Arme Kinder in der Schweiz - Caritas Bern
Arme Kinder in der Schweiz - Caritas Bern
Arme Kinder in der Schweiz - Caritas Bern
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<strong>Bern</strong> <strong>Bern</strong>e<br />
Nr. 1 / 2012<br />
Nachbarn<br />
<strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
Im Kanton <strong>Bern</strong> s<strong>in</strong>d 24 000 <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> von<br />
Armut betroffen. Zwei Familien erzählen,<br />
was das für sie bedeutet.
Inhalt<br />
Wahre Freundschaft ist ke<strong>in</strong>e Frage des Geldes,<br />
sollte man me<strong>in</strong>en …<br />
Schwerpunkt<br />
<strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
Armut grenzt <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> aus, e<strong>in</strong> Leben lang.<br />
Denn Armut wird vererbt, die soziale Mobi-<br />
lität <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> ist ger<strong>in</strong>g. Wer arm ist,<br />
wird hier selten reich. Für <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> hat dies<br />
weitreichende Konsequenzen: Sie können<br />
nicht mit ihren Kamerad<strong>in</strong>nen und Kamera-<br />
den mithalten und stehen im Abseits.<br />
Auch im Kanton <strong>Bern</strong> s<strong>in</strong>d 24 000 <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> von<br />
Armut betroffen. Zwei Familien erzählen,<br />
was das für sie bedeutet. Zudem stellt <strong>Caritas</strong><br />
Zahlen, Fakten und Lösungsansätze vor.<br />
ab Seite 6<br />
Zum Schutz <strong>der</strong> betroffenen <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> haben<br />
wir Bil<strong>der</strong> von Models verwendet.<br />
Inhalt<br />
Editorial<br />
3 von Thomas Stu<strong>der</strong><br />
Geschäftsleiter <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
Kurz & bündig<br />
4 News aus dem <strong>Caritas</strong>-Netz<br />
1963<br />
12 In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> angekommen<br />
Wenn die <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> von Saisonarbeitern<br />
zu ihren Vätern kommen.<br />
Persönlich<br />
13 «Was hat Ihnen als K<strong>in</strong>d am<br />
meisten gefehlt?»<br />
Sechs verschiedene Antworten.<br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
14 «Unsere Tochter fühlte sich<br />
oft ausgeschlossen»<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> aus armen Familien leiden nicht<br />
nur unter den knappen f<strong>in</strong>anziellen Ressourcen<br />
ihrer Eltern. Vielen von ihnen<br />
fehlt es auch an sozialen Kontakten. Das<br />
Patenschaftsprojekt «mit mir» von <strong>Caritas</strong><br />
<strong>Bern</strong> hilft gegen diese Ausgrenzung.<br />
16 <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> <strong>in</strong> ihrem bildhaften<br />
und aktiven Jubiläumsjahr<br />
Anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums<br />
gab <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> ihrem Engagement<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit e<strong>in</strong> Gesicht.<br />
Kiosk<br />
18 Ihre Frage an uns<br />
Gedankenstrich<br />
19 Kolumne von Tanja Kummer<br />
2 Nachbarn 1 / 12
Liebe Leser<strong>in</strong>,<br />
lieber Leser<br />
«<strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> s<strong>in</strong>d das schwächste Glied <strong>der</strong> Armutskette»,<br />
sagt <strong>der</strong> Basler Soziologe Ueli Mä<strong>der</strong>. Die 24 000 im Kanton<br />
<strong>Bern</strong> lebenden armutsbetroffenen <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> wohnen <strong>in</strong> Haushalten,<br />
die auf Sozialhilfe angewiesen s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> zu den «Work<strong>in</strong>g<br />
Poor» gehören. Sie leiden nicht nur daran, dass ihre Familien<br />
über zu wenig Geld verfügen, son<strong>der</strong>n sie s<strong>in</strong>d vielfältig belastet:<br />
mit psychischem Stress <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familie, ungesun<strong>der</strong> Ernährung,<br />
Bildungsdefiziten, vor allem aber mit sozialer Ausgrenzung.<br />
Dies kommt im Beitrag «Unsere Tochter fühlte sich oft<br />
ausgeschlossen» zum Ausdruck.<br />
In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> s<strong>in</strong>d die Bildungschancen ungleich verteilt. <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>,<br />
die <strong>in</strong> sozial unterprivilegierten Schichten mit tiefem Bildungsstand<br />
aufwachsen, haben<br />
«Armut bedeutet<br />
E<strong>in</strong>schränkung an<br />
Wahlmöglichkeiten,<br />
an Perspektiven, an<br />
e<strong>in</strong>er hoffnungsvollen<br />
Zukunft.»<br />
schlechte Chancen, zu Bildung zu<br />
kommen. Nebst dem Mangel an<br />
Gütern und Beziehungen bedeutet<br />
Armut vor allem e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schränkung<br />
an Wahlmöglichkeiten, an<br />
Perspektiven, an e<strong>in</strong>er tragfähigen,<br />
hoffnungsvollen Zukunft.<br />
Der Nobelpreisträger Amartya<br />
Sen spricht von Armut als «Man-<br />
gel an Verwirklichungschancen».<br />
Unsere Massnahmen zur Überw<strong>in</strong>dung von Armut im Kanton<br />
<strong>Bern</strong> sollten deshalb helfen, die Chancen und Perspektiven von<br />
armutsbetroffenen <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n zu verbessern, um nachhaltig zu<br />
wirken.<br />
Walter Schmid, Präsident <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>erischen Konferenz für Sozialhilfe,<br />
hat es am <strong>Caritas</strong>-Forum auf den Punkt gebracht: «Armut<br />
überw<strong>in</strong>den heisst Ausbruch aus e<strong>in</strong>er Welt ohne Wahl.»<br />
Diese Vision begleitet die Mitarbeitenden <strong>der</strong> <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> <strong>in</strong><br />
ihrer Arbeit und <strong>in</strong> ihrem Ziel, den Menschen <strong>in</strong> prekären Lebenssituationen<br />
e<strong>in</strong>e bessere Perspektive zu ermöglichen.<br />
Herzlichst<br />
Nachbarn 1 / 12<br />
Thomas Stu<strong>der</strong><br />
Geschäftsleiter <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
«Nachbarn», das Magaz<strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> regionalen <strong>Caritas</strong>-Stellen,<br />
ersche<strong>in</strong>t zweimal jährlich.<br />
Gesamtauflage:<br />
38 500 Ex.<br />
Auflage BE:<br />
3 800 Ex.<br />
Editorial<br />
Redaktion:<br />
Franziska Herren (<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong>)<br />
Ariel Leuenberger (national)<br />
Gestaltung und Produktion:<br />
Daniela Mathis, Urs O<strong>der</strong>matt<br />
Druck:<br />
Stämpfli Publikationen AG, <strong>Bern</strong><br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
Eigerplatz 5 Postfach<br />
3000 <strong>Bern</strong><br />
Tel. 031 378 60 00<br />
www.caritas-bern.ch<br />
PC 30-1794-2<br />
3
Kurz & bündig<br />
<strong>Caritas</strong>-Markt<br />
Erfolgs-<br />
geschichte<br />
Vor 20 Jahren wurde <strong>der</strong><br />
erste <strong>Caritas</strong>-Markt eröffnet,<br />
seither wächst das<br />
Netz ständig.<br />
Der erste <strong>Caritas</strong>-Markt õffnete<br />
1992 <strong>in</strong> Basel se<strong>in</strong>e Tore, bald<br />
darauf folgten weitere Märkte <strong>in</strong><br />
Luzern und <strong>Bern</strong>. <strong>Schweiz</strong>weit betreibt<br />
<strong>Caritas</strong> heute 23 Märkte, und<br />
das Netz wächst: Im letzten Jahr<br />
s<strong>in</strong>d neue Märkte <strong>in</strong> Baar, Baden<br />
und Biel erõffnet worden.<br />
2011 gab es<br />
neue Märkte <strong>in</strong><br />
Baar, Baden und Biel.<br />
23<br />
<strong>Caritas</strong>-Märkte<br />
gibt es <strong>in</strong> <strong>der</strong> ganzen<br />
<strong>Schweiz</strong>.<br />
E<strong>in</strong>e Zentrale <strong>in</strong> Rothenburg (LU)<br />
ist für die Akquisition und die<br />
Verteilung <strong>der</strong> Waren zuständig –<br />
jährlich rund 13 000 Paletten. Hier<br />
kommen Lieferungen aller Grossverteiler<br />
<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> an. Waren<br />
aus Überproduktionen, schadhaften<br />
Serien, Falschlieferungen o<strong>der</strong><br />
Liquidationen sowie gespendete<br />
Lebensmittel. Die Qualität <strong>der</strong> Lebensmittel<br />
ist e<strong>in</strong>wandfrei und unterliegt<br />
den strengen Bestimmungen<br />
des Lebensmittelgesetzes.<br />
<strong>Caritas</strong>-Markt<br />
Lichtblicke<br />
In den <strong>Caritas</strong>-Märkten können Armutsbetroffene<br />
zu Tiefstpreisen e<strong>in</strong>kaufen.<br />
Mit dem Kauf von Produkten des täglichen Bedarfs können Armutsbetroffene<br />
rund 30 Prozent sparen gegenüber dem E<strong>in</strong>kauf<br />
im Supermarkt. Zum E<strong>in</strong>kauf berechtigt s<strong>in</strong>d Menschen, die am<br />
o<strong>der</strong> unter dem Existenzm<strong>in</strong>imum leben. Nach e<strong>in</strong>er Budgetüberprüfung<br />
erhalten sie e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>kaufskarte, die e<strong>in</strong> Jahr lang<br />
gültig ist, und kõnnen sich dafür etwas leisten, was ihnen sonst<br />
verwehrt wäre: e<strong>in</strong>en K<strong>in</strong>obesuch, e<strong>in</strong>en Ausflug o<strong>der</strong> e<strong>in</strong> neues<br />
Paar Schuhe. Kle<strong>in</strong>e Lichtblicke <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em sorgenreichen Alltag.<br />
Möglich ist dies dank <strong>der</strong> Solidarität, welche die Märkte täglich<br />
von vielen Seiten erfahren. Seit 20 Jahren unterstützen Freiwillige<br />
die Verantwortlichen <strong>in</strong> den Filialen, Unternehmen beliefern<br />
die Zentrale mit Produkten, die sie nicht mehr verkaufen<br />
kõnnen, und Spen<strong>der</strong><strong>in</strong>nen und Spen<strong>der</strong> helfen die Kosten zu<br />
tragen. Ohne diese Hilfe kõnnten die <strong>Caritas</strong>-Märkte nicht existieren,<br />
denn sie erwirtschaften ke<strong>in</strong>e Gew<strong>in</strong>ne.<br />
Im Jubiläumsjahr 2012 wird es <strong>in</strong> allen <strong>Caritas</strong>-Märkten spezielle<br />
Rabatttage geben, denn auch unsere Kund<strong>in</strong>nen und Kunden<br />
sollen e<strong>in</strong> Geschenk erhalten.<br />
www.caritas-markt.ch<br />
4 Nachbarn 1 / 12
Migration<br />
Flüchtl<strong>in</strong>gstag <strong>in</strong><br />
labyr<strong>in</strong>thischer Form<br />
Flüchtl<strong>in</strong>ge und vorläufig Aufgenommene leisten<br />
e<strong>in</strong>en wichtigen Beitrag zur <strong>Schweiz</strong>er Berufswelt<br />
und Gesellschaft.<br />
Im Rahmen des UNHCR-Weltflüchtl<strong>in</strong>gstags veranstalten am<br />
Samstag, 16. Juni 2012, verschiedene <strong>Schweiz</strong>er Städte und Geme<strong>in</strong>den<br />
e<strong>in</strong>en nationalen Flüchtl<strong>in</strong>gstag. Auf dem <strong>Bern</strong>er Bundesplatz<br />
und auf dem Zentralplatz <strong>in</strong> Biel wird e<strong>in</strong> Labyr<strong>in</strong>th<br />
<strong>in</strong>teraktiv und spielerisch den Weg zur Integration von Flüchtl<strong>in</strong>gen<br />
aufzeigen. Integration ist e<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>n für beide Seiten,<br />
und Flüchtl<strong>in</strong>ge haben <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> viel zu geben: Talent, Berufserfahrung,<br />
Motivation und die Begeisterung über ihre neuen<br />
beruflichen und sozialen Möglichkeiten. Organisiert wird <strong>der</strong><br />
Anlass von mehreren Hilfswerken, darunter die <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong>.<br />
Vorgängig wird e<strong>in</strong> «Flashmob» auf den Flüchtl<strong>in</strong>gstag aufmerksam<br />
machen. Vielerorts organisiert die <strong>Caritas</strong>, geme<strong>in</strong>sam<br />
mit an<strong>der</strong>en Organisationen, die Flüchtl<strong>in</strong>gstage. So <strong>in</strong><br />
Aarau, Arbon, <strong>Bern</strong>, Basel, Luzern, St. Gallen, Sarnen, Zof<strong>in</strong>gen<br />
und Zürich.<br />
An über 200 Orten <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> gibt es Veranstaltungen zum Flüchtl<strong>in</strong>gstag.<br />
Nachbarn 1 / 12<br />
NEWS<br />
Kurz & bündig<br />
Sport hebt die Stimmung<br />
E<strong>in</strong> gesun<strong>der</strong> Körper stärkt den Geist,<br />
wussten schon die Römer. Dass diese<br />
Weisheit auch für Arbeitslose gilt, zeigt<br />
e<strong>in</strong> Pilotprojekt <strong>der</strong> Suva bei <strong>Caritas</strong> Luzern:<br />
Im <strong>Caritas</strong> Bauteilmarkt turnen die<br />
Teilnehmenden jeden Morgen e<strong>in</strong> paar<br />
M<strong>in</strong>uten. Das Programm ist fest <strong>in</strong> den<br />
Tagesablauf <strong>in</strong>tegriert, rund 70 Arbeitslose<br />
machen mit.<br />
Frauen reden die gleiche Sprache<br />
Rapperswil-Jona, Gossau, Wil, Flawil<br />
und Uzwil starteten zusammen mit <strong>Caritas</strong><br />
St. Gallen-Appenzell das Projekt<br />
«FemmesTISCHE». Das ist e<strong>in</strong> Elternbildungsprogramm<br />
mit Migrant<strong>in</strong>nen: Frauen<br />
tauschen sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesprächsrunde<br />
mit e<strong>in</strong>er Mo<strong>der</strong>ator<strong>in</strong> <strong>in</strong> ihrer Muttersprache<br />
aus. Sie reden über Erziehung,<br />
Familie o<strong>der</strong> Ernährung, behandeln<br />
Integrationsthemen und erhalten<br />
Informationen über das Schulsystem.<br />
KulturLegi vergünstigt Ferien<br />
<strong>Caritas</strong> und Reka arbeiten bei <strong>der</strong> Kultur-<br />
Legi zusammen: Armutsbetroffene können<br />
neu bei <strong>der</strong> Reka ohne adm<strong>in</strong>istrativen<br />
Aufwand Ferien buchen, praktisch<br />
gratis. Zu e<strong>in</strong>em Solidaritätspreis von<br />
100 Franken können sie e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> reservierten<br />
100 Arrangements für Ferien <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> beantragen. Das Anmeldeformular<br />
kann hier heruntergeladen werden:<br />
www.kulturlegi.ch, www.reka.ch<br />
Pfarreien sammelten für <strong>Caritas</strong><br />
Die Opfer <strong>der</strong> Gottesdienste Ende Januar<br />
und Anfang Februar 2012 spendeten<br />
zahlreiche Pfarreien <strong>der</strong> Deutschschweiz<br />
erneut zu Gunsten von regionalen <strong>Caritas</strong>-Projekten.<br />
Dieses Jahr wurden armutsbetroffene<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> unterstützt.<br />
Durch die Sammlung kamen<br />
über 130 000 Franken zusammen. Wir<br />
danken den Pfarreien für die vielen<br />
Spenden. Dass es viel zu tun gibt, zeigt<br />
das Hauptthema dieses Magaz<strong>in</strong>s.<br />
5
Rubrik<br />
Freundschaften machen <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> stark und zuversichtlich<br />
– das Leben macht mehr Spass, wenn man schöne und<br />
schwierige Momente mit an<strong>der</strong>en teilen kann.<br />
6<br />
Nachbarn 1 / 12
«Unsere Mutter<br />
kann zaubern»<br />
In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> s<strong>in</strong>d viele <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> von Armut betroffen. Wie erleben sie<br />
ihre Situation? Wo spüren sie am meisten, dass bei ihnen daheim weniger<br />
Geld da ist als bei ihren Kolleg<strong>in</strong>nen und Kollegen? Wie gehen sie damit<br />
um? Begegnungen mit <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n aus Sozialhilfe beziehenden Familien.<br />
Text: Ursula B<strong>in</strong>ggeli Bil<strong>der</strong>: Zoe Tempest<br />
Michel (14), schwärmt<br />
vom Bugatti, den er<br />
kürzlich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Automobilmuseum<br />
gesehen hat. Sven<br />
(12) spielt gerne Fussball und hat<br />
sich gerade e<strong>in</strong>en blauen Schal gestrickt.<br />
Bryan (11) hat <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule<br />
lieber Englisch als Mathe und spielt<br />
am freien Nachmittag gerne mit<br />
Kollegen im Freien. Natalie (11) hat<br />
Freude am Velofahren und will später<br />
e<strong>in</strong>mal Physiotherapeut<strong>in</strong> o<strong>der</strong><br />
Topmodel werden. Michel, Sven,<br />
Bryan und Natalie – vier <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> mit<br />
unterschiedlichen Neigungen und<br />
Wünschen, die e<strong>in</strong>e Erfahrung geme<strong>in</strong>sam<br />
haben: Sie wissen, was es<br />
heisst, von <strong>der</strong> Sozialhilfe zu leben.<br />
Michel und se<strong>in</strong>e Familie<br />
Die Mutter von Michel lebt seit<br />
<strong>der</strong> Trennung von ihrem Partner<br />
vor bald elf Jahren alle<strong>in</strong>e mit ihm<br />
und se<strong>in</strong>em jüngeren Bru<strong>der</strong> Yves.<br />
Bis vor vier Jahren war auch noch<br />
Nachbarn 1 / 12<br />
Michels Schwester dabei, aber sie<br />
ist unterdessen 20 und wohnt nun<br />
bei ihrem Freund. Michels Mutter<br />
hat früher als Coiffeuse gearbeitet<br />
und dann verschiedene Teilzeitjobs<br />
gehabt. Seit sie mit den <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n<br />
alle<strong>in</strong>e ist, arbeitet sie jedoch nicht<br />
mehr ausser Haus. E<strong>in</strong>e Tagesmutter<br />
sei zu teuer, sagt sie. Und: «Ich<br />
wollte und konnte mich nicht von<br />
den <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n trennen.» Vor allem<br />
Yves braucht viel Aufmerksamkeit.<br />
Er hat e<strong>in</strong>e leichte geistige Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />
und besucht e<strong>in</strong>e heilpädagogische<br />
Schule.<br />
Die Familie lebt schon lange von<br />
<strong>der</strong> Sozialhilfe. Michels Mutter hat<br />
sich <strong>in</strong> den letzten zehn Jahren<br />
sehr zurückgezogen. Zum Ausgehen<br />
habe sie we<strong>der</strong> Zeit noch Geld<br />
gehabt, sagt sie dazu. Ihre Kontaktfreude<br />
lebt sie heute am Computer<br />
aus: Im Internet hat sie Kollegen<br />
gefunden, mit denen sie sich regelmässig<br />
onl<strong>in</strong>e austauscht.<br />
Se<strong>in</strong>em Vater ist Michel das letz-<br />
Schwerpunkt<br />
te Mal vor acht Jahren begegnet,<br />
obwohl er gar nicht so weit weg<br />
wohnt. Nun ist Michel <strong>der</strong> Mann im<br />
Haus, er nimmt den Gästen beim<br />
E<strong>in</strong>treten die Mäntel ab und br<strong>in</strong>gt<br />
ihnen e<strong>in</strong> Glas M<strong>in</strong>eralwasser. Im<br />
Gespräch erzählt er dann, dass es<br />
ihm im Moment <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule nicht<br />
gut laufe. Dem Vierzehnjährigen<br />
ist das Lernen verleidet, er steht auf<br />
Kriegsfuss mit den Hausaufgaben,<br />
se<strong>in</strong>e Leistungen werden immer<br />
schlechter. Se<strong>in</strong>e Mutter hat ihm<br />
das Fussballspielen so lange untersagt,<br />
bis er wie<strong>der</strong> bessere Noten<br />
heimbr<strong>in</strong>gt. Nun hofft sie, dass <strong>der</strong><br />
bevorstehende Umzug <strong>der</strong> Familie<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Geme<strong>in</strong>de die Wende<br />
br<strong>in</strong>gt: E<strong>in</strong> neues Schulhaus, neue<br />
Kollegen, e<strong>in</strong>e neue Lehrperson –<br />
vielleicht packt es Michel dann!<br />
In <strong>der</strong> Freizeit zeigt Michel bereits<br />
jetzt, was er kann. Im Freizeittreff<br />
für Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te, den se<strong>in</strong> Bru<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />
Mal im Monat besucht, ist er neuerd<strong>in</strong>gs<br />
Leiter. Er freut sich über<br />
7
Rubrik<br />
Zusammenhalten, auch wenn es manchmal schwierig ist: Wahre Freunde s<strong>in</strong>d immer füre<strong>in</strong>an<strong>der</strong> da.<br />
die neue Aufgabe, doch er ist ke<strong>in</strong>er,<br />
<strong>der</strong> Zukunftspläne schmieden<br />
mag – auch beruflich: Er weiss noch<br />
nicht, was er werden möchte.<br />
Seit kurzem hat Michel vom Projekt<br />
«mit mir» <strong>der</strong> <strong>Caritas</strong> e<strong>in</strong>en Götti<br />
und e<strong>in</strong>e Gotte vermittelt erhalten.<br />
Das Ehepaar unternimmt mit ihm<br />
regelmässig Ausflüge – zum Beispiel<br />
<strong>in</strong>s Automobilmuseum o<strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> den Europapark. Lässig sei das,<br />
sagt er, und lächelt.<br />
Zu Besuch bei Sven, Bryan und<br />
Natalie<br />
In Svens Klasse ist im Klassenrat<br />
e<strong>in</strong>mal das Sackgeld thematisiert<br />
worden. Seither weiss <strong>der</strong> Zwölfjährige,<br />
dass e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>er Kolleg<strong>in</strong>nen<br />
regelmässig 50 Franken bekommt,<br />
wenn sie e<strong>in</strong>e gute Prüfung geschrieben<br />
hat. Er erzählt das ganz<br />
8<br />
sachlich. Se<strong>in</strong>e jüngere Schwester<br />
Natalie berichtet, sie kenne Mädchen,<br />
die sich vom Sackgeld sogar<br />
neue Klei<strong>der</strong> kaufen können. Ihr<br />
Zwill<strong>in</strong>gsbru<strong>der</strong> Bryan übersetzt<br />
daraufh<strong>in</strong>, was die Mutter <strong>der</strong> drei<br />
Geschwister gerade auf Portugiesisch<br />
gesagt hat: «Unsere Mutter<br />
hat manchmal Schuldgefühle, weil<br />
sie uns ke<strong>in</strong> Taschengeld geben<br />
kann.» Und dann fügt er spitzbübisch<br />
an: «Aber sie gebe uns dafür<br />
ganz viele liebe Küsse, sagt sie.»<br />
Alle lachen.<br />
Frau S. ist vor dreie<strong>in</strong>halb Jahren<br />
mit ihren <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n von Brasilien<br />
<strong>in</strong> die <strong>Schweiz</strong> gekommen, <strong>in</strong> die<br />
Heimat des Ex-Mannes, <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Hoffnung, als Alle<strong>in</strong>erziehende ihren<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n hier bessere Chancen<br />
bieten zu können. Seit die Familie<br />
da ist, lebt sie von <strong>der</strong> Sozialhilfe.<br />
Diese bezahlt Frau S. nun e<strong>in</strong>en<br />
Sprachkurs, ihr Deutsch wird von<br />
Monat zu Monat besser und sie<br />
hofft, <strong>in</strong> absehbarer Zeit Arbeit zu<br />
f<strong>in</strong>den. Sven, Bryan und Natalie bewegen<br />
sich bereits ziemlich selbstverständlich<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Sprache.<br />
Dass Familie S. eisern sparen<br />
muss, wird nicht nur beim Sackgeld<br />
deutlich. Im W<strong>in</strong>ter kann jeweils<br />
nur e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> mit <strong>der</strong><br />
Klasse <strong>in</strong>s Skilager reisen. Wenn<br />
Sven und Natalie <strong>in</strong> den Sommerferien<br />
die regionale Fussballwoche<br />
für daheimgebliebene <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong><br />
besuchen, übernimmt das Sozialamt<br />
zwar den Kurs, aber nicht die<br />
Busbillette h<strong>in</strong> und zurück. Die elfjährige<br />
Natalie erzählt, dass diese<br />
Zusatzkosten das Familienbudget<br />
jeweils sehr belasten, «weil dort<br />
alles schon ganz genau e<strong>in</strong>geteilt<br />
Nachbarn 1 / 12
ist». Mit dem Sparen kennt sich jedes<br />
<strong>der</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> bestens aus.<br />
Letztes Jahr konnte Familie S. e<strong>in</strong>e<br />
Ferienwoche im Tess<strong>in</strong> verbr<strong>in</strong>gen.<br />
Das Wetter war schön, es war<br />
warm, es hatte so viele Ameisen<br />
wie <strong>in</strong> Brasilien, aber weil das Sozialamt<br />
den Bungalow bezahlte, aber<br />
halt nichts an die Extras, die auch<br />
zum Ferienglück gehören, gab es<br />
für die Familie ke<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>en Freuden<br />
wie hie und da e<strong>in</strong>e Glace o<strong>der</strong><br />
Besuche im Schwimmbad.<br />
Natalie sagt zwar: «Mami kann<br />
zaubern!», wenn sie davon erzählt,<br />
wie ihre beiden Brü<strong>der</strong> und sie von<br />
<strong>der</strong> Mutter zum Geburtstag stets<br />
Geschenke erhalten. Aber sie weiss,<br />
dass ihr grosser Wunsch für den<br />
nächsten Geburtstag – mit ihren<br />
Freund<strong>in</strong>nen e<strong>in</strong>e Bowl<strong>in</strong>gbahn <strong>in</strong><br />
e<strong>in</strong>em Restaurant besuchen, so wie<br />
es an<strong>der</strong>e Mädchen <strong>in</strong> ihrer Klasse<br />
auch machen – möglicherweise e<strong>in</strong><br />
Wunsch bleiben wird. «Es kostet<br />
halt», sagt sie nüchtern. «Mami<br />
sagt, dass sie es probiert, aber vielleicht<br />
geht es nicht.»<br />
Haustiere liegen nicht dr<strong>in</strong><br />
Sven weiss, dass se<strong>in</strong> Wunsch nach<br />
e<strong>in</strong>em Hund unerfüllbar ist. Haustiere<br />
s<strong>in</strong>d im Budget nicht vorgesehen.<br />
Die Meerschwe<strong>in</strong>chen und<br />
Hamster, die sie vor e<strong>in</strong>iger Zeit<br />
von e<strong>in</strong>em wegziehenden Nachbarn<br />
übernommen hatten, mussten sie<br />
aus demselben Grund weiterverschenken.<br />
«Das Futter war zu teuer»,<br />
erklärt Sven.<br />
Aber daneben gibt es viele D<strong>in</strong>ge,<br />
die Spass machen und wenig bis<br />
nichts kosten. Geme<strong>in</strong>sam Kuchen<br />
backen! Geme<strong>in</strong>sam brasilianische<br />
Gerichte kochen! Geme<strong>in</strong>sam<br />
Spiele spielen! «Ich liebe me<strong>in</strong>e<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> und ich liebe es, mit ihnen<br />
Zeit zu verbr<strong>in</strong>gen», sagt Frau S.<br />
Und Sven fügt an: «Es kommt gar<br />
nicht so fest drauf an, was wir machen<br />
– Hauptsache, wir machen es<br />
geme<strong>in</strong>sam.»<br />
Nachbarn 1 / 12<br />
KommENtAr<br />
Wie bee<strong>in</strong>trächtigt Armut die Entwicklung von <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n?<br />
Michael Marugg,<br />
Mitglied <strong>der</strong> Eidg. Kommission für<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>- und Jugendfragen (EKKJ)<br />
Schwerpunkt<br />
Materielle Armut bedeutet nicht nur weniger Geld, sie zieht Nachteile<br />
für die <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> und die ganze Familie <strong>in</strong> vielen Lebensbereichen<br />
nach sich. Weniger soziale Kontakte, schlechtere Lernmöglichkeiten,<br />
mangelhafte Gesundheitsvorsorge müssen aufgeholt werden,<br />
bevor e<strong>in</strong>e chancengleiche Teilhabe am gesellschaftlichen Leben<br />
möglich wird. Materielle Armut kann Eltern <strong>der</strong>art beanspruchen,<br />
dass sie ihre Verantwortung gegenüber den <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n nicht mehr<br />
wahrnehmen können, und <strong>der</strong> Stress kann sogar das Risiko von<br />
Misshandlungen erhöhen.<br />
Fallen arme <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> auf?<br />
Armut versteckt sich und will sich suchenden Blicken entziehen.<br />
<strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> s<strong>in</strong>d als Persönlichkeiten nicht auffälliger o<strong>der</strong> unauffälliger<br />
als an<strong>der</strong>e. Trotz-<br />
«Armutsbetroffene<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> haben<br />
schlechteren<br />
Zugang zu höherer<br />
Bildung.»<br />
dem weiss man, <strong>in</strong> welchen<br />
Quartieren sicher ke<strong>in</strong>e reichen<br />
Leute wohnen. Gleichaltrige<br />
haben e<strong>in</strong>en scharfen<br />
Blick dafür, wem die<br />
M<strong>in</strong>imalausstattung an materiellen<br />
D<strong>in</strong>gen fehlt. Die<br />
Statistik zeigt, dass armutsbetroffene<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> schlech-<br />
teren Zugang zu höherer Bildung haben. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelnes armes K<strong>in</strong>d<br />
fällt vielleicht nicht auf, die Armut von <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n dagegen schon,<br />
wenn man nicht wegschaut.<br />
Welche Perspektiven haben <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> aus armen Familien?<br />
Vom-Tellerwäscher-zum-Milliardär-Karrieren s<strong>in</strong>d möglich, werden<br />
aber die Ausnahme zur Regel e<strong>in</strong>es hohen Risikos se<strong>in</strong>, dass sich<br />
Armut vererbt. Das muss nicht tatenlos h<strong>in</strong>genommen werden. Die<br />
Startl<strong>in</strong>ie für armutsbetroffene <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> kann verbessert werden, beispielsweise<br />
mit e<strong>in</strong>er adäquaten Existenzsicherung, Mentor<strong>in</strong>g-Projekten<br />
o<strong>der</strong> situationsgerechter Unterstützung <strong>der</strong> Eltern <strong>in</strong> ihrer<br />
Erziehungsaufgabe. Haben <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> e<strong>in</strong>e gute Gegenwart, haben sie<br />
auch bessere Zukunftschancen. Dafür hat sich die Eidgenössische<br />
Kommission für <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>- und Jugendfragen (EKKJ) im Bericht «Jung<br />
und arm: das Tabu brechen» engagiert.<br />
9
Schwerpunkt<br />
<strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
Armut grenzt <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> aus, e<strong>in</strong> Leben lang. Denn Armut wird vererbt, die<br />
soziale Mobilität <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> ist ger<strong>in</strong>g. Die Betroffenen können nicht<br />
mit ihren Kamerad<strong>in</strong>nen und Kameraden mithalten und stehen im Abseits.<br />
Text: Ariel Leuenberger Illustration: Christoph Fischer<br />
Der Begriff <strong>der</strong> Armut ist stark mit Bil<strong>der</strong>n<br />
aus an<strong>der</strong>en Weltgegenden verbunden.<br />
Traurige <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> mit Hungerbäuchen, <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>soldaten,<br />
Bauern, die ihre kargen Äcker<br />
von Hand bestellen. Armut <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er reichen<br />
Gesellschaft wird als «Luxusproblem» verstanden,<br />
soziale Auffangnetze verh<strong>in</strong><strong>der</strong>n zum Glück das<br />
Schlimmste. Aber hier s<strong>in</strong>d Armutsbetroffene ausgeschlossen,<br />
während <strong>in</strong> ärmeren Gesellschaften die Geme<strong>in</strong>schaft<br />
mitträgt und das Verständnis viel grösser<br />
ist.<br />
In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> s<strong>in</strong>d rund 260 000 <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> von Armut<br />
betroffen – das s<strong>in</strong>d ungefähr 13 000 Schulklassen. Sie<br />
leben <strong>in</strong> Haushalten, die auf Sozialhilfe angewiesen<br />
s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> zu den «Work<strong>in</strong>g Poor» gehören. <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>, die<br />
von Armut betroffen s<strong>in</strong>d, leiden nicht nur daran, dass<br />
ihre Familien zu wenig Geld haben. Auch weniger gesundes<br />
Essen, prekäres Wohnen, unmodische Klei<strong>der</strong><br />
belasten sie. Dadurch verlieren sie an Selbstwertgefühl;<br />
oft entwickeln sie Schulschwächen und verwenden<br />
ihre Energie hauptsächlich dazu, den familiären<br />
Zusammenhalt zu sichern und von ihren Freunden<br />
nicht ausgeschlossen zu werden.<br />
Armut wird vererbt<br />
Die soziale Herkunft hat auf die Entwicklung und<br />
die Chancen <strong>der</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> e<strong>in</strong>en überdurchschnittlich<br />
grossen E<strong>in</strong>fluss, gerade <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Kurzum:<br />
Reichtum und Armut sowie damit verbundene Möglichkeiten<br />
und E<strong>in</strong>schränkungen werden vererbt. So<br />
kann von Chancengleichheit ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>. Das hat<br />
weitreichende Folgen: Wenn die Nachteile <strong>der</strong> sozialen<br />
10 Nachbarn 1 / 12
Herkunft nicht ausgeglichen werden, bleiben sie über<br />
das ganze Leben erhalten. Wer ke<strong>in</strong>en guten Schulabschluss<br />
erreicht, hat Schwierigkeiten, e<strong>in</strong>e adäquate<br />
Berufsausbildung zu absolvieren und e<strong>in</strong>en guten Arbeitsplatz<br />
zu f<strong>in</strong>den. Das ist später selbst bei <strong>der</strong> Höhe<br />
<strong>der</strong> Rente noch erkennbar.<br />
Bildung und Freizeit<br />
Schon beim Schule<strong>in</strong>tritt weisen die <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Schweiz</strong> sehr unterschiedliche Kompetenzen auf – Bildungsdefizite<br />
nehmen bereits <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorschulphase<br />
Form an. Die ersten Lebensjahre stellen e<strong>in</strong>e kritische<br />
Phase für die <strong>in</strong>tellektuelle, kognitive und emotionale<br />
Entwicklung e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des dar. Denn <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> lernen<br />
<strong>in</strong> dieser Zeit beson<strong>der</strong>s leicht, und allfällige Defizite<br />
lassen sich leichter ausgleichen als später. In <strong>der</strong> frühk<strong>in</strong>dlichen<br />
Bildung besteht daher e<strong>in</strong> grosses Potenzial<br />
für die Verh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung von Armut.<br />
Erziehung f<strong>in</strong>det nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule o<strong>der</strong> im Elternhaus<br />
statt. Vere<strong>in</strong>e, Freunde und Familienausflüge<br />
tragen wesentlich zur Bildung des sozialen Netzes,<br />
zur Integration und auch zur Entwicklung und Vertiefung<br />
<strong>der</strong> Interessen und Fähigkeiten bei. <strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong><br />
können aber oft nicht mithalten, weil die Kosten für<br />
diese Aktivitäten das Budget ihrer Eltern sprengen.<br />
E<strong>in</strong>mal mehr s<strong>in</strong>d sie benachteiligt und stehen abseits.<br />
Gleiche Chancen für alle<br />
Die Stärke e<strong>in</strong>er Gesellschaft misst sich bekanntlich<br />
am Wohl <strong>der</strong> Schwachen. <strong>Caritas</strong> setzt sich dafür e<strong>in</strong>,<br />
dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> alle <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> gleiche Chancen haben.<br />
Wir helfen armutsbetroffenen Familien direkt mit persönlicher<br />
Beratung und verschiedenen Projekten. Zudem<br />
setzen wir uns anwaltschaftlich für Betroffene<br />
e<strong>in</strong>, <strong>in</strong>dem wir die Rahmenbed<strong>in</strong>gungen, welche zu<br />
Armut führen, mit For<strong>der</strong>ungen an die Politik zu verbessern<br />
versuchen.<br />
L<strong>in</strong>ks und Publikationen<br />
Kampagne für arme <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong><br />
Mit <strong>der</strong> Kampagne «Abseits» machen die regionalen<br />
<strong>Caritas</strong>-Organisationen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Deutschschweiz auf Probleme<br />
und Lösungsansätze aufmerksam.<br />
Details auf www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>armut.ch<br />
Sozialalmanach 2012<br />
Das <strong>Caritas</strong>-Jahrbuch zur sozialen Lage <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />
mit dem Schwerpunktthema «<strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>». Unter an<strong>der</strong>em<br />
mit Beiträgen von Ueli Mä<strong>der</strong>, Ludwig Gärtner, Michael<br />
Marugg, Carlo Knöpfel, Margrit Stamm.<br />
Zu bestellen unter www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>armut.ch/publikationen<br />
Nachbarn 1 / 12<br />
Schwerpunkt<br />
<strong>Caritas</strong> for<strong>der</strong>t<br />
Massnahmen<br />
Die bestehenden Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
genügen nicht, um die<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>armut <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zu<br />
verr<strong>in</strong>gern.<br />
4%<br />
3.5%<br />
3%<br />
2.5%<br />
2%<br />
1.5%<br />
1%<br />
0.5%<br />
Öffentliche Ausgaben für Familien <strong>in</strong> % des BIP, 2007<br />
Fr UK Den Sw<br />
Nor Ne Ger At<br />
Cz<br />
Pol Sp CH Can<br />
Por Jp USA<br />
Die <strong>Schweiz</strong> liegt unter dem Durchschnitt: Ausgaben für<br />
Familien <strong>in</strong> OECD-Staaten, <strong>in</strong> Prozent des BIP (2007).<br />
<strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> haben nicht die gleichen Chancen<br />
wie ihre besser gestellten Freund<strong>in</strong>nen<br />
und Freunde. Armutsbekämpfung und Armutsprävention<br />
müssen den Ausschlussmechanismen<br />
entgegenwirken. <strong>Caritas</strong> for<strong>der</strong>t<br />
Massnahmen zur Existenzsicherung<br />
e<strong>in</strong>erseits und solche zur Chancengleichheit<br />
an<strong>der</strong>erseits. Beide s<strong>in</strong>d notwendig, um die<br />
Vererbung von Armut zu durchbrechen. Die<br />
Erwerbsarbeit von Eltern muss erleichtert,<br />
günstiger Wohnraum für Familien geför<strong>der</strong>t<br />
werden. Es braucht Ergänzungsleistungen<br />
für Familien sowie den Ausbau von Betreuungs-<br />
und Bildungsangeboten. In Quartieren<br />
verankerte Familienunterstützungszentren<br />
können dazu beitragen, armutsbetroffenen<br />
Familien früher, besser und umfassen<strong>der</strong><br />
zur Seite zu stehen. Nur so haben ihre <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong><br />
die Chance, aus dem Abseits zu treten<br />
und mit ihren Freunden wie<strong>der</strong> mithalten zu<br />
können. Verschiedene <strong>Caritas</strong>-Projekte wie<br />
die KulturLegi, <strong>der</strong> <strong>Caritas</strong>-Markt o<strong>der</strong> das<br />
Patenschaftsprojekt «mit mir» helfen ihnen<br />
schon heute.<br />
Ø OECD<br />
Steuererleichterungen<br />
Steuererleichterungen für Familien<br />
für Familien<br />
Dienstleistungen Dienstleistungen für Familien für<br />
Familien<br />
Beiträge für Familien für Familien<br />
It<br />
11
1963<br />
In <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> angekommen<br />
Seit den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
lebten viele Italiener als Saisonarbeiter <strong>in</strong> Barackensiedlungen.<br />
Als sie später ihre Familie nachziehen<br />
konnten, arbeiteten meist auch die Mütter,<br />
und die <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> waren sich selbst überlassen. Noch<br />
<strong>in</strong> den Siebzigerjahren gab es mehr als 10 000 illegal<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> lebende <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> von Saisonarbeitern.<br />
Bild: Rob Gnant – Barackensiedlung an <strong>der</strong> Luggwegstrasse<br />
<strong>in</strong> Zürich © Fotostiftung <strong>Schweiz</strong> / 2012, ProLitteris, Zürich
Persönlich<br />
«Was hat Ihnen als K<strong>in</strong>d<br />
am meisten gefehlt?»<br />
Diese Frage haben wir unterschiedlichen Menschen auf <strong>der</strong> Strasse gestellt.<br />
An verschiedenen Orten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Deutschschweiz.<br />
An<strong>in</strong>a Jost, Student<strong>in</strong>:<br />
Ich würde me<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>dheit e<strong>in</strong>s<br />
zu e<strong>in</strong>s wie<strong>der</strong> so erleben wollen,<br />
wie ich sie erlebt habe. Ich hatte<br />
alles, was e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d überhaupt haben<br />
kann. Ich hatte Liebe, Zeit mit<br />
me<strong>in</strong>en Eltern, Freunde, Spass und e<strong>in</strong>e gute Erziehung<br />
genossen. Mir wurden aber auch Grenzen aufgezeigt<br />
und ich machte auch schlechte Erfahrungen.<br />
Genau diese haben sich als sehr wichtige Momente<br />
herausgestellt.<br />
Pascal Tschud<strong>in</strong>, Auszu-<br />
bilden<strong>der</strong>:<br />
Bis zum 16. Lebensjahr lebte ich<br />
<strong>in</strong> Ecuador. Ich hatte e<strong>in</strong>e gute<br />
K<strong>in</strong>dheit, mir hat nichts gefehlt.<br />
Ich schätzte vor allem den Zusammenhalt<br />
<strong>in</strong> unserer Grossfamilie und hatte viele<br />
gute Freunde. Vor gut zwei Jahren kamen wir <strong>in</strong> die<br />
<strong>Schweiz</strong>. Hier herrscht e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Mentalität: Ich<br />
habe nur wenige Bekannte und mir fehlt <strong>der</strong> Kontakt<br />
zur Grossfamilie, vor allem zu me<strong>in</strong>en Grosseltern.<br />
Let<strong>in</strong>a Okbamichael, Eritrea:<br />
Als ich zehn Jahre alt war, starb<br />
me<strong>in</strong> Vater. Für mich und me<strong>in</strong>en<br />
sechsjährigen Bru<strong>der</strong> war das<br />
e<strong>in</strong>e schlimme Erfahrung. Die<br />
Mutter musste arbeiten gehen<br />
und ich hatte viel auf me<strong>in</strong>en Bru<strong>der</strong> aufzupassen.<br />
Der Vater fehlte mir sehr.<br />
Hans Trampitsch, Fleischfachverkäufer:<br />
Am meisten gefehlt hat mir, dass<br />
<strong>der</strong> Vater nicht mehr Zeit gehabt<br />
hat, mit uns <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n etwas zu<br />
unternehmen, zu spielen. Aber<br />
das war natürlich auch schwierig. Ich b<strong>in</strong> mit sieben<br />
Geschwistern aufgewachsen. Auch die Mutter hatte<br />
zu wenig Zeit. Sie musste ja damals zum Beispiel die<br />
W<strong>in</strong>deln noch von Hand auswaschen.<br />
Angela Falk, Student<strong>in</strong>:<br />
Ich wurde mit sechs Wochen adoptiert,<br />
me<strong>in</strong>e Wurzeln haben mir<br />
aber nie gefehlt. Da ich e<strong>in</strong>e Nachzügler<strong>in</strong><br />
b<strong>in</strong> – me<strong>in</strong>e Geschwister<br />
s<strong>in</strong>d 12 und 14 Jahre älter als ich<br />
–, haben mir gleichaltrige Geschwister gefehlt, mit<br />
denen ich mich hätte austauschen und zusammen<br />
rebellisch se<strong>in</strong> können. Ich g<strong>in</strong>g dafür zu Freunden<br />
nach Hause, bei mir zuhause war alles e<strong>in</strong> bisschen<br />
zu leer und zu steril.<br />
Ruth Becker, kfm. Ange-<br />
stellte, Familienfrau:<br />
Ich hatte e<strong>in</strong>e sehr schöne K<strong>in</strong>dheit<br />
und hab gar nicht das Gefühl,<br />
dass mir etwas gefehlt hätte. Nur<br />
etwas kommt mir <strong>in</strong> den S<strong>in</strong>n. Ich<br />
hätte wahns<strong>in</strong>nig gerne e<strong>in</strong>en Hund gehabt. Da waren<br />
me<strong>in</strong>e Eltern aber strikt dagegen, weil das doch<br />
viel Aufwand bedeutet hätte.<br />
Nachbarn 1 / 12 13
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
«Unsere Tochter<br />
fühlte sich oft<br />
ausgeschlossen»<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> aus armen Familien leiden nicht nur unter den knappen f<strong>in</strong>anziellen<br />
Ressourcen ihrer Eltern. Vielen von ihnen fehlt es auch an sozialen Kontakten.<br />
Das Patenschaftsprojekt «mit mir» von <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> knüpft Beziehungen<br />
zwischen freiwilligen Pat<strong>in</strong>nen o<strong>der</strong> Patenpaaren und Familien, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
sozial o<strong>der</strong> f<strong>in</strong>anziell schwierigen Situation stecken.<br />
Text: Franziska Herren Bil<strong>der</strong>: Andreas Schwaiger<br />
«W<br />
ir s<strong>in</strong>d f<strong>in</strong>anziell<br />
nicht auf Rosen gebettet»,<br />
gesteht Ursula<br />
Kuhn*. Sie und ihr Mann, <strong>der</strong><br />
wegen Krankheit nicht arbeiten<br />
kann, sowie ihre drei <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> leben<br />
am Existenzm<strong>in</strong>imum. Lebensmittel<br />
kauft die Familie nach Möglichkeit<br />
im <strong>Caritas</strong>-Markt e<strong>in</strong>, Klei<strong>der</strong><br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Klei<strong>der</strong>börse. Für die Freizeit<br />
müssten sie sich halt etwas<br />
vornehmen, das wenig koste. Am<br />
Fluss grillieren o<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> KulturLegi<br />
<strong>in</strong>s Hallenbad gehen. Die<br />
fünfköpfige Familie ist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />
Mehrfamilienblock, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Viere<strong>in</strong>halbzimmerwohnung,<br />
zuhause.<br />
Es sei zwar eng, aber sie seien zufrieden,<br />
erklärt Ursula Kuhn. Die<br />
beiden jüngeren <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>, die noch<br />
zur Schule gehen, teilen sich e<strong>in</strong>en<br />
Raum. Die älteste Tochter, die e<strong>in</strong>e<br />
Lehre macht, hat ihr eigenes Zimmer.<br />
«Etwas Besseres f<strong>in</strong>den wir<br />
nicht», sagt Ursula Kuhn.<br />
Über Geld wird am Familientisch<br />
nicht gesprochen. Gewisse Regeln<br />
s<strong>in</strong>d jedoch klar. So zum Beispiel,<br />
dass die älteste Tochter ihren Lehrl<strong>in</strong>gslohn<br />
für die Fahrkosten und<br />
Verpflegung e<strong>in</strong>setzen muss. «Es<br />
kommt vor, dass wir unseren <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n<br />
Spielsachen, Klei<strong>der</strong> o<strong>der</strong><br />
Freizeitaktivitäten nicht f<strong>in</strong>anzieren<br />
können», sagt Ursula Kuhn<br />
nachdenklich. «Wir versuchen, ihnen<br />
etwas zu gönnen, und stecken<br />
unsere Bedürfnisse zurück. Doch<br />
manchmal geht es e<strong>in</strong>fach nicht.»<br />
Armut hat viele Gesichter<br />
Im Kanton <strong>Bern</strong> erleben 24 000<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> e<strong>in</strong> ähnliches Schicksal. Sie<br />
leben <strong>in</strong> Familien, die auf Sozialhilfe<br />
angewiesen s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en<br />
Eltern trotz Erwerbse<strong>in</strong>kommen<br />
am o<strong>der</strong> unter dem Existenzm<strong>in</strong>imum<br />
leben. «<strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> s<strong>in</strong>d das<br />
schwächste Glied <strong>der</strong> Armutskette»,<br />
schreibt <strong>der</strong> Basler Soziologe<br />
Ueli Mä<strong>der</strong> im «Sozialalmanach<br />
2012». Armut hat viele Gesichter<br />
und trifft <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> unterschiedlich.<br />
«In Haushalten von erwerbstätigen<br />
<strong>Arme</strong>n spüren <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> den f<strong>in</strong>anziellen<br />
Stress. S<strong>in</strong>d die Eltern<br />
arbeitslos, bee<strong>in</strong>trächtigen psychische<br />
Verstimmungen die Lebensfreude<br />
von <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n», erklärt Ueli<br />
Mä<strong>der</strong>. <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> aus armen Familien<br />
haben e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren Selbstwert<br />
und leiden unter mehr gesundheitlichen<br />
Problemen. Auch macht<br />
vielen armutsbetroffenen <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n<br />
<strong>der</strong> Vergleich mit Kolleg<strong>in</strong>nen und<br />
Kollegen, die sich mehr leisten können,<br />
zu schaffen.<br />
Auch Ursula Kuhns <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> bekommen<br />
es mit, wenn ihre Klassenkamerad<strong>in</strong>nen<br />
o<strong>der</strong> –kameraden<br />
am Wochenende Ski fahren gehen<br />
o<strong>der</strong> im Sommer <strong>in</strong> die Ferien fahren.<br />
«Die älteste Tochter beschwert<br />
sich oft und vergleicht sich mit Jugendlichen,<br />
die sich mehr leisten<br />
14 Nachbarn 1 / 12
können», sagt Ursula Kuhn. Ihre<br />
Tochter ist <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule zeitweise<br />
gemobbt worden. Nicht nur, weil<br />
ihre Familie über wenig Geld verfügt,<br />
son<strong>der</strong>n allem voran, weil ihr<br />
Vater arbeitsunfähig und immer<br />
zuhause war. Gerade an Vater-Tochter-Tagen,<br />
an denen die Väter den<br />
Töchtern ihren Arbeitsplatz zeigen<br />
würden, sei die Situation für die<br />
Tochter schwer zu ertragen gewesen,<br />
führt Ursula Kuhn aus. «Unsere<br />
Tochter fühlte sich oft ausgeschlossen»,<br />
me<strong>in</strong>t die Mutter. «Die<br />
Mädchen aus ihrer Klasse wollten<br />
nicht mit ihr abmachen, und sie<br />
selbst lud auch niemanden nach<br />
Hause e<strong>in</strong>.»<br />
Die Patenschaft eröffnet e<strong>in</strong>e<br />
neue Welt<br />
Weil sie über e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Beziehungsnetz<br />
verfügt, hat sich Ursula<br />
Kuhn vor mehr als drei Jahren entschieden,<br />
ihre beiden jüngeren <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong><br />
im Patenschaftsprojekt «mit<br />
mir» <strong>der</strong> <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> anzumelden.<br />
«Ich fand es wichtig, dass die <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong><br />
e<strong>in</strong>e Pat<strong>in</strong> erhalten. E<strong>in</strong>e Person,<br />
von <strong>der</strong> sie lernen können, und<br />
die ihnen Neues zeigt.» Die freiwilligen<br />
Pat<strong>in</strong>nen o<strong>der</strong> Patenpaare<br />
des Projekts «mit mir» verbr<strong>in</strong>gen<br />
Zeit mit den <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>n und holen<br />
die <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> so aus e<strong>in</strong>er möglichen<br />
Isolation heraus. «In e<strong>in</strong>er Patenschaft<br />
lernt e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e neue Welt<br />
kennen. Es bekommt von <strong>der</strong> Pat<strong>in</strong><br />
o<strong>der</strong> dem Patenpaar Zeit und Aufmerksamkeit<br />
geschenkt, und dadurch<br />
erweitern sich für das K<strong>in</strong>d<br />
die Möglichkeiten und <strong>der</strong> Horizont»,<br />
erklärt Maria Teresa Ossola,<br />
Leiter<strong>in</strong> Patenschaftsprojekt «mit<br />
mir». In <strong>Bern</strong> und Biel profitieren<br />
zurzeit 60 <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> von e<strong>in</strong>er Patenschaft.<br />
«E<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d zu akzeptieren,<br />
so wie es ist, unabhängig von Geschlecht,<br />
Nationalität und Status,<br />
ihm Zuwendung und Aufmerksamkeit<br />
zu schenken und es ernst zu<br />
nehmen, ist e<strong>in</strong> wertschätzendes<br />
Geschenk, und das K<strong>in</strong>d gew<strong>in</strong>nt<br />
dadurch an Selbstvertrauen», führt<br />
Maria Teresa Ossola weiter aus.<br />
Nachbarn 1 / 12<br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
Freizeit ist teuer. <strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> können mit Kamerad<strong>in</strong>nen und Kameraden nicht mithalten<br />
und stehen im Abseits.<br />
<strong>Arme</strong> <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> haben e<strong>in</strong>en ger<strong>in</strong>geren Selbstwert. Sie vergleichen sich oft mit Kolleg<strong>in</strong>nen<br />
und Kollegen.<br />
Rund zwei Nachmittage pro Monat<br />
verbr<strong>in</strong>gen Ursula Kuhns <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong><br />
bei ihrer Pat<strong>in</strong>. Sie backen o<strong>der</strong><br />
spielen mit ihr, gehen <strong>in</strong> den Wald<br />
o<strong>der</strong> verrichten zusammen Gartenarbeiten.<br />
«Hie und da lädt die Pat<strong>in</strong><br />
sie <strong>in</strong>s Theater e<strong>in</strong>, und sie lernen<br />
dabei etwas kennen, das wir ihnen<br />
nicht bieten können», sagt ihre<br />
Mutter. «Die <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> schätzen ihre<br />
Pat<strong>in</strong> und freuen sich darauf, mit<br />
ihr etwas zu unternehmen.» Und<br />
auch Ursula Kuhns Alltag erfährt<br />
Entlastung: «Wenn die <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> weg<br />
s<strong>in</strong>d, kann ich die Zeit nutzen, um<br />
mal spazieren o<strong>der</strong> schwimmen zu<br />
gehen. Und manchmal, um e<strong>in</strong>fach<br />
<strong>in</strong> Ruhe Hausarbeiten zu erledigen.»<br />
*Name von <strong>der</strong> Redaktion geän<strong>der</strong>t<br />
15
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
Der neue <strong>Caritas</strong>-Markt <strong>in</strong> Biel ist am 15. September 2011 offiziell eröffnet worden.<br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> <strong>in</strong> ihrem<br />
bildhaften und aktiven<br />
Jubiläumsjahr<br />
Anlässlich des 25-Jahre-Jubiläums gab <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
ihrem Engagement <strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit e<strong>in</strong> Gesicht.<br />
Mit <strong>der</strong> Eröffnung e<strong>in</strong>es dritten <strong>Caritas</strong>-Marktes im<br />
Kanton <strong>Bern</strong> setzte sie zudem e<strong>in</strong>e For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong><br />
Kampagne «Armut halbieren» um.<br />
Text: Franziska Herren Bil<strong>der</strong>: Guy Perrenoud, Christoph Wi<strong>der</strong><br />
An dem im Juni auf dem Waisenhausplatz<br />
<strong>in</strong> <strong>Bern</strong> durchgeführten<br />
«Kultursprung»-<br />
Fest stand <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> für den<br />
Dialog zwischen den Kulturen<br />
e<strong>in</strong>. Die über 5000 Besucher<strong>in</strong>nen<br />
und Besucher erfreuten sich<br />
an den kulturellen und kul<strong>in</strong>arischen<br />
Spezialitäten aus <strong>der</strong> ganzen<br />
Welt. E<strong>in</strong> Gericht aus Süd-<br />
amerika, dem Mittleren Osten,<br />
Ostafrika und <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> wurde<br />
am «Kultursprung»-Fest zugunsten<br />
<strong>der</strong> <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> verkauft.<br />
Filme über Menschen an den<br />
Rän<strong>der</strong>n<br />
Auch Qu<strong>in</strong>nie C<strong>in</strong>emas unterstützte<br />
die <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> <strong>in</strong> ihrem Jubiläumsjahr.<br />
Sie bot sich als Partner<strong>in</strong><br />
an und liess die <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> im<br />
Frühherbst die Filmreihe «Randsichten»<br />
zum 25-Jahre-Jubiläum<br />
im c<strong>in</strong>eMovie <strong>in</strong> <strong>Bern</strong> programmieren.<br />
Die an fünf Dienstagabenden<br />
gezeigten preisgekrönten Filme<br />
nahmen Lebenssituationen von<br />
Menschen <strong>in</strong> den Fokus, mit denen<br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> <strong>in</strong> ihrer täglichen Arbeit<br />
konfrontiert ist. Die Filmreihe<br />
wurde von 350 Leuten besucht. 80<br />
Prozent <strong>der</strong> E<strong>in</strong>nahmen spendete<br />
Qu<strong>in</strong>nie C<strong>in</strong>emas <strong>der</strong> KulturLegi<br />
<strong>der</strong> <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong>. Diese Verb<strong>in</strong>dung<br />
machte S<strong>in</strong>n, denn: «Auch <strong>in</strong> den<br />
Qu<strong>in</strong>nie-K<strong>in</strong>os können die Besucher<strong>in</strong>nen<br />
und Besucher mit e<strong>in</strong>er<br />
KulturLegi günstiger <strong>in</strong>s K<strong>in</strong>o»,<br />
erklärte Ana-Marija Gröndahl von<br />
Qu<strong>in</strong>nie C<strong>in</strong>emas.<br />
Die KulturLegi ist im Kanton <strong>Bern</strong><br />
gut verankert. Ende 2011 führten<br />
14 Geme<strong>in</strong>den die KulturLegi. Drei<br />
neue Geme<strong>in</strong>den – Langenthal,<br />
Nidau und Port – stiessen auf den<br />
1. Januar 2012 dazu. Seit ihrer E<strong>in</strong>führung<br />
im Kanton <strong>Bern</strong> im Jahr<br />
2006 ist ke<strong>in</strong>e Geme<strong>in</strong>de aus dem<br />
Programm ausgestiegen.<br />
15. Operngala im Stadttheater<br />
<strong>Bern</strong><br />
Mit dem 25-Jahre-Jubiläum <strong>der</strong><br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> fiel 2011 auch <strong>der</strong><br />
15-jährige Geburtstag des För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>s<br />
zusammen. An <strong>der</strong> traditionell<br />
im November im Stadttheater<br />
durchgeführten Operngala wurde<br />
«Der fliegende Hollän<strong>der</strong>» von<br />
Richard Wagner aufgeführt. Der<br />
Präsident des För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>s <strong>der</strong><br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong>, Robert Landtw<strong>in</strong>g,<br />
konnte zu dieser romantischen<br />
Oper Prom<strong>in</strong>enz aus Wirtschaft,<br />
Politik und aus kirchlichen Kreisen<br />
begrüssen.<br />
Den Abschluss des Jubiläumsjahres<br />
bildete die bereits zum siebten<br />
Mal auf dem Bundesplatz durchgeführte<br />
Solidaritätsaktion «E<strong>in</strong>e<br />
Million Sterne». Die Miss Earth<br />
<strong>Schweiz</strong>, Ir<strong>in</strong>a De Giorgi, zündete<br />
zusammen mit den prom<strong>in</strong>enten<br />
<strong>Bern</strong>er Politiker<strong>in</strong>nen Edith Olibet<br />
und Evi Allemann Feuersonnen als<br />
16 Nachbarn 1 / 12
Zeichen <strong>der</strong> Solidarität mit armutsbetroffenen<br />
Menschen an.<br />
Junge Führungskräfte <strong>der</strong> JCI-<br />
Kammer <strong>Bern</strong> unterstützten die<br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> im ganzen Jubiläumsjahr<br />
bei Anlässen und Massnahmen<br />
durch freiwillige E<strong>in</strong>sätze. «Als ich<br />
Ende 2010 zum Präsidenten <strong>der</strong> JCI<br />
<strong>Bern</strong> ernannt wurde, wollte ich e<strong>in</strong><br />
soziales Projekt durchführen, <strong>in</strong><br />
dem e<strong>in</strong>er NGO nicht Geld, son<strong>der</strong>n<br />
Zeit und Fachwissen zur Verfügung<br />
gestellt wird», sagte Dave Weilenmann,<br />
Präsident <strong>der</strong> JCI-Kammer<br />
<strong>Bern</strong>.<br />
Mit ihrem fünfjährigen Bestehen<br />
konnte auch die <strong>Bern</strong>er Vermittlungsstelle<br />
für <strong>in</strong>terkulturelle<br />
Übersetzer<strong>in</strong>nen und Übersetzer<br />
«comprendi?» e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Jubiläum<br />
feiern. Seit ihrem Start hat sich die<br />
Zahl <strong>der</strong> Übersetzungsstunden pro<br />
Jahr mehr als verdoppelt. Sie liegt<br />
heute bei 17 239 Stunden <strong>in</strong> rund 50<br />
verschiedenen Sprachen.<br />
E<strong>in</strong> Wachstum erfuhr auch <strong>der</strong><br />
Flüchtl<strong>in</strong>gsdienst <strong>der</strong> <strong>Caritas</strong><br />
<strong>Bern</strong>. Die Sozialarbeitenden begleiteten<br />
gut 200 Personen mehr<br />
als im Vorjahr. Bei <strong>der</strong> Fachstelle<br />
Wohnen erfor<strong>der</strong>te das Wachstum<br />
e<strong>in</strong>e personelle Erweiterung sowie<br />
e<strong>in</strong>e Konzeptanpassung. E<strong>in</strong>e<br />
Massnahme daraus ergibt sich <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Beratung: Die Mitarbeitenden<br />
<strong>der</strong> Fachstelle Wohnen werden die<br />
anerkannten Flüchtl<strong>in</strong>ge vermehrt<br />
darauf h<strong>in</strong>weisen, den Radius bei<br />
<strong>der</strong> Wohnungssuche geografisch<br />
auf die Regionen auszuweiten.<br />
Erster zweisprachiger <strong>Caritas</strong>-<br />
Markt eröffnet<br />
Die <strong>Caritas</strong>-Kampagne «Armut<br />
halbieren» spielte im Jubiläumsjahr<br />
weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e wichtige Rolle.<br />
Mit <strong>der</strong> Eröffnung e<strong>in</strong>es dritten<br />
<strong>Caritas</strong>-Marktes im Kanton <strong>Bern</strong><br />
kam <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />
nach <strong>der</strong> Schaffung von mehr Läden<br />
für armutsbetroffene Menschen<br />
nach. Der im letzten Sommer<br />
<strong>in</strong> Biel neu eröffnete Markt wird<br />
als erster <strong>Caritas</strong>-Markt nicht von<br />
<strong>der</strong> <strong>Caritas</strong> selbst, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong><br />
Nachbarn 1 / 12<br />
Robert Landtw<strong>in</strong>g, Präsident För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>, und Judith Ackermann, Vizepräsident<strong>in</strong><br />
För<strong>der</strong>vere<strong>in</strong>, konnten an <strong>der</strong> Operngala Prom<strong>in</strong>enz aus Wirtschaft, Politik und aus<br />
kirchlichen Kreisen begrüssen.<br />
FONDATION gad STIFTUNG betrieben.<br />
«In den ersten fünf Monaten<br />
wurden 3000 E<strong>in</strong>kaufskarten<br />
im Raum Biel-Bienne/Seeland an<br />
zur Abgabe berechtigte Institutionen<br />
und Personen verteilt», erklärt<br />
Marianne Kuchen, Leiter<strong>in</strong> Bereich<br />
Gastronomie <strong>der</strong> FONDATION gad<br />
STIFTUNG. «Der Umsatz konnte <strong>in</strong><br />
den ersten Monaten kont<strong>in</strong>uierlich<br />
gesteigert werden, was den von uns<br />
erwarteten Bedarf für das Angebot<br />
bestätigt», führt Marianne Kuchen<br />
weiter aus. Beim neu geschaffenen<br />
Geschäft <strong>in</strong> Biel handelt es sich ausserdem<br />
um den ersten zweisprachigen<br />
<strong>Caritas</strong>-Markt <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>.<br />
Die beiden an<strong>der</strong>en <strong>Caritas</strong>-Märkte<br />
<strong>in</strong> <strong>Bern</strong> und Thun erfuhren im vergangenen<br />
Jahr kle<strong>in</strong>e Neuerungen.<br />
Dank Spenden zum Tod des Pfarrers<br />
Michael Dähler und dank des<br />
<strong>in</strong>novativen Zivildienstleistenden<br />
Patrick Wüthrich ist im Thuner<br />
<strong>Caritas</strong>-Markt e<strong>in</strong>e neue Café-Ecke<br />
entstanden. Auch <strong>in</strong> <strong>Bern</strong> erfuhr<br />
die Kaffeeecke als sozialer Treffpunkt<br />
e<strong>in</strong>e Auffrischung.<br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
Aus Solidarität mit Armutsbetroffenen<br />
zündete die Miss Earth <strong>Schweiz</strong>, Ir<strong>in</strong>a De<br />
Giorgi, an <strong>der</strong> Aktion «E<strong>in</strong>e Million Sterne»<br />
auf dem Bundesplatz Kerzen an.<br />
Den Rechenschaftsbericht <strong>der</strong><br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> 2011 f<strong>in</strong>den Sie unter<br />
www.caritas-bern.ch.<br />
17
Kiosk<br />
Ihre Frage an uns<br />
S<strong>in</strong>d Menschen, die mit dem Auto zum <strong>Caritas</strong>-Markt<br />
fahren, wirklich arm? E<strong>in</strong> Auto kostet jeden Monat viel<br />
Geld, das man sicher s<strong>in</strong>nvoller e<strong>in</strong>setzen könnte.<br />
(Anna Schmid, <strong>Bern</strong>)<br />
Liebe Frau Schmid<br />
Es stimmt: E<strong>in</strong> Auto ist teuer. Unsere Sozialberater<strong>in</strong>nen und<br />
-berater empfehlen bei <strong>der</strong> Budgetberatung stets, auf das Auto<br />
zu verzichten und die öffentlichen Verkehrsmittel zu benutzen.<br />
Doch es gibt Situationen, <strong>in</strong> denen e<strong>in</strong> eigenes Auto unverzichtbar<br />
ist. Wer zum Beispiel Schichtarbeit verrichtet, kommt kaum<br />
ohne Auto nach Hause. Und wer abgelegen auf dem Land wohnt,<br />
wo die Wohnungen beson<strong>der</strong>s günstig s<strong>in</strong>d, ist unter Umständen<br />
auch auf e<strong>in</strong> Auto angewiesen.<br />
Wir bei <strong>Caritas</strong> s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> Me<strong>in</strong>ung, dass je<strong>der</strong> Mensch se<strong>in</strong> Geld<br />
so e<strong>in</strong>setzen soll, wie er es für richtig empf<strong>in</strong>det. Wenn arme<br />
Menschen auf Ferien o<strong>der</strong> auf e<strong>in</strong>e grössere Wohnung verzichten<br />
und sich dafür das eigene Auto leisten, so ist das ihre Entscheidung,<br />
die es zu respektieren gilt – wenn sie Prioritäten setzen<br />
können. Aber wenn sich unsere Klient<strong>in</strong>nen und Klienten nicht<br />
?<br />
an das geme<strong>in</strong>sam erarbeitete Budget halten, stellen<br />
wir die Beratung e<strong>in</strong>. Denn ohne Auto hat jede Familie<br />
am Ende des Monats mehr Geld zur freien Verfügung.<br />
Schliesslich kann man sich auch e<strong>in</strong> Fahrzeug leihen,<br />
von Freunden o<strong>der</strong> bei Mobility.<br />
Haben Sie auch e<strong>in</strong>e Frage an uns? Gerne beantworten wir diese <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
nächsten Ausgabe von «Nachbarn». Senden Sie Ihre Frage per E-Mail an<br />
nachbarn@caritas-zuerich.ch o<strong>der</strong> per Post an:<br />
Redaktion Nachbarn<br />
<strong>Caritas</strong> Zürich<br />
Beckenhofstrasse 16<br />
Postfach<br />
8021 Zürich<br />
Software-Spende an <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
Im Rahmen <strong>der</strong> Microsoft Donation spendete Microsoft <strong>der</strong> <strong>Caritas</strong><br />
<strong>Bern</strong> im letzten Herbst 50 Gratis-Office-2010-Lizenzen. Auch unterstützte<br />
Microsoft die <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> mit kostenlosen Grafikprogrammen<br />
– 50 VisioPro-2010- und 10 Prjct-Lizenzen. Diese hätten <strong>Caritas</strong><br />
<strong>Bern</strong> im Handel 25 000 Franken gekostet. Microsoft zeigt sich<br />
bei <strong>der</strong> Vergabe von Gratis-Software an kle<strong>in</strong>e NGO sehr grosszügig.<br />
Im letzten Jahr durfte die <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> davon profitieren.<br />
Wir danken Microsoft sehr für ihre Spende!<br />
AGENDA<br />
Delegiertenversammlung 2012<br />
<strong>der</strong> <strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong><br />
An <strong>der</strong> Delegiertenversammlung <strong>der</strong><br />
<strong>Caritas</strong> <strong>Bern</strong> steht <strong>der</strong> Rechenschaftsbericht<br />
mit <strong>der</strong> Jahresrechnung im<br />
Zentrum. Nebst e<strong>in</strong>em Rückblick auf das<br />
Jahr 2011 wird den Teilnehmenden auch<br />
e<strong>in</strong> Ausblick <strong>in</strong>s laufende Jahr 2012 gewährt.<br />
Mittwoch, 6. 6. 2012, 18 Uhr<br />
Pfarrei St. Marien <strong>in</strong> <strong>Bern</strong><br />
Menschenwürde – e<strong>in</strong> Luxus?<br />
Die Fachtagung <strong>der</strong> Interkonfessionellen<br />
Arbeitsgruppe Sozialhilfe und <strong>der</strong> <strong>Bern</strong>er<br />
Konferenz für Sozialhilfe, Erwachsenenund<br />
<strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong>schutz zum Thema «Menschenwürde»<br />
richtet sich an Sozialarbeitende<br />
und kirchliche Mitarbeitende von<br />
öffentlichen und an<strong>der</strong>n Organisationen<br />
im Sozialbereich sowie kirchliche, kommunale<br />
und regionale Behördenmitglie<strong>der</strong>.<br />
Dienstag, 12. 6. 2012, 8.15 bis 17 Uhr<br />
Reformierte Kirchgeme<strong>in</strong>de Paulus,<br />
<strong>Bern</strong><br />
Tag des Flüchtl<strong>in</strong>gs<br />
In <strong>Bern</strong> und Biel veranstalten mehrere<br />
NGOs den nationalen Flüchtl<strong>in</strong>gstag. E<strong>in</strong><br />
Labyr<strong>in</strong>th wird auf <strong>in</strong>teraktive und spielerische<br />
Weise den Weg zur Integration<br />
von Flüchtl<strong>in</strong>gen aufzeigen.<br />
Vorgängig wird e<strong>in</strong> Flashmob auf die<br />
Veranstaltung aufmerksam machen.<br />
Samstag, 16. 6. 2012, 15 bis 22 Uhr<br />
<strong>Bern</strong>er Bundesplatz und Biel<br />
E<strong>in</strong>e Million Sterne<br />
Armut trifft <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> ganz beson<strong>der</strong>s hart.<br />
Darum unterstützt die <strong>Caritas</strong>-Aktion<br />
«E<strong>in</strong>e Million Sterne» arme Familien <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>. Jedes Licht, das angezündet<br />
wird, ist e<strong>in</strong> Bekenntnis <strong>der</strong> Solidarität<br />
mit Menschen <strong>in</strong> Not.<br />
Samstag, 15. 12. 2012, ab 16 Uhr<br />
Bundesplatz, <strong>Bern</strong><br />
18 Nachbarn 1 / 12
Ich habe<br />
ke<strong>in</strong>e<br />
Ahnung<br />
«Sie haben ja ke<strong>in</strong>e Ahnung!» Das<br />
hören wir oft. Wir, die Geld haben.<br />
Dass wir ke<strong>in</strong>e Ahnung hätten, was<br />
es heisst, arm zu se<strong>in</strong>. Und uns darum<br />
nicht e<strong>in</strong>mischen sollen. Aber<br />
spenden sollen wir trotzdem, am<br />
besten viel. Ke<strong>in</strong> Problem, das mache<br />
ich gerne. Nicht e<strong>in</strong>mischen,<br />
me<strong>in</strong>e ich.<br />
Aber e<strong>in</strong>iges müsste mir wirklich<br />
erklärt werden. Warum man zum<br />
Beispiel <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> <strong>in</strong> die Welt setzt,<br />
wenn man ke<strong>in</strong> Geld hat. Ohne<br />
me<strong>in</strong> Vermögen hätte ich ke<strong>in</strong>e<br />
Familie gegründet. Die Ausbildung<br />
<strong>der</strong> vier <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> ist teuer. Aber jemand<br />
muss ja e<strong>in</strong>es Tages die Firma<br />
übernehmen. Lange dachte ich<br />
an unsern Jüngsten, Carl. Er ist<br />
zehn. Aber jetzt enttäuscht er mich.<br />
Er gibt sich mit dieser Angela ab.<br />
Ich weiss nicht, wo er die kennengelernt<br />
hat. Sicher nicht an <strong>der</strong> Privatschule.<br />
Sie ist aus schlechtem<br />
Haus: zwei Geschwister, die Mutter<br />
alle<strong>in</strong>erziehend, arbeitslos, arm<br />
und offenbar dumm.<br />
Nachbarn 1 / 12<br />
Auf se<strong>in</strong> Drängen h<strong>in</strong> habe ich Carl<br />
erlaubt, das Mädchen zum Lunch<br />
e<strong>in</strong>zuladen. Beim Essen erzählte<br />
sie tatsächlich, dass sie e<strong>in</strong> Handy<br />
hat! So e<strong>in</strong> Mädchen vertelefoniert<br />
doch Unsummen! Und zuhause<br />
hätten sie sogar e<strong>in</strong>en Computer.<br />
Als ich Carl auf diesen lie<strong>der</strong>lichen<br />
Umgang mit Geld h<strong>in</strong>wies, erwi<strong>der</strong>te<br />
er: «Sie braucht e<strong>in</strong> Handy und<br />
e<strong>in</strong>en Compi, um mit an<strong>der</strong>n Menschen<br />
<strong>in</strong> Kontakt zu se<strong>in</strong>, so wie<br />
wir alle, das gehört auch zur Chancengleichheit,<br />
das haben wir <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Schule durchgenommen!» Chancengleichheit!<br />
So e<strong>in</strong> Blöds<strong>in</strong>n.<br />
Ob es auch mit Chancengleichheit<br />
zu tun hat, dass sich Angela unanständig<br />
gierig auf alles gestürzt hat<br />
– egal, ob Fleisch, Gemüse o<strong>der</strong> Kartoffeln<br />
–, was beim Lunch angeboten<br />
wurde? «Ke<strong>in</strong> Wun<strong>der</strong>», sagte<br />
ich zu Carl, «die Mutter sitzt sicher<br />
den ganzen Tag vor dem Fernseher<br />
und kocht nie etwas Anständiges!»<br />
«Ne<strong>in</strong>», entgegnete Carl, «sie sucht<br />
unter an<strong>der</strong>em gutes, billiges Ge-<br />
Gedankenstrich<br />
müse. Du hast e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong>e Ahnung!»<br />
Ke<strong>in</strong>e Ahnung, so so. Ich<br />
wette, dass er nichts dagegen hätte,<br />
wenn ich se<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong> Geld geben<br />
würde. Doch ich habe ja ke<strong>in</strong>e<br />
Ahnung und darum halte ich mich<br />
da raus.<br />
Tanja Kummer ist Schriftsteller<strong>in</strong>.<br />
Ihr Erzählband «Wäre doch gelacht» und<br />
an<strong>der</strong>e Bücher s<strong>in</strong>d im Zytglogge-Verlag<br />
erschienen. 2010 leitete die Autor<strong>in</strong> die<br />
Schreibwerkstatt «wir s<strong>in</strong>d arm» <strong>der</strong> <strong>Caritas</strong>.<br />
Die so entstandenen Texte können Sie<br />
nachlesen auf www.wir-s<strong>in</strong>d-arm.ch.<br />
Illustration: Christoph Fischer<br />
19
SPINAS CIVIL VOICES<br />
Armut grenzt <strong>K<strong>in</strong><strong>der</strong></strong> aus. E<strong>in</strong> Leben lang. Ihre Spende hilft, die Armut<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> zu halbieren: www.k<strong>in</strong><strong>der</strong>armut.ch. Danke.<br />
Nachbarn 1 / 12