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Seite 14 www.kikerikizeitung.at<br />
Ausgabe <strong>September</strong> <strong>2015</strong><br />
Gedanken zur Zeit<br />
So viele Gedanken zur Zeit könnte<br />
man sich machen. Und doch: Im<br />
Augenblick, vor dem Hintergrund<br />
der aktuellen Flüchtlingsproblematik,<br />
erscheinen die meisten Themen<br />
seltsam nichtig und banal. Nicht nur,<br />
weil die Flüchtlingsscharen an den<br />
Grenzen und auf Bahnhöfen eine<br />
Krise von globalem Ausmaß widerspiegeln,<br />
die anscheinend auch nur<br />
mehr global in den Griff zu bekommen<br />
ist. Ebenso, weil Flüchtlinge<br />
plötzlich nicht mehr "irgendwelche Menschen irgendwo auf<br />
der Welt", etwa zu tausenden verendet vor Lampedusa oder<br />
unter schlimmen Bedingungen untergebracht in griechischen<br />
Auffanglangern sind, sondern auch bei uns. 71 Tote in einem<br />
Kühllastwagen, abgestellt im burgenländischen Parndorf,<br />
haben die Tragödie ganz nahe gebracht. So nahe, dass Wegschauen<br />
oder Wegdenken einfach nicht mehr gelingt.<br />
Das umstrittene Foto hat viel zur persönlichen Betroffenheit<br />
beigetragen. Ohne so ein drastisches Bild wäre das Schicksal<br />
dieser 59 Männer, 8 Frauen und 4 Kinder zum übrigen<br />
Unglück gereiht worden. So aber bekommt die Tragik eine<br />
unverkennbar menschliche Gestalt. Man sieht, was man sich<br />
lieber nicht so genau vorgestellt hätte: übereinandergeschichtete<br />
Körper. Menschen. Wie wir.<br />
Die Veröffentlichung des verstörenden Fotos ließ nicht wenige<br />
einen Skandal vermuten und pure Sensantionsgier wittern.<br />
Wie so oft wurde dabei mit dem abgenutzten Begriff der<br />
Würde argumentiert. Aber geht<br />
es uns tatsächlich um die Totenwürde?<br />
Uns, die wir es mit der<br />
"Lebendenwürde" in Bezug auf<br />
Ausländer, Asylwerber, Fremde<br />
allgemein, doch sonst auch<br />
nicht immer so wahnsinnig genau<br />
nehmen, weder verbal noch<br />
gedanklich oder im täglichen<br />
Umgang? Fürchten wir bei so<br />
einem Anblick nicht vielmehr,<br />
selbst Schaden zu nehmen? Dieses<br />
entsetzliche Bild, das ganz<br />
ohne Blut oder Verstümmelungen<br />
auskommt und dafür von einem anonymen, einsamen,<br />
elenden Ersticken erzählt, selbst nicht mehr aus dem Kopf<br />
zu kriegen? Auf einmal lässt sich die allumfassende Dramatik<br />
nicht mehr ausblenden. Wir ahnen, wer diese Menschen<br />
gewesen sein könnten. Wir müssen sie nicht persönlich kennen,<br />
um zu begreifen: sie hatten Eltern, Kinder, Geschwister,<br />
Freunde, ein ganzes, einziges, menschliches Leben. Ein<br />
Leben, das hier, wo sie gestorben sind, nicht zählt, aber anderswo!<br />
Dort, wohin einige mit ihren Mobiltelefonen nach<br />
der geglückten Flucht anrufen wollten, Bescheid geben vom<br />
Davongekommensein, nachfragen, ob auch daheim noch alle<br />
leben. Schließlich war der Ort, von dem sie kamen, ihnen allen<br />
einmal das: ein Daheim.<br />
Als der Literaturnobelpreisträger Joseph Brodsky 1972 die<br />
Sowjetunion verließ, sagte er: "Unter welchen Umständen<br />
auch immer du es verlässt, ein Zuhause bleibt immer ein Zuhause.<br />
Es ist egal, wie du dort gelebt hast, ob gut oder armselig."<br />
Das lösen die Flüchtlingsströme derzeit auch in uns aus:<br />
eine neuerliche Betrachtung des Begriffes 'Heimat'. Manche<br />
verbinden damit bange Fragen: Nehmen uns die Fremden unsere<br />
Heimat weg? Werden fremde Sprachen, Kulturen, Religionen<br />
das, was wir Heimat nennen, allmählich überrollen?<br />
- Das sind Befürchtungen, die einige Politiker und Printmedien<br />
geschickt für ihre Strategien zu nutzen wissen. Jedoch<br />
bleibt die Vermutung, dass hier ohnehin am falschen Ende<br />
der Debatte diskutiert wird. Bereits 1925 mahnte der Schriftsteller<br />
George Bernard Shaw: "Wir werden niemals eine ruhige<br />
Welt bekommen, solange wir den Patriotismus nicht aus<br />
der menschlichen Rasse herausbefördern." Später dann stellte<br />
Martin Luther King fest: "Ungerechtigkeit, an welchem<br />
Ort dieser Welt auch immer, bedroht die Gerechtigkeit der<br />
ganzen Welt." Mag sein, dass wir alle schon viel zu lange vergessen<br />
haben, was uns zur Verfügung steht. Nämlich: unter<br />
einer Sonne nur eine gemeinsame Erde. Jede Grenze, die wir<br />
darauf ziehen, zeugt von Willkür, wurde von uns gemacht,<br />
war vorher nicht da. Und: Alle sind – Menschen. Gerade<br />
Flüchtlinge sind keine bedrohlichen Wilden, sondern wollten<br />
weg von der Gewalt. Oder, wie Henry Kissinger meinte: "Die<br />
Sehnsucht nach Frieden ist das Kennzeichen aller zivilisierten<br />
Männer und Frauen."<br />
Wer demnach im Kriegsgebiet bleibt, stimmt dem Kampf zu<br />
oder macht selber mit. Wer aber flieht, ist mit dem Unfrieden<br />
nicht einverstanden. Dabei ist es ganz egal, ob jemand daheim<br />
in Syrien einen Uniabschluss erwarb oder nicht einmal<br />
seinen Namen schreiben konnte. Hier, nach zunächst gelungener<br />
Flucht, liegen sie alle auf dem Boden oder in ärmlichen<br />
Notunterkünften, sind angewisen auf Almosen und abhängig<br />
vom Wohlwollen Wildfremder.<br />
Das dürfen wir schließlich auch<br />
nie vergessen: Nicht nur sie sind<br />
Fremde für uns, wir sind es auch<br />
für sie! Nur: Alles, was ihnen<br />
vertraut und damit Heimat war,<br />
ist weit weg, zerstört oder für<br />
immer verlassen. Wir haben hier<br />
so viel Heimat, die uns niemand<br />
wegnehmen kann. Heimat überall,<br />
wo wir verstanden werden,<br />
geliebt, gebraucht, gewollt. Wo<br />
wir willkommen sind, uns nicht<br />
rechtfertigen müssen für unser<br />
bloßes Dasein.<br />
Und: Wo unser Zuhause ist, mit unseren liebsten Menschen,<br />
Tieren und Dingen. Wo wir unsere eigenen Betten haben, unsere<br />
Schränke, Kleider, Bücher, Erinnerungen. Auch das ist<br />
Glück - im doppelten Sinn; als Heimat einen guten, sicheren<br />
Ort zu haben. Oder, wie es in dem - an dieser Stelle bestimmt<br />
schon mehr als einmal zitierten - Lied des verstorbenen Hans-<br />
Peter Heinzl heißt: Zur richtigen Zeit geboren sein, und am<br />
richtigen Ort...(...) Womit hast du das verdient?"<br />
Ja, womit eigentlich? Auf diese Frage dürfen wir nie vergessen.<br />
Das Zeitgeschehen liefert keine Antwort darauf, aber immer<br />
wieder Gründe, sie neu zu stellen.<br />
Andrea Sailer/Weiz