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Der Schlankheitswahn und seine Folgen

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VD24<br />

Körper, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Gewalt<br />

Uta Meier-Gräwe<br />

7.1 Körperwahrnehmung<br />

7.1.1 <strong>Der</strong> <strong>Schlankheitswahn</strong> <strong>und</strong> <strong>seine</strong><br />

<strong>Folgen</strong> – eine unterschätzte<br />

weltumspannende Epidemie<br />

7.1.1.1 Einleitung<br />

Im November diesen Jahres starb das erst 21-jährige, aus einfachen<br />

Verhältnissen stammende brasilianische Fotomodell Ana<br />

Carolina Reston an Magersucht. Sie war einen Tag vor einem<br />

geplanten Foto-Shooting in Paris mit einer Blasen- <strong>und</strong> Leberinfektion<br />

in ein Krankenhaus eingeliefert worden <strong>und</strong> wog bei<br />

einer Körpergröße von 1,73 m gerade noch 40 kg. Todesursache<br />

war Presseberichten zufolge allgemeines Organversagen. Ihre<br />

Widerstandskräfte reichten einfach nicht aus, um die Infektion<br />

zu überwinden. Seit ihrem 13. Lebensjahr hatte sie als Model<br />

gearbeitet <strong>und</strong> unterstützte ihre Herkunftsfamilie mit den erzielten<br />

Gagen. Wenn sie auch nicht zu den Bekanntesten der Branche<br />

gehörte, war sie doch recht erfolgreich <strong>und</strong> arbeitete unter<br />

anderem für Ford, Elite <strong>und</strong> L´ Equipe. Die Agentur, bei der sie<br />

unter Vertrag stand, hatte angeblich nichts von ihrer Essstörung<br />

mitbekommen. Auch wenn sich in Brasilien nach ihrem Tod kritische<br />

Stimmen mehren, welche die Arbeitsbedingungen in der<br />

Modebranche kritisieren, bleiben die Ursachen <strong>und</strong> <strong>Folgen</strong> von<br />

Essstörungen wie Magersucht (Anorexie nervosa) oder Ess-<br />

Brech-Sucht (Bulimia nervosa) bis heute doch eher ein tabuisiertes<br />

Thema.<br />

Hinweise auf das Krankheitsbild der Magersucht – Anorexie<br />

(griech.: anorektein – ohne Appetit sein) reichen bis ins 16./17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert zurück. So soll schon die heilige Katherina von<br />

Sienna an Anorexie gelitten haben. Tatsache ist jedoch, dass die<br />

Verbreitung dieser Krankheit in der heutigen globalen Welt<br />

enorme Ausmaße annimmt. Wesentlich zu tun hat der <strong>Schlankheitswahn</strong><br />

unserer Tage mit den Schönheitsidealen, die Werbung,<br />

Kino <strong>und</strong> Musikvideos der heranwachsenden Generation<br />

Rechtshandbuch für Frauen- <strong>und</strong> Gleichstellungsbeauftragte<br />

7/1.1<br />

Seite 1<br />

Magersucht<br />

ist ein weitverbreitetes<br />

Krankheitsbild


7/1.1<br />

Seite 2<br />

Magersucht<br />

als globale<br />

Epedemie<br />

Körper, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Gewalt<br />

Uta Meier-Gräwe<br />

permanent suggerieren. Wer Erfolg haben, beliebt <strong>und</strong> schön<br />

sein will, so die Botschaft, muss dünn sein.<br />

7.1.1.2 Magersucht als gesellschaftliches<br />

Phänomen heute<br />

US-amerikanische Studien berichten darüber, dass fast 80 Prozent<br />

aller neunjährigen Mädchen in San Francisco schon eine<br />

Schlankheitskur hinter sich haben, obwohl sie sehr dünn sind.<br />

Und selbst bei kleinen dreijährigen Mädchen beobachteten<br />

Expertinnen wie Susie Orbach, Psychotherapeutin <strong>und</strong> Mitbegründerin<br />

eines Frauen-Therapiezentrums in London, dass sie<br />

sich stärker mit dem Aussehen ihres Körpers als mit dessen<br />

Potenzial beschäftigen: Sie sind nicht stolz darauf, wie hoch sie<br />

klettern können, sondern darauf, wie gut sie die Kleidung <strong>und</strong><br />

das „Wackeln“ von Britney Spears imitieren können. Das eigene<br />

Erscheinungsbild <strong>und</strong> eine schlanke Figur ist bei einer erschreckend<br />

großen Zahl der fünfzehnjährigen Mädchen inzwischen<br />

zur Sorge Nummer 1 beim Erwachsenwerden geworden.<br />

Susie Orbach spricht von einer globalen Epidemie. War Magersucht<br />

noch vor einigen Jahren symptomatisch für junge weiße<br />

Frauen aus westlichen Ländern (weiß, weiblich, westlich), so<br />

greifen Essstörungen inzwischen immer mehr um sich. <strong>Der</strong> Terror<br />

des schönen, schlanken Körpers grassiert weltweit. Selbst<br />

junge afrikanische Mädchen, die aus Volkswirtschaften stammen,<br />

in denen die Unterernährung eines der wichtigsten Ges<strong>und</strong>heitsprobleme<br />

ist, werden über Print-Medien <strong>und</strong> über das Fernsehen<br />

dazu verführt, ihre Körper auf eine Weise zu betrachten,<br />

die den normalsten Appetit schwächt <strong>und</strong> sie auf eine westliche<br />

Art Frau zu sein, einschwört. Selbst auf den Fidschi-Inseln, wo<br />

vier Fünftel aller Frauen eher r<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> stämmig von Statur<br />

waren, gab es nach Einführung amerikanischer TV-Sender im<br />

Jahre 1995 eine drastische Tendenz untere den jungen Frauen<br />

abzunehmen, um diesem vermittelten Schönheitsideal zu entsprechen.


VD24<br />

Körper, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Gewalt<br />

Uta Meier-Gräwe<br />

Die Psychotherapeutin Orbach zieht eine drastische Parallele:<br />

„Mädchen <strong>und</strong> Frauen werden heute durch eine zeitgenössische<br />

Version der eingeb<strong>und</strong>enen <strong>und</strong> damit verkrüppelten Füße chinesischer<br />

Frauen gequält. Doch die Version, die wir im Westen entwickelt<br />

haben, ist vielleicht noch heimtückischer.“ Während chinesische<br />

Mütter ihren Töchtern Schmerzen <strong>und</strong> Erniedrigungen<br />

bereiteten, indem sie ihnen die Zehen in dem Bewusstsein brachen,<br />

dass das für ein Mädchen der einzig mögliche Weg war, in<br />

jener Gesellschaft sozial „aufzusteigen“, werden Mädchen <strong>und</strong><br />

junge Frauen heute auf subtile, aber beständige Weise mit der<br />

Vorstellung konfrontiert, dass „ihr Körper – die Hülle, in der sie<br />

leben – gefährlich ist.“ <strong>Der</strong> weibliche Körper wird in unserer<br />

Gesellschaft als eine Art Rohmasse betrachtet, aus der sich mit<br />

Selbstdisziplin <strong>und</strong> einem entsprechenden Aufwand ein ansehnliches<br />

Objekt herstellen lässt. Wem die Kontrolle der Essensgelüste<br />

misslingt, glaubt, sich den Weg zu Schönheit <strong>und</strong> gesellschaftlicher<br />

Anerkennung zu verstellen.<br />

Wie sich die Zunahme bestimmter Nahrungsmittel auf ihre Figur<br />

auswirkt, beherrscht heute das Denken vieler Mädchen <strong>und</strong> junger<br />

Frauen. Sie legen sich in ihrem Alltag gezügelte Esspraktiken<br />

(restrained eating) in Permanenz zu. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

sind auch geschlechtsspezifische Nahrungsmittelpräferenzen<br />

aufschlussreich: Mädchen bevorzugen kalorienarme Lebensmittel<br />

<strong>und</strong> Getränke wie Obst, Gemüse, Jogurt <strong>und</strong> Mineralwasser.<br />

Jungen hingegen konsumieren auffällig häufiger Lebensmittel,<br />

die als „groß <strong>und</strong> stark“ machend gelten (Setzwein 2000). Weibliche<br />

Nahrungsmittelvorlieben sind demnach keineswegs durchweg<br />

als Ausdruck einer vergleichsweise ges<strong>und</strong>heitsbewussten<br />

Ernährung zu deuten. Das durch Diäten charakterisierte Essverhalten<br />

vieler junger Mädchen dient ebenso wie der teils exzessive<br />

Fleischkonsum junger Männer als Versuch, Geschlechteridentität<br />

herzustellen; d. h. die eigene Weiblichkeit oder Männlichkeit<br />

bewusst zu inszenieren. Aus Jugendcamps wird<br />

berichtet, dass heranwachsende Mädchen ihr Essverhalten in<br />

teils besorgniserregender Weise kontrollieren <strong>und</strong> einengen,<br />

zugleich aber den männlichen Sieger im Wettessen (Wer schafft<br />

die meisten Hamburger?) bew<strong>und</strong>ern.<br />

Rechtshandbuch für Frauen- <strong>und</strong> Gleichstellungsbeauftragte<br />

7/1.1<br />

Seite 3<br />

Betrachtung<br />

des Körpers<br />

als Objekt<br />

geschlechtsspezifische<br />

Unterschiede in<br />

der Ernährung


7/1.1<br />

Seite 4<br />

Körper, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Gewalt<br />

Uta Meier-Gräwe<br />

Über Foren im Internet wird unter gefährlichen Slogans wie „Du<br />

kannst nie zu dünn sein“ oder „Anorexie ist ein Lifestyle <strong>und</strong><br />

keine Krankheit“ ein Austausch zwischen Anhängerinnen der<br />

sogenannten Pro-Ana-Bewegung forciert. Als Pro-Anas<br />

bezeichnen sich magersüchtige Mädchen <strong>und</strong> in letzter Zeit vereinzelt<br />

auch junge Männer, die sich zu ihrem extremen Dünn-<br />

Sein bekennen <strong>und</strong> versuchen, so zu bleiben oder noch weiter<br />

abzunehmen. Größtenteils fehlt ein Problembewusstsein für den<br />

Suchtcharakter <strong>und</strong> die Gefahren dieser Krankheit. Inzwischen<br />

gibt es auch Pro-Mia-Seiten im Internet. Mia steht dabei für<br />

Bulimia, also für die Ess-Brechsucht.<br />

7.1.1.3 Bulimie<br />

Das kontrollierte Essverhalten der Mädchen erfordert eine hohe<br />

Motivation <strong>und</strong> bindet intellektuelles Potential, um die selbst<br />

gesetzten Diätregeln durchzuhalten. Aus dem in Abständen wiederkehrenden<br />

Zusammenbrechen der kognitiven Kontrolle des<br />

Essverhaltens kann sich das Krankheitsbild der Bulimie, auch<br />

Stierhunger genannt, entwickeln: Es handelt sich um eine heimliche<br />

Krankheit, die mit dem steten Bemühen der Betroffenen<br />

verb<strong>und</strong>en ist, die Fassade eines völlig normalen Essverhaltens<br />

aufrechtzuerhalten. Auf ein stark reglementiertes Essverhalten<br />

folgen Heißhungerattacken, die mit einem schlechten Gewissen<br />

einhergehen <strong>und</strong> dem Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Die<br />

Betroffenen reagieren darauf mit selbst herbeigeführtem Erbrechen,<br />

der Einnahme von Appetitzüglern bzw. Abführmitteln<br />

<strong>und</strong>/oder auch mit einem strikten Sportprogramm. Ein Essverhalten,<br />

das zwar noch nicht als Essstörung diagnostiziert wird,<br />

aber in der Tendenz in diese Richtung weist, ist weit verbreitet.<br />

<strong>Der</strong> Anteil der Mädchen, die „bulimische“ Verhaltensweisen zeigen,<br />

d. h. die besonderen Wert auf ihre Figur legen, ständig ihren<br />

Appetit zügeln <strong>und</strong> gelegentlich Heißhungerattacken entwickeln,<br />

wird immerhin auf 18 Prozent beziffert (Striegel-Moor<br />

2001).<br />

Wie kommt es zu diesem Essverhalten, gerade bei Mädchen <strong>und</strong><br />

jungen Frauen? Ihre Sozialisation ist von Anfang an immer auch


VD24<br />

Körper, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Gewalt<br />

Uta Meier-Gräwe<br />

eine Geschlechtersozialisation. Insbesondere im Zeitraum von<br />

der Pubertät bis zum Erreichen des Erwachsenenstatus müssen<br />

sie nun aber mit den offensichtlichen Veränderungen ihres Körpers<br />

zurecht kommen, mit der Ausbildung ihrer Geschlechteridentität,<br />

sich aber auch mit ihrer Berufs- <strong>und</strong> Lebensplanung<br />

befassen. Sie werden in dieser Zeit massiv mit Weiblichkeitskonstruktionen<br />

konfrontiert, in denen Frau-Sein mit Schönsein, mit<br />

Schlanksein gleichgesetzt, oft darauf reduziert wird. Kommt<br />

dann womöglich noch eine ungünstige Familienkonstellation<br />

hinzu (gestörte Mutter-Kind-Beziehung etc.), sind diese jungen<br />

Frauen besonders vulnerabel. Es ist das Alter, in dem Nahrungsmittel<br />

auch zur Inszenierung des eigenen Geschlechts dienen.<br />

<strong>Der</strong> Einfluss der Medien ist in diesem Zusammenhang fatal; die<br />

dort erzeugten <strong>und</strong> vermittelten Bilder von Weiblichkeit bleiben<br />

nicht ohne Wirkung; daran gibt es auch unter Experten keinen<br />

Zweifel mehr. So nimmt die messbare Selbstachtung von gut<br />

aussehenden Mädchen im Teenager-Alter nach dem einstündigen<br />

Lesen eines der Hochglanz-Modemagazine dramatisch ab.<br />

Das gängige weibliche Schönheitsideal des straffen, extrem<br />

schlanken Körpers kontrastiert in der Pubertät mit ihrer faktischen<br />

Körperentwicklung: In dieser Lebensphase steigt der<br />

Anteil des Körperfettgewebes der Mädchen an, die Körperform<br />

wird r<strong>und</strong>licher <strong>und</strong> weicher. Kindheitsforscherinnen betonen,<br />

dass Mädchen im Allgemeinen so sozialisiert werden, dass sie<br />

ihren Körper nicht akzeptieren können. Sie zeigen ein hohes<br />

Maß an Unzufriedenheit mit ihrem Äußeren; insbesondere<br />

Busen, Beine, Bauch oder Po erscheinen ihnen als nicht richtig<br />

proportioniert. Um dieses Thema kreisen ihre Gedanken vor<br />

allem auch deshalb so zentral, weil sie von ihrer Umwelt in der<br />

Pubertät vorrangig nach ihrem Äußeren beurteilt werden,<br />

wohingegen Jungen auch auf anderem Wege, zum Beispiel<br />

durch gute schulische oder sportliche Leistungen zu Anerkennung<br />

gelangen. Seit einiger Zeit wird allerdings davon berichtet,<br />

dass sich die Altersgrenze essgestörter Mädchen inzwischen<br />

weiter nach unten verschoben hat. Und: zunehmend leiden auch<br />

junge Männer unter dieser „Frauenkrankheit“: Sie werden heute<br />

mit einem männlichen Schönheitsideal konfrontiert; dem des<br />

schlanken, durchtrainierten Erfolgsmenschen.<br />

Rechtshandbuch für Frauen- <strong>und</strong> Gleichstellungsbeauftragte<br />

7/1.1<br />

Seite 5<br />

Einfluss der<br />

Medien auf<br />

das Bild der<br />

Weiblichkeit<br />

auch Männer<br />

sind betroffen


7/1.1<br />

Seite 6<br />

Bewertung von<br />

Menschen nach<br />

Körperform<br />

setzt früh ein<br />

7.1.1.4 Die Medien<br />

Körper, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Gewalt<br />

Uta Meier-Gräwe<br />

Über die in den Medien dargestellten Körperformen werden<br />

immer auch bestimmte Vorstellungen transportiert; etwa, dass<br />

ein extrem schlanker Körper nicht nur mit Schönheit, sondern<br />

auch mit anderen positiven Eigenschaften verb<strong>und</strong>en wird: mit<br />

Erfolg, Kompetenz, Selbstdisziplin <strong>und</strong> sexueller Ausstrahlung.<br />

Demgegenüber wird Dicksein als selbstverschuldetes Leiden<br />

angesehen. Eine füllige Person, die zudem noch mit ihrem Aussehen<br />

zufrieden ist, erscheint heutzutage kaum vorstellbar. <strong>Der</strong><br />

dicke Körper gilt – anders als in vorindustriellen Zeitepochen –<br />

als ein aus der Kontrolle geratener Körper. Er steht für Faulheit,<br />

Trägheit <strong>und</strong> Willensschwäche.<br />

Die Bewertung eines Menschen aufgr<strong>und</strong> <strong>seine</strong>r Körperform,<br />

aber auch die Verschränkung von Schlankheit <strong>und</strong> Schönheit<br />

setzt bereits im Kindesalter ein. In einer Befragung von Fünf- bis<br />

AchtklässlerInnen über ihre Einstellungen zu übergewichtigen<br />

Menschen empfanden es etwa ein Drittel der SchülerInnen als<br />

schlimm, wenn ein Junge dick ist, aber etwa 40 Prozent der<br />

befragten Mädchen <strong>und</strong> gut die Hälfte der befragten Jungen<br />

stimmten der Aussage zu, dass es schlimm sei, wenn ein Mädchen<br />

dick ist. Etwa ein Drittel der Kinder stimmte auch der Aussage<br />

zu, dass dicke Kinder <strong>und</strong> Erwachsene hässlich seien. 70<br />

Prozent der Jungen <strong>und</strong> 64 Prozent der Mädchen waren außerdem<br />

der Meinung, dass eine Frau nur gut aussieht, wenn sie<br />

schlank ist. Folglich haben bereits Kinder den gesellschaftlichen<br />

Symbolgehalt der Körperformen nachweislich verinnerlicht,<br />

wobei insbesondere die Verbindung von Schlank-Sein <strong>und</strong><br />

Schönheit weiblich konnotiert wird.<br />

7.1.1.5 Gewichtskontrolle<br />

Hervorgerufen durch diesen hohen Normdruck kommt es zu<br />

einer weit verbreiteten Anwendung unterschiedlicher Methoden<br />

zur Gewichtskontrolle bei Mädchen <strong>und</strong> Frauen. Sie reichen<br />

vom täglichen Wiegen, Diät halten <strong>und</strong> einer ausgeprägten sport-


VD24<br />

Körper, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Gewalt<br />

Uta Meier-Gräwe<br />

lichen Betätigung über die Einnahme von Medikamenten bis hin<br />

zu entsprechenden chirurgischen Eingriffen, darunter die<br />

Magenklammerung. Ein weiteres, durchaus verbreitetes Mittel<br />

zur Kontrolle des Körpergewichts bei Mädchen <strong>und</strong> jungen<br />

Frauen ist das Rauchen von Zigaretten.<br />

Die sicherste Einstiegsdroge in eine Ess-Störung ist das Kalorienzählen<br />

mit dem Ziel, willkürliche Gewichtsgrenzen einzuhalten<br />

oder zu erreichen. Einer Umfrage zufolge quält sich in<br />

England bereits jede zehnte Sechsjährige mit Kalorientabellen<br />

herum. Auch in Deutschland eifern bereits Mädchen im Alter<br />

zwischen 7 bis 11 Jahren einem Körperideal nach, das im untergewichtigen<br />

Bereich liegt. Einer Studie der Deutschen Gesellschaft<br />

für Ernährung zufolge stellen sich 27 Prozent der befragten<br />

Frauen täglich auf die Waage, 16 Prozent verwendeten Entwässerungstabletten;<br />

fast 10 Prozent greifen sogar täglich oder<br />

wöchentlich zu Abführmitteln. Appetitzügler konsumieren 18<br />

Prozent; 8 Prozent nehmen sie täglich oder wöchentlich ein.<br />

Immerhin gaben 6 Prozent der Befragten auch an, gelegentlich<br />

das bewusste Erbrechen zur Kontrolle des Körpergewichts anzuwenden.<br />

In der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland leiden schätzungsweise bis<br />

zu drei Prozent aller Frauen unter Bulimie. Heißhungerattacken,<br />

allerdings ohne spätere „Gegenmaßnahmen“ wie Abführmittel<br />

oder Erbrechen, kommen bei weiteren fünf Prozent vor. Wie<br />

viele Magersüchtige es gibt, ist nur schwer zu schätzen. Das ist<br />

sicher auch auf den Umstand zurückzuführen, dass die Betroffenen<br />

versuchen, ihr extremes Essverhalten unter allen Umständen<br />

zu kaschieren. Sie zeigen in den meisten Fällen kein Krankheitsbewusstsein,<br />

sondern entwickeln Stolz <strong>und</strong> Befriedigung, wenn<br />

sie an Gewicht verlieren. Die selbst auferlegte Nahrungsreduzierung<br />

muss von den Betroffenen gegen ein starkes Hungergefühl<br />

<strong>und</strong> durch ein großes Interesse an allem, was mit dem Essen zu<br />

tun hat, durchgehalten werden. Das Thema Essen ist für sie persönlich<br />

mit peniblem Zählen, Wiegen <strong>und</strong> Planen verb<strong>und</strong>en.<br />

Zugleich neigen viele von ihnen dazu, für andere zu kochen <strong>und</strong><br />

mit anderen ausgiebig über dieses Thema zu reden.<br />

Rechtshandbuch für Frauen- <strong>und</strong> Gleichstellungsbeauftragte<br />

7/1.1<br />

Seite 7<br />

Kalorienzählen<br />

als Einstieg<br />

Bulimie


7/1.1<br />

Seite 8<br />

„Superfrau“<br />

<strong>und</strong><br />

„kluge Frau“<br />

Körper, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Gewalt<br />

Uta Meier-Gräwe<br />

Beunruhigen muss, dass diese Form der Selbstaggression <strong>und</strong><br />

der permanenten Selbstkontrolle offenbar nur die berühmte<br />

„Spitze des Eisberges“ ist, also keineswegs nur bei manifesten<br />

Essstörungen auftritt, sondern den Essalltag vieler Mädchen <strong>und</strong><br />

junger Frauen prägt ( wenn auch in abgeschwächter Form.<br />

Anfällig für Essstörungen sind insbesondere Mädchen <strong>und</strong> junge<br />

Frauen, die dem widersprüchlichen Anforderungsprofil der heutigen<br />

modernen Frau nachzukommen versuchen; die also sowohl<br />

gefühlsbetont <strong>und</strong> fürsorglich anderen gegenüber als auch<br />

erfolgreich <strong>und</strong> unabhängig sein wollen. Eigenschaften, die in<br />

einer Studie von den befragten Mädchen mit diesem Ideal der<br />

„Superfrau“ verb<strong>und</strong>en wurden, waren eine weitgehende Unabhängigkeit<br />

von anderen <strong>und</strong> die Fähigkeit, ihren Körper dem geltenden<br />

Schönheitsideal anzupassen. Auffällig war schließlich,<br />

dass es den Mädchen, die diesem Ideal der „Superfrau“ nacheiferten,<br />

nicht oder kaum gelang, eine kritische Distanz gegenüber<br />

den geltenden Geschlechterrollennormen zu entwickeln, <strong>und</strong> sie<br />

in ihrem Selbstwertgefühl stark von ihrem Äußeren abhängig<br />

waren (Steiner-Adair 1992). Diese Gruppe von ca. 40 Prozent<br />

der Befragten tendierte signifikant eher zu Essstörungen als die<br />

Vergleichsgruppe der „klugen Frau“, der es gelang, die Gefahren<br />

einer (Über-)Identifikation mit dem heutigen Frauenbild wahrzunehmen,<br />

kritisch zu hinterfragen <strong>und</strong> ein eigenes Weiblichkeitsideal<br />

auszubilden.<br />

Die selbstreflektierte Auseinandersetzung mit den gängigen<br />

Geschlechterrollenstereotypen unter Einschluss der widersprüchlichen<br />

Anforderungsprofile der Frauenrolle <strong>und</strong> den<br />

medialen Schönheitsidealen erweist sich demnach als eine<br />

erfolgversprechende präventive Strategie gegen Essstörungen.<br />

Schulen <strong>und</strong> Ausbildungsstätten sind hier ebenso gefordert wie<br />

bei der Prävention von Übergewicht. Während aber Fettsucht,<br />

Übergewicht <strong>und</strong> Bewegungsmangel in ihrer ges<strong>und</strong>heitspolitischen<br />

Dimension inzwischen erkannt worden sind, steht eine<br />

gesellschaftsweite Auseinandersetzung mit den politischen <strong>und</strong><br />

sozialen Ursachen von Magersucht <strong>und</strong> Bulimie, aber auch mit<br />

ihren <strong>Folgen</strong> noch aus.

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