Der Erlaubnistatbestandsirrtum in der Fallbearbeitung ... - Ja-Aktuell
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AUFSATZ Zivilrecht Gesellschaftsrecht<br />
lichkeiten vorhanden, die Beziehungen iRi e<strong>in</strong>mal gewählten<br />
Rechtsform den konkreten Erfor<strong>der</strong>nissen entsprechend auszugestalten.<br />
E<strong>in</strong>e solche atypische Gestaltung liegt dann vor, wenn<br />
e<strong>in</strong>e Rechtsform zwar e<strong>in</strong>deutig feststeht, die Gesellschaft <strong>in</strong>dessen<br />
<strong>in</strong> ihrer Realstruktur vom gesetzlichen Idealtypus abweicht.<br />
E<strong>in</strong> solches Abweichen <strong>der</strong> vertraglichen Ausgestaltung e<strong>in</strong>er Gesellschaft<br />
vom gesetzlichen Leitbild ist Ausdruck von Atypizität;<br />
sie ist immer dann zulässig, wenn <strong>der</strong> Gesetzgeber e<strong>in</strong>em solchen<br />
Rechtsgebilde nicht ausdrücklich die Wirksamkeit versagt.<br />
Das Gesellschaftsrecht geht <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Dogmatik primär davon<br />
aus, dass sich die Gestaltung von Rechtsgebilden an <strong>der</strong> Rechtsformsystematik<br />
zu orientieren hat, die mit dem numerus clausus<br />
<strong>der</strong> Rechtsformen vorgegeben s<strong>in</strong>d. Gleichermaßen – aber sekundär<br />
– ist se<strong>in</strong> Augenmerk auch auf all jene Rechtsgebilde<br />
gerichtet, die von den Rechtsformen des numerus clausus abweichen,<br />
<strong>in</strong> ihrer Gestaltung aber ansonsten durch den Gesetzgeber<br />
nicht ausdrücklich und zw<strong>in</strong>gend untersagt s<strong>in</strong>d. Sie s<strong>in</strong>d<br />
allerd<strong>in</strong>gs im Verständnis <strong>der</strong> dem tradierten Gesellschaftsrecht<br />
zu Grunde liegenden Rechtsformentypologie nicht typisch gestaltet,<br />
son<strong>der</strong>n Ausdrucksformen <strong>der</strong> Atypizität e<strong>in</strong>er Rechtsform<br />
<strong>in</strong> Gestalt <strong>der</strong> Typdehnung (zB als genossenschaftliche<br />
AG) o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Typvermischung (zB als GmbH & Co. KG).<br />
H. EUROP¾ISCHE GESELLSCHAFTSFORMEN<br />
E<strong>in</strong>e wichtige Tendenz <strong>der</strong> Entwicklung im Gesellschaftsrecht unter<br />
den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Globalisierung ist dessen Europäisierung<br />
iRd EU. Das generelle Anliegen e<strong>in</strong>es Europäischen Gesellschaftsrechts<br />
besteht dabei dar<strong>in</strong>, für e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>heitlichen B<strong>in</strong>nenmarkt<br />
solche Rahmenbed<strong>in</strong>gungen zu schaffen, die es den<br />
gesellschaftsrechtlich verfassten Unternehmen ermöglichen, ihren<br />
Standort <strong>in</strong> Europa nach ökonomischen Kriterien zu wählen.<br />
An diese Rahmenbed<strong>in</strong>gungen s<strong>in</strong>d vor allem zwei Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
gestellt: Zum e<strong>in</strong>en müssen sie für alle Unternehmen <strong>in</strong> den<br />
Mitgliedstaaten <strong>der</strong> EU gleich und e<strong>in</strong>heitlich se<strong>in</strong>; zum an<strong>der</strong>en<br />
müssen sie das Zusammenwirken über nationalstaatliche Grenzen<br />
iRd EU ermöglichen, erleichtern und beför<strong>der</strong>n. Das schließt<br />
auch die Schaffung supranationaler gesellschaftsrechtlicher Unternehmensformen<br />
im Maßstab <strong>der</strong> EU e<strong>in</strong>, ist aber ke<strong>in</strong>eswegs<br />
darauf begrenzt. Dennoch haben <strong>in</strong>zwischen <strong>in</strong>sg drei Rechtsformen<br />
von Gesellschaften die hohen Hürden <strong>der</strong> europäischen<br />
Gesetzgebung erfolgreich übersprungen. E<strong>in</strong>e dieser Rechtsformen<br />
ist die Europäische Wirtschaftliche Interessenvere<strong>in</strong>igung<br />
(EWIV), die <strong>in</strong> Deutschland bereits mit Wirkung vom 1. 7. 1989 <strong>in</strong><br />
Vollzug gesetzt worden ist. Bei ihr handelt es sich um e<strong>in</strong>e<br />
Personengesellschaft, <strong>der</strong>en Zweck dar<strong>in</strong> besteht, die wirtschaftliche<br />
Tätigkeit ihrer Mitglie<strong>der</strong> zu erleichtern o<strong>der</strong> zu entwickeln<br />
sowie die Effizienz dieser Tätigkeit zu verbessern (Art 3 I EWIV-<br />
VO). Im H<strong>in</strong>blick auf ihre Zweckbestimmung ist die EWIV auf die<br />
Organisation <strong>der</strong> Unternehmenskooperation beschränkt. Sie ist<br />
juristisch so konstruiert, dass ihr im Verhältnis zur eigenwirtschaftlichen<br />
Tätigkeit ihrer Mitglie<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e auf e<strong>in</strong>en För<strong>der</strong>zweck<br />
ausgerichtete Hilfsfunktion zukommt. <strong>Der</strong> europäische<br />
Gesetzgeber hat diese Zweckbestimmung durch Art 3 I EWIV-VO<br />
noch durch die Festlegung verstärkt, dass die EWIV selbst nicht<br />
Träger<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Unternehmens ist und ke<strong>in</strong>e Gew<strong>in</strong>nerzielungsabsicht<br />
verfolgt. Lei<strong>der</strong> wird die EWIV nicht nur <strong>in</strong> Deutschland<br />
sehr zögerlich als Gesellschaftsrechtsform genutzt.<br />
SE und SCE<br />
E<strong>in</strong> europäisches (E<strong>in</strong>heits-)Gesellschaftsrecht wurde schließlich<br />
über die EWIV h<strong>in</strong>aus vor allem mit zwei weiteren supranationalen<br />
Rechtsformen geschaffen. Das betrifft <strong>in</strong> ganz beson<strong>der</strong>er<br />
Weise die Europäische Aktiengesellschaft (Societas Europaea =<br />
SE), die durch die SE-VO vom 8. 10. 2001 e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> mit<br />
ihr verbundenen Richtl<strong>in</strong>ie zur Arbeitnehmerbeteiligung am<br />
8. 10. 2004 <strong>in</strong> Kraft gesetzt wurde. Durch die mit <strong>der</strong> SE von<br />
Anfang an eng verbundene Europäische Genossenschaft (Societas<br />
Cooperativa Europaea = SCE) wurde zugleich durch die SCE-<br />
VO vom 22. 7. 2003 (ebenfalls e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong> sie ergänzenden<br />
Richtl<strong>in</strong>ie zur Arbeitnehmerbeteiligung) e<strong>in</strong>e weitere, vorerst<br />
letzte supranationale Gesellschaftsrechtsform begründet, die am<br />
18. 8. 2006 <strong>in</strong> Kraft treten wird. Von beiden Rechtsformen dürfte<br />
die SE als »das Liebl<strong>in</strong>gsk<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Gesellschaftsrechtswissenschaft<br />
<strong>in</strong> Europa« 12 im Vergleich zur SCE die größte Verbreitung<br />
erfahren. Dennoch ist e<strong>in</strong>e solche Vorhersage noch nicht zu belegen.<br />
Gleichwohl dürften sowohl die SE als auch die SCE im<br />
Trend <strong>der</strong> Entwicklung des Gesellschaftsrechts liegen.<br />
12 Hommelhoff AG 2001, 279<br />
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
Prof. Dr. Carsten Momsen,<br />
Saarbrücken und Dr. Peter<br />
Rackow, Wiss. Ass., Gött<strong>in</strong>gen<br />
II. Behandlung »echter« Erlaubnistatbestandsirrtümer<br />
1. Beispiele<br />
Von den Ausgangsfällen verbleiben alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> 2. und <strong>der</strong> 4. als<br />
Anwendungsbeispiel für den »echten« <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
(vgl den ersten Teil des Beitrags <strong>in</strong> JA 2006, 550). Fall 4 sei zur Er<strong>in</strong>nerung<br />
wie<strong>der</strong>holt:<br />
<strong>Der</strong> <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Fallbearbeitung</strong> (Teil 2)*<br />
Fall 4: Auf e<strong>in</strong>er serpent<strong>in</strong>enreichen Bergstraße versagen auf<br />
Grund höherer Gewalt die Bremsen am perfekt gewarteten<br />
PKW des A. Um sich zu retten, lenkt er das Fahrzeug auf ei-<br />
654 JA 2006 · Heft 8/9<br />
nen leicht ansteigenden Waldweg. Dort liegt Förster F auf <strong>der</strong><br />
Lauer. Als er A auf sich zu rasen sieht, muss er annehmen,<br />
e<strong>in</strong> militanter Tierschützer wolle ihn umbr<strong>in</strong>gen und schießt<br />
ohne Tötungsvorsatz auf den Arm des A. Tatsächlich hätte A<br />
se<strong>in</strong>en Wagen knapp an F vorbeisteuern können. A verliert<br />
vom Schuss getroffen die Kontrolle und prallt gegen e<strong>in</strong>en<br />
Baum, wobei er schwer verletzt wird.<br />
Als weitere Beispiele kommen <strong>in</strong> Betracht:<br />
* Fortsetzung von Teil 1, abgedruckt <strong>in</strong> JA 2006, 550
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
Fall 5: In Abwandlung zu Fall 2 haben A und B ihr Cast<strong>in</strong>g zuvor<br />
bei <strong>der</strong> Hausverwaltung angemeldet, welche e<strong>in</strong>en entsprechenden<br />
Aushang an allen Zugängen zur Tiefgarage hat<br />
anbr<strong>in</strong>gen lassen. H war jedoch, als er die Garage betrat, völlig<br />
<strong>in</strong> Gedanken und hatte daher den Aushang übersehen.<br />
Fall 6: Anlässlich e<strong>in</strong>er größeren <strong>Ja</strong>gdgesellschaft hat sich<br />
Jäger A h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>em Busch versteckt, Jäger B kauert im Wurzelwerk<br />
e<strong>in</strong>er großen Eiche. Zwar kann A den B durch die<br />
Blätter h<strong>in</strong>durch sehen, für B ist <strong>der</strong> Busch aus <strong>der</strong> Entfernung<br />
jedoch undurchdr<strong>in</strong>gbar. Als B schräg h<strong>in</strong>ter dem von A<br />
als Versteck genutzten Busch e<strong>in</strong>en Fuchs erspäht, br<strong>in</strong>gt er<br />
langsam, um den Fuchs nicht durch hastige Bewegungen aufzuschrecken,<br />
se<strong>in</strong> Gewehr <strong>in</strong> Anschlag. A kann den Fuchs aus<br />
se<strong>in</strong>em Versteck nicht bemerken und so bezieht er das Verhalten<br />
des B auf sich und mutmaßt – völlig unzutreffend –<br />
e<strong>in</strong>en unmittelbar bevorstehenden Racheakt dafür, dass er<br />
dem B vor e<strong>in</strong>igen <strong>Ja</strong>hren die Frau ausgespannt hat. Da er<br />
sich nicht an<strong>der</strong>s gegen den sche<strong>in</strong>bar unmittelbar drohenden<br />
Schuss wehren zu können glaubt, versucht er, dem B das<br />
Gewehr aus <strong>der</strong> Hand zu schießen, verletzt dabei den B aber,<br />
wie er befürchtet hatte, schwer.<br />
Blickt man zunächst auf Fall 4, so wirft <strong>der</strong> E<strong>in</strong>stieg <strong>in</strong> die Lösung<br />
zunächst ke<strong>in</strong>e Probleme auf: Ersichtlich kann nur nach <strong>der</strong><br />
Strafbarkeit des F gefragt se<strong>in</strong> – und zwar wegen e<strong>in</strong>er Körperverletzung,<br />
mangels näherer H<strong>in</strong>weise gem § 223 StGB, die gem<br />
§ 224 I Nr 2 Alt 1 StGB und ggf als e<strong>in</strong>e das Leben des A gefährdenden<br />
Behandlung gem § 224 I Nr 5 StGB qualifiziert ist.<br />
<strong>Der</strong> objektive Tatbestand liegt hier im Ergebnis vor. Die oben 1<br />
angesprochenen Fallstricke »missbräuchliche tatbestandliche<br />
Ausübungshandlung« o<strong>der</strong> »unbefugte tatbestandliche Ausführungshandlung«<br />
s<strong>in</strong>d hier nicht ausgelegt. Unter dem Blickw<strong>in</strong>kel<br />
des objektiven Tatbestands war <strong>der</strong> Schuss auf den A e<strong>in</strong>e<br />
situativ <strong>in</strong>adäquate körperliche Misshandlung. Die zweite Tatbestandsalternative<br />
<strong>der</strong> »Gesundheitsbeschädigung« liegt ebenfalls<br />
vor, da F dem A <strong>in</strong> den Arm geschossen hat. Das Gewehr<br />
ist auch als Waffe iSv § 224 I Nr 2 Alt 1 StGB e<strong>in</strong>zustufen. Ob daneben<br />
die Qualifikation <strong>der</strong> »lebensgefährdenden Behandlung«<br />
vorliegt, ist nach dem Sachverhalt nicht abschließend und mit<br />
Sicherheit zu entscheiden, mag es auch bei dessen »natürlicher«<br />
Betrachtung nahe liegen. Im strafrechtlichen Gutachten, welches<br />
an den positiv umschriebenen Sachverhalt gebunden ist, darf sie<br />
bei folgerichtiger Subsumtion nicht bejaht werden.<br />
Auch <strong>der</strong> subjektive Tatbestand bereitet hier ke<strong>in</strong>e Probleme,<br />
denn F wollte (dolus directus 1. Grades!) den Arm des A treffen.<br />
Spätestens hier geriete man <strong>in</strong> Schwierigkeiten, hätte man den<br />
objektiven Tatbestand <strong>der</strong> Qualifikation des § 224 I Nr 5 StGB bejaht.<br />
Auf <strong>der</strong> Rechtswidrigkeitsebene beg<strong>in</strong>nt nun, wie bereits angedeutet,<br />
die entscheidende Ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong>setzung über die Strafbarkeit<br />
des F. Denn A se<strong>in</strong>erseits hat nicht zurechenbar e<strong>in</strong> Bild<br />
e<strong>in</strong>er Notwehrlage für F geschaffen, er ist im wahrsten S<strong>in</strong>ne des<br />
Wortes <strong>in</strong> die unerquickliche Situation des Versagens <strong>der</strong> Bremsen<br />
»h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geraten«. Es ergibt sich von daher ke<strong>in</strong> Anhaltspunkt,<br />
se<strong>in</strong>e Handlungsfreiheit, sich aus dieser Situation zu befreien,<br />
e<strong>in</strong>zuschränken.<br />
Und damit gelangen wir nun endlich zu den Theorien von –<br />
und hier zeigt sich bereits e<strong>in</strong>e weitere Schwierigkeit – eigentlich<br />
ganz verschiedenen Gegenständen. Zwar haben sämtliche <strong>der</strong><br />
sog »Theorien zum <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong>« <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat die<br />
e<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>samkeit, dass sie sich sämtlich mit diesem Erkenntnisgegenstand<br />
beschäftigen – allerd<strong>in</strong>gs, und dieser Umstand<br />
gerät bisweilen <strong>in</strong> Vergessenheit, aus verschiedenen Blickw<strong>in</strong>-<br />
keln. Teilweise geht es um die Erklärung <strong>der</strong> dogmatischen Figur<br />
des ETB, teilweise jedoch lediglich um die Begründung <strong>der</strong>jenigen<br />
Rechtsfolgen, die als angemessen für e<strong>in</strong>e entsprechende<br />
Fehlvorstellung erachtet werden. Dass man beides nicht e<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
alternativ iSe »Streitentscheids« gegenüberstellen kann, liegt auf<br />
<strong>der</strong> Hand.<br />
2. Theorien <strong>der</strong> dogmatischen E<strong>in</strong>ordnung<br />
Beg<strong>in</strong>nen wir also mit dem, was häufig als die überzeugendste<br />
o<strong>der</strong> jedenfalls handhabbarste Möglichkeit, mit dem Problem umzugehen,<br />
beschrieben wird: Die »rechtsfolgenverweisende Variante<br />
<strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränkten Schuldtheorie«. 2<br />
Bereits die Namensgebung, die sich für dieses Konstrukt e<strong>in</strong>gebürgert<br />
hat, 3 zeigt deutlich, dass hier nicht e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche<br />
Theorie vorliegt, son<strong>der</strong>n, mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> verknüpft, Aussagen zu<br />
zwei unterschiedlichen Gegenständen getroffen werden. 4<br />
Entscheidend für die hier anstehenden Fragen zum Deliktsbzw<br />
Gutachtenaufbau ist zunächst die Kennzeichnung als »Schuldtheorie«.<br />
Dies bedeutet, dass e<strong>in</strong>e Aussage zur Stellung des Vorsatzes<br />
getroffen wird: <strong>Der</strong> Vorsatz ist e<strong>in</strong> Element des Tatbestands,<br />
nicht <strong>der</strong> Schuld. Die nächste Aussage betrifft das, was <strong>in</strong> Schuld<br />
übrig bleibt, nachdem ihr <strong>der</strong> Vorsatz beim Übergang von den<br />
klassischen zu den f<strong>in</strong>alen Handlungslehren gewissermaßen<br />
»abhanden gekommen« ist: Das Unrechtsbewusstse<strong>in</strong> als m<strong>in</strong>imalem<br />
Anknüpfungspunkt e<strong>in</strong>es Vorsatzschuldvorwurfs, des<br />
Vorwurfs an den Täter also, er habe sich nach dem Maßstab<br />
e<strong>in</strong>es Durchschnittsbürgers unrecht verhalten, obwohl er sich<br />
nach se<strong>in</strong>en persönlichen Fähigkeiten hätte an<strong>der</strong>s verhalten<br />
können, eben normkonform. Dort, wo dieses Unrechtsbewusstse<strong>in</strong><br />
fehlt, kann ke<strong>in</strong> <strong>in</strong>dividueller Vorwurf erhoben werden. 5<br />
Die Aussage, die diese »Theorie« zum Unrechtsbewusstse<strong>in</strong><br />
trifft ist, dass e<strong>in</strong> Irrtum über die Bezugspunkte des Unrechtsbewusstse<strong>in</strong>s<br />
nicht den Vorsatz entfallen lässt, son<strong>der</strong>n die Schuld<br />
betrifft.<br />
In Bezug auf den ETB soll zum Ausdruck gebracht werden,<br />
dass dieser ke<strong>in</strong> Tatbestandsirrtum iSd § 16 StGB ist, son<strong>der</strong>n<br />
e<strong>in</strong>em Verbotsirrtum iSd § 17 StGB jedenfalls gleichzustellen ist.<br />
Dies bedeutet, dass ETB nicht den Vorsatz, son<strong>der</strong>n das Unrechtsbewusstse<strong>in</strong><br />
betrifft.<br />
Die Kennzeichnung dieser Ansicht als »rechtsfolgenverweisende<br />
Variante« hat mit <strong>der</strong> dogmatischen E<strong>in</strong>ordnung des ETB<br />
im engeren S<strong>in</strong>ne nichts mehr zu tun. Sie bezieht sich auf die<br />
F<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>er adäquaten Sanktion.<br />
H<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> dogmatischen E<strong>in</strong>ordnung des ETB gibt es<br />
nur wenige abweichende Stimmen: Dies beruht maßgeblich auf<br />
<strong>der</strong> Existenz des § 17 StGB. Mit dieser Norm wird <strong>der</strong> Verbotsirrtum<br />
alternativ neben den Irrtum über Merkmale des Tatbestands,<br />
den Irrtum also, dessen Bezugspunkt <strong>der</strong> Vorsatz ist, gestellt.<br />
Folglich geht <strong>der</strong> Gesetzgeber davon aus, Irrtümer über<br />
das Verbotense<strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat grds nicht den Vorsatz berühren, son<strong>der</strong>n<br />
die Schuld – genauer gesagt das Unrechtsbewusstse<strong>in</strong>.<br />
1 I. 1. c)<br />
2 So etwa bei Jescheck/Weigend, Strafrecht, Allg Teil, 5. Aufl, S 464; Maurach/Gössel/<br />
Zipf, Strafrecht, Allg Teil 1, 8. Aufl, § 37 Rn 43; Wessels/Beulke, Strafrecht, Allg Teil,<br />
31. Aufl, Rn 478 f.<br />
3 Vgl etwa Hillenkamp, 32 Probleme aus dem Strafrecht Allg Teil, 10. Aufl, S 66<br />
4 Zudem zeigt sie, worauf Herzberg JA 1989, 294, zutreffend h<strong>in</strong>weist, den Wunsch, <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Namensgebung nicht nur die jeweilige Auffassung zum <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
son<strong>der</strong>n obendre<strong>in</strong> auch diejenige zum Verbotsirrtum zum Ausdruck zu br<strong>in</strong>gen.<br />
5 Diese Aussagen betreffen zunächst das Vorsatzdelikt, zum Fahrlässigkeitsdelikt<br />
siehe unten 3 b).<br />
JA 2006 · Heft 8/9 655
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
Die ursprünglich häufig diskutierten Varianten <strong>der</strong> sog »Vorsatztheorie«<br />
werden daher kaum noch vertreten. 6 Sie s<strong>in</strong>d zwar<br />
aus <strong>der</strong> Tradition des sog »zweistufigen« Deliktsaufbaus 7 erklärbar<br />
und <strong>in</strong>soweit nach wie vor folgerichtig. Gleichwohl lässt<br />
sich die Annahme, <strong>der</strong> Vorsatz sei e<strong>in</strong> Element <strong>der</strong> Schuld, mit<br />
<strong>der</strong> Existenz zweier selbstständiger Irrtumsnormen mit jeweils<br />
unterschiedlichen Bezugpunkten: (1) Vorsatz Þ Tabestandsausschluss<br />
und (2) Unrechtsbewusstse<strong>in</strong> Þ Schuldm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung o<strong>der</strong><br />
-ausschluss, nicht <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang br<strong>in</strong>gen. 8<br />
Zu diskutieren s<strong>in</strong>d daher de facto die verschiedenen Varianten<br />
<strong>der</strong> Schuldtheorien. Hier lassen sich wie<strong>der</strong>um zwei große<br />
Strömungen ausmachen: Die strenge Schuldtheorie und die e<strong>in</strong>geschränkten<br />
Schuldtheorien. Zur Unterscheidung dieser Ansätze<br />
ist es wie<strong>der</strong>um von Nutzen, sich zunächst die unterschiedlichen<br />
Zielsetzungen vor Augen zu führen: »Strenge« Schuldtheorie<br />
bedeutet, dass die Vertreter dieser Ansicht den ETB als<br />
echten Irrtum über das Verbotense<strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat qualifizieren,<br />
schlicht als Anwendungsfall des § 17 StGB. 9<br />
Gegen diese an sich durch die Gesetzesformulierung <strong>in</strong> § 17<br />
StGB ». . . Verbotense<strong>in</strong> <strong>der</strong> Tat . . .« nahegelegten E<strong>in</strong>ordnung<br />
des ETB hat sich vielfacher Wi<strong>der</strong>spruch geregt: Er wird häufig<br />
verkürzt mit vergleichenden Sanktionserwägungen begründet,<br />
die versuchen, Parallelen zum Unrechtsgehalt bei Tatbestandsirrtümern,<br />
etwa <strong>der</strong> »aberratio-ictus-Konstellation«, zu ziehen<br />
o<strong>der</strong> auch mit dem Argument <strong>der</strong> limitierten Akzessorietät umzugehen<br />
versuchen. Liest man <strong>der</strong>erlei <strong>in</strong> <strong>Fallbearbeitung</strong>en, so<br />
me<strong>in</strong>t <strong>der</strong> Bearbeiter häufig das Richtige, es gel<strong>in</strong>gt ihm dann<br />
jedoch nicht, zum Kern <strong>der</strong> Sache vorzudr<strong>in</strong>gen, möglicherweise<br />
auch, weil die extensive Befassung <strong>der</strong> Ausbildungsliteratur mit<br />
dem Problem des ETB <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen Fällen eher zur Vernebelung als<br />
zur Aufhellung beiträgt.<br />
Tragfähig ist alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e normtheoretische Betrachtungsweise:<br />
<strong>Der</strong> ETB f<strong>in</strong>det se<strong>in</strong>en Bezugspunkt auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Rechtswidrigkeit,<br />
nicht auf <strong>der</strong> des Tatbestands (dann e<strong>in</strong>deutig § 16<br />
StGB) und nicht auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Schuld (dann e<strong>in</strong>deutig § 17<br />
StGB). Da man nun nicht darauf warten sollte, dass <strong>der</strong> Gesetzgeber<br />
e<strong>in</strong>e geson<strong>der</strong>te Regelung für den Irrtum über die Rechtswidrigkeit<br />
<strong>der</strong> Tat kodifiziert, stellt sich die Frage, woh<strong>in</strong> dieser<br />
Irrtum gehört. Betrachtet man die Genese e<strong>in</strong>es strafrechtlichen<br />
Verhaltensbefehls, so ist zwischen <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Rechtspflicht<br />
und <strong>der</strong> <strong>in</strong>dividuellen Verhaltensanfor<strong>der</strong>ung zu differenzieren.<br />
Die Tatbestände des Beson<strong>der</strong>en Teils beschreiben Rechtspflichten,<br />
die für je<strong>der</strong>mann ohne Ausnahme gelten. Sie beruhen auf<br />
dem Pr<strong>in</strong>zip »nem<strong>in</strong>em lae<strong>der</strong>e« – niemand soll aktiv verletzend<br />
<strong>in</strong> fremde Rechtssphären e<strong>in</strong>greifen, 10 kurz, fremde Rechtsgüter<br />
schädigen. Niemand darf fremdes Leben, Eigentum o<strong>der</strong> die Ehre<br />
e<strong>in</strong>es an<strong>der</strong>en Menschen verletzen. Allerd<strong>in</strong>gs ist das Strafrecht<br />
e<strong>in</strong>e soziale Ordnung, die auf die Beilegung von Interessenkonflikten<br />
zielt, diese idealerweise gar nicht zur Entstehung<br />
gelangen lassen will. Wenn verschiedene Interessen (und damit<br />
Rechtssphären) aufe<strong>in</strong>an<strong>der</strong>stoßen, reichen die statischen Verhaltensanweisungen<br />
<strong>der</strong> Tatbestände des Beson<strong>der</strong>en Teils häufig<br />
nicht mehr aus, um den Konflikt beizulegen. Kann A wie im<br />
Fall 3 das Leben des Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>des tatsächlich nur retten, <strong>in</strong>dem er<br />
das Eigentum <strong>der</strong> Eltern verletzt, so bedarf es e<strong>in</strong>es dynamischen<br />
Interessenausgleichs, denn beide relevanten Verhaltensnormen<br />
»Verletze nicht das Leben an<strong>der</strong>er!« und »Verletze nicht das<br />
Eigentum an<strong>der</strong>er!« können hier offensichtlich nicht zugleich befolgt<br />
werden. 11 Diesen dynamischen Interessenausgleich durchzuführen,<br />
ist <strong>der</strong> Zweck <strong>der</strong> Rechtswidrigkeitsebene. IRe abstrakten,<br />
wenngleich situationsbezogenen Analyse ist festzustellen,<br />
welches <strong>der</strong> kollidierenden Interessen durchgesetzt werden darf.<br />
E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> beiden gegenläufigen Verhaltensnormen muss <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
656 JA 2006 · Heft 8/9<br />
solchen Konflikt suspendiert werden. Die Rechtfertigungstatbestände<br />
modifizieren daher die aus den Tatbeständen des Beson<strong>der</strong>en<br />
Teils folgenden statischen Verhaltenspflichten (niemand<br />
darf unter ke<strong>in</strong>en Umständen) dah<strong>in</strong>, dass diese Pflichten unter<br />
den Generalvorbehalt gestellt werden, dass sie nicht auf e<strong>in</strong><br />
kollidierendes Interesse treffen, welches von <strong>der</strong> Rechtsordnung<br />
als diesem <strong>in</strong> <strong>der</strong> konkreten Konfliktsituation gegenüber höherrangig<br />
e<strong>in</strong>geschätzt wird. Es entfällt damit im Konfliktfall die zurücktretende<br />
Rechtspflicht, die Verhaltensnorm wird mit konkret<br />
– genereller Wirkung aufgehoben. Man hätte e<strong>in</strong>en entsprechenden<br />
Geltungsvorbehalt an jeden Tatbestand des Beson<strong>der</strong>en<br />
Teils anfügen müssen, wenn es nicht den Allgeme<strong>in</strong>en Teil gäbe.<br />
Davon kategorial verschieden ist die Wirkung e<strong>in</strong>es Schuldausschlusses:<br />
Hier bleibt die generelle Verhaltensnorm, <strong>der</strong> Verhaltensbefehl<br />
ohne jede E<strong>in</strong>schränkung bestehen. Allerd<strong>in</strong>gs<br />
müssen wir bisweilen anerkennen, dass e<strong>in</strong>zelne Personen subjektiv-<strong>in</strong>dividuell<br />
nicht dazu <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d, ihrer Pflicht zu genügen.<br />
Dies mag im weiteren S<strong>in</strong>ne krankhafte Ursachen haben<br />
(§§ 20, 21 StGB), kann <strong>in</strong> <strong>der</strong> Unabd<strong>in</strong>gbarkeit <strong>der</strong> Erhaltung <strong>der</strong><br />
eigenen Existenz begründet liegen (§ 35 StGB), aber auch dadurch<br />
verursacht werden, dass <strong>der</strong> Täter nicht sieht, dass er<br />
Verbotenes tut, ihm also das Unrechtsbewusstse<strong>in</strong> fehlt, obwohl<br />
er genau weiß, dass er handelt, wie es im Tatbestand beschrieben<br />
ist (§ 17 StGB). 12 An<strong>der</strong>s als bei <strong>der</strong> Rechtfertigung bleibt die<br />
Rechtspflicht als generelle Pflicht bestehen und wird verletzt – es<br />
ist Unrecht verwirklicht worden. Wir können dem schuldlos handelnden<br />
Täter dieses Unrecht aber <strong>in</strong>dividuell nicht vorwerfen.<br />
Dies erhellt, dass e<strong>in</strong> Irrtum, <strong>der</strong> wie <strong>der</strong> ETB das Bestehen<br />
<strong>der</strong> Rechtspflicht betrifft, kategorial verschieden ist vom Verbotsirrtum,<br />
<strong>der</strong> lediglich das <strong>in</strong>dividuelle Befolgen können <strong>der</strong><br />
Rechtspflicht, nicht aber <strong>der</strong>en Fortbestehen betrifft. Die normtheoretische<br />
Betrachtung spräche somit eigentlich für e<strong>in</strong>e Behandlung<br />
des ETB nach den Grundsätzen des § 16 StGB. Nur ist<br />
dieser Weg verbaut, gar nicht so sehr formal durch die Existenz<br />
des § 17 StGB, son<strong>der</strong>n vielmehr durch dah<strong>in</strong>ter stehende Aussage<br />
des Gesetzgebers, § 16 StGB beträfe nur den Vorsatz und<br />
dessen Vorhandense<strong>in</strong> sei abschließend zu klären, bevor man<br />
sich den Fragen <strong>der</strong> Rechtswidrigkeit zuneigt. 13 Wir stehen <strong>in</strong>soweit<br />
also vor e<strong>in</strong>er logisch-systematischen Sperre. Wie kann man<br />
sich aus diesem »Niemandsland« zwischen systematischer und<br />
normtheoretischer Begrenzung befreien?<br />
Da die Vorsatztheorien mit <strong>der</strong> systematischen Betrachtung<br />
<strong>der</strong> Gesetzeslage nicht vere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d und die strenge Schuldtheorie<br />
normtheoretische Brüche enthält, ist uE letztlich nur mit<br />
e<strong>in</strong>em Kompromiss, wie ihn die e<strong>in</strong>geschränkten Schuldtheorien<br />
6 So <strong>in</strong>sb von Otto, Grundkurs Strafrecht Allg Strafrechtslehre, 6. Aufl, § 15 Rn 10;<br />
früher auch Schmidhäuser, Strafrecht Allg Teil Lehrbuch, 2. Aufl, 10/59, 64; <strong>der</strong>s,<br />
Strafrecht Allg Teil Studienbuch, 1982, 7/89.<br />
7 Näher bei Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht Allg Teil, 11. Aufl, § 12 Rn 8.<br />
8 Vergleichbar ist die Diskussion um die Selbstständigkeit <strong>der</strong> Notstandsformen. Auch<br />
hier hat sich die (verme<strong>in</strong>tlich) bessere dogmatische E<strong>in</strong>sicht <strong>der</strong> objektiven Gesetzeslage<br />
– es gibt § 34 und § 35 StGB – zu beugen. Die Fortführung <strong>der</strong> Diskussion<br />
trägt de lege lata leicht gespensterhafte Züge. In <strong>der</strong> <strong>Fallbearbeitung</strong> kann sich <strong>der</strong><br />
Bearbeiter hier wie dort auf e<strong>in</strong>en knappen H<strong>in</strong>weis beschränken. Zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Klausur ersche<strong>in</strong>t es nicht notwendig, Ansichten, die mit <strong>der</strong> gegenwärtigen Gesetzeslage<br />
unvere<strong>in</strong>bar s<strong>in</strong>d, breit zu diskutieren.<br />
9 LK/Hirsch, vor § 32 Rn 8; Hirsch, ZStW 94 (1982), 257 ff; Arm<strong>in</strong> Kaufmann, Lebendiges<br />
und Totes <strong>in</strong> B<strong>in</strong>d<strong>in</strong>gs Normentheorie, 1954, S 258 f; Maurach/Gössel/Zipf (Fn 2)<br />
§ 37 Rn 16 ff, 41; LK/Schroe<strong>der</strong>, § 16 Rn 16 ff; Warda Jura 1979, 294; Welzel, Das<br />
Deutsche Strafrecht, 11. Aufl, S 169 f.<br />
10 Damit s<strong>in</strong>d auch verantwortliche Unterlassungen umfasst. Näher zum Ganzen Momsen,<br />
Zumutbarkeit.<br />
11 Mangels Garantenstellung gilt hier für A nicht das Tötungsverbot aus §§ 212, 13<br />
StGB, son<strong>der</strong>n das allgeme<strong>in</strong>e Hilfsgebot (»Hilfsunterlassungsverbot«) aus § 323 c<br />
StGB, so tatsächlich parallel strukturierte gegenläufige Verhaltensnormen e<strong>in</strong>greifen.<br />
Näher dazu Momsen, Zumutbarkeit.<br />
12 Zum Verhältnis dieser Normen zue<strong>in</strong>an<strong>der</strong> siehe Momsen, Zumutbarkeit, mwN.<br />
13 Hier zeigt sich noch e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> aller Deutlichkeit, warum es so em<strong>in</strong>ent wichtig ist,<br />
Irrtümer über normative Tatbestandsmerkmale, die das Verbotense<strong>in</strong> objektiv tatbestandsmäßiger<br />
Handlungen wie beim Notrufmissbrauch betreffen, von den eigentlichen<br />
ETB zu differenzieren.
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
<strong>in</strong> verschiedenen Variationen anstreben, e<strong>in</strong>e Lösung zu suchen<br />
(vgl auch die Übersichtsschaubil<strong>der</strong> zu den Theoriengruppen<br />
unten im Anhang).<br />
Zur Auswahl stehen damit noch die sog »vorsatzausschließende<br />
e<strong>in</strong>geschränkte Schuldtheorie« und die e<strong>in</strong>gangs bereits angesprochene<br />
»rechtsfolgenverweisende e<strong>in</strong>geschränkte Schuldtheorie«,<br />
die beide – das geht bereits aus den ungetümen Namen hervor<br />
14 – die Quadratur des Kreises versuchen, <strong>in</strong>dem sie letztlich<br />
Unvere<strong>in</strong>bares nicht auf e<strong>in</strong>er Ebene zusammenpressen, son<strong>der</strong>n<br />
bei <strong>der</strong> dogmatischen E<strong>in</strong>ordnung des Phänomens <strong>der</strong> logisch<br />
systematischen Argumentation folgen, woh<strong>in</strong>gegen sie die normtheoretischen<br />
Erkenntnisse (wenigstens?) auf <strong>der</strong> Rechtsfolgenebene<br />
berücksichtigen wollen.<br />
Als E<strong>in</strong>schub sei hier die Frage erlaubt, ob nicht e<strong>in</strong> umgekehrtes<br />
Vorgehen dogmatisch richtiger und doch e<strong>in</strong>en Vorsatzausschluss<br />
anzunehmen und die Erlaubnisbezüglichkeit des Irrtums<br />
bei <strong>der</strong> Strafzumessung ggf verbleiben<strong>der</strong> Fahrlässigkeitsstrafbarkeit<br />
<strong>in</strong> Ansatz zu br<strong>in</strong>gen wäre. Fraglich ist, ob diesen<br />
Bedenken <strong>in</strong> vertretbarer Weise alle<strong>in</strong> durch die ex-ante-Betrachtung<br />
Rechnung getragen werden kann, so dass aus pragmatischen<br />
Gründen letztlich für die Anwendung e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>geschränkten<br />
Schuldtheorie auf <strong>der</strong> Grundlage e<strong>in</strong>er ex-ante-Bewertung<br />
plädiert werden könnte?<br />
Es ist – zunächst – etwas schwierig, die beiden Varianten <strong>der</strong><br />
e<strong>in</strong>geschränkten Schuldtheorie klar vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu scheiden,<br />
wollen beide doch letztlich dasselbe: <strong>Der</strong> Täter, <strong>der</strong> sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
ETB bef<strong>in</strong>det, soll so gestellt werden, als handele er ohne Vorsatz.<br />
E<strong>in</strong>mal versucht man dieses Ergebnis zu erreichen, <strong>in</strong>dem<br />
man den Vorsatz, den man zunächst hatte bejahen müssen, dann<br />
iRd Erörterung des Unrechtsbewusstse<strong>in</strong>s wie<strong>der</strong> ausschließt.<br />
Das ist methodisch natürlich problematisch, denn entwe<strong>der</strong> zieht<br />
man <strong>in</strong>zident den Vorsatz wie<strong>der</strong> zurück <strong>in</strong> die Schuld und reanimiert<br />
damit die klassische Lehre vom Vorsatz als Schuldelement<br />
o<strong>der</strong> man nimmt e<strong>in</strong>e schwere deliktssystematische Friktion<br />
<strong>in</strong> Kauf, <strong>in</strong>dem man den Vorsatz gewissermaßen aufspaltet.<br />
Beides kann trotz im E<strong>in</strong>zelnen durchaus e<strong>in</strong>leuchten<strong>der</strong> Argumentationen<br />
15 nicht zufrieden stellen.<br />
Die zweite Unterabteilung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränkten Schuldtheorie<br />
verweist auf die Rechtsfolgen des § 16 StGB. <strong>Der</strong> ETB wird<br />
dogmatisch analog dem Verbotsirrtum behandelt, se<strong>in</strong>e Rechtsfolgen<br />
h<strong>in</strong>gegen werden analog dem Tatbestandsirrtum festgelegt,<br />
dh <strong>der</strong> Täter wird – wie auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Variante – nur<br />
wegen e<strong>in</strong>es ggf vorliegenden Fahrlässigkeitsdelikts als mitenthaltenem<br />
M<strong>in</strong>us des Vorsatzdelikts bestraft. Dadurch muss nicht<br />
bei <strong>der</strong> Prüfung <strong>der</strong> Schuld auf den Vorsatz e<strong>in</strong>gegangen werden,<br />
vielmehr erfolgt bei Vorliegen e<strong>in</strong>es ETB automatisch e<strong>in</strong> Rechtsfolgenverweis<br />
auf § 16 StGB, wie er ehedem im Zivilrecht verbreitet<br />
war. Dies bedeutet, dass <strong>der</strong> methodische Bruch durch<br />
die Verschiebung <strong>in</strong> die Rechtsfolgenentscheidung kaschiert<br />
wird. Grundlage dieser Argumentation muss letztlich die Differenzierung<br />
von Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld<br />
se<strong>in</strong>. 16 Bis zur Feststellung <strong>der</strong> Strafbegründungsschuld folgt<br />
man dem mit den §§ 16, 17 StGB problemlos zu vere<strong>in</strong>barendem<br />
Modell <strong>der</strong> strengen Schuldtheorie. Mit dem Perspektivenwechsel<br />
<strong>in</strong> die Strafzumessung f<strong>in</strong>det zugleich e<strong>in</strong> Methodenwechsel<br />
statt, denn hier richtet sich die Festsetzung <strong>der</strong> konkreten<br />
Rechtsfolge ausschließlich nach den dargelegten normtheoretischen<br />
Vorgaben, welche denen <strong>der</strong> Vorsatztheorie im Ergebnis<br />
folgen. 17 Für die Zwecke des Referendarexamens ließe sich mit<br />
diesem Weg sicherlich besser leben, denn das Gutachten nimmt<br />
zur Frage <strong>der</strong> Strafzumessung bekanntlich nicht Stellung, weist<br />
also bis dah<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>en methodischen Bruch auf. Im Übrigen ist<br />
diese Lösung jedoch ebenfalls unbefriedigend, schon deshalb,<br />
weil die Trennung von Strafbegründungs- und Strafzumessungsschuld<br />
e<strong>in</strong>e Fiktion ist, die den dogmatischen Grundlagen nicht<br />
entspricht. Auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Strafzumessung werden dieselben<br />
Umstände berücksichtigt wie bei <strong>der</strong> Rechtswidrigkeit und <strong>der</strong><br />
Entschuldigung. Regelmäßig ist es so, dass bestimmte Umstände<br />
lediglich quantitativ nicht ausgeprägt genug s<strong>in</strong>d, um zur<br />
Rechtfertigung o<strong>der</strong> zur Entschuldigung zu führen. Man denke<br />
etwa an e<strong>in</strong>e Provokation, die zwar noch ke<strong>in</strong>e Notwehrlage iSd<br />
§ 32 StGB begründet, jedoch e<strong>in</strong> nachvollziehbares Motiv bildet,<br />
welches aber als Interesse nicht wesentlich iSd § 34 StGB<br />
überwiegt o<strong>der</strong> an e<strong>in</strong>en pathologischen Zustand, <strong>der</strong> nicht zum<br />
Schuldausschluss iSd § 20 StGB führt, son<strong>der</strong>n nur e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />
<strong>der</strong> Schuldfähigkeit nach § 21 StGB begründet. Diese Umstände,<br />
die bereits e<strong>in</strong>mal gewogen und für zu leicht befunden<br />
wurden, werden nun wenigstens bei <strong>der</strong> Strafzumessung strafmil<strong>der</strong>nd<br />
<strong>in</strong> Ansatz gebracht. Hier kann nicht plötzlich e<strong>in</strong> Methodenwechsel<br />
stattf<strong>in</strong>den, die Grenze zwischen Strafbegründung<br />
und Strafzumessung ist nicht qualitativer, son<strong>der</strong>n nur<br />
quantitativer Natur. 18<br />
Schlussendlich können beide Varianten <strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränkten<br />
Schuldtheorie nur im Ergebnis überzeugen, die Missachtung <strong>der</strong><br />
normtheoretischen Gegebenheiten ersche<strong>in</strong>t uE jedoch untragbar.<br />
<strong>Der</strong> Ausweg kann daher nur dar<strong>in</strong> liegen, aus diesen Gegebenheiten<br />
<strong>der</strong> Rechtswidrigkeitsebene die unmittelbare Konsequenz<br />
für die Behandlung des hierauf bezogenen »echten« ETB<br />
zu ziehen:<br />
<strong>Der</strong> ETB ist auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Rechtswidrigkeit zu behandeln,<br />
denn alle<strong>in</strong> hier ist se<strong>in</strong> Bezugspunkt. Aus dem empirischen Faktum,<br />
dass sich e<strong>in</strong> Täter über die objektiven Voraussetzungen<br />
e<strong>in</strong>es Rechtfertigungstatbestands irren kann, folgt, dass dieser<br />
Erlaubnistatbestand aus e<strong>in</strong>em objektiven und e<strong>in</strong>em subjektiven<br />
Element zusammengesetzt ist. Diese Erkenntnis korrespondiert<br />
mit <strong>der</strong> Struktur <strong>der</strong> strafrechtlichen Verhaltenspflicht, denn<br />
die Bewertung als gerechtfertigt suspendiert, wie dargelegt, den<br />
statischen Verhaltensbefehl des betroffenen Tatbestands des<br />
Beson<strong>der</strong>en Teils. Diese Suspendierung kann aber nur e<strong>in</strong>treten,<br />
wenn sowohl objektiv als auch subjektiv e<strong>in</strong>e entsprechende Bewertung<br />
nachvollzogen werden kann. Fehlt das objektive Rechtfertigungselement,<br />
so wird die Verhaltensanordnung objektiv<br />
nicht suspendiert, <strong>der</strong> Täter glaubte jedoch, es lägen Umstände<br />
vor, welche das entsprechende Gebot (»Du sollst nicht fremdes<br />
Eigentum verletzen!« im Fall 3) situativ außer Kraft setzen würden.<br />
Bezogen auf die statische Verhaltenspflicht liegt ggf <strong>der</strong>en<br />
fahrlässige Verletzung vor. Fehlt h<strong>in</strong>gegen das subjektive Element<br />
des Rechtfertigungstatbestands, so glaubt <strong>der</strong> Täter gegen<br />
den Verhaltensbefehl zu verstoßen, glaubt auch nicht an dessen<br />
situative Suspendierung, gleichwohl verwirklicht er ke<strong>in</strong> Erfolgsunrecht,<br />
da er ungewollt dem im Kollisionsfall vorrangigen Interesse<br />
zur Durchsetzung verhilft; es liegt mith<strong>in</strong> strukturell e<strong>in</strong><br />
Versuch vor.<br />
Wenn wir nun akzeptieren, dass es beim ETB wie auch beim<br />
Tatbestandsirrtum im Ergebnis um das Fortbestehen <strong>der</strong> generellen<br />
strafrechtlichen Verhaltenspflicht geht, so kann die Rechtsfolge<br />
sicher ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e se<strong>in</strong>. Dies ist nicht zuletzt deshalb so, weil<br />
das Strafrecht nicht durch die Aufstellung isoliert betrachtet s<strong>in</strong>n-<br />
14 So zutreffend Herzberg JA 1989, 294<br />
15 Kuhlen, Die Unterscheidung von vorsatzausschließendem und nicht vorsatzausschließendem<br />
Irrtum, 1987, S 330; Wolter GA 1984, 37<br />
16 Dazu im E<strong>in</strong>zelnen Momsen, Zumutbarkeit<br />
17 Mit im E<strong>in</strong>zelnen durchaus überzeugen<strong>der</strong> Begründung ist dieser Ansatz nachzulesen<br />
ua bei Tröndle/Fischer, StGB, § 16 Rn 23 ff; Jescheck/Weigend, (Fn 2) S 464;<br />
Lackner/Kühl, 25. Aufl, § 17 Rn 5 ff; Wessels/Beulke, (Fn 2) Rn 478<br />
18 Im E<strong>in</strong>zelnen Momsen, Zumutbarkeit<br />
JA 2006 · Heft 8/9 657
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
voller Verhaltensbefehle zum Zwecke des Rechtsgüterschutzes legitimiert<br />
werden kann, son<strong>der</strong>n nur dadurch, dass es im Konfliktfall,<br />
bei <strong>der</strong> Kollision verschiedener Interessensphäre, vernünftige,<br />
vorrangige Interessen wirksam schützende Lösungen anbietet.<br />
Aus diesem Grund muss <strong>der</strong> ETB dieselben Rechtsfolgen auslösen<br />
wie e<strong>in</strong> Tatbestandsirrtum – e<strong>in</strong>e normtheoretische Verwandtschaft<br />
mit dem Verbotsirrtum besteht demgegenüber nicht.<br />
Von hier aus bieten sich im Pr<strong>in</strong>zip zwei Wege an: <strong>Der</strong> e<strong>in</strong>er<br />
ist <strong>der</strong> von <strong>der</strong> »Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen«<br />
e<strong>in</strong>geschlagene, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e folgt <strong>der</strong> sog »Unrechtstheorie«.<br />
Beide Wege verlaufen nicht weit vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> entfernt. 19<br />
Spricht man von »negativen Tatbestandsmerkmalen«, so<br />
br<strong>in</strong>gt man damit zum Ausdruck, die Abwesenheit e<strong>in</strong>es Rechtfertigungsgrundes<br />
e<strong>in</strong> Merkmal e<strong>in</strong>es jeden Tatbestands des Beson<strong>der</strong>en<br />
Teils ist und die Kodifikation <strong>der</strong> Rechtfertigungsgründe<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em »vor die Klammer gezogenen« Allgeme<strong>in</strong>en Teil<br />
pragmatischen Erwägungen folgt, dogmatisch aber nicht zw<strong>in</strong>gend<br />
sei. Daher sei § 16 StGB direkt anzuwenden. Dem ist entgegenzuhalten,<br />
dass es, wie vorstehend gezeigt, sehr wohl e<strong>in</strong>e<br />
Differenz zwischen Tatbestand und Rechtswidrigkeit gibt: Im<br />
Tatbestand werden die statischen Verhaltensnormen kodifiziert,<br />
welche den Kreis <strong>der</strong>jenigen Rechtsgüter und Interessen ausmachen,<br />
die mit strafrechtlichen Mitteln geschützt werden. <strong>Der</strong><br />
Tatbestand grenzt <strong>in</strong>soweit den Anwendungsbereich des Strafrechts<br />
nach außen ab. Demgegenüber be<strong>in</strong>haltet die Rechtswidrigkeitsebene<br />
strafrechtliche B<strong>in</strong>nenwertungen, die die Durchsetzung<br />
<strong>der</strong> strafrechtlich geschützten Interessen gegene<strong>in</strong>an<strong>der</strong><br />
regeln. Beides zusammen ergibt die Verhaltensnorm, die strafrechtliche<br />
Rechtspflicht.<br />
Um diese normtheoretische Differenz zu artikulieren, ersche<strong>in</strong>t<br />
daher die unter dem Rubrum »Unrechtstheorie« vertretene Auffassung<br />
geeigneter. Sie lässt die Geschlossenheit des Tatbestands<br />
unangetastet und bezieht den ETB alle<strong>in</strong> auf das zweite Element<br />
<strong>der</strong> strafrechtlichen Rechtspflicht, den situativ gültigen Verhaltensbefehl.<br />
Dementsprechend f<strong>in</strong>det § 16 StGB nicht direkt Anwendung.<br />
Irrt <strong>der</strong> Täter über das Vorliegen <strong>der</strong> tatsächlichen Voraussetzungen<br />
e<strong>in</strong>es Rechtfertigungstatbestands, so ist auf Grund <strong>der</strong><br />
strukturellen Entsprechung von Tatbestands- und Rechtswidrigkeitsebene<br />
§ 16 StGB entsprechend anzuwenden. 20<br />
Diese Lösung hat auch den Vorzug, e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>deutigen Prüfungsort<br />
für den ETB zu begründen, 21 nämlich das subjektive<br />
Rechtfertigungselement, also etwa den Verteidigungs-, Rettungso<strong>der</strong><br />
Hilfeleistungswillen.<br />
3. Systematische Umsetzung im Gutachten<br />
<strong>Der</strong> Gang <strong>der</strong> Prüfung soll nun zunächst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Schaubild illustriert<br />
werden, bevor H<strong>in</strong>weise für den Aufbau des Gutachtens<br />
für Vorsatz- und Fahrlässigkeitsdelikte gegeben und schließlich<br />
die verbleibenden Fälle <strong>in</strong>sb »echter« ETB gutachterlich gelöst<br />
werden.<br />
Vorüberlegung:<br />
Liegt e<strong>in</strong> Irrtum über das Erlaubtse<strong>in</strong> e<strong>in</strong>es Verhaltens vor, welches<br />
<strong>der</strong> Täter grds als rechtsgutsbee<strong>in</strong>trächtigend und »tatbestandsmäßig«<br />
erkennt?<br />
<strong>Ja</strong> Ne<strong>in</strong><br />
ETB möglich § 16?, § 17?<br />
Liegt e<strong>in</strong> Tatbestand vor, <strong>der</strong> mittels normativer Tatbestandsmerkmale<br />
von e<strong>in</strong>er Vielzahl objektiv den Tatbestand verwirklichen<strong>der</strong><br />
Handlungen nur e<strong>in</strong>ige als »missbräuchlich« o¾ hervorhebt<br />
und damit als pflichtwidrig bezeichnet?<br />
658 JA 2006 · Heft 8/9<br />
Ne<strong>in</strong> <strong>Ja</strong><br />
Echter ETB unechter ETB<br />
Normtheoretische<br />
§ 16 StGB<br />
Vorüberlegung<br />
(Problemkreis »Irrtum für die<br />
E<strong>in</strong>ordnung <strong>der</strong><br />
über normative Rechtswidrig-<br />
Tatbestandsmerkmale keit«)<br />
Rechtswidrigkeit führt zu<br />
situativer Suspendierung des<br />
statischen Verhaltensbefehls<br />
des BT-Tb<br />
Zustimmung<br />
<strong>Ja</strong> Ne<strong>in</strong><br />
Lehre von den negativen<br />
Tatbestandsmerkmalen<br />
O<strong>der</strong> O<strong>der</strong><br />
Unrechtstheorie<br />
(so hier vertreten)<br />
Unrechtsbewusstse<strong>in</strong> ist Teil<br />
des Vorsatzes als Schuldelement<br />
(§ 16 StGB direkt)<br />
(Vorsatztheorie [P] Gesetz)<br />
ETB entspricht Irrtum über das<br />
Verbotense<strong>in</strong> <strong>der</strong> tatbestandlichen<br />
Handlung (Strenge<br />
Schuldtheorie = § 17 StGB<br />
direkt o<strong>der</strong> Verweis auf die<br />
Strafzumessungsebene, e<strong>in</strong><br />
Ergebnis entsprechend § 16<br />
StGB herbeizuführen =<br />
Varianten <strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränkten<br />
Schuldtheorie)<br />
(P) <strong>in</strong> beiden Fällen: Normtheoretisch<br />
besteht e<strong>in</strong> qualitativer<br />
Unterschied zwischen Entfallen<br />
<strong>der</strong> Rechtspflicht (Tb/RW) und<br />
Ausschluss <strong>der</strong> Vorwerfbarkeit<br />
<strong>der</strong> Verletzung <strong>der</strong> bestehenden<br />
Rechtspflicht auf Grund <strong>in</strong>dividueller<br />
Defizite (Schuld) ETB<br />
wirkt sich daher nicht auf <strong>der</strong><br />
Schuldebene aus.<br />
a) Das Vorsatzdelikt<br />
Für die Abfassung des Gutachtens bedeutet dies zunächst, dass<br />
die <strong>in</strong> <strong>der</strong> E<strong>in</strong>leitung dargelegten systematischen Vorentscheidungen<br />
zu treffen s<strong>in</strong>d. Steht fest, dass e<strong>in</strong> »echter« ETB vorliegt,<br />
so kann und muss dieser erstmals auf <strong>der</strong> Rechtswidrigkeitsebene<br />
erwähnt werden. Liegt e<strong>in</strong> »unechter« ETB vor, so hat <strong>der</strong><br />
Bearbeiter sich mit dem Irrtum über e<strong>in</strong> normatives Tatbestandsmerkmal<br />
ause<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zu setzen.<br />
19 Herzberg JA 1989, 295 folgend lassen sich die e<strong>in</strong>zelnen Autoren nicht s<strong>in</strong>nvoll nach<br />
diesen beiden Variationen unterscheiden, da sich e<strong>in</strong>zelne Argumentationselemente<br />
vermischen. Daher seien auch hier die e<strong>in</strong>zelnen Vertreter geme<strong>in</strong>sam genannt. Zu<br />
diesen gehören ua Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S 244 ff; Hruschka, Strafrecht<br />
nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl, S 193 ff; Arthur Kaufmann, Lackner-FS,<br />
S 194 ff; Sch/Sch/Lenckner, vor § 13 Rn 19 ff; Rox<strong>in</strong>, Strafrecht, AT 1, 3. Aufl, § 14<br />
Rn 61; SK/Rudolphi, § 16 Rn 10 ff; Schünemann, Grundfragen des mo<strong>der</strong>nen Strafrechtssystems,<br />
1984, S 41 ff.<br />
20 Weitere <strong>in</strong>struktive Überlegungen f<strong>in</strong>den sich bei Herzberg JA 1989, 294, 295 ff.<br />
Übrigens bestimmt § 31 I des neuen estnischen StGB (Karistusseadustik – KarS)<br />
aus dem <strong>Ja</strong>hre 2002, dass die Vorsatztat nicht rechtswidrig ist, »wenn <strong>der</strong> Täter<br />
irrtümlich Tatsachen annimmt, welche im Falle ihres Vorliegens die Strafbarkeit<br />
ausschließen würden« (Übertragung <strong>in</strong>s Deutsche durch Herrn Paavo Randma,<br />
Counsellor of the Crim<strong>in</strong>al Chamber am Obersten Gerichtshof, dem die Verf für<br />
den H<strong>in</strong>weis auf die Vorschrift wie für ihre Übersetzung danken).<br />
21 Für die Lehre von den negativen Tatbestandsmerkmalen wäre es an sich konsequent,<br />
den ETB wie auch die Vorsatztheorie iRd subjektiven Tatbestands zu erörtern, was<br />
die oben aufgezeigten Friktionen mit sich br<strong>in</strong>gen würde.
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
IRd Prüfung e<strong>in</strong>es Rechtfertigungsgrundes muss zunächst<br />
soweit subsumiert werden, bis man zur Ablehnung des betreffenden<br />
Merkmals <strong>der</strong> Rechtfertigungslage gelangt, etwa dem Fehlen<br />
e<strong>in</strong>es rechtswidrigen Angriffs.<br />
Sodann sollte unter e<strong>in</strong>er geson<strong>der</strong>ten Überschrift das mögliche<br />
Vorliegen e<strong>in</strong>es subjektiven Rechtfertigungselements auf<br />
Grund <strong>der</strong> Fehlvorstellung des Täters erörtert werden.<br />
Hier ist dann <strong>der</strong> richtige Ort, um auf die oben dargelegte dogmatische<br />
E<strong>in</strong>ordnung des ETB e<strong>in</strong>zugehen und e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> Ansätze<br />
zu wählen. Dies gilt allerd<strong>in</strong>gs nur, sofern <strong>der</strong> Bearbeiter dem<br />
hier vorgeschlagenen Weg folgt. Folgt er <strong>der</strong> (e<strong>in</strong>geschränkten)<br />
Schuldtheorie, so können diese Fragen erstmals auf <strong>der</strong> Schuldebene<br />
unter e<strong>in</strong>em Prüfungspunkt »Unrechtsbewusstse<strong>in</strong>« abgehandelt<br />
werden. <strong>Der</strong> gewählte Aufbau zeigt also wie üblich bereits<br />
die Vorentscheidungen auf, die <strong>der</strong> Bearbeiter getroffen hat.<br />
Nach dem hier vorgeschlagenen Weg bleibt das Problem, wie<br />
die Prüfung des subjektiven Rechtfertigungselements so zu<br />
überschreiben ist, dass nach <strong>der</strong> Verne<strong>in</strong>ung des objektiven<br />
Rechtfertigungstatbestands ke<strong>in</strong> <strong>in</strong>tolerabeler logisch-semantischer<br />
Bruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Reihe <strong>der</strong> Überschriften entsteht. Hier ist es<br />
s<strong>in</strong>nvoll zu erkennen zu geben, dass stets beide Elemente geprüft<br />
werden müssen, wenn e<strong>in</strong>e Ebene bejaht wurde. Es gilt die<br />
gewohnte Überschrift beim Wort zu nehmen, denn richtigerweise<br />
wird die Ebene überschrieben mit »Rechtswidrigkeit« und nicht<br />
mit »Rechtfertigung«. Dies entspricht <strong>der</strong> semantischen Struktur<br />
<strong>der</strong> Überschriften »Tatbestandsmäßigkeit« und »Schuld«.<br />
Verne<strong>in</strong>t man nun den objektiven Rechtfertigungstatbestand,<br />
so hat man festgestellt, dass ke<strong>in</strong> objektives Rechtfertigungselement<br />
vorliegt und kann mit <strong>der</strong> Prüfung fortfahren. Dabei ist zu<br />
empfehlen, unter <strong>der</strong> Überschrift »Rechtswidrigkeit« zwei Untertitel<br />
zu bilden, die bspw »objektive Rechtfertigungselemente«<br />
und »subjektive Rechtfertigungselemente« heißen könnten.<br />
S<strong>in</strong>d objektive Rechtfertigungselemente nicht gegeben, so<br />
kommt man zu dem Ergebnis »objektiv rechtswidrig« und kann<br />
fortfahren zu prüfen, ob die Handlung auch »subjektiv rechtswidrig«<br />
ist – so wie man es von <strong>der</strong> Prüfung des Tatbestands gewohnt<br />
ist.<br />
Wird dann hier letztendlich festgestellt, dass e<strong>in</strong> ETB vorliegt<br />
und die Tat entsprechend § 16 StGB nicht vorsätzlich begangen<br />
wurde, endet die Prüfung des Vorsatzdelikts <strong>in</strong> <strong>der</strong> Prüfungsstufe<br />
»Rechtswidrigkeit – subjektive Rechtfertigungselemente«<br />
und es ist ggf mit dem entsprechenden Fahrlässigkeitsdelikt fortzufahren.<br />
b) Die (häufig verbleibende) Fahrlässigkeitsprüfung<br />
Wird e<strong>in</strong> »echter« <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong> zutreffend als solcher<br />
identifiziert und existiert – wie etwa im wohl übungsarbeitsrelevantesten<br />
Gesetz des § 222 StGB – e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>schlägiger Fahrlässigkeitstatbestand,<br />
ergibt sich das Erfor<strong>der</strong>nis e<strong>in</strong>er Fahrlässigkeitsprüfung<br />
mit Beson<strong>der</strong>heiten. Übungsarbeiten ist hier häufig<br />
e<strong>in</strong>e Unsicherheit anzumerken, die daher rührt, dass e<strong>in</strong> Verhalten,<br />
das (tatbestands-) vorsätzlich – <strong>in</strong>soweit regelmäßig sogar<br />
absichtlich – die Merkmale e<strong>in</strong>es Gesetzes des Beson<strong>der</strong>en<br />
Teils, etwa des § 212 StGB, verwirklicht, wegen <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>konstellation<br />
des <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong>s »als Fahrlässigkeitstat«<br />
geprüft werden muss. Für Fälle e<strong>in</strong>es (objektiv o<strong>der</strong> subjektiv)<br />
unvermeidbaren Irrtums über rechtfertigende Umstände wird<br />
vorgeschlagen, die (objektive o<strong>der</strong> subjektive) Sorgfaltspflichtwidrigkeit<br />
auf die Fehlvorstellung zu beziehen und ggf also Tatbestand<br />
o<strong>der</strong> Schuld zu verne<strong>in</strong>en. 22 Dies leuchtet aber nicht e<strong>in</strong>.<br />
Ist nämlich Bezugspunkt <strong>der</strong> Sorgfaltspflichtwidrigkeit die Verwirklichung<br />
<strong>der</strong> Merkmale des objektiven Tatbestands, mutet die<br />
Position eigenartig an, <strong>der</strong> Handelnde habe zwar zB den objek-<br />
tiven Tatbestand e<strong>in</strong>es Totschlags (<strong>in</strong> Notwehr mit Verteidigungswillen)<br />
absichtlich verwirklicht, sich h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Tatbestandsverwirklichung<br />
<strong>in</strong> Bezug auf § 222 StGB jedoch nicht sorgfaltspflichtwidrig<br />
verhalten. Tatsächlich hat er sich nämlich nur <strong>in</strong> Bezug<br />
auf die Verwirklichung des Gesamtunrechtstatbestands e<strong>in</strong>es<br />
tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Totschlags nicht sorgfaltswidrig<br />
verhalten. <strong>Der</strong> Gesamtunrechtstatbestand, bestehend<br />
aus dem (Unrechts-) Tatbestand <strong>der</strong> fahrlässigen Tat, ist jedoch<br />
nicht Bezugsobjekt <strong>der</strong> Pflichtwidrigkeit; es entspricht dem üblichen<br />
Aufbau <strong>der</strong> Fahrlässigkeitstat, vor Prüfung <strong>der</strong> Wertungsstufe<br />
<strong>der</strong> Rechtswidrigkeit im Unrechtstatbestand (des fahrlässigen<br />
Erfolgsdelikts) Erfolgsverursachung, objektive Sorgfaltspflichtverletzung<br />
und objektive Zurechenbarkeit festzustellen. 23<br />
Das bedeutet, dass bei Feststellung <strong>der</strong> Sorgfaltspflichtwidrigkeit<br />
die Rechtswidrigkeit noch gar nicht geprüft worden ist. Bereits<br />
dieser »aufbautechnische« Befund spricht gegen die Richtigkeit<br />
des Rückschlusses vom Vorliegen e<strong>in</strong>es unvermeidbaren Irrtums<br />
über rechtfertigende Umstände auf die mangelnde Sorgfaltswidrigkeit.<br />
Das Erfor<strong>der</strong>nis <strong>der</strong> Sorgfaltswidrigkeit des Handelns bei Vorhersehbarkeit<br />
<strong>der</strong> Erfolgsverursachung muss auf den tatbestandlichen<br />
Erfolg bezogen bleiben, soll nicht die Grenze zwischen den<br />
Wertungsstufen <strong>der</strong> Tatbestandsmäßigkeit und <strong>der</strong> Rechtswidrigkeit<br />
e<strong>in</strong>geebnet werden, ohne dass damit e<strong>in</strong> erkennbarer Gew<strong>in</strong>n<br />
verbunden wäre. Im Gegenteil zeigt sich das Defizit des<br />
kritisierten Rückschlusses <strong>in</strong> ungelenken Formulierungen <strong>in</strong><br />
Übungsarbeiten, die <strong>der</strong> mit Verteidigungswillen geführten Tathandlung,<br />
welche mit größter Sorgfalt auf die Verwirklichung des<br />
tatbestandlichen Erfolgs gerichtet war, ihre objektive Sorgfaltswidrigkeit<br />
nehmen wollen. <strong>Der</strong> Begriff <strong>der</strong> »sorgfaltspflichtwidrigen<br />
Erfolgsherbeiführung« muss aber die Konstellation <strong>der</strong> Putativnotwehr<br />
verfehlen, so wie er auch an <strong>der</strong> überzeugenden<br />
Beschreibung je<strong>der</strong> (tatsächlich) gerechtfertigten Tatbestandsverwirklichung<br />
scheitert: <strong>Der</strong> Polizeischarfschütze, <strong>der</strong> mit aller<br />
Sorgfalt zwischen die Augen des Geiselnehmers zielt, welcher<br />
sich mit se<strong>in</strong>en Geiseln <strong>in</strong> die Luft zu sprengen droht, und den<br />
Schuss auslöst, um diesen mit größtmöglicher Sicherheit auf <strong>der</strong><br />
Stelle zu töten, damit er nicht mehr se<strong>in</strong>e Bombe auslösen kann,<br />
tötet vorsätzlich. Er verwirklicht sorgfältig 24 den Tatbestand des<br />
§ 222 StGB. 25 Also – bedenkt man, dass die tatbestandlichen<br />
Umschreibungen generalisierende Unrechtsumschreibungen<br />
enthalten – hat <strong>der</strong> Scharfschütze diesbezüglich, <strong>in</strong>soweit er absichtlich<br />
e<strong>in</strong>en Menschen tötete, sorgfaltswidrig gehandelt. Genauso<br />
selbstverständlich ist jedoch bei Vorliegen <strong>der</strong> Voraussetzungen<br />
<strong>der</strong> Nothilfe se<strong>in</strong>e Rechtfertigung nach § 32 StGB, welche<br />
dazu führt, dass sich se<strong>in</strong>e Diensthandlung nicht als sorgfaltspflichtwidrige<br />
Verwirklichung des e<strong>in</strong>schlägigen Gesamtunrechtstatbestands,<br />
<strong>der</strong> sich aus den objektiven Tatbestandsmerkmalen<br />
des § 212 StGB, <strong>der</strong> objektiven Sorgfaltswidrigkeit bei objektiver<br />
Vorhersehbarkeit des Erfolgs und <strong>der</strong> Wertungsstufe <strong>der</strong><br />
Rechtswidrigkeit zusammensetzt, darstellt, <strong>der</strong> Schuss also ke<strong>in</strong><br />
Unrecht, son<strong>der</strong>n im Gegenteil <strong>der</strong> nach Lage <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>zig<br />
verbleibende Weg zur Durchsetzung des Rechts ist.<br />
22 Wessels/Beulke (Fn 2) Rn 892<br />
23 E<strong>in</strong>gehend zur Fahrlässigkeitstat: Kretschmer Jura 2000, 269, 276; Wessels/Beulke<br />
(Fn 2) Rn 664<br />
24 Verstanden als <strong>in</strong>soweit plangemäß, als <strong>der</strong> Geiselnehmer mit Präzision getötet wird,<br />
ohne dass Dritte zu Schaden kommen.<br />
25 Vgl Vollenwei<strong>der</strong>/Akeret/Blatter, Krim<strong>in</strong>alistik, 2003, 183 mwN: »E<strong>in</strong>e absolute und<br />
<strong>in</strong> gewissen Situationen augenblickliche Angriffsunfähigkeit des . . . Angreifers kann<br />
. . . bei extremen Aggressionsformen . . . nur durch sofortige Tötung bzw ›durch den<br />
f<strong>in</strong>alen Todesschuss <strong>in</strong> das Zentralnervensystem des Gehirns mit Öffnung <strong>der</strong> Schädelhöhle<br />
o<strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>e Schussverletzung des Rückenmarks‹ erzielt werden. . . .<br />
<strong>Der</strong> Auftrag an Präzisionsschützen, e<strong>in</strong>en Angreifer sofort aktionsunfähig zu machen,<br />
ist . . . nur mit Deformationsgeschossen hoher Präzision zu erfüllen.«<br />
JA 2006 · Heft 8/9 659
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
Diese Überlegungen zeigen, dass es zu kurz gesprungen ist,<br />
etwa <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fall, <strong>in</strong> dem trotz sorgfältiger Prüfung <strong>der</strong> Situation<br />
e<strong>in</strong>e Rechtfertigung des Irrenden ausscheiden muss, weil<br />
das E<strong>in</strong>griffsopfer nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verantwortung für die Schaffung<br />
des Bildes e<strong>in</strong>er Rechtfertigungslage steht, die sorgfaltswidrige<br />
Erfolgsverursachung abzulehnen. 26 Verne<strong>in</strong>t man auf <strong>der</strong> Grundlage<br />
e<strong>in</strong>er ex-ante-Perspektive <strong>in</strong> den Fällen des »sche<strong>in</strong>baren«<br />
ETB den Gesamtunrechtstatbestand 27 und bei Vorliegen e<strong>in</strong>es<br />
»echten« <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong>s mit <strong>der</strong> hM die Vorsatzschuld<br />
28 o<strong>der</strong> – wie uE vorzugswürdig – das subjektive Moment<br />
<strong>der</strong> Rechtswidrigkeit, ist es stattdessen nur konsequent, iRe sich<br />
ggf anschließenden Prüfung wegen fahrlässiger Tat bei objektiv<br />
pflichtgemäßer Prüfung <strong>der</strong> (verme<strong>in</strong>tlichen) Rechtfertigungslage<br />
trotz sorgfaltswidriger Verwirklichung des Tatbestands das<br />
Handlungsunrecht <strong>der</strong> fahrlässigen Tat als (übergeordnetes) Element<br />
des Gesamtunrechtstatbestands 29 trotz objektiven Fehlens<br />
e<strong>in</strong>es Rechtfertigungsgrundes zu verne<strong>in</strong>en 30 und bei lediglich<br />
fehlen<strong>der</strong> subjektiver Sorgfaltspflichtverletzung bzgl <strong>der</strong> irrigen<br />
Annahme <strong>der</strong> Voraussetzungen e<strong>in</strong>es Rechtfertigungsgrundes<br />
die Fahrlässigkeitsschuld abzulehnen.<br />
III. Formulierungsvorschläge zu den Fällen<br />
Fall 1: Tatbestandsmäßigkeit:<br />
IRd objektiven Tatbestands sollte die von e<strong>in</strong>er MM vertretene<br />
situationsgebundene Beurteilung <strong>der</strong> körperlichen Misshandlung<br />
angesprochen werden. Auf Ebene <strong>der</strong> Rechtswidrigkeit<br />
ist das Vorliegen objektiver Rechtfertigungselemente<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> gebotenen Kürze zu verne<strong>in</strong>en, da e<strong>in</strong>e Notwehrlage<br />
sowohl bei ex-ante- als auch bei ex-post-Betrachtung ausscheidet.<br />
Nach hier vertretener Auffassung ist die Problematik<br />
des »echten« ETB im Unterpunkt »subjektive Rechtfertigungselemente«<br />
abzuhandeln. Da se<strong>in</strong>e Voraussetzungen<br />
hier gegeben s<strong>in</strong>d, entfällt analog § 16 StGB <strong>der</strong> Vorsatz. Nun<br />
ist § 229 StGB zu prüfen und zu bejahen.<br />
W könnte sich gem § 223 I Alt 1 StGB <strong>der</strong> Körperverletzung<br />
strafbar gemacht haben, <strong>in</strong>dem er den L mit e<strong>in</strong>em Judogriff zu<br />
Boden geworfen hat.<br />
I. Tatbestandsmäßigkeit<br />
W könnte den L körperlich misshandelt haben. Fraglich ist, ob<br />
<strong>der</strong> schmerzhafte Judogriff, <strong>der</strong> das körperliche Wohlbef<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />
nicht nur unerheblicher Weise bee<strong>in</strong>trächtigte, übel und unangemessen<br />
war. Teilweise wird vertreten, dass dem bei Verteidigungshandlungen<br />
nicht so ist bzw <strong>der</strong> Misshandlungsvorsatz<br />
fehlt. Demnach würde e<strong>in</strong>e Körperverletzung schon tatbestandlich<br />
ausscheiden. E<strong>in</strong>e solche Auslegung ist allerd<strong>in</strong>gs nicht mit<br />
<strong>der</strong> Systematik des Gesetzes <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen: §§ 223, 229<br />
StGB verwenden den gleichen Körperverletzungsbegriff. Demnach<br />
muss e<strong>in</strong>e körperliche Misshandlung auch fahrlässig verwirklicht<br />
werden können. Folglich scheidet e<strong>in</strong>e situationsgebundene<br />
E<strong>in</strong>stufung e<strong>in</strong>er Handlung als Körperverletzung unter Berücksichtigung<br />
<strong>der</strong> Motivationslage aus. Somit hat W den L körperlich<br />
misshandelt; <strong>der</strong> Tatbestand <strong>der</strong> § 223 StGB ist erfüllt.<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
1. Objektive Rechtfertigungselemente<br />
Se<strong>in</strong>e Handlung könnte aber gem § 32 StGB durch Notwehr gerechtfertigt<br />
se<strong>in</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs liegt ex post ke<strong>in</strong>e Notwehrlage vor,<br />
L wollte den W gar nicht angreifen. Ebenso wenig kann alle<strong>in</strong> e<strong>in</strong><br />
Griff <strong>in</strong> den Mantel ohne weitere Anhaltspunkte Grund dafür geben,<br />
e<strong>in</strong>en Passanten anzugreifen, so dass auch bei e<strong>in</strong>er exante-Betrachtung<br />
e<strong>in</strong>e Notwehrlage ausscheidet. W ist nicht<br />
nach § 32 StGB gerechtfertigt.<br />
660 JA 2006 · Heft 8/9<br />
2. Subjektive Rechtfertigungselemente<br />
Er nahm jedoch auf Grund e<strong>in</strong>es Irrtums über tatsächliche Begebenheiten<br />
das Bestehen e<strong>in</strong>er Notwehrlage an. Fraglich ist,<br />
wie solch e<strong>in</strong> <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong> rechtlich zu behandeln<br />
ist. Die strenge Schuldtheorie geht davon aus, dass bei fehlendem<br />
Unrechtsbewusstse<strong>in</strong> immer § 17 StGB e<strong>in</strong>schlägig ist. <strong>Der</strong><br />
Irrtum des W war vermeidbar, so dass er wegen e<strong>in</strong>er vorsätzlichen<br />
Körperverletzung zu bestrafen wäre; zu se<strong>in</strong>en Gunsten<br />
käme lediglich e<strong>in</strong>e fakultative Strafmil<strong>der</strong>ung nach § 17 II iVm<br />
§ 49 I StGB <strong>in</strong> Betracht. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass<br />
<strong>der</strong> ETB als Irrtum über Tatsachen dem Tatbestandsirrtum näher<br />
steht als dem Verbotsirrtum, bei dem <strong>der</strong> Täter e<strong>in</strong>e rechtliche<br />
Fehlbewertung vornimmt. Auch ist zu beachten, dass <strong>der</strong> im Tatbestand<br />
ausgesprochene allgeme<strong>in</strong>e Normbefehl auf Ebene <strong>der</strong><br />
Rechtswidrigkeit auf Grund e<strong>in</strong>es Interessenausgleichs im Kollisionsfall<br />
außer Kraft gesetzt wird. IRd Schuld h<strong>in</strong>gegen wird dem<br />
Täter <strong>der</strong> Verstoß gegen e<strong>in</strong>e bestehende Rechtspflicht lediglich<br />
nicht <strong>in</strong>dividuell vorgeworfen. <strong>Der</strong> ETB betrifft das Bestehen<br />
e<strong>in</strong>er Rechtspflicht; <strong>der</strong> Täter geht davon aus, dass diese suspendiert<br />
ist. Dies ist bei § 17 StGB iRd Schuld gerade nicht <strong>der</strong><br />
Fall. Insofern ersche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e Anwendung von § 17 StGB auf den<br />
sich rechtstreu verhalten wollenden Bürger nicht sachgerecht,<br />
die strenge Schuldtheorie ist mith<strong>in</strong> abzulehnen.<br />
Aus diesem Grund propagiert die <strong>in</strong> zwei Spielarten vertretene<br />
e<strong>in</strong>geschränkte Schuldtheorie die analoge Anwendung<br />
von § 16 I 1 StGB. Vor allem <strong>der</strong> BGH favorisiert die re<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>geschränkte<br />
Schuldtheorie, die <strong>in</strong> solchen Konstellationen analog<br />
§ 16 I 1 StGB den Vorsatz <strong>in</strong>sg entfallen lässt. Demgegenüber bejaht<br />
die von <strong>der</strong> hL vertretene rechtsfolgenverweisende e<strong>in</strong>geschränkte<br />
Schuldtheorie den Tatbestandsvorsatz, verne<strong>in</strong>t aber<br />
die Vorsatzschuld. Nach ihr werden also nur die Rechtsfolgen<br />
des § 16 I 1 StGB entsprechend auf den ETBI angewandt. <strong>Der</strong> vorsatzausschließenden<br />
Variante ist entgegenzuhalten, dass sie<br />
den auf Tatbestandsebene bereits bejahten Vorsatz iRd Unrechtsbewusstse<strong>in</strong>s<br />
plötzlich verne<strong>in</strong>t und, wie früher beim zweigliedrigen<br />
Deliktsaufbau, den Vorsatz methodisch <strong>in</strong> die Schuld<br />
verschiebt. Diese dogmatische Unstimmigkeit sche<strong>in</strong>t die e<strong>in</strong>geschränkte<br />
rechtsfolgenverweisende Schuldtheorie zu vermeiden,<br />
<strong>in</strong>dem sie den Vorsatz bestehen lässt und nur die Rechtsfolgen<br />
dem § 16 StGB entnimmt. Auf den zweiten Blick wird allerd<strong>in</strong>gs<br />
klar, dass <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> vorsatzausschließenden Variante bemängelte<br />
dogmatische Bruch durch e<strong>in</strong>e Verschiebung <strong>in</strong> die Rechtsfolgenverweisung<br />
nur kaschiert wird. Im Pr<strong>in</strong>zip wird bis zur<br />
Feststellung <strong>der</strong> Strafbegründungsschuld <strong>der</strong> strengen Schuldtheorie<br />
gefolgt, um auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Strafzumessung den normtheoretischen<br />
Vorgaben zu folgen, die <strong>der</strong> Vorsatztheorie entsprechen.<br />
Auch ersche<strong>in</strong>t die Trennung zwischen Strafbegründungs-<br />
und Strafzumessungsschuld künstlich. Demnach s<strong>in</strong>d<br />
auch beide Varianten <strong>der</strong> e<strong>in</strong>geschränkten Schuldtheorie abzulehnen.<br />
Alternative Lösungsvorschläge haben sowohl die Lehre<br />
von den negativen Tatbestandsmerkmalen als auch die Unrechtstheorie<br />
geliefert. Nach ersterer ist das Nichte<strong>in</strong>greifen von<br />
Rechtfertigungsgründen Voraussetzung für die Bejahung des<br />
Tatbestandes. Dem ist jedoch <strong>der</strong> strukturelle Unterschied zwischen<br />
Tatbestand und Rechtswidrigkeit entgegenzuhalten. Im<br />
Tatbestand werden Verhaltensbefehle artikuliert, die auf Ebene<br />
<strong>der</strong> Rechtswidrigkeit nach e<strong>in</strong>er generellen Interessenabwägung<br />
26 Vgl Wessels/Beulke (Fn 2) Rn 892.<br />
27 Und zwar durch Ablehnung von objektivem o<strong>der</strong> subjektivem Tatbestand o<strong>der</strong> durch<br />
Annahme e<strong>in</strong>es Rechtfertigungsgrundes; vgl oben I<br />
28 Vgl oben II 2<br />
29 Vgl für e<strong>in</strong>en Überblick über die Tatbestandslehre Wessels/Beulke (Fn 2) Rn 116 ff<br />
30 Zutreffend erkannt von Nippert/Tr<strong>in</strong>kl JuS 2002, 967; vgl auch Graul JuS 1995, 1052
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
<strong>in</strong> bestimmten Kollisionsfällen außer Kraft gesetzt worden s<strong>in</strong>d.<br />
Dies spricht gegen e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stufung von Rechtfertigungsgründen<br />
als negative Tatbestandsmerkmale. Dieser normtheoretische Unterschied<br />
wird durch die Unrechtstheorie zum Ausdruck gebracht.<br />
Sie prüft den ETB iRd Rechtswidrigkeit und wendet iRd<br />
subjektiven Rechtfertigungselemente § 16 StGB analog an. Somit<br />
entfällt <strong>der</strong> Vorsatz des W.<br />
W hat sich nicht gem § 223 StGB <strong>der</strong> Körperverletzung strafbar<br />
gemacht.<br />
W könnte sich gem § 229 StGB <strong>der</strong> fahrlässigen Körperverletzung<br />
strafbar gemacht haben, <strong>in</strong>dem er L auf Grund e<strong>in</strong>es verme<strong>in</strong>tlich<br />
bevorstehenden Angriffs mit e<strong>in</strong>em Judogriff zu Boden warf.<br />
W hat den L körperlich misshandelt. Allerd<strong>in</strong>gs wird bei nicht<br />
fahrlässiger Situationsverkennung, die zur Annahme rechtfertigen<strong>der</strong><br />
Umstände führt, vielfach die Sorgfaltspflichtwidrigkeit<br />
verne<strong>in</strong>t. Indes ist zu beachten, dass Bezugspunkt <strong>der</strong> Sorgfaltspflichtwidrigkeit<br />
<strong>der</strong> tatbestandliche Erfolg ist. Die Körperverletzung<br />
ist vorsätzlich herbeigeführt worden und damit auch sorgfaltspflichtwidrig.<br />
E<strong>in</strong> Rechtfertigungsgrund liegt nicht vor, da es<br />
– wie dargetan – tatsächlich an e<strong>in</strong>em Angriff des L fehlt. Die Annahme,<br />
<strong>der</strong> Griff e<strong>in</strong>es Landstreichers unter den Mantel deute<br />
auf e<strong>in</strong>en bevorstehenden Angriff h<strong>in</strong>, beruht nicht auf e<strong>in</strong>er<br />
nach den persönlichen Fähigkeiten des W pflichtgemäßen E<strong>in</strong>schätzung<br />
<strong>der</strong> Situation. Es liegt damit auch e<strong>in</strong>e subjektivpflichtwidriger<br />
Verkennung <strong>der</strong> Umstände vor. W handelte damit<br />
auch schuldhaft.<br />
W hat sich gem § 229 StGB strafbar gemacht.<br />
Fall 2: In Konstellationen wie <strong>der</strong> vorliegenden, bei denen bei<br />
e<strong>in</strong>er ex-ante-Betrachtung e<strong>in</strong>e Notwehrlage gegeben ist, ex<br />
post gesehen h<strong>in</strong>gegen nicht, wird die Notwehrlage oft vorschnell<br />
verne<strong>in</strong>t und e<strong>in</strong> ETB angenommen. Hier ist iRd<br />
Rechtswidrigkeit ausführlich zu diskutieren, ob bei Prüfung<br />
<strong>der</strong> Notwehrlage e<strong>in</strong>e ex-ante- o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e ex-post-Perspektive<br />
e<strong>in</strong>zunehmen ist. Folgt man, wie hier, ersterer Ansicht, ist <strong>der</strong><br />
Fall iRd § 32 StGB zu lösen, bevorzugt man die hM, ist auf die<br />
hier auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Rechtswidrigkeit, von <strong>der</strong> hM h<strong>in</strong>gegen<br />
iRd Schuld geprüften Voraussetzungen des ETB e<strong>in</strong>zugehen<br />
(vgl Fall 1).<br />
H könnte sich gem § 212 StGB des Totschlags strafbar gemacht<br />
haben, <strong>in</strong>dem er den A die Treppe h<strong>in</strong>unter stieß und sich dieser<br />
dabei tödliche Verletzungen zuzog.<br />
I. Tatbestandsmäßigkeit<br />
H hat den Tod des A kausal, objektiv zurechenbar und bed<strong>in</strong>gt<br />
vorsätzlich verwirklicht.<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
1. Objektive Rechtfertigungselemente<br />
Er könnte allerd<strong>in</strong>gs gem § 32 StGB gerechtfertigt se<strong>in</strong>. Voraussetzung<br />
hierfür ist, dass e<strong>in</strong>e Notwehrlage, also e<strong>in</strong> gegenwärtiger,<br />
rechtswidriger Angriff auf e<strong>in</strong> geschütztes Rechtsgut vorliegt.<br />
Legt man e<strong>in</strong>e ex-post-Betrachtung zu Grunde, wäre dies<br />
zu verne<strong>in</strong>en. Stellt man h<strong>in</strong>gegen auf den Kenntnisstand ab, den<br />
e<strong>in</strong> objektiver Dritter im Zeitpunkt des E<strong>in</strong>greifens hatte, befand<br />
sich H <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Notwehrlage. Für e<strong>in</strong>e ex-ante-Betrachtung<br />
spricht, dass das Strafrecht e<strong>in</strong>e Verhaltensnormordnung darstellt,<br />
die dem Bürger Leitl<strong>in</strong>ien für se<strong>in</strong> Verhalten bieten soll.<br />
E<strong>in</strong>e ex-post-Betrachtung vorzunehmen hieße vom Bürger Unmögliches<br />
zu verlangen, weil man für die Beurteilung <strong>der</strong> Rechtmäßigkeit<br />
e<strong>in</strong>er Handlung Umstände mit e<strong>in</strong>fließen lässt, die<br />
dem Täter im Moment <strong>der</strong> Vornahme <strong>der</strong> Handlung nicht bekannt<br />
waren. Problematisch ist jedoch, dass dem Täter so trotz e<strong>in</strong>er<br />
objektiv ungefährlichen Situation mit dem schneidigen Notwehrrecht<br />
auf Grund <strong>der</strong> korrespondierenden, weitgehenden Duldungspflichten<br />
des Opfers weit reichende E<strong>in</strong>wirkungsbefugnisse<br />
auf dessen Rechtsgüter e<strong>in</strong>geräumt wird, weil nach traditioneller<br />
Dogmatik e<strong>in</strong>e Notwehr gegen Notwehr mangels e<strong>in</strong>es<br />
rechtswidrigen Angriffs ausgeschlossen ist. Genau letztere Prämisse<br />
wird <strong>in</strong> diesem Zusammenhang aber teilweise angezweifelt<br />
– unter konsequenter E<strong>in</strong>haltung <strong>der</strong> ex-ante-Perspektive<br />
könnten sowohl Täter als auch Opfer gem § 32 StGB gerechtfertigt<br />
se<strong>in</strong>. Dies würde aber dazu führen, dass nur viele verschiedene<br />
Verhaltensnormen nebene<strong>in</strong>an<strong>der</strong> stünden, aber gerade<br />
ke<strong>in</strong>e Verhaltensnormordnung entstünde. Das Strafrecht würde<br />
so se<strong>in</strong>e verhaltenssteuernde Funktion verlieren. Somit ist diese<br />
Ansicht abzulehnen, e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>stufung <strong>der</strong> Handlung des Täters als<br />
durch Notwehr gerechtfertigt schließt e<strong>in</strong>e rechtmäßige Gegenwehr<br />
des Opfers aus. Somit ist zu konstatieren, dass dem Opfer,<br />
das ja nichts Verbotenes getan hat, e<strong>in</strong>e weitgehende Duldungspflicht<br />
auferlegt wird. Allerd<strong>in</strong>gs ist zu berücksichtigen, dass,<br />
wenn unvernünftiges Verhalten des Opfers das E<strong>in</strong>greifen des<br />
Täters zurechenbar verursacht hat, e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung des Notwehrrechts<br />
nicht geboten ist. Falls diese Situation aber durch<br />
höhere Gewalt o<strong>der</strong> durch e<strong>in</strong>e fahrlässige Fehle<strong>in</strong>schätzung <strong>der</strong><br />
Gegebenheiten durch den Täter herbeigeführt worden ist,<br />
kommt e<strong>in</strong>e Rechtfertigung des Angreifers nicht <strong>in</strong> Betracht.<br />
Vorliegend hat A den falschen Sche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Lebensgefahr durch<br />
B zurechenbar gesetzt, so dass auf Grund e<strong>in</strong>er ex-ante-Betrachtung<br />
e<strong>in</strong>e Notwehrlage anzunehmen ist. Die Notwehrhandlung<br />
war auch geeignet, erfor<strong>der</strong>lich und von e<strong>in</strong>em Verteidigungswillen<br />
getragen. Folglich ist H gem § 32 StGB gerechtfertigt.<br />
H hat sich nicht gem § 212 StGB strafbar gemacht.<br />
Fall 3: Hier ist zu diskutieren, ob das Vorliegen e<strong>in</strong>er Notstandslage<br />
auf Ebene <strong>der</strong> Rechtswidrigkeit ex ante o<strong>der</strong> ex<br />
post zu bestimmen ist. Geht man, wie hier, von ersterem aus,<br />
kann man den Fall mit § 904 BGB lösen, folgt man <strong>der</strong> zweiten<br />
Ansicht, ist auf den ETB e<strong>in</strong>zugehen.<br />
P könnte sich gem § 303 StGB strafbar gemacht haben, <strong>in</strong>dem er<br />
die Heckscheibe des Kombis e<strong>in</strong>schlug.<br />
P hat die Scheibe kausal und vorsätzlich zerstört; <strong>der</strong> Tatbestand<br />
ist erfüllt.<br />
P könnte aber gem § 904 BGB gerechtfertigt se<strong>in</strong>. Legt man<br />
e<strong>in</strong>e ex-post-Betrachtung <strong>der</strong> Situation zu Grunde, scheidet e<strong>in</strong>e<br />
Rechtfertigung aus, weil zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt die Gefahr bestand,<br />
dass e<strong>in</strong> Säugl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> dem überhitzten Auto erstickt, es<br />
also an e<strong>in</strong>er Gefahr für das Erhaltungsgut »Leben« fehlte. Stellt<br />
man h<strong>in</strong>gegen auf die objektive ex-ante-Sicht ab, wäre e<strong>in</strong>e Notstandslage<br />
zu bejahen. Zusätzlich zu den bei Fall 2 für e<strong>in</strong>e exante-Betrachtung<br />
angeführten Argumenten ist hervorzuheben,<br />
dass <strong>der</strong> Notstand, egal ob nach § 34 StGB o<strong>der</strong> §§ 228, 904<br />
BGB, weniger e<strong>in</strong>griffs<strong>in</strong>tensiv ist als das schneidige Notwehrrecht.<br />
Demnach ist auf die ex-ante-Sicht abzustellen, e<strong>in</strong>e Notstandslage<br />
liegt vor. Die Notstandshandlung war auch geeignet.<br />
E<strong>in</strong> wesentliches Überwiegen des Erhaltungsguts »Leben« gegenüber<br />
dem E<strong>in</strong>griffsgut »Eigentum« ist zu bejahen. Schließlich<br />
wurde Ps Handlung von e<strong>in</strong>em Rettungswillen getragen. Demnach<br />
ist P nach § 904 BGB gerechtfertigt.<br />
P hat sich nicht gem § 303 StGB strafbar gemacht.<br />
Fall 4: Hier sollte die Prüfung <strong>der</strong> Notwehrlage iRd Rechtswidrigkeit<br />
nicht zu oberflächlich ausfallen, auch wenn sie<br />
nach beiden Ansichten im Fall höherer Gewalt im Ergebnis<br />
JA 2006 · Heft 8/9 661
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
zu verne<strong>in</strong>en ist. Sodann ist, nach hier vertretener Ansicht<br />
auf Ebene <strong>der</strong> Rechtswidrigkeit, auf den ETB e<strong>in</strong>zugehen. Da<br />
die vorsätzliche Körperverletzung deshalb nicht gegeben ist,<br />
ist sodann § 229 StGB zu prüfen.<br />
F könnte sich gem §§ 223, 224 I Nr 2 Alt 1, Nr 5 StGB <strong>der</strong> gefährlichen<br />
Körperverletzung strafbar gemacht haben, <strong>in</strong>dem er A <strong>in</strong><br />
den Arm schoss.<br />
I. Tatbestandsmäßigkeit<br />
Durch den Schuss <strong>in</strong> den Arm hat F den A vorsätzlich sowohl<br />
körperlich misshandelt als auch an <strong>der</strong> Gesundheit geschädigt,<br />
<strong>der</strong> Tatbestand <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Körperverletzung ist erfüllt. F hat<br />
mit se<strong>in</strong>em <strong>Ja</strong>gdgewehr e<strong>in</strong>e Waffe nach § 224 I Nr 2 Alt 1 StGB<br />
verwendet. <strong>Der</strong> Schuss <strong>in</strong> den Arm könnte darüber h<strong>in</strong>aus e<strong>in</strong>e<br />
das Leben gefährdende Behandlung iSv § 224 I Nr 5 StGB darstellen.<br />
Insofern ist umstritten, ob e<strong>in</strong>e abstrakte o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>e konkrete<br />
Lebensgefahr erfor<strong>der</strong>lich ist. Für ersteres spricht die Systematik<br />
des Gesetzes – die an<strong>der</strong>en Alternativen des § 224 I StGB<br />
zeigen, dass solche Verhaltensweisen qualifiziert s<strong>in</strong>d, die abstrakt<br />
betrachtet die Gefahr für das Rechtsgut körperliche Unversehrtheit<br />
erhöhen. <strong>Der</strong> Schuss <strong>in</strong> den Arm müsste also das Leben<br />
des A abstrakt gefährdet haben. Insofern ist allerd<strong>in</strong>gs auf die Art<br />
<strong>der</strong> Verletzung – Schuss <strong>in</strong> den Arm – abzustellen und nicht auf<br />
die möglichen Verletzungen, wenn die Kugel zB den Brustkorb<br />
getroffen hätte. E<strong>in</strong>e Lebensgefahr auf Grund von Blutverlust und<br />
mangels Hilfe mag zwar nahe liegend ersche<strong>in</strong>en, geht aber mangels<br />
weiterer Angaben aus dem Sachverhalt nicht e<strong>in</strong>deutig hervor,<br />
so dass e<strong>in</strong>e gefährliche Körperverletzung nicht gegeben ist.<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
1. Objektive Rechtfertigungselemente<br />
F könnte aber gem § 32 StGB durch Notwehr gerechtfertigt se<strong>in</strong>.<br />
Betrachtet man die Situation ex ante, liegt e<strong>in</strong>e Notwehrlage vor,<br />
bei e<strong>in</strong>er Beurteilung ex post h<strong>in</strong>gegen nicht. Allerd<strong>in</strong>gs ist hier<br />
zu beachten, dass hier das Auto auf Grund von höherer Gewalt<br />
auf den F zurollt, A den Ansche<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Notwehrlage also nicht<br />
zurechenbar gesetzt hat. Demnach ersche<strong>in</strong>t es nicht angebracht,<br />
ihm die aus e<strong>in</strong>em etwaigen Notwehrrecht des F resultierenden<br />
weitgehenden Duldungspflichten aufzuerlegen. Folglich<br />
scheidet e<strong>in</strong>e Rechtfertigung gem § 32 StGB aus.<br />
2. Subjektive Rechtfertigungselemente<br />
F nahm jedoch das Bestehen e<strong>in</strong>er Notwehrlage an. Er irrte über<br />
tatsächliche Begebenheiten, so dass er sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
befand (vgl Prüfung des ETB im Fall 1). Folglich<br />
entfällt analog § 16 StGB <strong>der</strong> Vorsatz.<br />
A hat sich nicht gem §§ 223, 224 I Nr 2 Alt 1 StGB strafbar gemacht.<br />
A könnte sich gem § 229 StGB <strong>der</strong> fahrlässigen Körperverletzung<br />
strafbar gemacht haben, <strong>in</strong>dem er F <strong>in</strong> den Arm schoss.<br />
I. Tatbestandsmäßigkeit<br />
E<strong>in</strong>e Körperverletzung ist gegeben. Fraglich ist jedoch, ob A<br />
sorgfaltspflichtwidrig gehandelt hat. Dies wird bei wie hier nichtfahrlässiger<br />
Situationsverkennung vielfach verne<strong>in</strong>t. Jedoch ist<br />
zu beachten, dass Bezugspunkt <strong>der</strong> Sorgfaltspflichtwidrigkeit<br />
<strong>der</strong> tatbestandliche Erfolg ist. Die Körperverletzung ist vorsätzlich<br />
und damit sorgfaltspflichtwidrig herbeigeführt worden.<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
Rechtfertigungsgründe greifen, wie gesehen, nicht e<strong>in</strong>. Zudem<br />
hat A das Vorliegen <strong>der</strong> verme<strong>in</strong>tlich rechtfertigenden Situation<br />
nicht objektiv-pflichtgemäß geprüft, so dass das Gesamtunrecht<br />
<strong>der</strong> fahrlässigen Körperverletzung gegeben ist.<br />
662 JA 2006 · Heft 8/9<br />
III. Schuld<br />
Allerd<strong>in</strong>gs führt die Tatsache, dass A bezüglich <strong>der</strong> dem ETB zu<br />
Grunde liegenden Situationsverkennung e<strong>in</strong>e subjektive Sorgfaltspflichtverletzung<br />
nicht vorzuwerfen ist, dazu, dass ihm die<br />
diesbezügliche Fahrlässigkeitsschuld fehlt. A handelte nicht<br />
schuldhaft.<br />
A hat sich nicht gem § 229 StGB strafbar gemacht.<br />
Fall 5: Hier ist sowohl aus <strong>der</strong> ex-ante- als auch aus <strong>der</strong> expost-Perspektive<br />
e<strong>in</strong>e Notwehrlage nicht gegeben, § 32 StGB<br />
greift nicht e<strong>in</strong>. Es liegt e<strong>in</strong> ETB vor.<br />
H könnte sich gem § 212 StGB des Totschlags strafbar gemacht<br />
haben, <strong>in</strong>dem er den A die Treppe h<strong>in</strong>unter stieß und sich dieser<br />
tödliche Verletzungen zuzog.<br />
I. Tatbestandsmäßigkeit<br />
H hat den Tod des A kausal, objektiv zurechenbar und bed<strong>in</strong>gt<br />
vorsätzlich verwirklicht.<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
1. Objektive Rechtfertigungselemente<br />
H könnte allerd<strong>in</strong>gs gem § 32 StGB durch Notwehr gerechtfertigt<br />
se<strong>in</strong>. Voraussetzung hierfür ist, dass e<strong>in</strong>e Notwehrlage, also<br />
e<strong>in</strong> gegenwärtiger, rechtswidriger Angriff auf e<strong>in</strong> geschütztes<br />
Rechtsgut vorliegt. Legt man e<strong>in</strong>e ex-post-Betrachtung zu Grunde,<br />
wäre dies zu verne<strong>in</strong>en. Doch auch die ex-ante-Perspektive<br />
führt zu ke<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en Ergebnis – e<strong>in</strong> objektiver Dritter <strong>in</strong><br />
se<strong>in</strong>er Situation hätte den Aushang gelesen und erkannt, dass<br />
es sich bei <strong>der</strong> Szene um e<strong>in</strong> Cast<strong>in</strong>g handelt. Demnach scheidet<br />
e<strong>in</strong>e Rechtfertigung durch Nothilfe aus.<br />
2. Subjektive Rechtfertigungselemente<br />
H stellte sich e<strong>in</strong>e Situation vor, die, wenn sie Realität gewesen<br />
wäre, e<strong>in</strong>e Notwehrlage begründet hätte. Folglich befand er sich<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ETB (vgl zur Prüfung des ETB Fall 1). Demnach entfällt<br />
analog § 16 StGB <strong>der</strong> Vorsatz.<br />
H hat sich nicht gem § 212 StGB strafbar gemacht.<br />
H könnte sich <strong>der</strong> fahrlässigen Tötung nach § 222 StGB strafbar<br />
gemacht haben, <strong>in</strong>dem er A die Treppe h<strong>in</strong>unter stieß.<br />
A ist tot. E<strong>in</strong>e vorsätzlich vorgenommene Körperverletzungshandlung<br />
ist sorgfaltspflichtwidrig (siehe Fall 4). Es war auch objektiv<br />
vorhersehbar, dass e<strong>in</strong> Sturz von e<strong>in</strong>er Treppe tödlich enden<br />
kann. <strong>Der</strong> Tatbestand ist mith<strong>in</strong> erfüllt.<br />
H handelte rechtswidrig.<br />
Es war ihm nach se<strong>in</strong>en subjektiven Fähigkeiten zuzumuten,<br />
den Aushang zu lesen. Folglich verwirklichte er durch die Fehle<strong>in</strong>schätzung<br />
<strong>der</strong> Situation nicht nur Handlungsunrecht, er handelte<br />
darüber h<strong>in</strong>aus auch schuldhaft.<br />
H hat sich gem § 222 StGB <strong>der</strong> fahrlässigen Tötung strafbar<br />
gemacht.<br />
Fall 6: Auch hier liegt we<strong>der</strong> ex post noch ex ante e<strong>in</strong>e Notwehrlage<br />
vor, so dass § 32 StGB ausscheidet. <strong>Der</strong> ETB lässt<br />
den Vorsatz analog § 16 StGB entfallen, § 229 StGB greift<br />
aber e<strong>in</strong>.<br />
A könnte sich gem §§ 223, 224 I Nr 2 Alt 1, Nr 5 StGB <strong>der</strong> gefährlichen<br />
Körperverletzung strafbar gemacht haben, <strong>in</strong>dem er auf B<br />
schoss und ihn schwer verletzte.<br />
I. Tatbestandsmäßigkeit<br />
A hat den B durch den Schuss an <strong>der</strong> Gesundheit geschädigt.<br />
In Bezug auf die körperliche Misshandlung verne<strong>in</strong>t e<strong>in</strong>e MM
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
jedoch bei Verteidigungshandlungen die Übelkeit und Unangemessenheit.<br />
Dem ist jedoch nicht zuzustimmen (siehe<br />
Fall 1). Das Gewehr ist e<strong>in</strong>e Waffe im technischen S<strong>in</strong>n,<br />
§ 224 I Nr 2 Alt 1 StGB ist erfüllt. B wurde laut Sachverhalt<br />
schwer verletzt. Insofern ersche<strong>in</strong>t es zwar nahe liegend, dass<br />
zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>e abstrakte Lebensgefahr bestand. Mangels näherer<br />
Angaben im Sachverhalt kann hiervon <strong>in</strong> dubio pro reo<br />
jedoch nicht ausgegangen werden. A handelte vorsätzlich, so<br />
dass er den Tatbestand e<strong>in</strong>er gefährlichen Körperverletzung<br />
verwirklicht hat.<br />
II. Rechtswidrigkeit<br />
1. Objektive Rechtfertigungselemente<br />
A könnte gem § 32 StGB gerechtfertigt se<strong>in</strong>. Ex post gesehen<br />
liegt allerd<strong>in</strong>gs ke<strong>in</strong>e Notwehrlage vor. Bei Zugrundelegung e<strong>in</strong>er<br />
ex-ante-Perspektive gelangt man jedoch auch zu ke<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en<br />
Ergebnis – es gab ke<strong>in</strong>e Anzeichen, dass B <strong>Ja</strong>hre nach dem<br />
Seitensprung se<strong>in</strong>er Frau e<strong>in</strong>en tödlichen Mordanschlag durchführen<br />
wollte; es ist bei e<strong>in</strong>er <strong>Ja</strong>gdgesellschaft aber eher die Regel<br />
als die Ausnahme, dass man auf Wild anlegt, das sich nicht<br />
im Blickfeld aller <strong>Ja</strong>gdgäste bef<strong>in</strong>det. Demnach scheidet e<strong>in</strong>e<br />
Rechtfertigung durch Notwehr aus.<br />
2. Subjektive Rechtfertigungselemente<br />
A stellte sich e<strong>in</strong>e Situation vor, die, wenn sie Realität gewesen<br />
wäre, e<strong>in</strong>e Notwehrlage begründet hätte. Folglich befand er sich<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ETB (vgl zur Prüfung des ETB Fall 1). Demnach entfällt<br />
analog § 16 StGB <strong>der</strong> Vorsatz.<br />
A hat sich folglich nicht gem §§ 223, 224 I Nr 2 Alt 1 StGB strafbar<br />
gemacht.<br />
A könnte sich gem § 229 StGB <strong>der</strong> fahrlässigen Körperverletzung<br />
strafbar gemacht haben, <strong>in</strong>dem er den B durch e<strong>in</strong>en Schuss<br />
schwer verletzte.<br />
<strong>Der</strong> tatbestandliche Erfolg ist e<strong>in</strong>getreten, se<strong>in</strong>e vorsätzliche<br />
Verwirklichung ist sorgfaltspflichtwidrig (siehe Fall 4).<br />
A handelte auch rechtswidrig.<br />
Se<strong>in</strong> Irrtum über die Notwehrlage war vermeidbar (s.o.), so<br />
dass er Handlungsunrecht verwirklichte. Demnach handelte A<br />
schuldhaft.<br />
A hat sich gem § 229 StGB <strong>der</strong> fahrlässigen Körperverletzung<br />
strafbar gemacht.<br />
B) ANHANG SCHAUBILDER<br />
JA 2006 · Heft 8/9 663
AUFSATZ Strafrecht <strong>Erlaubnistatbestandsirrtum</strong><br />
AUFSATZ Öffentliches Recht Baurecht<br />
Benno Kaplonek und<br />
Matthias Mittag, Wiss. Mit.,<br />
Dresden<br />
Nachbarschutz im öffentlichen Baurecht<br />
<strong>Der</strong> vornehmlich bundesrechtlich determ<strong>in</strong>ierte Nachbarschutz<br />
wird seit mehreren <strong>Ja</strong>hren durch Reformen <strong>der</strong> Landesbauordnungen<br />
(LBOen) 1 erheblich bee<strong>in</strong>flusst, die va <strong>der</strong> <strong>Der</strong>egulierung<br />
und Beschleunigung des bauaufsichtlichen Verfahrens dienen<br />
sollen. Diese »Vere<strong>in</strong>fachung« hat weit reichende Folgen für<br />
den Rechtsschutz des Nachbarn, e<strong>in</strong>er »beliebten« Problematik<br />
<strong>in</strong> öffentlich-rechtlichen Prüfungen. <strong>Der</strong> Beitrag geht beiden Aspekten<br />
des baurechtlichen Nachbarschutzes nach, nämlich zum<br />
e<strong>in</strong>en <strong>der</strong> Frage, welche Vorschriften des Baurechts nachbarliche<br />
Abwehransprüche entstehen lassen und zum an<strong>der</strong>en dem für<br />
die <strong>Fallbearbeitung</strong> nicht m<strong>in</strong><strong>der</strong> wichtigen Problemkreis, wie <strong>der</strong><br />
Nachbar se<strong>in</strong>e Rechte vor Behörde und Gericht (VG) durchsetzen<br />
kann.<br />
A) NACHBARSCHUTZ IM MATERIELLEN BAURECHT<br />
Grundlage des Nachbarschutzes s<strong>in</strong>d die Normen des Baurechts,<br />
die bestimmen, ob und <strong>in</strong> welcher Weise Errichtung, ¾n<strong>der</strong>ung<br />
o<strong>der</strong> Nutzungsän<strong>der</strong>ung von baulichen Anlagen zulässig s<strong>in</strong>d,<br />
und die Auskunft darüber geben, ob sich auf ihre E<strong>in</strong>haltung<br />
auch dritte Personen berufen können.<br />
664 JA 2006 · Heft 8/9<br />
I. Die Schutznormtheorie<br />
Nach welchen Kriterien zu bestimmen ist, ob sich <strong>der</strong> Nachbar<br />
auf die E<strong>in</strong>haltung bestimmter Normen berufen kann, ist <strong>in</strong> Rspr<br />
und hL <strong>in</strong>zwischen weitgehend geklärt: Es existiert ke<strong>in</strong>e allgeme<strong>in</strong>e<br />
Rechtsposition, nach <strong>der</strong> e<strong>in</strong> Nachbar Anspruch auf Schutz<br />
vor Wertm<strong>in</strong><strong>der</strong>ung se<strong>in</strong>es Grundstücks durch fremde Bauvorhaben<br />
hätte. 2 Nach <strong>der</strong> sog Schutznormtheorie ist vielmehr zu<br />
klären, ob e<strong>in</strong>e Norm <strong>in</strong>sb nach Wortlaut und Telos nicht nur Interessen<br />
<strong>der</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit dient, son<strong>der</strong>n zugleich auch dem<br />
Nachbarn e<strong>in</strong>e eigene Rechtsposition e<strong>in</strong>räumt. 3 Schutznormen<br />
s<strong>in</strong>d regelmäßig Vorschriften des materiellen Baurechts. Normen,<br />
die über die formelle Rechtmäßigkeit <strong>der</strong> Baugenehmigung<br />
entscheiden, s<strong>in</strong>d grds nicht drittschützend. An<strong>der</strong>es gilt nur für<br />
solche Verfahrensvorschriften, die erkennbar gerade dem Schutz<br />
nachbarlicher Rechte dienen, wie etwa die Normen über die Ver-<br />
1 Vgl Schulte DVBl 2004, 925; Jäde NVwZ 2003, 668<br />
2 BVerwG NVwZ-RR 1998, 540<br />
3 Ausf BVerwG NVwZ 1987, 409; enger die frühere Rspr, zB BVerwGE 27, 29, 33, die<br />
e<strong>in</strong>en erkennbar abgrenzbaren Kreis E<strong>in</strong>zelner verlangte