PLAYING AND REALITY
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Häufig ist die methodisch-akribische Arbeitsweise das Herzstück ihres Werkes. Jedes einzelne Bild aus dem Film Every Day<br />
in November herauszulösen und aufzuarbeiten, jede Sekunde des Films Der letzte Tango in Paris in gedruckte Postkarten<br />
für die Arbeit „Love is…“ (2004-2006) umzuwandeln, das ist nichts für Zaghafte. Dieses repetitive Schaffen, das hinter dem<br />
Werk steckt, mutet an wie ein Nachhall älterer Formen der künstlerischen Produktion. Monate sind darüber vergangen, und<br />
es ist ein geradezu verdrehter Einsatz der heutigen Kameratechnologie, etwas Schnelles zu Standbildern abzubremsen.<br />
Dennoch zeigt sich in ihrer Arbeit das Interesse an der Entschleunigung, am Gleiten zwischen dem bewegten und dem<br />
erstarrten Bild. Genauso, wie die Bewegung des Films buchstäblich zum Stillstand kommt, werden wir als Betrachter<br />
beruhigt und dadurch achtsam. Plötzlich erhalten Details und wiederkehrende Motive, die im Film Hintergrundinformation<br />
waren, visuelle Aussagen und größere Bedeutung.<br />
Ein Wagnis ging Major auch beim Entstehungsprozess ihrer Arbeit love is… ein, indem sie es einem anonymen Publikum<br />
aushändigte. Würde irgendwer auf ihre freigemachten Postkarten antworten? Würden die Antworten interessant oder eher<br />
banal ausfallen? Könnte sie anderen vertrauen? Über 7000 Postkarten wurden im Laufe von zwei Jahren per Hand in ganz<br />
London und die West Midlands in Briefkästen verteilt. 451 von ihnen kamen zurück. Das daraus entstandene Künstlerprojekt<br />
zeugt von der Freundlichkeit und Offenheit vieler Fremder, aber auch von Ablehnung, die einige zu Kommentaren<br />
reizten wie: „Sieht aus wie ein selbstbezogener Egotrip“, „Gib auf“ oder „Such dir lieber einen realen Partner“. Interessant<br />
ist, dass sich selbst diese Verärgerten zu einer Antwort gezwungen fühlten und damit Teil des Projektes wurden.<br />
Major schuf realistische Vorgaben für ihr Werk. Die Teilnehmer konnten anonym bleiben, was einige aber nicht taten, und<br />
viele antworteten mit offenen Worten, vielleicht aus einem Moment der Spontanität heraus. Einige Antworten zu love is ...:<br />
Kultur als antiquiert, als Anachronismus. Die britische Post liefert signifikant weniger Briefe aus, seit der Brief von der<br />
E-Mail verdrängt wurde. Heute liefern sie hauptsächlich Pakete des Internethandels aus. Etwas Wesentliches scheint verloren<br />
zu gehen, wenn wir bedenken, wie oft wir soziale Erinnerungen und Geschichten handschriftlich vermitteln. Werden<br />
diese in Zukunft durch Blogs und Facebook-Seiten ersetzt? Wie wird dies das Gesagte verändern? Im digitalen Zeitalter<br />
offenbaren wir uns immer mehr auf visueller und immer weniger auf schriftlicher Ebene.<br />
Standbilder aus dem Film Der letzte Tango in Paris waren auf der Vorderseite jeder Postkarte abgebildet. Ein Film über<br />
Liebe, die vor allem Erotik und Sex ist, mit der Leinwandikone Marlon Brando und der damals 19-jährigen Maria Schneider<br />
in den Hauptrollen. In diesem Film kennen die Liebenden den Namen des Anderen nicht, und das Offenbaren persönlicher<br />
Details bedeutet das Ende ihrer Beziehung. Ein kontroverser Film wegen der explizit sexuellen Ausrichtung seines Inhalts,<br />
ein Film, der den Begriff der in Hollywood konstruierten Love Story unterminierte und natürlich das Happy End verweigerte.<br />
Die Äußerungen auf den Postkarten zeigen ganz verschiedene Auffassungen von dem, was Liebe ist. Die zärtlichen, zutiefst<br />
persönlichen Antworten, die humorvoll flüchtigen Einblicke in das Leben anonymer Fremder, transformieren dieses Werk in<br />
eine zeitgenössische Love Story ganz eigener Art.<br />
Tatsächlich geht es bei der Postkarte mit love is... als Anregung auf der Rückseite um die Beziehung von Text und Bild. Die<br />
Sammlung der zurückgesandten Karten bedeutet so etwas wie eine Selbstveröffentlichung, und das Buch dieser Antworten<br />
wird zu einer Erzählung. Die Aufforderung für die Teilnehmenden mag die Abbildung oder auch die offene Frage auf der<br />
Rückseite gewesen sein. Im Gespräch über ihr Werk stellte Major folgende Fragen: „Warum erzählen wir Geschichten?<br />
Welche Geschichten gibt es noch zu erzählen? Wie erzählen wir sie?“<br />
25<br />
Ohne sie weitermachen<br />
Das Unendliche<br />
Der eigentliche Punkt<br />
Verdammt schwer zu finden - hast du die Karte?<br />
Eine evolutionäre Kuriosität<br />
Alles<br />
Ein ziemlicher Bastard<br />
Einen Teil der Wirkung dieses Projektes macht aus, dass die Worte handgeschrieben sind, in Einzelfällen auch handgezeichnet,<br />
und mit persönlichen Anmerkungen und Illustrationen versehen. Briefe und Postkarten gelten in der heutigen<br />
In vielerlei Hinsicht handelt ihr Werk von dem Befragen des Erzählten, und in diesem Werk ist es ein Aufbrechen des Films<br />
von Bernardo Bertolucci. Major reißt buchstäblich die Chronologie des Films auseinander. Dann gibt es eine große Liebe<br />
zum Film, wenn die Künstlerin jedes einzelne Bild verlagert und die Postkarten in die narrative Sequenz des Films einordnet.<br />
Dieses Werk scheint mehr als alle anderen ihrer Werke nach dem Begriff der Autorenschaft künstlerischen Schaffens<br />
zu fragen. Wir als Lesende und Interpreten des Werkes sind in gleichem Maße Autor wie die Künstlerin, wie der Regisseur<br />
Bernardo Bertolucci, wie die Schauspielenden oder die, die ihre Antworten und Kommentare auf die Karten geschrieben<br />
haben. Wenn das Thema der Ausstellung das Spiel ist, dann öffnet dieses Werk im Besonderen diesen Begriff für eine große<br />
Gruppe von Spielern, und wir alle sind aufgefordert, daran teilzunehmen. Vielleicht ist es das Element des Spiels, mit dem<br />
es Major gelingt, mehr Licht in unsere Realität zu bringen.<br />
Camilla Brown<br />
1<br />
Major EJ: Interview mit der Autorin.<br />
E-Mail vom 22. November 2015.<br />
2<br />
Major EJ: Interview mit der Autorin.<br />
E-Mail vom 7. Juli 2015.<br />
3<br />
sie beziehen sich hiermit auf das Metropoliten<br />
Museum of Art in New York.