Wann & Wo 02.12.2015
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8 Mittwoch, 2. Dezember 2015 WANN & WO<br />
Interview<br />
Zur Person: Karim El-Gawhary<br />
Alter, <strong>Wo</strong>hnort: 52, München/Kairo<br />
Ausbildung: Studium der Islamwissenschaften und Politik<br />
Beruf: Journalist und Buchautor<br />
Auszeichnungen: Journalist des Jahres 2013 (Österreich)<br />
Aktuelles Buch: „Auf der Flucht – Reportagen von ...“<br />
„Vieles ist mir sehr nahe gegangen“<br />
Für Karim El-Gawhary,<br />
der morgen in Rankweil<br />
zu Gast ist, war klar,<br />
dass die Flüchtlingssituation<br />
eskalieren würde.<br />
W&W unterhielt sich<br />
vorab mit ihm.<br />
WANN & WO: Wie kamen Sie auf<br />
die Idee das Buch „Auf der Flucht“<br />
zu schreiben?<br />
Karim El-Gawhary: Bereits letzten<br />
Winter war für mich klar, dass<br />
die Flüchtlingssituation eskalieren<br />
wird. Und ich habe mich geärgert,<br />
da die Flüchtlinge oft nur<br />
in Zusammenhang mit Zahlen in<br />
den Medien erschienen. Ich wollte<br />
den Menschen Namen geben und<br />
ihre oftmals tragischen Geschichten<br />
erzählen.<br />
Karim El-Gawhary erzählt in seinem Buch „Auf der Flucht“ über die Schicksalsschläge von Flüchtlingen während ihrer Flucht.<br />
Fotos: APA, K&S, handout/privat<br />
WANN & WO: Wie gehen Sie persönlich<br />
mit den Schicksalen um?<br />
Karim El-Gawhary: Ich habe<br />
bereits vieles gesehen und erlebt,<br />
was mir sehr nahe gegangen ist.<br />
Ein tragisches Schicksal erlitt Soha,<br />
„<br />
Im Libanon ist jeder<br />
vierte ein Flüchtling. Das<br />
wäre so, als wenn zwei<br />
Millionen Flüchtlinge in<br />
Österreich wären.<br />
Karim El-Gawahry<br />
“<br />
eine Mutter von vier Kindern aus<br />
Syrien. Sie hatte als einzige eine<br />
Schwimmweste an und als der<br />
Kutter während der Überfahrt sank,<br />
klammerten sich ihre Kindern an<br />
sie. Sie konnte sie jedoch weder<br />
festhalten noch wollte sie entscheiden,<br />
wenn sie loslässt. Und so<br />
ertranken die jüngsten drei Kinder<br />
bevor sie von der Küstenwache<br />
gefunden wurden. Dass wir in<br />
solchen Zeiten leben, bereitet mir<br />
schlaflose Nächte.<br />
WANN & WO: Was wären Mittel,<br />
um die derzeitige Situation im<br />
Nahen Osten zu lösen? Oder ist es<br />
zu spät?<br />
Karim El-Gawhary: Es ist nie zu<br />
spät, aber die Frage ist nicht, ob<br />
die Menschen kommen, sondern<br />
wie man damit umgeht. Ich erlebe<br />
die Gesellschaft in Österreich stark<br />
polarisiert und sie steht vor einer<br />
Zerreißprobe – das gilt für ganz<br />
Europa. Es ist eine Herausforderung,<br />
an welcher wir hoffentlich<br />
wachsen werden. Andererseits ist<br />
auch ein Scheitern möglich.<br />
WANN & WO: Wie ist die derzeitige<br />
Situation in Syrien?<br />
Karim El-Gawhary: Die durchschnittliche<br />
Lebenserwartung ist<br />
in Syrien um 20 Jahre gesunken,<br />
das muss man sich einmal vorstellen.<br />
In den Nachbarstaaten leben<br />
derzeit vier Millionen Flüchtlinge.<br />
Nur als Vergleich: Im Libanon ist<br />
jeder vierte ein Flüchtling. Das<br />
wäre so, als ob zwei Millionen<br />
Flüchtlinge in Österreich wären.<br />
Hier ist bzw. wäre jeder Staat<br />
komplett überfordert. Was aber<br />
ebenfalls problematisch ist: 500.000<br />
Kinder bzw. Jugendliche in den<br />
Flüchtlingslagern gehen nicht zur<br />
Schule. Hierbei handelt es sich<br />
um eine verlorene Generation<br />
ohne Zukunftsperspektiven. Enttäuschend<br />
ist ebenfalls, dass dem<br />
UNHCR weniger finanzielle Mittel<br />
zur Verfügung stehen, als noch vor<br />
einem Jahr.<br />
WANN & WO: Wie sehen Sie die<br />
Entwicklungen in der Region bzw.<br />
in Europa?<br />
Karim El-Gawhary: In Europa<br />
muss ein gesellschaftlicher Frieden<br />
mit dem muslimischen Teil der<br />
Menschen geschaffen werden. Leider<br />
wurde zu lange Zeit mit politischen<br />
Verhandlungen verschwendet.<br />
Europa wird unmittelbar mit den<br />
Konflikten im Nahen Osten verbunden<br />
bleiben, denn ob wir wollen<br />
oder nicht, wir liegen geographisch<br />
am nächsten. Flüchtlinge werden<br />
weiter nach Europa strömen, diesem<br />
Umstand entkommen wir nicht – da<br />
rollt die Realität drüber. Ein arabisches<br />
Sprichwort besagt, dass der<br />
Nachbar wichtiger ist als das Haus.<br />
Ein Haus kann mach sich aussuchen,<br />
den Nachbarn nicht.<br />
WANN & WO: Was für Lösungsansätze<br />
würden Sie vorschlagen, um<br />
den Konflikt zu beenden?<br />
Karim El-Gawhary: Primär ist die<br />
persönliche Ebene wichtig. Ich<br />
habe das z.B. durch das Schreiben<br />
des Buches gemacht. Danach sollte<br />
man sich fragen, wie damit umzugehen<br />
ist, also der gesellschaftliche<br />
Faktor. Zweitens ist die politische<br />
Ebene gefordert. Drittens brauchen<br />
die Nachbarländer der Krisenregion<br />
sofortige Unterstützung. Und<br />
zuletzt muss der Bürgerkrieg in<br />
Syrien beendet werden, was auch<br />
zur Bekämpfung des IS führt. Zum<br />
Glück ist der IS bzw. die Flüchtlingssituation<br />
an der internationalen<br />
Tagesordnung angelangt.<br />
WANN & WO: In Ihrem Buch „Tagebuch<br />
einer arabischen Revolution“<br />
beleuchteten Sie die Entwicklungen<br />
in der Region. Ist der Prozess<br />
„gestorben“?<br />
Karim El-Gawhary: Momentan ist<br />
es turbulent. Ich habe den Prozess<br />
mit einem Fußballspiel verglichen,<br />
nur sind wir eher erst in der<br />
zweiten Minute. Es wird auf die<br />
Konstellation Religion-Staat-Politik<br />
ankommen und wie diese ausgehandelt<br />
wird. Ein positives Beispiel<br />
stellt Tunesien dar, obwohl auf<br />
wackeligen Beinen. Europa ist und<br />
wird von den Ereignissen betroffen<br />
bleiben. Man muss bedenken, dass<br />
es keine künstliche geografische<br />
Trennung bis zur „Erfindung“ des<br />
heutigen Europas gab.<br />
CHRISTOPH ŠELNER<br />
christoph.selner@wannundwo.at<br />
INFOS<br />
Buchpräsentation und Diskussion:<br />
Auf der Flucht – Reportagen von<br />
beiden Seiten des Mittelmeers<br />
(Karim El-Gawhary/Mathilde<br />
Schwabeneder)<br />
WANN: 3. Dezember, 19 Uhr<br />
WO: Vinomnasaal, Rankweil<br />
Moderation: Jutta Berger<br />
Eintritt: Freiwillige Spende