18.02.2021 Aufrufe

Zeitschrift quer ver.di Frauen Bayern (1/2021) Ausbeutung steht uns nicht

Weltweit arbeiten in der Textilindustrie ca. 75 Millionen Menschen, der größte Teil davon Frauen. Die Arbeitsbedingungen waren bereits vor Corona verheerend, Hungerlöhne, fehlender Arbeitsschutz, Kinderarbeit sind nur einige Stichworte.

Weltweit arbeiten in der Textilindustrie ca. 75 Millionen Menschen, der größte Teil davon Frauen. Die Arbeitsbedingungen waren bereits vor Corona verheerend, Hungerlöhne, fehlender Arbeitsschutz, Kinderarbeit sind nur einige Stichworte.

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Ausgabe 1/<strong>2021</strong><br />

Inhalt<br />

<strong>Ausbeutung</strong> <strong>steht</strong> <strong>uns</strong><br />

<strong>nicht</strong>1<br />

Historisches2<br />

Und heute? 3<br />

Sweatshops in Europa 4<br />

Textilarbeit in<br />

Bangladesh5<br />

„Sanfter“<br />

Menschenhandel7<br />

Und bist du<br />

<strong>nicht</strong> willig ... 8<br />

Einfach gut<br />

einkaufen!?9<br />

Gegenwehr:<br />

Initiativen und<br />

Kampagnen11<br />

Schlusspunkt12<br />

<strong>Ausbeutung</strong> <strong>steht</strong> <strong>uns</strong> <strong>nicht</strong><br />

Weltweit arbeiten in der Textilindustrie ca. 75 Millionen Menschen, der größte Teil davon <strong>Frauen</strong>. Die Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen<br />

waren bereits vor Corona <strong>ver</strong>heerend, Hungerlöhne, fehlender Arbeitsschutz, Kinderarbeit sind nur<br />

einige Stichworte.<br />

Wir können hier nur einige Beispiele genauer betrachten:<br />

Bangladesch (Seite 5), Italien und Großbritannien (Seite<br />

4). Hier zeigt sich, dass auch <strong>di</strong>rekt vor <strong>uns</strong>erer Haustür<br />

frühkapitalistische Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen herrschen. Zudem<br />

sind Menschenhandel und sexuelle Gewalt in vielen Textilbetrieben<br />

<strong>ver</strong>breitet (Seite 7).<br />

Covid-19 hat <strong>di</strong>e Situation massiv <strong>ver</strong>schärft: Viele Firmen<br />

haben bereits während der ersten Welle der Pandemie<br />

Aufträge storniert. Einige weigerten sich sogar, bereits<br />

produzierte Ware abzunehmen. Die Folge waren Lohnkürzungen<br />

für <strong>di</strong>e Arbeiterinnen, oft wurden ausstehende<br />

Löhne einfach <strong>nicht</strong> ausbezahlt. Es folgten Entlassungen<br />

und schließlich Fabrikschließungen im Lockdown.<br />

Die Verschuldung der Arbeiterinnen, <strong>di</strong>e bereits vor 2020<br />

hoch war, weil <strong>di</strong>e Löhne häufig <strong>nicht</strong> existenzsichernd<br />

waren, stieg rasant an. Ein aktueller Report des Workers<br />

Rights Consortium (WRC) stellt fest, dass 80% der<br />

Arbeiter*innen Hunger leiden, 75% der Befragten haben<br />

sich (weiter) <strong>ver</strong>schuldet, um Nahrung kaufen zu können.<br />

Viele stehen wegen <strong>nicht</strong> bezahlter Mieten vor der Obdachlosigkeit.<br />

Und <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e noch Arbeit haben, sind<br />

u.a. durch beengte Räumlichkeiten einem besonders hohen<br />

Infektionsrisiko ausgesetzt.<br />

Der Kampf gegen <strong>di</strong>ese menschen<strong>ver</strong>achtende <strong>Ausbeutung</strong><br />

ist so lang wie <strong>di</strong>e Geschichte der Textilfabriken<br />

(Seite 2 und 3). Die aktuelle Auseinandersetzung in<br />

Europa wendet sich dagegen, dass Textilkonzerne den<br />

größten Teil der oft beschworenen „unternehmerischen<br />

Risiken“ auslagern auf <strong>di</strong>e schwächsten Glieder am Ende<br />

der Lieferkette (zum Lieferkettengesetz siehe Seiten 8<br />

und 9).<br />

Aber wir können <strong>nicht</strong> nur <strong>di</strong>e Kampagne für ein Lieferkettengesetz<br />

unterstützen, sondern ganz konkret durch <strong>uns</strong>er<br />

Einkaufs<strong>ver</strong>halten einiges <strong>ver</strong>ändern. Dazu müssen wir<br />

natürlich wissen, wie <strong>di</strong>e Textilien, <strong>di</strong>e wir kaufen, produziert<br />

werden. Eine Orientierung im Labeldschungel gibt<br />

der Artikel auf Seite 10. Und wir können natürlich in <strong>uns</strong>erem<br />

Umfeld informieren und Gegeninitiativen und Kampagnen<br />

unterstützen (Seite 11).<br />

Corinna Poll


Impressum:<br />

Impressum:<br />

<strong>quer</strong> – <strong>di</strong>e Zeitung des<br />

<strong>quer</strong> <strong>ver</strong>.<strong>di</strong> -– Landesfrauenrates <strong>di</strong>e Zeitung <strong>Bayern</strong><br />

<strong>ver</strong>.<strong>di</strong> Schwanthalerstr. - Landesfrauenrates 64 <strong>Bayern</strong><br />

Schwanthalerstr. 80336 München 64<br />

80336 V.i.S.d.P.: München Bettina Messinger,<br />

V.i.S.d.P.: Landesfrauensekretärin<br />

Bettina Messinger,<br />

Landesfrauensekretärin<br />

Telefon: 089 / 5 99 77-2303<br />

Telefon: Fax: 089 089 / 5 99 / 5 77-2199<br />

77-2303<br />

Fax: Mail: 089 bettina.messinger@<strong>ver</strong><strong>di</strong>.de<br />

/ 5 99 77-2199<br />

Mail: Redaktionsteam: bettina.messinger@<strong>ver</strong><strong>di</strong>.de<br />

Gertrud Fetzer-<br />

Redaktionsteam:<br />

Wenngatz, Dagmar Fries,<br />

Gertrud<br />

Bettina<br />

Fetzer-<br />

Wenngatz,<br />

Messinger,<br />

Dagmar<br />

Corinna<br />

Fries,<br />

Poll, Walburga<br />

Bettina<br />

Messinger,<br />

Rempe<br />

Corinna Poll, Walburga<br />

Rempe, Weitere Ursula Mitarbeiterin Walther <strong>di</strong>eser<br />

Ausgabe: Martha Büllesbach<br />

Redaktion/Layout: Dagmar Fries<br />

Redaktion/Layout: Dagmar Fries<br />

Schlusskorrektur:<br />

Walburga Schlusskorrektur: Rempe Gisela Breil<br />

Namentlich gekennzeichnete Artikel<br />

Redaktionsschluss:<br />

geben <strong>di</strong>e Meinung der Verfasser-<br />

16.12.2020<br />

Abbildungsnachweis:<br />

Innen und <strong>nicht</strong> zwingend <strong>di</strong>e der<br />

Seite Redaktion 2: catlo<strong>ver</strong>s wieder. pixelio.de; Seiten 5<br />

+<br />

Redaktionsschluss:<br />

10: Eva-Maria Nieberle;<br />

31.01.2016<br />

Seite 6: hbv<br />

Jugend; Seite 7: Günther Gumhold<br />

Abbildungsnachweis: S. 2: wikipe<strong>di</strong>a<br />

(gemeinfrei);<br />

pixelio.de Seiten 8 +<br />

S.<br />

9:<br />

3,9:<br />

Initiative<br />

DGB<br />

Lieferkettengesetz;<br />

Seite 11: Logos der<br />

<strong>Bayern</strong>;<br />

S.4: Clean Creative Clothes, Commons Fit for Fair Marion<br />

Initiativen<br />

und Golsteijn Ci-Romero; CC-BY-SA Seite 4.0; 12: S. Ci-Romero, 5,7,8: hbv-<br />

Fairwear Broschüren; Fondation S. 6, 12: Corinna Poll; S.<br />

Druck: 10,11: Dagmar Druckwerk Fries; München S. 10,12 (2x):<br />

Auflage:<br />

Klaus Stuttmann.<br />

3.500 Expl.<br />

Druck: Druckwerk München<br />

Link zur Online-Ausgabe:<br />

yumpu.com/user/<strong>ver</strong><strong>di</strong>frauenbayern<br />

5000 Expl.<br />

werksgenossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Und heute? Natürlich haben wir das Recht, <strong>uns</strong> in<br />

Handarbeiter“ gegründet haben, gehörten Historisches<br />

dem Organisationskomitee<br />

für den Kongreß in Leipzig zwei einzusetzen. Aber trotzdem ist schnell mal <strong>di</strong>e Rede<br />

den Gewerkschaften für <strong>uns</strong>ere Interessen<strong>ver</strong>tretung<br />

Der <strong>Frauen</strong> Kampf an: gegen Wilhelmine Hungerlöhne, Weber und katastrophale Christiane Peuschel.<br />

praktisch seit ihren Anfängen geführt. Zwei sigt historische (Aufregung Beispiele über Rabenväter zeigen <strong>di</strong>e gibt erschreckenden<br />

es selbstredend<br />

Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen von der „Rabenmutter“, und lange <strong>di</strong>e Arbeitszeiten ihre Kinder <strong>ver</strong>nachläs-<br />

wird in der<br />

Textilindustrie<br />

Kontinuitäten:<br />

Der Aufruf zum Kongreß wandte sich explizit an Männer<br />

und <strong>Frauen</strong>, in Wir der weben Folge …. wuchs der <strong>Frauen</strong>anten,<br />

und auch das Modell Mann = Familienernährer<br />

nie), <strong>Frauen</strong> wird eher mal eine Teilzeitstelle angebo-<br />

gierung den Belagerungszustand aus und ließ<br />

teil in <strong>di</strong>esen Gewerkschaften stetig. Das Komitee feiert fröhliche Urständ.<br />

Eines der Zentren der frühindustriellen Textilproduktion<br />

war <strong>di</strong>e Crimmitschau in Sachsen. Anfang des 20. rieeinheiten Das heißt <strong>nicht</strong>, angreifen. dass wir Streikposten <strong>nicht</strong> in und außerhalb wurden <strong>ver</strong>-<br />

der<br />

<strong>di</strong>e Streikenden von auswärtigen Gendarmearbeitete<br />

ein geradezu revolutionäres Statut aus, in<br />

dem den <strong>Frauen</strong> <strong>nicht</strong> nur <strong>di</strong>e Mitgliedschaft gestattet,<br />

sondern auch aktives und passives Wahlrecht<br />

Jahrhunderts waren dort <strong>di</strong>e Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen trotz haftet Gewerkschaft und alle viel Versammlungen erreicht haben. – Aber inklusive wie alles der einmal<br />

Erkämpfte Weihnachtsfeier müssen auch – <strong>ver</strong>boten. <strong>di</strong>ese Errungenschaften<br />

geplanten<br />

einiger Streikaktionen wesentlich schlechter als in anderen<br />

Regionen: Während in Berliner Betrieben längst Der Streik löste eine Welle der Solidarität aus, etwa<br />

für <strong>di</strong>e Gewerkschaftsgremien gewährt wurde. Diese immer wieder gegen Angriffe <strong>ver</strong>tei<strong>di</strong>gt werden.<br />

Regelungen übernahm August Bebel zum Teil in <strong>di</strong>e<br />

der 8-Stunden-Tag eingeführt war, wurde hier immer eine Million Mark an Spenden wurde für Corinna <strong>di</strong>e ausgesperrten<br />

Arbeiterinnen gesammelt. Viele der Be-<br />

Poll<br />

Musterstatuten für Gewerksgenossenschaften, in der<br />

noch 11 Stunden pro Tag gearbeitet. Die Löhne reich-<br />

Folge <strong>ver</strong>abschiedeten u. a. <strong>di</strong>e Metallarbeiter ähnliche<br />

ten kaum zum Leben, und <strong>di</strong>e Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen<br />

Das mit der weiblichen Schreibweise war zu<br />

Richtlinien.<br />

waren gesundheitsschädlich: Baumwollfasern in der Solidaritätspostkarte Beginn des 20. Jahrhunderts für <strong>di</strong>e natürlich streikenden noch <strong>nicht</strong> Textilarbeiterinnen<br />

in der Crimmitschau 1904 – <strong>di</strong>e weibliche<br />

aktuell,<br />

Luft,<br />

Aber auch<br />

hohe<br />

<strong>di</strong>ese<br />

Luftfeuchtigkeit<br />

Rechte kamen<br />

(gut<br />

schnell<br />

für <strong>di</strong>e<br />

unter<br />

Stoffe,<br />

Beschuss,<br />

aber<br />

wie <strong>di</strong>ese Solidaritätspostkarte zum<br />

<strong>nicht</strong><br />

und zwar<br />

für <strong>di</strong>e<br />

<strong>nicht</strong><br />

Menschen)<br />

nur von<br />

in<br />

staatlicher<br />

ungeheizten<br />

Seite:<br />

Räumen<br />

Während<br />

und<br />

Streik in der Crimmitschau (1903/04) beweist ...<br />

Schreibweise hatte sich noch <strong>nicht</strong> herumgesprochen!<br />

dazu<br />

Teile<br />

der<br />

der<br />

Höllenlärm<br />

Gewerkschaftsbewegung<br />

der Maschinen,<br />

sich<br />

deren<br />

Gedanken<br />

Takt immer<br />

um weitergehende<br />

wieder erhöht<br />

Forderungen<br />

wurde.<br />

– z.B. gleicher Lohn<br />

für gleiche Arbeit – machten, <strong>ver</strong>suchten<br />

andere kontinuierlich,<br />

1903 traten <strong>di</strong>e Beschäftigten –<br />

<strong>di</strong>e meisten von ihnen <strong>Frauen</strong> –<br />

<strong>Frauen</strong> aus den Organisationen<br />

in den Streik für <strong>di</strong>e Verkürzung<br />

herauszudrängen, sie wurden als<br />

der Arbeitszeit um eine Stunde<br />

„Lohndrückerinnen“ bekämpft und<br />

mit dem Slogan: „Eine Stunde<br />

es fanden sich immer genug Männer,<br />

<strong>di</strong>e <strong>di</strong>e <strong>Frauen</strong> lieber zu Hause<br />

für <strong>uns</strong>! Eine Stunde für <strong>uns</strong>ere<br />

Familie! Eine Stunde fürs Leam<br />

Herd gesehen hätten. In den<br />

ben!“ Außerdem forderten sie<br />

Führungsgremien waren tatsächlich<br />

kaum <strong>Frauen</strong> <strong>ver</strong>treten, und<br />

eine Lohnerhöhung und <strong>di</strong>e Verlängerung<br />

der Mittagspause.<br />

so gab es bei den Gewerkschaften<br />

Aber selbst das war den Fabrikbesitzern<br />

zu viel, sie sperrten <strong>di</strong>e<br />

immer wieder Beschlüsse, <strong>di</strong>e den<br />

<strong>Frauen</strong> das Recht auf Arbeit oder<br />

Arbeiter*innen aus und holten<br />

Weiterbildung absprachen – der<br />

Streikbrecher heran. Als <strong>di</strong>e Belegschaften<br />

daraufhin <strong>di</strong>e Fabri-<br />

Mann als Haushaltsvorstand wurde<br />

vorgezogen.<br />

ken blockierten, rief <strong>di</strong>e Re-<br />

2


schäftigten traten der Textilarbeitergewerkschaft<br />

bei, außerdem wuchs in der Folge <strong>di</strong>e Vereinigung<br />

der Textilarbeiterinnen schnell. Trotzdem<br />

musste <strong>di</strong>e Gewerkschaft nach fast einem halben<br />

Jahr Arbeitskampf dazu aufrufen, <strong>di</strong>e Arbeit<br />

zu den alten Be<strong>di</strong>ngungen wieder aufzunehmen<br />

– <strong>di</strong>e Fabrikanten hatten gewonnen und derweil<br />

<strong>nicht</strong> nur ihre Kampfmittel (Aussperrung,<br />

schwarze Listen, Anheuern von Streikbrechern)<br />

optimiert, sondern auch einen Dach<strong>ver</strong>band gegründet,<br />

um effekti<strong>ver</strong> agieren zu können.<br />

Brot und Rosen<br />

Anfang des 20. Jahrhunderts arbeiten auch in<br />

der Textilindustrie in den USA überwiegend<br />

<strong>Frauen</strong>. Gegen <strong>di</strong>e Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen, insbesondere<br />

<strong>di</strong>e fehlende Arbeitssicherheit, regt sich<br />

Widerstand, <strong>di</strong>e <strong>Frauen</strong> organisieren sich. Die<br />

Männer stehen <strong>di</strong>esen <strong>Frauen</strong>organisationen<br />

misstrauisch gegenüber, sie werfen den <strong>Frauen</strong><br />

vor, sie seien „übereifrig und unkontrollierbar“.<br />

Das ändert sich, als bei einem Brand in der Triangle<br />

Shirtwaist Factory 146 Menschen, 123<br />

<strong>Frauen</strong> und 23 Männer, in den Flammen umkommen,<br />

weil <strong>di</strong>e Türen der Fabrik <strong>ver</strong>schlossen<br />

waren. An einem Protestmarsch nehmen<br />

80.000 Menschen teil. Eine der Rednerinnen<br />

bei der Gedenk<strong>ver</strong>anstaltung ist <strong>di</strong>e Organisatorin<br />

der <strong>Frauen</strong>gewerkschaften, Rose Schneidermann.<br />

Von ihr stammt auch der Satz: „Die<br />

Arbeiter brauchen Brot, aber sie brauchen auch<br />

Rosen.“<br />

Das Ge<strong>di</strong>cht „Bread and Roses“ von James<br />

Oppenheim wurde zur Hymne des Streiks der<br />

Textilarbeiterinnen in Lawrence, Massachusetts.<br />

Der „Brot-und-Rosen-Streik“ war – auch<br />

dank weltweiter Solidarität und Unterstützung –<br />

erfolgreich, obwohl der Staat alle Mittel gegen<br />

<strong>di</strong>e Streikenden einsetzte – schließlich eröffnete<br />

<strong>di</strong>e Nationalgarde sogar das Feuer gegen eine<br />

Streik<strong>ver</strong>sammlung. Dabei wurden zahlreiche<br />

Menschen <strong>ver</strong>letzt und eine Arbeiterin getötet.<br />

Nach neun Wochen legte <strong>di</strong>e größte der bestreikten<br />

Fabriken, <strong>di</strong>e American Woolen Company,<br />

ein Angebot vor. Nach drei weiteren Wochen<br />

wurden dann <strong>di</strong>e Lohnerhöhung um 25%<br />

und <strong>di</strong>e Einführung von Überstundenzuschlägen<br />

<strong>ver</strong>einbart. Die anderen Textilfabriken schlossen<br />

sich ebenfalls bald <strong>di</strong>eser Vereinbarung an.<br />

Corinna Poll<br />

© catlo<strong>ver</strong>s pixelio.de<br />

Und heute?<br />

In den 90ern gründete ein Bündnis aus kirchlichen Gruppen, dem DGB-Nord-Süd-Netz und Terre des<br />

Femmes in Deutschland <strong>di</strong>e Kampagne Saubere Kleidung.<br />

In den folgenden Jahren wurden viele Öffentlichkeitskampagnen organisiert, z.B. Fit for Fair (Sportartikel),<br />

<strong>Ausbeutung</strong> passt mir <strong>nicht</strong>, Lohn zum Leben (für existenzsichernde Löhne für <strong>di</strong>e Produzentinnen, siehe<br />

auch Seite 11).<br />

Ab 2001 tagte beim Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) ein runder Tisch mit Arbeitgebern,<br />

Gewerkschaften und NGOs, um Verhaltensko<strong>di</strong>zes für <strong>di</strong>e Textilindustrie zu entwickeln. Nach<br />

vier fruchtlosen Jahren <strong>ver</strong>ließ <strong>di</strong>e Kampagne Saubere Kleidung den runden Tisch und legte einen eigenen<br />

Entwurf für einen solchen Verhaltenskodex vor.<br />

In den kommenden Jahren war ein Schwerpunkt <strong>di</strong>e Forderung nach Transparenz – denn was sagt „made<br />

in xyz“ schon aus über <strong>di</strong>e Be<strong>di</strong>ngungen, unter denen der Stoff bzw. das Kleidungsstück produziert wurde?<br />

All <strong>di</strong>ese Kampagnen haben offensichtlich geschafft, dass <strong>di</strong>e Unternehmen unter Druck geraten sind. Dazu<br />

kam das große Entsetzen, das durch Katastrophen wie den Einsturz der Fabrik Rana Plaza ausgelöst wurde.<br />

So konnte z.B. das Accord-Abkommen (Abkommen für Brandschutz und Gebäudesicherheit) in Bangladesch<br />

durchgesetzt werden. Leider bleiben solche Erfolge weiter umkämpft, <strong>di</strong>e Unternehmen <strong>ver</strong>suchen<br />

nach wie vor, auf Kosten der Arbeiter*innen ihre Profite zu maximieren.<br />

Deswegen erfreut sich das sogenannte Greenwashing bei den Unternehmen der Branche immer<br />

größerer Beliebtheit. Das geht in der Regel so: 10% reale Verbesserung der Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen,<br />

90% Werbung. So geben <strong>di</strong>e Firmen z.B. viel Geld für Au<strong>di</strong>ts aus, bei denen ihnen<br />

angeblich unabhängige Unternehmensberatungen bescheinigen, wie sozial sie sind. Oder<br />

es werden eigene Labels kreiert oder sogar eigene Produktlinien, <strong>di</strong>e angeblich „anders“ sind.<br />

3


Sweatshops in Europa<br />

Sklavenarbeit in der Textilbranche gibt es <strong>nicht</strong> nur in Schwellenländern, sondern auch in<br />

Europa. Im Kontext der Corona-Pandemie gerieten <strong>di</strong>e katastrophalen Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen<br />

in den Ausbeuterbetrieben (Sweatshops) in den Blick: zwei Beispiele aus Italien und<br />

Großbritannien.<br />

Prato und Leicester sind tra<strong>di</strong>tionelle Zentren<br />

der Tuch- und Textilindustrie. Nachdem <strong>di</strong>e<br />

Produktion in den 90er Jahren in Billiglohnländer<br />

<strong>ver</strong>lagert wurde, kehrte sie im Zuge der<br />

Globalisierung zurück, als vor allem chinesische<br />

Fabrikbetreiber leerstehende Hallen, Läden<br />

und Keller anmieteten und kauften. Vor Ort<br />

und billig produziert, kann sich <strong>di</strong>e „schnelle<br />

Mode“, <strong>di</strong>e wir als Fast Fashion oder Pronta<br />

Moda kennen, noch rascher den neuesten<br />

Trends anpassen. Das steigert den Profit<br />

großer Modeketten und Online-Händler, für <strong>di</strong>e<br />

meist illegale Textilarbeiter*innen unter elenden<br />

Be<strong>di</strong>ngungen schuften: ungeschützte, prekäre<br />

Arbeits<strong>ver</strong>hältnisse, skandalöse Stundenlöhne,<br />

menschenunwür<strong>di</strong>ge Unterkünfte. Aufgedeckt<br />

werden <strong>di</strong>e Zustände meist nur, wenn<br />

Nichtregierungsorganisationen wie „Clean<br />

Clothes“ oder „Labour Behind the Labels“ oder<br />

kritische Zeitungsartikel sie öffentlich machen.<br />

Feuertod in Prato<br />

Am 1. Dezember 2013 starben im Textilbetrieb<br />

„Teresa Moda“ fünf Männer und zwei <strong>Frauen</strong><br />

bei einem Brand, der sie nachts im Schlaf<br />

überraschte. Das Feuer hatte auf ihre Kojen aus<br />

Karton und Gipswänden übergegriffen, bevor<br />

das Dach der Halle einstürzte, in der sämtliche<br />

Sicherheitsbestimmungen außer Acht gelassen<br />

wurden und es keinen Fluchtweg gab. Sie <strong>di</strong>ente<br />

den illegalen chinesischen Textilarbeiter*innen<br />

als Produktionsstätte, Stofflager und Schlafraum.<br />

Mit Betroffenheit und „völlig überrascht“<br />

reagierten <strong>di</strong>e offiziellen Behörden auf <strong>di</strong>e<br />

Tragö<strong>di</strong>e. Schuld sei allein <strong>di</strong>e chinesische<br />

Betreiberin. Sicherheits- und Arbeitsschutz-<br />

Kontrollen durch italienische Behörden gab es<br />

<strong>nicht</strong>. Stattdessen staatlicherseits gelockerte<br />

Sozial- und Lohnstandards. „Niemand kann<br />

ernsthaft behaupten, er wisse <strong>nicht</strong>, was in<br />

Prato vor sich geht“, sagt ein Vertreter der linken<br />

Gewerkschaft CGIL.<br />

Von der Sklavenarbeit der rund 50.000<br />

Chinesen in der 250.000-Einwohner-Stadt<br />

profitieren <strong>nicht</strong> nur Firmen wie H&M, Zara<br />

und Primark, sondern auch Luxusmarken wie<br />

Armani, Valentino oder Max Mara. Seit 2014<br />

haben sich durch den Regionalen Plan für<br />

Sichere Arbeit einige Verbesserungen der<br />

Schutzvorkehrungen ergeben: „Heute sterben<br />

zwar weniger Menschen bei der Arbeit, doch in<br />

vielen Fällen wird <strong>di</strong>e Menschenwürde <strong>ver</strong>letzt<br />

und mit Füßen getreten“, lautet das Fazit eines<br />

Arbeitsrichters im Dezember 2019.<br />

Corona-Skandal in Leicester<br />

Leicester ist ein Zentrum der britischen Textilindustrie<br />

mit ca. 1.500 Betrieben und rund 10.000<br />

Beschäftigten, mehrheitlich <strong>Frauen</strong>. Die meisten<br />

arbeiten ohne Vertrag über ein System der<br />

Unterauftrags<strong>ver</strong>gabe, das sich der Kontrolle<br />

durch Zoll und Gewerbeaufsicht entzieht. Sie<br />

produzieren Billigmode für Firmen wie Boohoo<br />

zu Stundenlöhnen, <strong>di</strong>e mit 3,50 Pfund weit unter<br />

dem Mindestlohn (8,72 Pfund) liegen. Dass<br />

<strong>nicht</strong> korrekt abgerechnet und ausstehende Gelder<br />

<strong>nicht</strong> bezahlt wurden, ist der Regierung seit<br />

Jahren bekannt. Neu war in <strong>di</strong>esem Jahr nur,<br />

dass <strong>di</strong>e Textilarbeiter*innen während des Corona-Lockdowns<br />

noch mehr schuften mussten,<br />

um <strong>di</strong>e gestiegene Zahl der Online-Bestellungen<br />

zu bewältigen. Ohne selber gesundheitliche<br />

Vorsichtsmaßnahmen, Maskenpflicht und<br />

Abstandsregeln einhalten zu können. Daher<br />

grassierte <strong>di</strong>e Infektion ähnlich wie in Schlachtbetrieben.<br />

Doch warum arbeiten Menschen unter <strong>di</strong>esen<br />

Be<strong>di</strong>ngungen? Für viele ist es <strong>di</strong>e einzige Möglichkeit,<br />

ihren Lebensunterhalt zu <strong>ver</strong><strong>di</strong>enen.<br />

Hinzu kommt, dass illegale Migranten und Geflüchtete<br />

zur „Abschreckung“ keine staatliche<br />

Unterstützung erhalten und keine Arbeitserlaubnis<br />

haben. „Wenn <strong>di</strong>e Regierung sicherstellen<br />

würde, dass jeder genug Geld zum Überleben<br />

der Pandemie hätte, wäre niemand in <strong>di</strong>e Fabriken<br />

gegangen“, erklärt eine Betroffene.<br />

Quellen:<br />

Walburga Rempe<br />

Prato: Holger Diedrich in „Peppermynta“ 16.3.20/<br />

Tobias Piller, FAZ-Net 2.12.13<br />

Leicester: Clau<strong>di</strong>a Webbe, Labournet 5.8.20/Archie<br />

Bland, The Guar<strong>di</strong>an 28.8.20/Bettina Schulz, ZEIT<br />

8.7.20<br />

4


Textilarbeit in Bangladesch<br />

Der Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch liegt nun schon mehr als sieben Jahre<br />

zurück. Über 1.100 Menschen kamen zu Tode, mehr als 2.000 wurden <strong>ver</strong>letzt, <strong>di</strong>e meisten von<br />

ihnen schwer. Damals war <strong>di</strong>e Empörung groß, <strong>di</strong>e Firmen, <strong>di</strong>e unter <strong>di</strong>esen menschenunwür<strong>di</strong>gen<br />

Be<strong>di</strong>ngungen in völlig maroden Gebäuden produzieren ließen, gelobten Besserung.<br />

Zunächst schien es so, als hätte <strong>di</strong>e Katastrophe<br />

den Startschuss für dringend notwen<strong>di</strong>ge<br />

Veränderungen in der Branche gegeben: H&M<br />

kün<strong>di</strong>gte mehr Rechte für <strong>di</strong>e weltweit ca. 1,6<br />

Millionen Arbeitenden in der Branche an, der<br />

Mode<strong>di</strong>scounter Primark <strong>ver</strong>sprach Wiedergutmachung<br />

für <strong>di</strong>e Opfer und <strong>di</strong>e Familien einschließlich<br />

Ver<strong>di</strong>enstausfall, 2015 beschloss der<br />

G7-Gipfel einen Hilfsfonds, der Modekonzern<br />

Benetton zahlte eine Million Euro in den Opferfonds,<br />

<strong>di</strong>e Regierung von Bangladesch erhöhte<br />

fünf Jahre nach dem Einsturz den Mindestlohn<br />

für <strong>di</strong>e Beschäftigten in den Textilfabriken auf 95<br />

Dollar 1 .<br />

Jetzt ist es still geworden um <strong>di</strong>e Textilarbeiter*innen<br />

(<strong>di</strong>e meisten von ihnen – nämlich 80%<br />

– sind <strong>Frauen</strong>). Dabei hat <strong>di</strong>e Corona-Pandemie<br />

<strong>di</strong>e Situation nochmals erheblich <strong>ver</strong>schärft.<br />

Auswirkungen der Pandemie<br />

Alles, was schon vor der Corona-Krise schwierig<br />

war, wächst sich jetzt zur Katastrophe für<br />

<strong>di</strong>e Schwächsten in der Lieferkette aus – Arbeiter<br />

und Arbeiterinnen stehen vor dem Nichts.<br />

Laut Tageszeitung Dhaka Tribune haben rund<br />

36 Millionen Menschen in Bangladesch ihren<br />

Arbeitsplatz für zwei Monate <strong>ver</strong>loren.<br />

1<br />

Mit <strong>di</strong>eser Höhe waren <strong>di</strong>e Gewerkschaften aller<strong>di</strong>ngs<br />

nie zufrieden, sie hatten einen Mindestlohn<br />

von 191 Dollar pro Monat gefordert.<br />

Der Arbeitgeber<strong>ver</strong>band spricht von Aufträgen<br />

im Wert von 2,9 Milliarden US-Dollar<br />

bis Anfang April 2020, <strong>di</strong>e storniert wurden,<br />

und von ca. zwei Millionen Arbeiter*innen<br />

in der Textilindustrie, <strong>di</strong>e entlassen<br />

wurden (Quelle: Terre des hommes).<br />

In Europa und den USA sinken <strong>di</strong>e Umsätze<br />

deutlich, der Druck, unter dem sich Labels<br />

und Händler sehen, wird gnadenlos weitergegeben.<br />

Das ist ein Desaster für <strong>di</strong>e Näher*innen<br />

in den Fabriken.<br />

© Eva-Maria Nieberle<br />

Die internationalen Auftraggeber übernehmen<br />

keinerlei Verantwortung, sie <strong>di</strong>ktieren <strong>di</strong>e Be<strong>di</strong>ngungen,<br />

<strong>di</strong>e Lieferanten müssen sie schlucken.<br />

Laufende Bestellungen werden in großem<br />

Umfang storniert, Zulieferer bleiben auf<br />

den Kosten für Material und Arbeit sitzen 2 .<br />

Im Juni arbeitet nur knapp <strong>di</strong>e Hälfte der ca.<br />

4.000 Textilfabriken Bangladeschs wieder, unter<br />

teils unzureichenden Gesundheitsschutzmaßnahmen<br />

wie fehlende Sicherheitsabstände,<br />

fehlendes Wasser und Seife (Bistum Trier,<br />

22.6.2020).<br />

Bis Mitte Juli 2020 hatten nur ca. 76% der Firmen<br />

den Lohn für Juni gezahlt. Dabei gab<br />

es in den meisten Fabriken ohnehin nur einen<br />

reduzierten Mindestlohn von 65%, vielen<br />

entlassenen Arbeiter*innen wurde der Lohn<br />

für <strong>di</strong>e bereits geleistete Arbeit vorenthalten.<br />

Im August produzierten viele der großen Fabriken<br />

Bangladeschs wieder, aller<strong>di</strong>ngs betrug <strong>di</strong>e<br />

Auslastung nur rund 80%. Und es ist zu befürchten,<br />

dass auch seit September <strong>nicht</strong> genügend<br />

Aufträge eingegangen sind, um <strong>di</strong>e Bezahlung<br />

der Beschäftigten sicherzustellen.<br />

Die Textilarbeiterinnen kämpfen ums Überleben.<br />

Die <strong>Frauen</strong> sichern zum großen Teil als<br />

Allein<strong>ver</strong><strong>di</strong>enerinnen den Unterhalt für <strong>di</strong>e<br />

ganze Familie, sie sind <strong>di</strong>e Hauptbetroffenen<br />

von Armut, Hunger, Verlust der Unterkunft<br />

usw. Erschwerend kommt hinzu, dass <strong>di</strong>e<br />

Preise für Strom, Transport und Me<strong>di</strong>kamente<br />

gestiegen sind. Zwar gibt es Nahrungsmittelspenden,<br />

sie sind jedoch nur ein Tropfen<br />

auf dem heißen Stein. Die Einrichtung<br />

von Hilfsfonds wäre dringend erforderlich.<br />

2<br />

Ausnahme: H&M übernahm immerhin <strong>di</strong>e Kosten<br />

für bereits produzierte Kleidung und solche, <strong>di</strong>e sich<br />

noch in der Produktion befand.<br />

5


Nach Protesten reagierte <strong>di</strong>e Regierung im letzten<br />

Jahr mit der größten Repressionswelle seit<br />

Jahren. Mehr als 11.000 Arbeiter*innen wurden<br />

entlassen, gegen mehr als 3.000 laufen willkürliche<br />

Verfahren, 69 „Rädelsführer*innen“ wurden<br />

<strong>ver</strong>haftet.<br />

Gängige Praxis ist auch das Verschwinden<br />

von Gewerkschafter*innen, <strong>di</strong>e Vorsitzende<br />

der Textilarbeiter*innengewerkschaft<br />

wurde 2018 in Isolationshaft genommen.<br />

Auch <strong>di</strong>e NGWF (National Garment Workers Federation)<br />

sieht klare Verstöße gegen geltendes<br />

Arbeitsrecht. Es wird gegen Arbeiter*innen vorgegangen,<br />

<strong>di</strong>e sich organisieren und in den Fabriken<br />

für Arbeitsrechte engagieren. Beim Versuch,<br />

Betriebsgewerkschaften zu bilden, gibt es<br />

gezielte Entlassungen.<br />

Dagmar Fries,<br />

Kolleginnen des AK Heinz Huber<br />

Nazia Lahiri*<br />

Ich bin Nazia Lahiri aus Brahmanbaria im Norden von Bangladesch. Seit fast zwei Jahren arbeite ich in der<br />

Textilfabrik in Dhaka. Die Busreise von zu Hause nach Dhaka dauert 7 Stunden und kostet so viel, wie ich in<br />

zwei Tagen <strong>ver</strong><strong>di</strong>ene, deshalb habe ich meine Familie in der ganzen Zeit nur zweimal besuchen können. Mein<br />

Kind ist bei der Familie, ich arbeite in der Fabrik, damit Sa<strong>di</strong>a einmal ein besseres Leben hat. Ich <strong>ver</strong>misse<br />

sie <strong>di</strong>e ganze Zeit. Meine Familie hat große Schulden, weil meine Mutter krank geworden ist und wir das<br />

Geld für den Arzt bei Kre<strong>di</strong>thaien leihen mussten – ich nähe praktisch gegen <strong>di</strong>e Schulden meiner Eltern an.<br />

[…]<br />

Ich bin jeden Tag 14 Stunden in der Fabrik, außer sonntags. Wenn jemand einen Fehler macht oder<br />

eine Panne passiert, müssen wir umsonst Überstunden machen, weil <strong>di</strong>e Zielvorgaben erreicht werden<br />

müssen. So kommen manchmal 80 Stunden in der Woche zusammen. Nachtarbeit ist zwar eigentlich<br />

für <strong>Frauen</strong> <strong>ver</strong>boten, aber weil <strong>di</strong>e Schulden bezahlt werden müssen, gehe ich wenn möglich zur Nachtschicht.<br />

Die Maschinen rattern rund um <strong>di</strong>e Uhr, da <strong>ver</strong>gisst der Aufseher manchmal das Nachtarbeits<strong>ver</strong>bot.<br />

Und er ist <strong>nicht</strong> so schlimm wie sein Vorgänger, der für Vergünstigungen immer Sex haben wollte.<br />

[…]<br />

Krank werden dürfen wir eigentlich gar <strong>nicht</strong>, denn wir haben alle keine richtigen Arbeits<strong>ver</strong>träge, und wer<br />

krank wird, wird sofort entlassen. Auch wenn bei der Arbeit ein Unfall passiert, bekommen wir keine Unterstützung<br />

– und es passieren viele Unfälle. Meine Cousine Parvin hat in der Fabrik Rana Plaza gearbeitet, <strong>di</strong>e<br />

2013 eingestürzt ist. Durch <strong>di</strong>e Trümmer ist ihr Bein zerquetscht worden, und sie kann <strong>nicht</strong> mehr arbeiten.<br />

Bis heute hat sie keine Entschä<strong>di</strong>gung erhalten, auch kein Geld für <strong>di</strong>e me<strong>di</strong>zinische Versorgung. Das heißt,<br />

<strong>di</strong>e Schulden wachsen, und ihre Familie hat keinen Ernährer mehr.<br />

[…]<br />

Sanjana Kumar*<br />

Ich bin Sanjana Kumar aus einem kleinen Dorf<br />

in In<strong>di</strong>en. Ich bin siebzehn Jahre alt und arbeite<br />

seit fast zwei Jahren in einer Kleiderfabrik in Tamil<br />

Nandu. Als der Werber in <strong>uns</strong>er Dorf kam, hat er<br />

<strong>uns</strong> <strong>ver</strong>sprochen, dass wir für <strong>uns</strong>ere Arbeit einen<br />

guten Lohn bekommen und nach drei Jahren eine<br />

Abfindung, <strong>di</strong>e wir als Mitgift in <strong>di</strong>e Ehe nehmen<br />

können. Meine Familie ist sehr arm, <strong>di</strong>e Aussicht,<br />

für <strong>di</strong>e nächsten drei Jahre dafür sorgen zu können,<br />

dass meine Eltern und meine jüngeren Geschwister<br />

genug zu essen haben, war Grund genug,<br />

den Vertrag zu unterschreiben.<br />

Seitdem bin ich in der Fabrik eingesperrt und<br />

kenne <strong>nicht</strong>s anderes als Arbeit und Schlafen.<br />

Aller<strong>di</strong>ngs nie genug Schlaf – Überstunden sind<br />

<strong>ver</strong>pflichtend, um das Soll zu erfüllen. Wer müde<br />

ist, bekommt eine Spritze. Sogar wenn wir auf <strong>di</strong>e<br />

Toilette gehen, kontrollieren <strong>uns</strong> <strong>di</strong>e Aufseher. Die<br />

Aufseher sind alles Männer, und schon zweimal<br />

hat einer mir unter den Rock gefasst. Was nützt<br />

mir eine Mitgift, wenn mich vor der Ehe so ein<br />

Mann entehrt? Viele von <strong>uns</strong> wurden auch schon<br />

geschlagen.<br />

Dafür, dass wir auf dem Fabrikboden schlafen und<br />

schlechtes Essen bekommen, wird <strong>uns</strong> von dem<br />

<strong>ver</strong>sprochenen Lohn so viel abgezogen, dass im<br />

Jahr nur etwas mehr als 300 Euro bezahlt werden.<br />

Viele der Mädchen, <strong>di</strong>e mit mir angekommen<br />

sind, sind <strong>nicht</strong> mehr hier. Einige haben sich bei<br />

der Arbeit mit den Maschinen <strong>ver</strong>letzt und wurden<br />

gefeuert, ein paar sind weggelaufen, weil sie es<br />

<strong>nicht</strong> mehr ausgehalten haben, und drei haben<br />

sich umgebracht.<br />

* Beide Beiträge wurden auf der Grundlage realer<br />

Erfahrungsberichte zusammengestellt von Kolleginnen<br />

des AK Heinz Huber zu einer Theateraufführung<br />

am Internationalen <strong>Frauen</strong>tag 2019.<br />

6


„Sanfter“ Menschenhandel<br />

Es gibt einige perfide Besonderheiten in der Textilindustrie, <strong>di</strong>e <strong>Frauen</strong> und Mädchen<br />

betreffen. Hier wird scheinbar keine Gewalt ausgeübt. Alles läuft „freiwillig“ – unter<br />

dem Versprechen von Aufstiegschancen.<br />

Nachdem eine Untersuchung des Workers<br />

Rights Consortium (WRC) den systematischen<br />

sexuellen Missbrauch von Textilarbeiterinnen<br />

in Denim-Jeans-Fabriken in Afrika aufdeckte,<br />

<strong>ver</strong>pflichteten sich Firmen wie Levi‘s, Wrangler<br />

und Co. im Lesotho-Abkommen 2019 zur Verbesserung<br />

der Verhältnisse – aller<strong>di</strong>ngs nur in<br />

einer Handvoll Fabriken in Lesotho, <strong>nicht</strong> in der<br />

gesamten Produktionskette weltweit.<br />

Anzüglichkeiten, Belästigung,<br />

Vergewaltigung<br />

Lesotho ist ein kleines Land in Südafrika, das<br />

sich auf <strong>di</strong>e Produktion und den Export von Markenjeans<br />

spezialisiert hat. Die Textilindustrie ist<br />

der wichtigste Arbeitgeber. Mehr als 80% der<br />

46.000 Beschäftigten sind <strong>Frauen</strong>. Mit durchschnittlich<br />

60 Euro im Monat <strong>ver</strong><strong>di</strong>enen sie weniger,<br />

als eine Jeans kostet. Doch der Job ist oft<br />

ihre einzige Möglichkeit, <strong>di</strong>e Familie zu ernähren.<br />

„Eine Frau wird alles tun, damit ihre Kinder <strong>nicht</strong><br />

<strong>ver</strong>hungern.“ Das schließt neben extremem Arbeitsstress<br />

sexuelle Übergriffe durch männliche<br />

Vorgesetzte und Chefs mit ein. Jederzeit, weil<br />

sie es können: Wer aus der Schar der Tagelöhnerinnen<br />

vor den Fabriktoren für wenige Stunden<br />

bezahlte Arbeit findet, muss sich „dankbar“<br />

zeigen. Das gilt auch für <strong>Frauen</strong>, <strong>di</strong>e nach der<br />

Probezeit übernommen werden wollen. Oft <strong>ver</strong>langen<br />

ihre Peiniger ungeschützten Sex. Jede<br />

Frau, <strong>di</strong>e sich <strong>ver</strong>weigert, wird gefeuert.<br />

Auch als sich <strong>di</strong>e internationalen Marken nach<br />

den <strong>ver</strong>heerenden Bränden in Pakistan und<br />

Bangladesch ethisch zur Einhaltung der Menschen-<br />

und Arbeitsrechte <strong>ver</strong>pflichteten, blieb<br />

der <strong>ver</strong>breitete sexuelle Missbrauch ein „schmutziges“<br />

Geheimnis, das jede*r kannte, aber bei<br />

den üblichen Gruppen-Meetings vor <strong>ver</strong>sammelter<br />

Mannschaft („Seid ihr glücklich hier?“) <strong>nicht</strong><br />

anzusprechen traute. Erst als Sethelile Ntlhakana<br />

2018 im Auftrag des WRC begann, Nachforschungen<br />

zur Behinderung gewerkschaftlicher<br />

Arbeit in einer lokalen Textilfabrik anzustellen,<br />

brachten anonyme Befragungen und Einzelgespräche<br />

in sicherer Atmosphäre das Muster<br />

einer systematischen sexuellen <strong>Ausbeutung</strong> zu<br />

Tage. Ganz sicher kein Einzelfall, sind Vertreterinnen<br />

der Nichtregierungsorganisation überzeugt:<br />

„Wenn es bei einem der Zulieferer passiert,<br />

geschieht es überall.“<br />

© Günther Gumhold pixelio.de<br />

Die Kampagne von WRC, Gewerkschafts<strong>ver</strong>bänden<br />

und <strong>Frauen</strong>rechtsorganisationen führte<br />

2019 zum bahnbrechenden Lesotho-Abkommen.<br />

Bis heute der erste und einzige Versuch<br />

der Modeindustrie, sexuellen Missbrauch von<br />

Textilarbeiterinnen durch Druck auf <strong>di</strong>e lokalen<br />

Zulieferer zu beenden. Ein Modell, auf dem sich<br />

nach der Corona-Pandemie aufbauen ließe.<br />

Kinderarbeit:<br />

Sumangali – <strong>di</strong>e „glückliche Braut“<br />

Damit ihre Töchter eine Mitgift in <strong>di</strong>e Ehe mitbringen<br />

können, schließen arme Eltern In In<strong>di</strong>en oft<br />

langjährige Arbeits<strong>ver</strong>träge mit Textilunternehmen<br />

für sie ab. Die Werber kommen in <strong>di</strong>e Dörfer,<br />

beschönigen <strong>di</strong>e Verhältnisse und <strong>ver</strong>sprechen<br />

einen guten Lohn. Bis zur Erfüllung des Vertrags<br />

erhalten <strong>di</strong>e Mädchen einen „Lehrlingslohn“ von<br />

knapp 300 Euro im Jahr. Sie sind in kasernenartigen<br />

Unterkünften untergebracht, <strong>di</strong>e sie nur selten<br />

und unter Aufsicht <strong>ver</strong>lassen dürfen. Kontakte<br />

zur Familie oder Gewerkschaft sind daher kaum<br />

möglich. Die Mädchen sind der Willkür ihrer Aufseher<br />

hilflos ausgesetzt, werden geschlagen und<br />

sexuell belästigt. Viele <strong>ver</strong>zweifeln, <strong>ver</strong>letzen sich<br />

und laufen weg; <strong>di</strong>e Selbstmordrate ist hoch.<br />

(Siehe auch Kasten auf Seite 6.)<br />

Deutsche Unternehmen sind rechtlich <strong>nicht</strong> zur<br />

Offenlegung ihrer Bezugsquellen <strong>ver</strong>pflichtet.<br />

Einzelne Firmen haben jedoch inzwischen erklärt,<br />

<strong>nicht</strong> mehr mit Zulieferern, <strong>di</strong>e Sumangali<br />

praktizieren, zusammenarbeiten zu wollen.<br />

Quellen:<br />

Lesotho: Annie Kelly in The Guar<strong>di</strong>an und WRC-Report.<br />

https://www.theguar<strong>di</strong>an.com/news/2020/<br />

aug/20/fashion-industry-jeans-lesotho-garment-factory-workers-sexual-violence<br />

Sumangali: wikipe<strong>di</strong>a<br />

Walburga Rempe<br />

7


Und bist du <strong>nicht</strong> willig …<br />

Nur ein Gesetz kann saubere Produkte und fairen Handel garantieren<br />

Die Kanzlerin will es und ihr Entwicklungsminister,<br />

der Arbeitsminister auch, Grüne und Linke<br />

sowieso: ein deutsches Lieferkettengesetz. Nur<br />

der Wirtschaftsminister sträubt sich noch immer.<br />

Damit blockiert er Menschenrechte und Umweltschutz,<br />

erklärt <strong>di</strong>e Initiative Lieferkettengesetz<br />

und sammelt Unterschriften für eine Petition.<br />

Zehn Jahre Sorgfaltspflicht<br />

Im Jahr 2011 <strong>ver</strong>abschiedete der Menschenrechtsrat<br />

der Vereinten Nationen seine Leitprinzipien<br />

für Wirtschaft und Menschenrechte.<br />

Die 31 Regeln lassen sich unter der Überschrift<br />

„Schutz, Achtung und Abhilfe“ zusammenfassen.<br />

Das bedeutet: Der Staat muss <strong>di</strong>e Menschenrechte<br />

schützen, Unternehmen müssen<br />

sie beachten, und jede und jeder muss <strong>di</strong>e<br />

Möglichkeit haben, sich gegen Unrecht zu wehren.<br />

Unternehmen haben also seit zehn Jahren<br />

auch offiziell eine menschenrechtliche Sorgfaltspflicht.<br />

Die soll nun endlich in Paragrafen<br />

gegossen werden, weil <strong>di</strong>e freiwillige Selbst<strong>ver</strong>pflichtung<br />

gescheitert ist. Das zeigen <strong>di</strong>e Be<strong>di</strong>ngungen,<br />

unter denen Menschen in der Dritten<br />

Welt noch immer Rohstoffe für Handys und<br />

E-Autos abbauen oder T-Shirts nähen.<br />

Eine EU-Richtlinie hatte <strong>di</strong>e Mitgliedsstaaten<br />

2011 aufgefordert, <strong>di</strong>e Leitlinien der Vereinten<br />

Nationen in ihren Ländern umzusetzen. In<br />

Deutschland machten sich Ende 2014 Politik<br />

und Wirtschaft, Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen<br />

ans Werk. Der „Nationale<br />

Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte“<br />

wurde im Dezember 2016 schließlich von der<br />

Bundesregierung <strong>ver</strong>abschiedet, nachdem es<br />

dem Finanzministerium im Laufe der Verhandlungen<br />

noch gelungen war, allzu Verbindliches<br />

herausstreichen zu lassen. Die Unternehmen<br />

würden schon mitmachen, dachte man. Zur Sicherheit<br />

<strong>ver</strong>einbarten CDU/CSU und SPD aber<br />

2018 in ihrem Koalitions<strong>ver</strong>trag dann doch, „national<br />

gesetzlich tätig“ zu werden und sich für<br />

eine EU-weite Regelung einzusetzen, falls <strong>di</strong>e<br />

freiwillige Selbst<strong>ver</strong>pflichtung <strong>nicht</strong> ausreiche.<br />

Ob sie ausreicht, erfragte <strong>di</strong>e Bundesregierung<br />

im Sommer 2020 gleich mit zwei Umfragen,<br />

nachdem <strong>di</strong>e erste auf wenig Resonanz gestoßen<br />

war. Ob <strong>di</strong>e Unternehmen das Thema <strong>nicht</strong><br />

wichtig fanden oder <strong>di</strong>e erste Umfrage einfach<br />

schlecht gemacht war, blieb ungeklärt.<br />

Alle Abbildungen auf <strong>di</strong>esen beiden Seiten:<br />

© Initiative Lieferkettengesetz<br />

Standards gesucht<br />

Das Ergebnis: Nur 455 der rund 2.250 Unternehmen<br />

mit mehr als 500 Beschäftigten konnten<br />

oder wollten sagen, wie sie bei der Herstellung<br />

ihrer Produkte Mensch und Umwelt schützen<br />

oder wenigstens schützen wollen. Entwicklungsminister<br />

Gerhard Müller musste so etwas geahnt<br />

haben. Schon Anfang 2019 arbeitete sein Haus<br />

an einem „Wertschöpfungskettengesetz“, und<br />

nach dem enttäuschenden Umfrageergebnis<br />

im Juli 2020 hatte er schließlich <strong>di</strong>e Nase voll:<br />

Zusammen mit Arbeitsminister Hubertus Heil<br />

legte er den Entwurf eines Lieferkettengesetzes<br />

vor, das noch in <strong>di</strong>eser Legislaturperiode <strong>ver</strong>abschiedet<br />

werden soll.<br />

Ob das gelingt, ist offen. Widerstand kommt von<br />

Wirtschafts<strong>ver</strong>bänden und aus dem Bundeswirtschaftsministerium.<br />

Viele deutsche Unternehmen<br />

sind inzwischen weiter als der Minister. Im<br />

Dezember 2020 haben sich 42 von ihnen für ein<br />

deutsches Lieferkettengesetz ausgesprochen,<br />

meldete <strong>di</strong>e Initiative Lieferkettengesetz am 9.<br />

Dezember, und CDU und SPD hätten dasselbe<br />

auf ihren Parteitagen beschlossen. Doch <strong>di</strong>e<br />

Lobby der Zweifler gibt <strong>nicht</strong> auf.<br />

Die Lobby der Zweifler<br />

Die großen Unternehmer<strong>ver</strong>bände sind gegen<br />

ein strenges Lieferkettengesetz. Sie fürchten,<br />

dass Unternehmen für etwas haften müssen,<br />

das sie <strong>nicht</strong> beeinflussen können. Wenn ein<br />

Lieferant gegen ein Gesetz <strong>ver</strong>stößt, das in seinem<br />

Land gar <strong>nicht</strong> gilt, seien ihnen <strong>di</strong>e Hände<br />

gebunden. Zugegeben: Ganz einfach ist <strong>di</strong>e<br />

Sache <strong>nicht</strong>, wenn der Unterlieferant des Unterlieferanten<br />

<strong>nicht</strong> <strong>ver</strong>raten will, wie er seine Geschäfte<br />

abwickelt – wegen Betriebsgeheimnis.<br />

8


Aber machtlos sind <strong>di</strong>e Unternehmen<br />

<strong>nicht</strong>. Schließlich<br />

<strong>ver</strong>geben sie <strong>di</strong>e Aufträge –<br />

oder eben <strong>nicht</strong>. Geradezu<br />

albern wird es, wenn ein Unternehmen<br />

auf <strong>di</strong>e Tränendrüse<br />

drückt. Bei strengeren<br />

Auflagen müsse man das<br />

Land <strong>ver</strong>lassen, in dem man<br />

bisher produzieren ließ, und<br />

<strong>di</strong>e <strong>di</strong>e armen Menschen<br />

hätten dann gar kein Einkommen<br />

mehr. Dabei ist klar: Jedes Unternehmen<br />

bleibt, so lange sich das rechnet, Gesetze hin<br />

oder her. Zudem würde ein Lieferkettengesetz<br />

einer Stu<strong>di</strong>e der EU-Kommission zufolge <strong>di</strong>e<br />

Unternehmen nur 0,005% ihres Umsatzes kosten.<br />

Und es wird auch niemand ein Unternehmen<br />

vor Gericht zerren, solange es nachweist,<br />

dass es alles Menschenmögliche getan hat, <strong>di</strong>e<br />

Vorschriften einzuhalten. Wenn es also seiner<br />

Sorgfaltspflicht nachgekommen ist.<br />

Der Wettbewerb kann aller<strong>di</strong>ngs tatsächlich<br />

zum Problem werden. Deutsche Firmen, <strong>di</strong>e<br />

sich längst selbst strenge Umwelt- und Sozialstandards<br />

gegeben haben, plä<strong>di</strong>eren für ein<br />

deutsches Gesetz, weil <strong>di</strong>e Konkurrenz sonst<br />

Vorteile hat. Die noch <strong>nicht</strong> standar<strong>di</strong>sierte Konkurrenz<br />

hätte lieber gleich ein europaweites<br />

Gesetz. Damit Unternehmen aus europäischen<br />

Ländern mit niedrigeren Standards deutschen<br />

Unternehmen <strong>nicht</strong> <strong>di</strong>e Butter vom Brot nehmen.<br />

Wer erlässt schneller?<br />

Ein paar Abgeordnete der FDP wollten im September<br />

2020 von der Bundesregierung wissen,<br />

wann das Gesetz zur Sorgfallspflicht kommt,<br />

zu dem sich <strong>di</strong>e Koalitionspartner<br />

<strong>ver</strong>pflichtet haben. Die Antwort<br />

der Bundesregierung Ende November:<br />

„Zurzeit findet innerhalb<br />

der Bundesregierung <strong>di</strong>e inhaltliche<br />

Abstimmung zu Eckpunkten<br />

für eine <strong>ver</strong>bindliche Regelung<br />

der unternehmerischen Sorgfaltspflicht<br />

statt. Die hierfür federführenden<br />

Ministerien sind das<br />

Bundesministerium für Arbeit und<br />

Soziales (BMAS), das Bundesministerium<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung (BMZ) und das Bundesministerium<br />

für Wirtschaft und Energie (BMWi). Nach<br />

der Kabinettsbefassung soll auf Grundlage der<br />

Eckpunkte ein Entwurf für ein Lieferkettengesetz<br />

erarbeitet werden.“<br />

Richtig schnell sieht das <strong>nicht</strong> aus. Wenn vor<br />

der Bundestagswahl <strong>nicht</strong>s mehr passiert, ist<br />

<strong>di</strong>e EU womöglich doch schneller. Die will im<br />

Frühjahr <strong>2021</strong> einen Entwurf vorlegen. Mit Haftungspflicht<br />

für Unternehmen.<br />

Menschenrechte für alle<br />

Die Zustimmung der Bevölkerung zu einem Lieferkettengesetz<br />

ist groß. Im September 2020<br />

sagten drei von vier Befragten in Deutschland,<br />

sie würden Unternehmen dazu <strong>ver</strong>pflichten,<br />

auch im Ausland Menschenrechte und Sozialstandards<br />

zu beachten, und Geschä<strong>di</strong>gte sollten<br />

vor einem deutschen Gericht klagen können. In<br />

der Schweiz entschied sich das Volk Ende November<br />

für eine Konzern<strong>ver</strong>antwortungsinitiative,<br />

<strong>di</strong>e aller<strong>di</strong>ngs an den Kantonen scheiterte.<br />

Im September 2019 hatten 18 deutsche Organisationen<br />

<strong>di</strong>e „Initiative Lieferkettengesetz“<br />

gegründet. Das Bündnis aus Menschenrechts-,<br />

Entwicklungs- und Umweltorganisationen, Gewerkschaften<br />

und Kirchen bekam schnell Zulauf.<br />

Als es am 10. September 2020 mit seinen<br />

Forderungen demonstrativ an <strong>di</strong>e Öffentlichkeit<br />

ging, gehörten bereits 80 Organisationen dazu,<br />

bei Redaktionsschluss <strong>di</strong>eser Ausgabe waren<br />

es über 100. Während <strong>di</strong>e Ministerien noch erörtern,<br />

was in einem solchen Gesetz stehen soll<br />

und was <strong>nicht</strong>, formulierte <strong>di</strong>e Initiative ihre Mindestanforderungen:<br />

Das Gesetz muss für Unternehmen ab 250<br />

Beschäftigten gelten, Umweltstandards setzen<br />

und dafür sorgen, dass Geschä<strong>di</strong>gte ihre Rechte<br />

einklagen können. Außerdem darf es <strong>nicht</strong><br />

nur für Unternehmen gelten, <strong>di</strong>e ihren Standort<br />

in Deutschland haben, sondern auch für auslän<strong>di</strong>sche<br />

Unternehmen, <strong>di</strong>e hier Geschäfte machen.<br />

Windelweiche Formulierungen würden da<br />

<strong>nicht</strong> helfen – es brauche glasklare Vorgaben.<br />

Ursula Walther<br />

9


Einfach gut einkaufen!?<br />

Einfach gut und nachhaltig einkaufen und zwar<br />

sozial und ökologisch. So einfach kann ein Rat<br />

sein und gleichzeitig erst mal so schwierig. Wie<br />

erkennt man „gute“ Kleidung? Am Preis erkennt<br />

man <strong>nicht</strong>, ob Kleidungsstücke z.B. unter Ausschluss<br />

von Kinderarbeit hergestellt wurden.<br />

Auch teure Ware wird manchmal in denselben<br />

Fabriken wie billige Klamotten produziert. Aber<br />

wer sein T-Shirt für 6 Euro kauft, kann sicher davon<br />

ausgehen, dass es sich hier <strong>nicht</strong> um „gute“<br />

Kleidung handelt.<br />

Um mehr über <strong>di</strong>e produzierten Kleidungsstücke<br />

zu erfahren, gibt es sogenannte Siegel. Aber hier<br />

fängt es an, etwas komplizierter zu werden, denn<br />

es gibt viele unterschiedliche Siegel. Mal geht es<br />

um <strong>di</strong>e Umwelt, z.B. Verzicht auf Pestizide beim<br />

Anbau von Baumwolle, mal wird Wert auf <strong>di</strong>e<br />

sozialen Be<strong>di</strong>ngungen, also Verbot von Kinderarbeit<br />

oder Recht auf Vereinigungsfreiheit, in der<br />

Produktionskette gelegt. Von der Vielfalt sollte<br />

man sich aber abschrecken lassen. Grundsätzlich<br />

gilt, wenn ein unabhängiges Gremium, an<br />

dem auch Gewerkschaften und NGOs beteiligt<br />

sind, <strong>di</strong>e Prüfung übernimmt, ist das Label garantiert<br />

besser. Aufpassen muss man, dass man<br />

<strong>nicht</strong> hereinfällt auf Unternehmen, <strong>di</strong>e eigene<br />

Nachhaltigkeits-Kollektionen bewerben, aber<br />

keine unabhängigen Kontrollen zulassen, <strong>di</strong>e jedoch<br />

mit viel Werbung und Pressearbeit <strong>ver</strong>suchen,<br />

sich ein umweltfreundliches oder <strong>ver</strong>antwortungsbewusstes<br />

Image zu <strong>ver</strong>leihen. Einen<br />

ganz guten Überblick über <strong>di</strong>e <strong>ver</strong>schiedenen<br />

Siegel bekommt man hier: https://www.siegelklarheit.de/#textilien.<br />

Eine gute Orientierungshilfe<br />

bietet auch das Faltblatt „Augen auf beim Kleiderkauf“<br />

von FEMNET: https://bit.ly/2TXeAe8.<br />

Beispiele aus dem Siegel-Dschungel<br />

Seit gut einem Jahr gibt es ein staatliches Siegel<br />

und zwar den „Grünen Knopf“. Rund 50 Millionen<br />

Textilien mit dem „Grünen Knopf“ wurden<br />

im ersten Halbjahr 2020 <strong>ver</strong>kauft – das entspricht<br />

einem Marktanteil zwischen 1,5% und<br />

3% im ersten Jahr. Es handelt sich dabei nur<br />

um ein freiwilliges Siegel statt gesetzlich <strong>ver</strong>ankerter<br />

Richtlinien. In der zweijährigen Einführungsphase<br />

werden Produkte nur unter den<br />

Gesichtspunkten „Zuschneiden und Nähen“ und<br />

© Eva-Maria Nieberle<br />

„Bleichen und Färben“ geprüft. Nach und nach<br />

sollen dann andere Bereiche wie faire Löhne<br />

hinzukommen. Aller<strong>di</strong>ngs stellt sich <strong>di</strong>e Frage,<br />

ob es <strong>nicht</strong> besser gewesen wäre, ein europaweites<br />

Siegel einzuführen oder ein bereits vorhandenes<br />

gutes Siegel zur staatlichen Anerkennung<br />

zu bringen.<br />

Grundsätzlich müssen alle Produkte, <strong>di</strong>e das<br />

GOTS-Siegel (GLOBAL ORGANIC TEXTILE<br />

STANDARD) tragen, zu mindestens 70% aus<br />

biologisch erzeugten Naturfasern bestehen. Außerdem<br />

müssen <strong>di</strong>e Kriterien der internationalen<br />

Arbeitsorganisation (ILO) eingehalten werden.<br />

Das bedeutet, keine Kinder- und keine Zwangsarbeit,<br />

<strong>di</strong>e Zahlung von Mindestlöhnen und <strong>ver</strong>trägliche<br />

Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen wie Arbeitsschutzmaßnahmen.<br />

Häufig sieht man das Siegel „OEKO-TEX Standard<br />

100“ (Textiles Vertrauen). Dieses Label<br />

<strong>steht</strong> nur für gesundheitlich unbedenkliche Textilien.<br />

Soziale oder ökologische Kriterien spielen<br />

keine Rolle. Der Fokus liegt ausschließlich auf<br />

Schadstofffreiheit des Produktes.<br />

Alles neu?<br />

Viel wichtiger, als jede Etikettierung zu kennen,<br />

ist als erster Schritt sich zu informieren, nachzufragen<br />

und dann bewusst einzukaufen. Und<br />

jedes Kleidungsstück muss man auch <strong>nicht</strong><br />

neu kaufen. Wie wäre es, mal im Freundeskreis<br />

zu tauschen, auf Flohmärkte zu gehen,<br />

Online-Kleiderbörsen zu nutzen oder in einem<br />

Secondhand-Laden einzukaufen Auch hier gibt<br />

es Läden, bei denen man gleichzeitig soziale<br />

Projekte unterstützen kann, z.B. Oxfam oder in<br />

München „Weißer Rabe“.<br />

Bettina Messinger<br />

10


Gegenwehr:<br />

Initiativen und Kampagnen<br />

Wir bringen einige Beispiele, dargestellt von den<br />

Initiator*innen der genannten Organisationen<br />

bzw. zusammengestellt nach deren Informationen<br />

im Internet.<br />

Die Verantwortung von H&M im Arbeitskampf<br />

bei Gokaldas Exports, In<strong>di</strong>en<br />

Seit Anfang Juni kämpfen <strong>di</strong>e Gewerkschaft<br />

GATWU und <strong>di</strong>e Beschäftigten des H&M-Zulieferers<br />

Gokaldas Exports in Srirangapatna,<br />

Karnataka, um ihren Arbeitsplatz, gegen <strong>di</strong>e<br />

Schließung des Standorts und gegen <strong>di</strong>e unrechtmäßige<br />

Kün<strong>di</strong>gung von 1.200 Arbeiter*<br />

innen. GATWU und der Gewerkschaftsdach<strong>ver</strong>band<br />

NTUI haben <strong>di</strong>ese Stellungnahme mit Forderungen<br />

an H&M <strong>ver</strong>schickt: „Als großes globales<br />

Unternehmen tragen wir Verantwortung<br />

für alle <strong>uns</strong>ere 177.000 Beschäftigten – aber<br />

auch für <strong>di</strong>e 1,6 Millionen Textilarbeiter, <strong>di</strong>e von<br />

<strong>uns</strong>eren Lieferanten beschäftigt werden. Wir<br />

wollen, dass jeder mit Respekt behandelt wird<br />

und in einer sicheren und gesunden Umgebung<br />

arbeitet.“ 1<br />

<strong>Ausbeutung</strong> passt mir <strong>nicht</strong><br />

Auch nach jahrelangen leeren Versprechen bezahlt<br />

<strong>di</strong>e Textilbranche immer noch keine Existenzlöhne<br />

an <strong>di</strong>e Arbeiterinnen und Arbeiter,<br />

welche <strong>uns</strong>ere Kleidung herstellen. Public Eye<br />

und <strong>di</strong>e Clean Clothes Campaign nehmen im<br />

neuen Firmencheck 45 Unternehmen der Modebranche<br />

unter <strong>di</strong>e Lupe.<br />

1<br />

Quelle: hmgroup.com, Übersetzung Corinna Poll<br />

Wie sieht <strong>ver</strong>antwortungsvoller Konsum aus?<br />

Konsumieren ist eng mit zahlreichen Menschenrechts<strong>ver</strong>letzungen<br />

entlang der Produktionskette<br />

<strong>ver</strong>bunden. Eine kritische Auseinandersetzung<br />

mit <strong>uns</strong>erem persönlichen Konsum<strong>ver</strong>halten<br />

führt <strong>uns</strong> zu grundlegenden Fragen zu Gerechtigkeit<br />

und Verteilung von Ressourcen.<br />

Fit for Fair<br />

Globale Produktionsketten bei der Herstellung<br />

von Sportkleidung und Sportequipment nahm<br />

das Projekt FIT FOR FAIR unter <strong>di</strong>e Lupe, denn:<br />

Fair Play beginnt bereits vor dem Spiel! Nämlich<br />

beim Konsum.<br />

Daher haben wir im Sport Aktive und den Fairen<br />

Handel zusammengebracht, um aktuelle<br />

Schieflagen und Problemfelder aufzuzeigen<br />

und um herauszustellen, welches Potential in<br />

<strong>di</strong>eser Verbindung liegt. Jede_r Einzelne kann<br />

etwas tun und somit zu einer nachhaltigen Entwicklung<br />

beitragen! Wir haben Workshops und<br />

vielfältige andere Aktionen durchgeführt und ein<br />

Netzwerk aufgebaut.<br />

Ci-Romero<br />

140 statt der gesetzlich vorgeschriebenen 278<br />

Euro – einige Textilfirmen in Rumänien haben<br />

während des Lockdown einfach den Lohn der<br />

Näherinnen gekürzt. Die Kampagne für Saubere<br />

Kleidung, zu deren Trägerorganisationen <strong>di</strong>e<br />

Christliche Initiative Romero gehört, unterstützte<br />

eine Arbeiterin, <strong>di</strong>e sich aktiv dagegen wehrte.<br />

Mit Erfolg: Im September erhielten <strong>di</strong>e rumänischen<br />

Näherinnen den ausstehenden Lohn.<br />

Doch auch so reicht der Ver<strong>di</strong>enst in den Textilfabriken<br />

kaum zum Leben.<br />

Eine der rumänischen Textilfabriken, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e<br />

Löhne der Textilarbeiterinnen in der Coronakrise<br />

um <strong>di</strong>e Hälfte kürzten, war TANEX. Der Zulieferer<br />

in der rumänischen Region Prahova beliefert<br />

beispielsweise Edelmarken wie Massimo Dutti<br />

(In<strong>di</strong>tex) und <strong>di</strong>e Schweizer Modemarke JOOP<br />

(Holy Fashion). Doch selbst der gesetzliche<br />

Mindestlohn in Rumänien in Höhe von 278 EUR<br />

ist viel zu niedrig, sagt Bettina Musiolek von der<br />

Clean Clothes Campaign: „Davon kann eine Familie<br />

<strong>nicht</strong> leben. Um existenzsichernd zu sein<br />

und um ein wür<strong>di</strong>ges Leben führen zu können,<br />

müssten <strong>di</strong>e Löhne viermal so hoch sein, also<br />

bei mindestens 1.100 Euro liegen.”<br />

Zusammenstellung: Corinna Poll<br />

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Schlusspunkt!<br />

[...] Die bis heute <strong>ver</strong>breitete Vorstellung des Marktes – von hilflosen<br />

und leicht manipulierbaren Konsumenten bevölkert – muss überarbeitet<br />

werden. In Wahrheit besitzt der Konsument <strong>di</strong>e Macht, durch<br />

seine Kaufentscheidungen <strong>di</strong>e Marktprozesse zu beeinflussen. [...]<br />

Zeit online, 2009<br />

Es gibt <strong>nicht</strong>s Gutes, außer man tut es.<br />

Erich Kästner<br />

Also, worauf warten wir noch?<br />

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