Gedanken zum Jahreswechsel Papa, was hältst du davon? von Peter Neffgen Immer häufiger denke ich, dass früher alles besser war. Und zwar immer dann, wenn ich mich gerade mal wieder über unsere Politiker aufgeregt habe, oder über das dumme Ge- schwätz in den Talk-Shows, die sich mit den Koch-Shows abzuwechseln scheinen. Also bekomme ich abwechselnd Wut oder Hunger. Entspannen tut beides nicht. Doch dann hat- te ich in der Adventszeit einen wunderschönen Traum. Es klingelte an der Haustür. Und meine El- tern spazierten herein. Gerade so, als seien sie niemals verstorben. Schnell beschloss ich im Traum, ihnen die Welt von heute zu zeigen und sie nach ihrer Meinung zu fragen. Ihr Interesse brauchte ich gar nicht erst zu wecken. Meine Mutter entdeckte sofort unseren großen Flachbildschirm. Und als ich ihn einschaltete, bekam sie ganz große Augen. Na ja, im Vergleich zu den alten schwarz-weißen 56 cm-Bildröhren ... ich konnte ihre Aufregung gut verstehen. Aber sofort gingen mir die Pferde durch: „Seht Ihr das denn nicht? Wir steuern doch auf eine Dekadenz zu wie im alten Rom!“ Im Fernsehen liefen gerade „die Geissens“. „Und hier“, schimpfte ich weiter, „seht Euch das an!“ Ich schaltete um auf „Bauer sucht Frau“. Immer noch antworteten mir meine Eltern nicht. Ich versuchte es mit den „Tagesthemen“. Gerade berichtete man vom vierten oder fünften Politiker, dem man gerade wieder einen plagiierten Doktortitel entziehen wollte. Danach ging es um die Eurokrise, die Ablehnung von Transparenz in der Rüstungsindustrie, die Nebenverdienste der Abgeordneten, den von ei- nem vietnamesischen Sprachcomputer frisierten Armutsbericht und schließlich noch um Ki- ta-Plätze, Betreuungsgeld, und das keinen Menschen interessierende Gottesbild unserer Familienministerin Kristina Schröder. Und so, als wollten die „Tagesthemen“ mir helfen, setz- 22 ten sie noch einen drauf und meldeten, die ehe- malige First Lady Bettina Wulff lege Wert auf die Feststellung, nie in einem Bordell gearbeitet zu haben. Als meine Eltern immer noch nicht reagierten, schaltete ich um auf den Jahresrück- blick mit Dieter Nuhr, der gerade dasselbe behauptete und die Richtigkeit seiner These da- mit unterstrich, dass er meinte: „Unser Ex-Bundespräsident kann seine Frau gar nicht im Bordell kennen gelernt haben, der Mann hat doch noch nie für irgend was bezahlt.“ Mir war hundeelend und ich schaute ratsuchend auf meine Eltern. Schließlich hörte ich die weise Stimme meines alten Vaters und er sagte: „Mein Junge, reg dich nicht auf. Das, was du mir gezeigt hast, gab es schon immer. Das liegt an der Gier der Menschen. Die Zeiten sind auch nicht schlechter geworden als früher. Auf schlechte Zeiten folgen gute. Und gute Zeiten enden wieder im Chaos. Der Mensch ist nicht dazu geboren, die Welt in der Balance zu halten. Und du solltest dir nicht den Kopf zerbre- chen über Dinge, die du nicht ändern kannst.“ „Aber was soll ich denn tun?“ antwortete ich und er sagte: „Gehe du nur deinen Weg, denn das ist deine Aufgabe auf dieser Erde.“ Und meine Mutter meinte: „Gott interessiert nur, wie sehr du dich beirren lässt.“ Sie lächelte. Ich wachte auf und fühlte mich plötzlich irgendwie wohler. Heft 22/2013
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