseelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />

5.1 Kontaktaufnahme durch die Gemeindepfarrerin 71<br />

5.2 Das Trauergespräch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />

5.3 Der Gottesdienst zur Beerdigung . . . . . . . . . . . . . . 85<br />

5.4 Begleitung auf den Trauerwegen . . . . . . . . . . . . . . 91<br />

5.5 Der gesellschafts-politische Charakter<br />

der Seelsorge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />

6. Psychologische Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109<br />

6.1 Tiefenpsychologisch orientierte Beratung . . . . . . . 110<br />

6.1.1 Eingangsdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111<br />

6.1.2 Beratungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116<br />

6.2 Psychologische Beratung nach einem Unfall –<br />

Beratung eines Elternpaares nach dem Unfalltod<br />

ihres Sohnes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116<br />

6.2.1 Diagnostische Eingangsphase . . . . . . . . . . . 117<br />

6.2.2 »Er kann doch nicht tot sein« –<br />

Stützende Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120<br />

6.2.3 Trennung bedeutet Tod –<br />

Aufdeckende Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124<br />

6.2.4 Vom Elternpaar zum Ehepaar . . . . . . . . . . . 127<br />

6.2.5 Zusammenfassung des Beratungsverlaufs 129<br />

7. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />

8. Wichtige Adressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135<br />

9. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137<br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525670064 — ISBN E-Book: 9783647670065


Vorwort<br />

Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

Ein Unfall reißt Menschen abrupt aus ihrem Alltagsgeschehen<br />

<strong>und</strong> erfordert eine völlige Konzentration der Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> aller Kräfte auf das akute Geschehen. Je nach Schwere des<br />

Unfalls entstehen Verletzungen <strong>und</strong> Schäden unterschiedlicher<br />

Art, die verschiedener Hilfeleistungen <strong>und</strong> Unterstützungssysteme<br />

bedürfen. Für die körperlichen <strong>und</strong> materiellen<br />

Schäden sind in der Regel die Medizin <strong>und</strong> die Versicherungen<br />

zuständig, während die psychischen <strong>und</strong> psychosozialen<br />

Folgen, die ebenfalls schwerwiegend <strong>und</strong> langwierig sein<br />

können, weniger im Blick sind. Welche Hilfen für die Seele<br />

während <strong>und</strong> nach einem Unfall angezeigt sein können <strong>und</strong><br />

was sie jeweils bewirken, ist Gegenstand dieses Buches.<br />

Notfallseelsorge, Gemeindeseelsorge <strong>und</strong> psychologische<br />

Beratung sind unterschiedliche Hilfsangebote im kirchlichen<br />

Kontext, die zu unterschiedlichem Zeitpunkt <strong>und</strong> mit unterschiedlichem<br />

Schwerpunkt im Rahmen eines Unfallgeschehens<br />

<strong>und</strong> seiner Folgen präventiv <strong>und</strong> kurativ wirken können.<br />

Das Buch richtet sich daher an die Haupt- <strong>und</strong> Ehrenamtlichen<br />

in der Notfallseelsorge, an Gemeindepfarrerinnen <strong>und</strong><br />

Gemeindepfarrer sowie an Beraterinnen <strong>und</strong> Berater. Sie alle<br />

finden für ihren jeweiligen Arbeitsbereich Anregungen <strong>und</strong><br />

Hinweise auf dem Hintergr<strong>und</strong> eines Praxisbeispiels.<br />

Das Buch ist im interdisziplinären Diskurs zwischen<br />

Theologie <strong>und</strong> Psychologie entstanden. Die Autoren <strong>und</strong> die<br />

Autorin dieses Buches sind als Fachreferenten für Seelsorge<br />

<strong>und</strong> psychologische Beratung im Zentrum Seelsorge <strong>und</strong><br />

Beratung der Evangelischen Kirche Hessen <strong>und</strong> Nassau tätig.<br />

Der Bereich Seelsorge <strong>und</strong> Beratung gehört zu den fünf<br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525670064 — ISBN E-Book: 9783647670065


Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

8 Vorwort<br />

Handlungsfeldern, die für das Profil der Evangelischen Kirche<br />

in Hessen <strong>und</strong> Nassau konstituierend sind.<br />

All denen, die mit ihren kritischen Anmerkungen <strong>und</strong> ihren<br />

Diskussionsbeiträgen zu diesem Buch beigetragen haben,<br />

sagen wir herzlichen Dank.<br />

Friedberg, im Frühjahr 2011<br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525670064 — ISBN E-Book: 9783647670065


Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

1. Einleitung<br />

Es ist 22.30, Uhr als sich der Pieper des diensttuenden Notfallseelsorgers,<br />

Pfarrer Martini, meldet. Die Leitstelle gibt durch:<br />

»Verkehrsunfall mit Todesfolge. Betreuung eines Unbeteiligten«.<br />

Im Telefonat mit der Leitstelle erfährt der Notfallseelsorger nicht<br />

nur den genauen Einsatzort, sondern dass es sich bei dem Unfallopfer<br />

um den 19-jährigen Manuel Weber handelt, der wohl<br />

mit hoher Geschwindigkeit gegen einen Baum gefahren ist. Herr<br />

Martini verständigt <strong>und</strong> informiert den Hintergr<strong>und</strong>dienst in<br />

der Notfallseelsorge, Pfarrer Pauli, <strong>und</strong> macht sich auf den Weg.<br />

Am Unfallort schickt ihn der Einsatzleiter zu einem jungen<br />

Mann, 20 Jahre alt, der fassungslos <strong>und</strong> geschockt in einem<br />

Rettungswagen sitzt. Die Decke, die ihm jemand um die Schulter<br />

gelegt hat, hat er sich über den Kopf gezogen, so dass niemand<br />

seine Tränen sehen kann. Im Laufe des Gespräches mit<br />

dem Notfallseelsorger erzählt er, dass das Todesopfer ein guter<br />

Fre<strong>und</strong> von ihm gewesen sei. Er ist diesem hinterhergefahren<br />

<strong>und</strong> musste zusehen, wie dieser ungebremst von der Fahrbahn<br />

abkam <strong>und</strong> gegen einen Baum geschleudert wurde. Als er zum<br />

Auto kam, war sein Fre<strong>und</strong> bereits tot. Er war es, der die Polizei<br />

verständigt hat. Der Notfallseelsorger kümmert sich solange um<br />

den 20-jährigen Fre<strong>und</strong>, bis er sich etwas gefangen hat <strong>und</strong> von<br />

Angehörigen, die in der Zwischenzeit verständigt wurden, abgeholt<br />

werden kann.<br />

Nachdem das Todesopfer geborgen ist, fährt die Polizei mit<br />

Pfarrer Pauli los, um die Todesnachricht der Familie zu überbringen.<br />

Die Eltern reagieren ganz unterschiedlich auf die Todesnachricht.<br />

Während Herr Weber beim Auftauchen der Polizei<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

10 Einleitung<br />

sofort begreift, was geschehen ist, hält es Frau Weber für ganz<br />

unmöglich, dass ihr Sohn Manuel tot sein soll <strong>und</strong> weigert sich,<br />

die Nachricht zur Kenntnis zu nehmen. Der Notfallseelsorger<br />

begleitet die geschockten Eltern in diesen schweren ersten St<strong>und</strong>en,<br />

er stabilisiert die sozialen Strukturen <strong>und</strong> gibt Halt, indem<br />

er andere Angehörige verständigt <strong>und</strong> ins Trauerhaus bittet.<br />

Auf Wunsch der Familie nimmt er am nächsten Morgen Kontakt<br />

zur Gemeindepfarrerin auf.<br />

Drei Tage nach dem Unfall klingelt das Telefon bei Pfarrer<br />

Pauli. Der Einsatzleiter der Feuerwehr, die als erste am Unfallort<br />

war, bittet den Notfallseelsorger um ein Nachgespräch mit<br />

dem damals diensttuenden Team. Der Unfall ist nach wie vor<br />

tägliches Gespräch <strong>und</strong> hat vor allem zwei Feuerwehrleute belastet.<br />

Pfarrer Pauli folgt der Bitte des Einsatzleiters <strong>und</strong> nimmt<br />

an einer Teamsitzung im Feuerwehrhaus teil.<br />

Die Gemeindepfarrerin macht noch am gleichen Tag einen<br />

Besuch bei der Familie <strong>und</strong> bietet den Eltern an, mit ihnen den<br />

aufgebahrten Sohn zu besuchen, was beide annehmen. Ein paar<br />

Tage später steht sie am Grab des Verstorbenen, um ihn zu beerdigen.<br />

Anschließend begleitet sie die Familie in ihrem Trauerprozess<br />

<strong>und</strong> erfährt, dass der Mann in seiner Vorgeschichte<br />

eine schwere körperliche Erkrankung hatte, auf die er mit depressiven<br />

Rückzügen reagierte. Aufgr<strong>und</strong> eigener Unsicherheit<br />

in der Einschätzung rät sie dem Ehepaar, eine Psychologische<br />

Beratungsstelle aufzusuchen.<br />

Die Beraterin bietet an, dass sich das Ehepaar Weber für eine<br />

Beratung an sie wenden könne, was dieses auch tut. Frau Weber<br />

<strong>und</strong> Herr Weber können noch immer nicht begreifen, wie das<br />

Unglück geschehen konnte, <strong>und</strong> sie wissen nicht, wie ihr Leben<br />

weitergehen soll. Ihr Sohn Manuel lebte noch bei ihnen im<br />

Haushalt <strong>und</strong> er habe viel Fröhlichkeit in ihr Leben gebracht.<br />

Sie haben noch eine 28 jährige Tochter, die verheiratet ist <strong>und</strong><br />

schon vor mehreren Jahren das Elternhaus verlassen hat.<br />

Das Elternpaar kommt in einer Phase in die Beratung, in der<br />

es noch darum geht, überhaupt zu realisieren, was passiert ist.<br />

Dass ihr Sohn tot ist <strong>und</strong> nicht doch noch plötzlich in der Tür<br />

stehen könnte, können sie nicht wirklich glauben. Da die Um-<br />

© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

Einleitung 11<br />

stände des Unfalls im Dunkeln bleiben – trotz aller Ermittlungen<br />

ist keine nachvollziehbare Ursache für den Unfall erkennbar<br />

–, wird es für sie noch schwieriger, das Geschehen zunächst<br />

auch nur kognitiv anzuerkennen.<br />

Dieses Fallbeispiel gibt einen ersten Einblick in die oft unübersichtlichen<br />

Folgen von Unfällen, von denen viele verschiedene<br />

Menschen betroffen sein können. Einmal sind dies die<br />

Unfallopfer selbst mit ihren Angehörigen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>en, weiterhin<br />

Unbeteiligte, die den Unfall mit angesehen haben <strong>und</strong><br />

unter Umständen erste Hilfe geleistet haben, sowie schließlich<br />

die Rettungsdienste <strong>und</strong> die Polizei. Wir werden in unserem<br />

praktischen Teil den Schwerpunkt auf diesen Verkehrsunfall<br />

mit Todesfolge legen, um anhand dieses Unfalls exemplarisch<br />

die komplexen Folgen für die Betroffenen in ihrem prozesshaften<br />

Verlauf darzustellen, bei dem zu verschiedenen Zeitpunkten<br />

unterschiedliche Hilfsangebote zum Einsatz kommen.<br />

Auch wenn der Unfall selbst in wenigen Augenblicken<br />

<strong>und</strong> damit in einer zeitlichen Verdichtung stattfindet, stellen<br />

sich seine Folgen in einer Sequenz von Ereignissen dar, die<br />

zeitlich angeordnet werden können.<br />

Unmittelbar nach dem Unfall versorgen Sanitäter <strong>und</strong><br />

Notärzte die Verletzten, nimmt die Polizei den Unfall auf <strong>und</strong><br />

veranlasst die Beseitigung materieller Behinderungen (Abschleppdienst,<br />

Straßenreinigung etc.) durch die Feuerwehr<br />

oder andere Hilfsdienste. Auf diese Ereignisse wird in diesem<br />

Buch nicht näher eingegangen werden. Im Fokus stehen<br />

vielmehr die psychischen <strong>und</strong> psychosozialen Folgen, die ein<br />

Unfall für die verschiedenen Beteiligten haben kann.<br />

Kapitel 2 bietet zunächst einen Überblick über die verschiedenen<br />

Unfallkategorien, der zeigt, wie sehr Unfälle zum<br />

menschlichen Alltag gehören. Kapitel 3 widmet sich den<br />

psychischen Verletzungen, wie sie im Zusammenhang mit<br />

Unfällen vorkommen können, <strong>und</strong> der Frage, wann welche<br />

Behandlungsformen angezeigt sind.<br />

Die Kapitel 4 bis 6 erläutern am Beispiel des genannten<br />

Verkehrsunfalls die Folgen, die solch ein Unfall für die Seele<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

12 Einleitung<br />

haben kann, sowie die unterschiedlichen Unterstützungs-<br />

<strong>und</strong> Behandlungsmöglichkeiten zu verschiedenen Zeitpunkten.<br />

In der Akutphase kümmert sich die Notfallseelsorge um<br />

die Unfallopfer. Als »erste Hilfe für die Seele« steht sie den<br />

Betroffenen <strong>und</strong> ihren Angehörigen <strong>und</strong> Zugehörigen unmittelbar<br />

zur Verfügung (Kapitel 4). Sie übergibt an die<br />

Gemeindeseelsorge, die sich um die Beerdigung <strong>und</strong> um<br />

die Trauerbegleitung kümmert (Kapitel 5). Dort, wo die Gemeindeseelsorge<br />

an ihre Grenzen stößt, vermittelt sie an die<br />

psychologische Beratung (Kapitel 6).<br />

Mit dieser Abfolge haben wir ein Unterstützungs- <strong>und</strong><br />

Behandlungssystem innerhalb der Kirche beschrieben, das<br />

nicht nur unterschiedliche Dienste für unterschiedliche<br />

Ereignissequenzen der Unfallfolgen vorhält, sondern auch<br />

eine Übergabe zwischen den Diensten möglich macht. Frei<br />

jeglichen Konkurrenzgedankens können auf diese Weise die<br />

Betroffenen <strong>und</strong> ihr seelisches <strong>und</strong> psychisches Wohl im Blick<br />

behalten werden.<br />

Die beschriebenen Dienste arbeiten ihrerseits jeweils sehr<br />

unterschiedlich, was sich auch im Schreibstil der einzelnen<br />

Kapitel niederschlägt. Weil es in der Arbeit der Notfallseelsorge<br />

klarer Strukturen <strong>und</strong> Vorgehensweisen bedarf, ist sie<br />

eher nüchtern <strong>und</strong> abgegrenzt. Die Gemeindeseelsorge ist<br />

empathisch <strong>und</strong> zugewandt, während die psychologische<br />

Beratung gekennzeichnet ist durch ein ständiges Oszillieren<br />

zwischen empathischer Teilhabe <strong>und</strong> diagnostischer Distanz.<br />

Seelsorge <strong>und</strong> Theologie werden in diesem Buch in enger<br />

Verbindung mit dem Beispiel aus der Praxis reflektiert <strong>und</strong><br />

beschrieben.<br />

Das Fallbeispiel, auf das wir in diesem Buch den Schwerpunkt<br />

legen, ist in seiner Ausführung idealtypisch. Es basiert<br />

auf einer realen Fallgeschichte, wird jedoch durch weitere uns<br />

bekannte <strong>und</strong> von uns begleitete Fälle ergänzt, um zusätzliche<br />

Aspekte des Geschehens deutlich zu machen. Frei erf<strong>und</strong>en<br />

sind die Namen der Personen, sie haben keine Ähnlichkeit<br />

mit uns bekannten Personen.<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

2. Unfälle<br />

2.1 Unfall <strong>und</strong> Krise<br />

Der Begriff »Unfall« ist ursprünglich eng mit dem Begriff der<br />

»Krise« verwandt. Das griechische Wort krisis meint etymologisch<br />

die »entscheidende Wendung, den Umschlagepunkt<br />

einer Krankheit«, das mittelhochdeutsche unfal »Krankheit«,<br />

auch »Unglück« <strong>und</strong> »Missgeschick« (Lieb 2009, 15). Beide<br />

können glimpflich ausgehen oder gravierende Folgen haben,<br />

weil beiden ein ungewisser Ausgang gemein ist. Sie treten<br />

plötzlich <strong>und</strong> ungewollt auf <strong>und</strong> gehen mit Schäden <strong>und</strong> Verletzungen<br />

einher.<br />

Gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts halten beide Begriffe<br />

Einzug in die gebräuchliche Terminologie der Moderne. Fortschritt<br />

<strong>und</strong> Technologie haben das Industriezeitalter eingeläutet,<br />

in dessen Verlauf das Automobil für das Individuum eine<br />

zentrale Bedeutung gewinnt. So ist es nicht verw<strong>und</strong>erlich,<br />

dass Betriebsunfälle <strong>und</strong> vor allem Autounfälle ins Zentrum<br />

des Interesses <strong>und</strong> der Diskussionen rücken. Der Begriff<br />

»Unfall« erhält eine technische Konnotation <strong>und</strong> stellt die<br />

Kehrseite des Technischen dar. »Unfall« ist die dunkle Seite<br />

des Maschinenbaus, der Motoren, des Fahrens, der Machbarkeit<br />

<strong>und</strong> des Fortschritts. »Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> aber wird<br />

der Unfall zwangsläufig zum Index einer tiefen Krise. Er hebt<br />

die schöne heile Welt der Technik sinn- <strong>und</strong> zwecklos aus den<br />

Angeln« (a.a.O., 13).<br />

Daran hat sich bis heute nichts geändert. Auch heute noch<br />

beansprucht der Unfall eine technische Dimension. Ein<br />

Blick in das XX. Kapitel der ICD-Klassifikation der Weltge-<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

14 Unfälle<br />

s<strong>und</strong>heitsorganisation (WHO) offenbart diese Einteilung:<br />

Transportmittelunfall, Unfall durch Exposition gegenüber<br />

mechanischen Kräften belebter <strong>und</strong> unbelebter Objekte, Unfall<br />

durch elektrischen Strom, Strahlenunfall, Unfall durch<br />

künstliche Hitze oder künstliche Kälte, Unfall durch Luftdruckwechsel,<br />

Verbrennung oder Verbrühung durch Hitze<br />

oder heiße Substanzen (Dämpfe, Gase), Unfall durch Kontakt<br />

mit giftigen Pflanzen oder Tieren, akzidentelle Vergiftung<br />

<strong>und</strong> sonstige <strong>und</strong> nicht näher bezeichnete Unfälle (Aspiration,<br />

Einsturz eines brennenden Gebäudes, Ersticken im Bett<br />

usw.).<br />

Wird von dieser Einteilung ausgegangen, so ist der Unfall<br />

ein Geschehen, das von außen gewaltsam auf den Einzelnen<br />

einwirkt, unvorhersehbar geschieht <strong>und</strong> zu einer unfreiwilligen<br />

Ges<strong>und</strong>heitsschädigung führt. Entsprechend wird bei der<br />

Klassifikation von »Unfällen« durch die WHO der allgemeine<br />

Begriff »injury« (Verletzungen) verwandt <strong>und</strong> es werden die<br />

unbeabsichtigten (unintentional) von beabsichtigten (intentional)<br />

Verletzungen unterschieden. Die unbeabsichtigten Verletzungen<br />

sind die so genannten »Unfälle« im engeren Sinne,<br />

im Gegensatz zu den beabsichtigten Verletzungen, die durch<br />

Gewalttaten (tätlicher Angriff), Suizid, sexueller Missbrauch<br />

etc. verursacht sind.<br />

Während der Begriff »Unfall« heute im Technischen verortet<br />

ist, wird der Begriff der Krise eher im politischen, soziologischen,<br />

psychologischen <strong>und</strong> medizinischen Bereich<br />

verwandt. Von einer Staatskrise kann man z.B. häufig hören<br />

oder lesen, von einem Staatsunfall hingegen nicht. Eine<br />

Krisenregion ist im militärischen Jargon oft ein nicht näher<br />

bestimmtes Gebiet, wohingegen eine Unfallstelle ein klar umgrenzter<br />

<strong>und</strong> abgesicherter Ort ist.<br />

Der Titel dieses Buches »Unfall als Krise« bringt beide Begriffe<br />

derart miteinander in Verbindung, dass der Unfall zum<br />

Auslöser für eine Krise wird, die aus beim Unfall erlittenen<br />

körperlichen, psychischen <strong>und</strong> seelischen Verletzungen resultiert,<br />

die unbeabsichtigt – im Sinne der WHO-Definition –<br />

geschehen sind.<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

Autounfälle 15<br />

Während der Unfall ein unhintergehbares <strong>und</strong> punktuelles<br />

Ereignis ist (Hoyos 1980), läuft die Krise in verschiedenen,<br />

von der Intensität her abgestuften Phasen ab, die je eigene<br />

Interventionsmöglichkeiten benötigen.<br />

Exemplarisch möchten wir uns im Folgenden mit dem<br />

Autounfall beschäftigen, der sowohl eine technische Seite hat<br />

wie auch mit psychologischen Folgen verb<strong>und</strong>en sein kann.<br />

Zudem lassen sich hieran auch idealtypisch die verschiedenen<br />

kirchlichen Unterstützungsangebote nach einem Unfall dokumentieren.<br />

Die psychischen Unfallfolgen können bei fast allen Unfallarten<br />

ähnlich sein, während sich die Interventions- <strong>und</strong><br />

Angebotsmöglichkeiten je nach Unfallart unterscheiden. So<br />

kann unter Umständen ein von Außenstehenden als »leicht«<br />

empf<strong>und</strong>ener Unfall im häuslichen Bereich aus subjektiven<br />

Gründen bei dem Betroffenen eine Krise auslösen <strong>und</strong> zu<br />

schweren psychischen Störungen führen. Die Wahrscheinlichkeit<br />

jedoch, dass hierzu die Notfallseelsorge alarmiert <strong>und</strong><br />

nachher die Gemeindeseelsorge eingeschaltet wird, ist sehr,<br />

sehr gering. Diese Wahrscheinlichkeit ist bei einem Autounfall,<br />

der vielleicht mit Personenschäden oder gar Todesopfern<br />

einhergeht, sehr viel höher.<br />

2.2 Autounfälle<br />

Automobile haben wie kein anderes Fortbewegungsmittel<br />

das Autonomie- <strong>und</strong> Freiheitsbestreben des Menschen unterstützt<br />

– <strong>und</strong> unterstützen es nach wie vor. Dies drückt sich<br />

bereits im Namen Auto aus, das sich von autos, »selbst«, ableitet.<br />

Von Anfang an hatte das Automobil jedoch auch eine<br />

Kehrseite: Es ist den Menschen nicht nur als Fortbewegungsmittel<br />

im Gedächtnis, sondern auch als Unfallmaschine. Dies<br />

veranlasste Claudia Lieb zu der Behauptung: »Das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

war die Ära des Autounfalls« (Lieb 2009, 11). Noch<br />

immer sterben in Deutschland mehr Menschen bei Autoun-<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

16 Unfälle<br />

fällen als bei Schiffsunglücken, Eisenbahnkatastrophen <strong>und</strong><br />

Flugzeugabstürzen zusammen genommen. Im ersten Jahr<br />

der Statistik, 1953, wurden gut 12.600 Verkehrstote registriert,<br />

im Jahr 1980 lag die Zahl bei mehr als 15.000. Im Jahr 2010<br />

kamen 3.651 Menschen im Straßenverkehr ums Leben – im<br />

Schnitt zehn Menschen pro Tag (Statistisches B<strong>und</strong>esamt<br />

2011). Das sind 12 % (501) weniger als 2009. Die meisten<br />

Todesopfer im Straßenverkehr starben auf Landstraßen.<br />

Umso erfreulicher ist, dass sich die Zahl der Verkehrstoten<br />

am stärksten auf diesen Straßen im Jahr 2010 verringert hat.<br />

Auch auf den Autobahnen <strong>und</strong> auf Innerortsstraßen wurden<br />

weniger Getötete als im Vorjahr gezählt. Auch die Zahl der<br />

Verletzten hat im Jahr 2010 wieder abgenommen. Es wurden<br />

8,6 % weniger Verkehrsteilnehmer schwerverletzt <strong>und</strong> 6,2 %<br />

weniger leichtverletzt. Insgesamt hat die Polizei im vergangenen<br />

Jahr 2,39 Millionen Unfälle aufgenommen, 3,5 % mehr<br />

als ein Jahr zuvor.<br />

2.2.1 Unfallursachen<br />

In der Vormoderne sind die Götter für Unfälle verantwortlich,<br />

denen Wagen- <strong>und</strong> Schiffbruch angelastet werden. Dieses<br />

Gr<strong>und</strong>modell lässt sich bis ins 19. Jahrh<strong>und</strong>ert verfolgen.<br />

Martin Luther bringt Satan oder Christus ins Spiel, wenn er<br />

von Unfall redet. Die Enzyklopädien der Aufklärung bemühen<br />

Gottesbeweise, um Unfälle zu erklären. Erst die zunehmende<br />

Säkularisierung lässt die Rede vom Schicksal <strong>und</strong> vom<br />

»höheren Sinn« verstummen (Lieb 2009, 10). Heute werden<br />

für einen Autounfall andere Ursachen angenommen: Das ist<br />

zum einen der Mensch mit seinem Verhalten, seinen Eigenschaften,<br />

seinen Absichten. Zum anderen ist es das Fahrzeug:<br />

sein Zustand, seine Besetzung, seine Beladung. Nicht zuletzt<br />

ist es die Umwelt: ihre Einflüsse auf Eigenschaften <strong>und</strong> Verhalten<br />

des Menschen (Wetterlage, Witterung, Zeit, Licht- <strong>und</strong><br />

Sichtverhältnisse), ihre Einflüsse auf das Verhalten von Fahrzeugen<br />

(z.B. Straßenoberfläche, Straßenzustand, Straßenverlauf).<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

Autounfälle 17<br />

2010 registrierte die Polizei 350.300 Unfälle mit Personenschäden,<br />

die auf Fehlverhalten der Fahrzeugführer zurückzuführen<br />

sind (Statistisches B<strong>und</strong>esamt 2011). Das Erschreckende<br />

dabei ist, dass das eigene Fehlverhalten von 673 je<br />

1.000 beteiligten Fahrzeugführern zu den Personenschäden<br />

geführt hat: Fehler beim Abbiegen, Wenden, Rückwärtsfahren,<br />

Ein- <strong>und</strong> Anfahren (15,2 %), nicht angepasste Geschwindigkeit<br />

(15,9 %), Nichtbeachten der Vorfahrt (14,4 %), ungenügender<br />

Abstand (12,0 %), falsche Straßenbenutzung (6,9 %)<br />

<strong>und</strong> Alkoholeinfluss (6,9 %).<br />

2.2.2 Defi nitionen<br />

Was ein Autounfall ist <strong>und</strong> welche Bedeutung er hat, wird je<br />

nach Perspektive unterschiedlich definiert. Claudia Lieb analysiert<br />

den Unfall in der Literatur unter historisch-epistemologischen<br />

Gesichtspunkten <strong>und</strong> untersucht hierzu literarische<br />

Autounfälle in den Werken von Goethe, Kleist, Kafka, Freud,<br />

Döblin, Musil, Brecht u.a. Ihr Fazit: Je stärker die Säkularisierung<br />

des Wissens im Lauf der Jahrh<strong>und</strong>erte fortschritt, desto<br />

weniger wurde ein Unfall als gottgegeben angesehen. Dieser<br />

Prozess zeigt sich ihrer Meinung nach in der zunehmenden<br />

Integration des Unfalls in Disziplinen wie Rechts- <strong>und</strong> Versicherungswissenschaft,<br />

Statistik, Medizin <strong>und</strong> Psychologie.<br />

Jede Disziplin hat ihren je eigenen Blick auf den Kasus<br />

»Unfall«, da jede nur für einen Teilbereich zuständig ist: Die<br />

Feuerwehr für die technische Rettung, die Polizei für die<br />

Absicherung des Unfallorts <strong>und</strong> die Ermittlungen, die Jurisprudenz<br />

für die Klärung von evtl. Streitigkeiten, die Versicherungen<br />

für die Begleichung der Schäden, die Medizin für die<br />

körperlichen <strong>und</strong> die Psychologie für die psychischen Unfallfolgen.<br />

Für die Feuerwehr in Hessen fällt der Autounfall unter die Kategorie<br />

»technische Rettung«. Sie wird in mehrere Einsatzarten<br />

eingeteilt: Verkehrsunfall 1 (Verkehrsunfall mit 1 Pkw – 1<br />

Person eingeklemmt), Verkehrsunfall 2 (Verkehrsunfall mit<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

18 Unfälle<br />

mehreren Kraftfahrzeugen, mehrere Personen eingeklemmt,<br />

Person unter Fahrzeug), Verkehrsunfall 3 (Massenunfall, Unfall<br />

mit Schienenfahrzeugen, Betriebsunfall, Wasserunfall)<br />

(www.nassauischer-feuerwehrverband.de).<br />

Für die Polizei ist ein Autounfall ein plötzliches Ereignis im<br />

öffentlichen Straßenverkehr, das mit dessen ursächlichen Gefahren<br />

zusammenhängt <strong>und</strong> zu einem Personenschaden oder<br />

nicht völlig belanglosem Sachschaden führt. Öffentlicher<br />

Verkehr findet auf dafür gewidmeten Straßen, aber auch auf<br />

nicht gewidmeten Straßen statt, wenn diese mit Zustimmung<br />

oder unter Duldung des Verfügungsberechtigten tatsächlich<br />

allgemein benutzt werden (VwV zu § 1 Abs. 2 StVO).<br />

Der B<strong>und</strong>esgerichtshof hat den Begriff »Unfall« wie folgt<br />

definiert: »Ein Unfall ist ein plötzliches Ereignis im Straßenverkehr,<br />

das mit den Gefahren des Straßenverkehrs in<br />

ursächlichem Zusammenhang steht« (BGHSt 8, 264; 24, 382).<br />

»Klassische Unfälle« sind demnach solche, bei denen z.B.<br />

zwei Autos kollidieren oder ein Fußgänger von einem anderen<br />

Verkehrsteilnehmer, z. B. Radfahrer oder Autofahrer,<br />

angefahren <strong>und</strong> verletzt wird.<br />

Folgender Auszug aus einem Urteil des B<strong>und</strong>essozialgerichts<br />

vom 8. Dezember 1998 macht deutlich, welche Berücksichtigung<br />

in der Rechtsprechung körperliche <strong>und</strong> psychische<br />

Folgen von Unfällen inzwischen gewonnen haben. Wir zitieren<br />

zwei relevante Passagen (B 2 U 1/98 R): »Der Begriff des<br />

Unfalls ist in der RVO nicht bestimmt. Nach der in Rechtsprechung<br />

<strong>und</strong> Schrifttum seit langem <strong>und</strong> im wesentlichen<br />

einhellig vertretenen Auffassung ist Unfall ein körperlich<br />

schädigendes, zeitlich begrenztes Ereignis (s ua BSGE 23, 139,<br />

141 = SozR Nr 1 zu § 555 RVO; BSGE 46, 283 = SozR 2200<br />

§ 530 Nr 47; BSG SozR 2200 § 548 Nr 56; Brackmann/Krasney,<br />

Handbuch der Sozialversicherung, SGB VII, 12. Aufl, § 8 Nr 7;<br />

Schulin, HS-UV, § 28 RdNr 1, jeweils mwN; KassKomm-Ricke<br />

§ 548 RVO RdNr 5). Soweit daneben zum Teil auch gefordert<br />

wird, das Ereignis müsse »von außen« auf den Menschen<br />

einwirken, soll damit lediglich ausgedrückt werden, dass ein<br />

aus innerer Ursache, aus dem Menschen selbst kommendes<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

Autounfälle 19<br />

Ereignis nicht als Unfall anzusehen ist (s BSG SozR a.a.O.;<br />

Brackmann/Krasney, a.a.O., § 8 RdNr 10; Schulin, a.a.O., § 28<br />

RdNr 5). Wesentlich für den Begriff des Unfalls sind hiernach<br />

ein (»äußeres«) Ereignis als Ursache <strong>und</strong> eine Körperschädigung<br />

als Wirkung. Die Körperschädigung kann verursacht<br />

sein durch körperlich gegenständliche Einwirkungen (z.B.<br />

Verletzung beim Aufschlag nach Sturz), aber auch durch<br />

geistig-seelische Einwirkungen in einem eng begrenzten Zeitraum<br />

(BSGE 18, 173, 175 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO aF; Kass-<br />

Komm-Ricke, a.a.O., RdNr 6; s auch BSGE 61, 113, 116 = SozR<br />

2200 § 1252 Nr 6). Damit sind den körperlichen Schäden die<br />

im Bereich der Psyche <strong>und</strong> des Geistigen gleichgestellt.[…]<br />

Bei der rechtlichen Wertung der seelischen Auswirkungen des<br />

Unfalles darf nicht von vornherein darauf abgestellt werden,<br />

wie ein »normaler« Versicherter reagiert hätte. Ebenso wie bei<br />

körperlichen Auswirkungen eines Unfalles darf auch bei Vorgängen<br />

im Bereich des Psychischen <strong>und</strong> Geistigen nicht unter<br />

Anlegung eines generalisierenden Maßstabs darauf abgestellt<br />

werden, ob die Auswirkungen des Unfalls auch bei einem<br />

durchschnittlichen Menschen erfahrungsgemäß gleiche oder<br />

ähnliche Folgen gehabt hätten; vielmehr ist gr<strong>und</strong>sätzlich zu<br />

prüfen, welche Folgen die Auswirkungen des Unfalls, dh die<br />

seelische Belastung, gerade bei dem betroffenen Menschen<br />

infolge der Eigenart seiner Persönlichkeit gehabt hat (BSG<br />

Urteil vom 24. Februar 1967 – 2 RU 114/65 – SGb 1967, 542,<br />

543; Schönberger/Mehrtens/Valentin, a.a.O., S. 255)«.<br />

Gutachter von Versicherungen definieren Autounfall als<br />

ein Ereignis, bei dem vorgesehene Bewegungsabläufe von<br />

Verkehrsteilnehmern gewaltsam gestört werden, wobei als<br />

Folge Sach- <strong>und</strong>/oder Personenschäden auftreten (vgl. www.<br />

verkehrsunfaelle.de).<br />

Die Notfallpsychologie versteht unter einem Notfall ein Ereignis,<br />

das aufgr<strong>und</strong> seiner subjektiv erlebten Intensität physisch<br />

<strong>und</strong>/oder psychisch als so beeinträchtigend erlebt wird,<br />

dass der Notfall zu negativen Folgen in der physischen <strong>und</strong>/<br />

oder psychischen Ges<strong>und</strong>heit führen kann (Lasogga & Gasch<br />

2002, 13). Verkehrsunfälle (Auto, Zug, Flugzeug, Schiff) sind<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

20 Unfälle<br />

Notfälle, die im Zusammenwirken von Mensch <strong>und</strong> Technik<br />

entstehen im Gegensatz zu Naturkatastrophen, medizinischen<br />

(z.B. Herzinfarkt) <strong>und</strong> zwischenmenschlichen Notfällen (z.B.<br />

Gewaltverbrechen, Krieg etc.). Sie sind damit Bestandteil der<br />

technisch-zivilisierten Welt.<br />

2.2.3 Merkmale von Autounfällen<br />

Aus diesen Definitionen der für die Unfallfolgen zuständigen<br />

Dienste lassen sich folgende Merkmale festhalten, die für den<br />

Autounfall kennzeichnend sind:<br />

1. Zeit: Ein Autounfall geschieht plötzlich <strong>und</strong> ist zeitlich<br />

begrenzt. Plötzlich heißt, dass das Unfallereignis etwas ist,<br />

dessen Beginn nicht vorherzusehen ist.<br />

2. Wirkung: Bei einem Autounfall handelt es sich um ein Ereignis,<br />

das von außen auf den Menschen wirkt.<br />

3. Ursachen: Bei dem Auslöser für einen Unfall kann es sich<br />

um menschliches Handeln, um technisches Versagen, aber<br />

auch um ein Naturereignis handeln.<br />

4. Ort: Ein Autounfall passiert in der Regel im öffentlichen<br />

Raum.<br />

5. Folgen: Ein Autounfall führt zu Sach- <strong>und</strong>/oder Personenschäden.<br />

Die Personenschäden sind Ges<strong>und</strong>heitsschädigungen.<br />

Diese können physischer, psychischer <strong>und</strong> seelischer<br />

Natur sein.<br />

Welche seelischen <strong>und</strong> psychischen Folgen Unfälle haben<br />

können <strong>und</strong> was sie für die verschiedenen Beteiligten bedeuten,<br />

wird im folgenden Kapitel näher erläutert.<br />

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3. Psychische Folgen von Unfällen<br />

3.1 Psychodynamische Aspekte von Unfällen<br />

»Bei einem halsbrecherischen Wagenrennen schlägt der König<br />

von Sparta Alarm: ›Antilochos! Hemme die Rosse! […]<br />

Daß du nicht an den Wagen mir fährst <strong>und</strong> uns beide beschädigst!‹,<br />

allein der Verfolger beschleunigt. Zur Unfallvermeidung<br />

bedarf es noch höherer Mächte als eines irdischen SOS,<br />

da auf antiken Pisten die Götter regieren« (Lieb 2009, 8).<br />

Als Unfall gilt im allgemeinen Sprachgebrauch wie auch<br />

versicherungstechnisch ein Ereignis, das plötzlich von außen<br />

unfreiwillig über die Betroffenen hereinbricht <strong>und</strong> zu Schäden<br />

verschiedenster Art führt. Ein Mensch gerät nach diesem<br />

Verständnis also gegen seinen Willen <strong>und</strong> unvorhergesehen<br />

in eine Lage, in der ihm etwas geschieht, das sich seiner Kontrolle<br />

entzieht <strong>und</strong> bei ihm einen Schaden hinterlässt. Dies<br />

lässt sich aus psychologischer Perspektive allerdings nicht<br />

uneingeschränkt für alle Beteiligten sagen. Denn wie z.B. die<br />

Unfallstatistiken für Unfälle im Straßenverkehr zeigen, sind<br />

die meisten Verkehrsunfälle auf menschliches Fehlverhalten<br />

zurückzuführen <strong>und</strong> nicht auf einen technischen Defekt oder<br />

Umweltfaktoren.<br />

Im Folgenden sollen einzelne Aspekte, die ein Geschehen<br />

als Unfall ausweisen, unter psychodynamischer Perspektive<br />

genauer betrachtet werden.<br />

Sicherlich gilt für alle Unfälle, dass sie ab einem bestimmten<br />

Punkt einen Menschen unfreiwillig in ein Geschehen<br />

verwickeln, auf das er keinen Einfluss mehr hat. Ein Mensch<br />

wird also in einem Unfallgeschehen zwangsläufig vom Sub-<br />

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22 Psychische Folgen von Unfällen<br />

jekt, das eine Situation bewusst steuert, zu einem Objekt, das<br />

sich Prozessen ausgeliefert sieht, die sich seinem Einfluss entziehen.<br />

Selbst eine Person, die einen Unfall durch riskantes<br />

Fahrverhalten bewusst in Kauf genommen oder sogar provoziert<br />

hat, muss sich ab einem bestimmten Punkt dem Verlauf<br />

des Geschehens überlassen. Auf psychischer Ebene geht es bei<br />

einem Unfall also auf jeden Fall um Kontrollverlust, Überwältigung<br />

<strong>und</strong> Ausgeliefertsein.<br />

Was den Aspekt der Einwirkung von »außen« betrifft,<br />

bedarf es ebenfalls einer Differenzierung. Gewiss gilt für<br />

Unfälle, die von anderen Menschen oder durch einen technischen<br />

Defekt verursacht werden <strong>und</strong> denen man nicht<br />

ausweichen kann, dass man als Betroffener zwangsläufig<br />

plötzlich <strong>und</strong> unfreiwillig einem von außen initiierten Geschehen<br />

ausgeliefert ist. Im Blick auf den Verursacher des<br />

Unfalls sieht die Sache unter Umständen anders aus. Denn<br />

wie psychologische Untersuchungen (Willenberg 1989) zeigen,<br />

kann es bei Menschen auch eine Unfallneigung geben,<br />

die aus einer hohen Risikobereitschaft <strong>und</strong> Tendenz zur<br />

Selbstgefährdung <strong>und</strong> Selbstverletzung resultiert. Für das<br />

Bewusstsein der Betreffenden erfolgt das Geschehen unfreiwillig<br />

<strong>und</strong> von außen kommend, auf unbewusster Ebene sind<br />

jedoch innere Tendenzen <strong>und</strong> Absichten am Werk. Unfälle<br />

können also auch aus unbewussten Motiven heraus entstehen<br />

<strong>und</strong> für die Betreffenden eine entsprechende unbewusste<br />

Bedeutung haben.<br />

»Menschen, die zu häufigen Unfällen neigen, <strong>und</strong> solche,<br />

die wiederholt Operationen provozieren, schaffen einen<br />

chronisch oder episodenhaften gefährlichen Zustand; der<br />

Übergang zum eigentlich schädigenden Geschehen bedarf<br />

dann nur noch bestimmter situativer Konstellationen oder<br />

eines Anstoßes durch das Individuum selbst. […] Zu häufigen<br />

Unfällen neigende Menschen […] initiieren womöglich<br />

auch durch eine eigene Fehlleistung das eigentliche Unfallgeschehen,<br />

überlassen jedoch die entscheidende Sequenz<br />

der Schädigung Faktoren, die von ihnen nicht kontrolliert<br />

werden können. Sie überantworten sich also z.B. der Geistes-<br />

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Psychodynamische Aspekte von Unfällen 23<br />

gegenwart anderer Verkehrsteilnehmer oder physikalischen<br />

Gesetzmäßigkeiten« (a.a.O., 155).<br />

Menschen mit solchen Tendenzen zur Selbstschädigung<br />

sind infolgedessen Opfer <strong>und</strong> Täter zugleich – eine Vorstellung<br />

die im Blick auf die oft gravierenden körperlichen <strong>und</strong><br />

psychischen Folgen von Unfällen wie eine ungeheuerliche<br />

Unterstellung erscheint. Dennoch ist es so, dass viele Unfälle<br />

durch menschliche Fehlleistungen verursacht werden, die<br />

nicht nur mit der Tatsache begründet werden können, dass<br />

ein Mensch nicht immer zu 100 % aufmerksam sein kann. Bei<br />

Unfällen im Straßenverkehr, deren Ursachen nicht aufgeklärt<br />

werden können, besteht die Möglichkeit, dass es sich um verdeckte<br />

Suizide handelt.<br />

Ist ein Unfall geschehen, so ist ein Betroffener unabhängig<br />

von seiner Verantwortung zunächst als Opfer im Blick <strong>und</strong><br />

muss als solches auch versorgt werden. Die Einbeziehung der<br />

unbewussten Dimension in die Gesamtbetrachtung des Unfallgeschehens<br />

bedeutet ja auch nicht, dass eine Fehlleistung<br />

mutwillig geschehen ist. Allerdings kann es vor diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

nicht als rein von außen verursachtes Geschehen<br />

betrachtet werden, von dem der Betreffende überwältigt wird,<br />

sondern auch als ein Geschehen von innen, das sich freilich<br />

der bewussten Kontrolle entzieht. Erst durch eine genauere<br />

Analyse der psychischen Situation der Betreffenden wird so<br />

manches zunächst unerklärliche Unfallgeschehen für die Betroffenen<br />

oder auch die Angehörigen nachvollziehbar.<br />

Auch die Frage nach der Unfallprävention erscheint vor<br />

diesem Hintergr<strong>und</strong> in einem anderen Licht.<br />

»Angesichts der 800 jährlich in Großbritannien getöteten<br />

Motorradfahrer meint Adams […], dass ein Verbot des Mo torradfahrens<br />

zwar die Motorradunfälle verhindert, aber kaum<br />

zu erwarten sei, daß Motorradfahrer inklusive der ›hells angels‹<br />

zu Hause sitzen <strong>und</strong> Tee trinken« (a.a.O., 158). Sie würden<br />

sich vermutlich andere Betätigungen suchen, in denen sie<br />

eine gewisse Risikobereitschaft ausleben könnten. Von daher<br />

bleibt trotz aller nicht zu unterschätzenden äußeren Sicherheitsvorkehrungen<br />

– die Zahl der Todesopfer ist in den letzten<br />

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Raimar Kremer / Jutta Lutzi / Bernd Nagel, Unfall als Krise<br />

24 Psychische Folgen von Unfällen<br />

Jahrzehnten deutlich zurückgegangen – der große Risikofaktor<br />

»Mensch« mit seiner jeweiligen psychischen Konstitution.<br />

Bereits ohne tiefere psychoanalytische Ursachenforschung ist<br />

nachvollziehbar, dass jemand, der im Zustand hoher psychischer<br />

Aggressionsbereitschaft mit dem Auto unterwegs ist,<br />

ein höheres Risiko darstellt als ein innerlich ausgeglichener<br />

Fahrer. Sollte der Straßenverkehr jemals vollautomatisiert<br />

sein <strong>und</strong> keine Möglichkeit mehr bieten, sich »auszuleben«,<br />

stellt sich die Frage, welch anderer Bereich sich dafür eignet<br />

<strong>und</strong> wo es dann vermehrt zum »Crash« kommt.<br />

3.2 Seelische <strong>und</strong> körperliche Verletzungen –<br />

Gemeinsamkeiten <strong>und</strong> Unterschiede<br />

Hat sich ein Unfall erst einmal ereignet, so bedeutet er für die<br />

davon Betroffenen – unabhängig davon, ob sie ihn verursacht<br />

haben, unfreiwillig darin verwickelt oder lediglich Zeuge<br />

sind –, eine abrupte Unterbrechung eines geplanten Ablaufs<br />

<strong>und</strong> damit einen »Riss zwischen Individuum <strong>und</strong> Umwelt«<br />

(vgl. Fischer/Riedesser 2003, 76). Der bis dahin unbefangene<br />

<strong>und</strong> vertraute Umgang des Individuums mit seiner Umwelt<br />

wird gestört, indem z.B. die Autofahrt durch einen Unfall<br />

abgebrochen, eine geplante Erledigung durch einen Treppensturz<br />

unmöglich gemacht <strong>und</strong> der Grillabend durch eine<br />

Verbrennung nicht mehr durchführbar wird. Das Vertrauen<br />

in die Umgebung <strong>und</strong> die eigenen Steuerungsmöglichkeiten<br />

wird erschüttert, <strong>und</strong> dort, wo bislang Zuversicht <strong>und</strong> Kontrolle<br />

herrschten, finden sich nun Zerstörung <strong>und</strong> Verletzung.<br />

Das Individuum ist in besonderer Weise gefordert, mit solch<br />

einer außergewöhnlichen <strong>und</strong> zunächst unübersichtlichen<br />

Situation zurechtzukommen. Wie gut dies gelingt, hängt ab<br />

von der Schwere des Unfalls <strong>und</strong> der entstandenen Verletzungen,<br />

von der Unterstützung durch Hilfe leistende Personen<br />

<strong>und</strong> nicht zuletzt von der Persönlichkeit des oder der Betreffenden<br />

selbst. Unsichere <strong>und</strong> ängstliche Personen können<br />

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Seelische <strong>und</strong> körperliche Verletzungen 25<br />

bereits bei leichteren Unfällen völlig aus dem Gleichgewicht<br />

geraten, während stabilere Persönlichkeiten eher in der Lage<br />

sind, auch in unübersichtlichen <strong>und</strong> krisenhaften Situationen<br />

handlungsfähig zu bleiben. Welche Bedeutung <strong>und</strong> welche<br />

psychischen Folgen ein Unfall für Betroffene hat, muss folglich<br />

unabhängig von der Schwere des Unfalls jeweils im Blick<br />

auf den Einzelfall eingeschätzt werden.<br />

Bei einem Unfallgeschehen richtet sich bei der Frage nach<br />

möglichen Verletzungen der Blick zunächst auf den körperlichen<br />

Zustand der beteiligten Personen. Gibt es keine<br />

augenscheinlichen körperlichen Verletzungen <strong>und</strong> auch<br />

keinen Verdacht auf mögliche Spätfolgen wie z.B. ein Schleudertrauma,<br />

geht man von der Unversehrtheit der betroffenen<br />

Personen aus. Dies ist jedoch nicht immer der Fall, denn trotz<br />

körperlicher Unversehrtheit können psychische Verletzungen<br />

vorliegen, die nicht auf den ersten Blick sichtbar sind. Die<br />

körperliche <strong>und</strong> die psychische Verfassung nach einem Unfall<br />

müssen nicht übereinstimmen. Eine schwere körperliche<br />

Verletzung kann, muss aber nicht mit einer entsprechenden<br />

schweren psychischen Verletzung einhergehen, wie auch trotz<br />

körperlicher Unversehrtheit dennoch eine schwere psychische<br />

Verletzung vorliegen kann.<br />

Eine unfallbedingte Verletzung oder ein Trauma kann<br />

folglich sowohl die körperliche wie auch die psychische Ebene<br />

betreffen.<br />

Der Begriff »Trauma« (griechisch = Verletzung) wird sowohl<br />

in der Medizin für den somatischen Bereich wie auch<br />

in der Psychologie für den psychischen Bereich verwendet.<br />

Ein psychisches Trauma bezeichnet eine seelische Verletzung,<br />

die als Folge einer psychischen Überforderungssituation<br />

entstanden ist. Die psychische Widerstandsfähigkeit <strong>und</strong> die<br />

psychischen Bewältigungsformen der betreffenden Person<br />

haben nicht ausgereicht für die Bewältigung der Situation,<br />

ihre Psyche war nicht mehr in der Lage, die erlebten Affektzustände<br />

entsprechend zu verarbeiten. Die Folge sind ein<br />

erhöhter Erregungszustand <strong>und</strong> Symptome wie z.B. ständige<br />

Beschäftigung mit dem Geschehen, Reizbarkeit, Schlafstörun-<br />

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