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Zeitschrift quer ver.di Frauen Bayern (2/2021) Migration

Migration ist ein globales Phänomen. Es gibt kein Land, das keine grenzüberschreitende Zu- oder Abwanderung oder Wanderungsbewegungen im Landesinneren verzeichnet. Grund genug, sich einmal ausführlicher mit diesem Thema zu beschäftigen. Und auch mal die Betroffenen zu Wort kommen zu lassen ..

Migration ist ein globales Phänomen. Es gibt kein Land, das keine grenzüberschreitende Zu- oder Abwanderung oder Wanderungsbewegungen im Landesinneren verzeichnet. Grund genug, sich einmal ausführlicher mit diesem Thema zu beschäftigen. Und auch mal die Betroffenen zu Wort kommen zu lassen ..

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Ausgabe 2/<strong>2021</strong><br />

<strong>Migration</strong><br />

Inhalt<br />

<strong>Migration</strong>1<br />

Menschen auf der<br />

Flucht 2<br />

Ausgebeutet und ausgegrenzt3<br />

Migrant*innen, Bildung<br />

und Arbeitsmarkt4<br />

Ein Stück Torte<br />

bitte!6<br />

#BanuMussBleiben7<br />

Wohlfühlrassismus8<br />

Integration ist keine<br />

Einbahnstraße9<br />

Deutschland als Auswanderungsland10<br />

Deutschland als Einwanderungsland11<br />

Schlusspunkt12<br />

<strong>Migration</strong> ist ein globales Phänomen. Es gibt kein Land, das keine grenzüberschreitende Zu- oder Abwanderung<br />

oder Wanderungsbewegungen im Landesinneren <strong>ver</strong>zeichnet. Grund genug, sich einmal ausführlicher mit<br />

<strong>di</strong>esem Thema zu beschäftigen. Und auch mal <strong>di</strong>e Betroffenen zu Wort kommen zu lassen ...<br />

Die Idee, den Themenschwerpunkt „<strong>Migration</strong>“ zu wählen,<br />

wurde vom Landesmigrationsausschuss <strong>ver</strong>.<strong>di</strong> <strong>Bayern</strong>,<br />

<strong>ver</strong>treten durch <strong>di</strong>e Vorsitzende Charlotte Johnson,<br />

an uns herangetragen. Fünf Seiten <strong>di</strong>eser Ausgabe sind<br />

deshalb den Kolleginnen und Kollegen <strong>di</strong>eses Gremiums<br />

vorbehalten.<br />

Wir können das Thema „<strong>Migration</strong>“ natürlich nur in wenigen<br />

Aspekten behandeln. Am Anfang stehen Zahlen zu<br />

Geflüchteten weltweit (S. 2), danach wird <strong>di</strong>e Situation der<br />

Arbeitsmigrant*innen in Deutschland beleuchtet. Auf den<br />

Seiten 4 und 5 wird der Zusammenhang von Bildung und<br />

Arbeitschancen für Menschen mit <strong>Migration</strong>sgeschichte<br />

beschrieben, und es werden Rahmenbe<strong>di</strong>ngungen für<br />

eine Verbesserung der Situation skizziert. Ein türkischstämmiger<br />

Feminist beschreibt seine Haltung im Beitrag<br />

„Ein Stück Torte bitte!“ auf Seite 6.<br />

Auch ein Erfolg ist zu <strong>ver</strong>melden: Die Kampagne #Banu-<br />

MussBleiben hat dafür gesorgt, dass <strong>di</strong>e Ausweisung von<br />

Dr. Dilay Banu Büyükavci, einer Nürnberger <strong>ver</strong>.<strong>di</strong>-Kollegin,<br />

abgewendet werden konnte. Näheres dazu steht auf<br />

Seite 7. Den alltäglichen Rassismus, den möglicherweise<br />

jede*r von uns in sich trägt, schildert der Artikel „Wohlfühlrassismus“<br />

(S. 8), das Selbst<strong>ver</strong>ständnis und <strong>di</strong>e Arbeit<br />

des Landesmigrationsausschusses werden auf Seite 9<br />

vorgestellt.<br />

Spannende Zahlen und Fakten gibt es auf den Seiten 10<br />

und 11 in den Artikeln zu Deutschland als Aus- bzw. Einwanderungsland<br />

nachzulesen.<br />

Deutschland ist ein Einwanderungsland. Bereits ein<br />

Fünftel der Beschäftigten hat eine <strong>Migration</strong>sgeschichte.<br />

Dennoch ist es längst nicht selbst<strong>ver</strong>ständlich, dass den<br />

spezifischen Belangen <strong>di</strong>eser Bevölkerungsgruppe Rechnung<br />

getragen wird.<br />

„Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen aber Menschen“ – <strong>di</strong>eses<br />

berühmte Zitat aus einem Theaterstück des Schweizers<br />

Max Frisch ist mittlerweile mehr als 60 Jahre alt. Und<br />

es hat nichts von seiner Aussagekraft und Doppelbö<strong>di</strong>gkeit<br />

<strong>ver</strong>loren. Ziehen wir Konsequenzen daraus!<br />

Für <strong>di</strong>e <strong>quer</strong>-Redaktion: Dagmar Fries


Impressum<br />

<strong>quer</strong> – <strong>di</strong>e Zeitung des<br />

<strong>ver</strong>.<strong>di</strong> - Landesfrauenrates <strong>Bayern</strong><br />

Neumarkter Str. 22<br />

81673 München<br />

V.i.S.d.P.: Bettina Messinger,<br />

Landesfrauensekretärin<br />

Telefon: 089 / 599 77 – 422<br />

Mail: bettina.messinger@<strong>ver</strong><strong>di</strong>.de<br />

Redaktionsteam: Dagmar Fries,<br />

Bettina Messinger, Corinna Poll, Walburga<br />

Rempe<br />

Weitere Mitarbeiter*innen:<br />

Suna Acikgöz, Oguz Sherif Akman,<br />

Charlotte Johnson, Belinda Morrison-<br />

Tohol<br />

Redaktion/Layout:<br />

Dagmar Fries<br />

Schlusskorrektur:<br />

Walburga Rempe<br />

Abbildungsnachweis: S. 2 Diagramme<br />

Dagmar Fries; S. 4 Andrea<br />

Damm, pixelio.de; S. 5, 8, 9 Charlotte<br />

Johnson; S. 7 Dietmar Fischer; S. 10<br />

Bärbl Weiß; S. 11 Alexander Hauk, pixelio.de;<br />

S. 12 Dagmar Fries, Günter<br />

Wangerin<br />

Redaktionsschluss: 30.09.<strong>2021</strong><br />

Link zur Online-Ausgabe:<br />

yumpu.com/user/<strong>ver</strong><strong>di</strong>frauenbayern<br />

Druck: Druckwerk München<br />

Auflage: 3.500 Expl.<br />

Menschen auf der Flucht<br />

Noch nie war <strong>di</strong>e Zahl der Menschen, <strong>di</strong>e vor Krieg und Verfolgung, vor Hunger, Gewalt und Menschenrechts<strong>ver</strong>letzungen<br />

auf der Flucht sind, so hoch wie heute.<br />

82,4 Millionen Flüchtlinge zählt der UNHCR* zum Jahresende<br />

2020, das sind 4% mehr als ein Jahr zuvor.<br />

86% der Geflohenen leben in Ländern mit niedrigen und<br />

mittleren Einkommen oder in Ländern, <strong>di</strong>e an Krisengebiete<br />

grenzen, fast ein Drittel von ihnen wurden von<br />

den am wenigsten entwickelten Ländern aufgenommen.<br />

80% aller Vertriebenen leben in Regionen, in denen <strong>di</strong>e<br />

Ernährung nicht gesichert ist. Und zwei Drittel leben in<br />

Städten oder deren unmittelbarer Umgebung.<br />

DEUTSCHLAND<br />

UGANDA<br />

PAKISTAN<br />

KOLUMBIEN<br />

TÜRKEI<br />

MYANMAR<br />

SÜDSUDAN<br />

AFGHANISTAN<br />

VENEZUELA<br />

SYRIEN<br />

Die 5 größten Aufnahmeländer (in Mio.)<br />

1,1<br />

1,1<br />

2,2<br />

2,6<br />

1,4<br />

1,4<br />

1,8<br />

0 0,5 1 1,5 2 2,5 3 3,5 4<br />

Die 5 größten Herkunftsländer (in Mio.)<br />

3,9<br />

0 1 2 3 4 5 6 7 8<br />

6,7<br />

3,6<br />

Die Zahl der Menschen, <strong>di</strong>e innerhalb ihres Heimatlandes<br />

geflohen sind – sog. Binnenflüchtlinge – ist weiter gestiegen.<br />

48 Millionen sind es nun, das sind 2,3 Millionen<br />

mehr als vor einem Jahr. Besonders dramatisch sind <strong>di</strong>e<br />

Zahlen jugendlicher Flüchtlinge: Ende 2020 waren 42%<br />

der Geflüchteten weltweit jünger als 18 Jahre. Ihnen drohen<br />

in Kriegswirren besondere Gefahren, häufig werden<br />

sie als Kindersoldat*innen rekrutiert und zum Kämpfen<br />

und Töten missbraucht. Zudem sind Zwangsehen und<br />

Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Häufig haben<br />

Flüchtlingskinder nicht <strong>di</strong>e Möglichkeit, eine Schule zu<br />

besuchen. Und viele von ihnen wurden auf der Flucht<br />

von ihren Eltern getrennt oder flüchten allein.<br />

Obwohl seit den 1980er Jahren (spätestens seit 1993)<br />

<strong>ver</strong>mehrt <strong>di</strong>e Erfahrungen von Migrantinnen in den Blick<br />

rücken – ein Ergebnis der <strong>Frauen</strong>- und Geschlechterforschung<br />

– konzentrieren sich <strong>di</strong>e meisten Stu<strong>di</strong>en weiterhin<br />

auf männliche Migranten oder erheben <strong>di</strong>e Geschlechtszugehörigkeit<br />

nicht, das heißt, es gibt kaum nach<br />

Geschlechtern ausgewiesene Statistiken. Der Prototyp<br />

des Migranten scheint somit immer noch der Mann zu<br />

sein, auch wenn heute fast <strong>di</strong>e Hälfte der internationalen<br />

Migrant*innen <strong>Frauen</strong> sind und es in vielen Weltregionen<br />

inzwischen mehr weibliche als männliche Migrant*innen<br />

gibt. Aller<strong>di</strong>ngs gibt es hier starke Schwankungen: So war<br />

in Afrika mehr als <strong>di</strong>e Hälfte nämlich 51% aller Flüchtlinge<br />

weiblich. In Europa traf <strong>di</strong>es hingegen nur auf 39% der dort<br />

lebenden Flüchtlinge zu.<br />

Dagmar Fries<br />

*United Nations High Commissioner for Refugees, Hoher<br />

Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen<br />

Quellen: UNHCR Global Trends Report 2020, uno-fluechtlingshilfe.de<br />

und Bundeszentrale für politische Bildung<br />

2


Ausgebeutet und ausgegrenzt<br />

In der Corona-Pandemie fiel kurzzeitig ein Schlaglicht auf <strong>di</strong>e unbekannte Schattenwelt der<br />

Arbeitsmigration. Sonderregelungen für Saisonarbeitskräfte zur Spargelernte zeigten, wie sehr<br />

<strong>di</strong>e deutsche Wirtschaft ihre Arbeitskraft braucht. Und Bilder von elenden, heruntergekommenen<br />

Massenunterkünften von Schlachthofarbeitern hinter Absperrungen ließen erahnen, unter<br />

welchen menschenunwür<strong>di</strong>gen Be<strong>di</strong>ngungen sie oft leben und arbeiten müssen.<br />

Kathrin Birner und Stefan Dietl haben <strong>di</strong>e von<br />

extremer Ausbeutung, Lohnraub und Umgehung<br />

arbeitsrechtlicher Normen gekennzeichneten<br />

Lebens- und Arbeits<strong>ver</strong>hältnisse „moderner<br />

Wanderarbeiter*innen“ in Deutschland beschrieben<br />

1 . Gemeint sind Menschen, <strong>di</strong>e auf der Suche<br />

nach Arbeit zuwandern oder regelmäßig über<br />

innereuropäische Grenzen pendeln, um nach<br />

einer gewissen Zeit wieder in ihre Heimatländer<br />

zurückzukehren. Diese „mobilen Beschäftigten“<br />

kommen vor allem aus ärmeren osteuropäischen<br />

Ländern (Polen, Rumänien, Bulgarien). Sie arbeiten<br />

für Hungerlöhne in der Fleischindustrie,<br />

Landwirtschaft, Logistik, im Baugewerbe und in<br />

der Pflege. Zu welchen Kon<strong>di</strong>tionen? Offizielle<br />

Zahlen der Bundesregierung gibt es kaum. Private<br />

Vermittlungsagenturen im In- und Ausland<br />

sorgen für ein undurchsichtiges Geflecht von<br />

Beschäftigungsformen (Subunternehmen, Leiharbeit<br />

und Scheinselbststän<strong>di</strong>gkeit), das sich<br />

unkontrollierbar jeder sozialrechtlichen Prüfung<br />

entzieht. Dass es sich um ein lukratives Geschäft<br />

handelt, beweist <strong>di</strong>e wachsende Zahl solcher<br />

Agenturen. Keine Statistik erfasst bisher, wie viele<br />

Arbeitsmigrant*innen in welcher Branche zu<br />

welchen Be<strong>di</strong>ngungen befristet tätig sind.<br />

1 Kathrin Birner und Stefan Dietl: Die modernen Wanderarbeiter*innen.<br />

Arbeitsmigrant*innen im Kampf um ihre<br />

Rechte. Unrast-Verlag, Münster <strong>2021</strong><br />

Beispiel: Häusliche Pflege<br />

Die Pflege<strong>ver</strong>sicherung in Deutschland ist chronisch<br />

unterfinanziert im Vergleich zu Ländern<br />

wie Frankreich oder Dänemark 2 . Daher können<br />

sich viele Menschen einen Platz im Alters- oder<br />

Pflegeheim schlichtweg nicht leisten. Das von<br />

der Politik propagierte Modell „Daheim statt<br />

Heim“ mag zwar auch dem Wunsch der Betroffenen<br />

entsprechen, setzt aber vor allem auf <strong>di</strong>e<br />

unbezahlte Arbeitsleistung pflegender Angehöriger,<br />

um <strong>di</strong>e Kosten niedrig zu halten und zudem<br />

<strong>di</strong>e Last der Verantwortung auf sie abzuwälzen.<br />

Rund 70% der Pflegebedürftigen werden in<br />

Deutschland zu Hause betreut. Ohne <strong>di</strong>e Hilfe<br />

mobiler Beschäftigter (mit einem <strong>Frauen</strong>anteil<br />

von fast 100%) wäre das kaum zu bewältigen.<br />

Man schätzt, dass etwa eine halbe Million Arbeitsmigrantinnen<br />

in der Pflege tätig sind, ca.<br />

150.000 bis 200.000 allein als 24-Stunden-Betreuung<br />

in der häuslichen Pflege (Live-in). Die<br />

meisten kommen aus Polen und leisten ein<br />

Arbeitspensum, für das regulär drei ausgebildete<br />

Pflegekräfte bezahlt werden müssten. Für<br />

durchschnittlich 800 bis 1200 Euro <strong>ver</strong>sorgen<br />

sie ihre Patienten Tag und Nacht, bevor sie sich<br />

nach einigen Monaten für einen unbezahlten<br />

„Heimaturlaub“ mit einer Kollegin abwechseln.<br />

2 Bis zu 50% geringerer Anteil des Bruttoinlandsprodukts<br />

Selbst wenn ihr Betreuungs<strong>ver</strong>trag eine 40-Stunden-Woche<br />

vorsieht, müssen sie stän<strong>di</strong>g <strong>ver</strong>fügbar<br />

und <strong>di</strong>enstbereit sein. So lösen sich <strong>di</strong>e Grenzen<br />

zwischen Arbeits- und Freizeit auf, es gibt oft<br />

keine Privatsphäre und keine Beratungsstelle.<br />

Wie bei vielen weiblichen Hausangestellten ist<br />

<strong>di</strong>e Situation migrantischer Pflegekräfte geprägt<br />

von Entrechtung, Isolation, Diskriminierung und<br />

körperlicher oder sexualisierter Gewalt.<br />

Rassismus und Spaltung<br />

Die Herabwür<strong>di</strong>gung und Ausgrenzung von<br />

Wanderarbeiter*innen in Deutschland hat System.<br />

Sie beginnt mit der Anwerbung durch dubiose<br />

Firmen und setzt sich in der Unterbringung<br />

in maroden, gesundheitsschädlichen Massenunterkünften<br />

fort. Als sich <strong>di</strong>e Schlachthöfe in<br />

NRW zum Corona-Hotspot entwickelten, wussten<br />

Firmenboss und Ministerpräsident ganz genau,<br />

wessen Schuld es war: „Die Bulgaren“ und<br />

„<strong>di</strong>e Rumänen“ mussten das Virus eingeschleppt<br />

haben. Also galt es <strong>di</strong>e deutsche Bevölkerung<br />

zu schützen, durch tagelange Abschottung der<br />

Schlachthofarbeiter hinter hohen Zäunen, ohne<br />

etwas an den katastrophalen Verhältnissen in<br />

deren Arbeits- und Lebensbereich zu ändern.<br />

Auch Gewerkschaften sind nicht frei von Ressentiments.<br />

Noch immer betrachten sie auslän<strong>di</strong>sche<br />

„Billiglöhner“ eher als unliebsame Konkurrenz,<br />

nicht als potenzielle Bündnispartner, um gemeinsam<br />

für bessere Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen zu kämpfen.<br />

Walburga Rempe<br />

Dieser Artikel beruht im Wesentlichen auf dem<br />

äußerst lesenswerten Buch von Birner und Dietl, das<br />

sich ganz aktuell mit einem gewerkschaftlich und gesellschaftlich<br />

wichtigen Thema auseinandersetzt.<br />

3


Migrant*innen, Bildung und<br />

Arbeitsmarkt<br />

Ich arbeite seit über 30 Jahren im Sekretariat<br />

eines sonderpädagogischen Förderzentrums in<br />

einer kleinen Stadt in <strong>Bayern</strong>. Ich habe einen<br />

<strong>Migration</strong>shintergrund, bin also zweisprachig<br />

aufgewachsen.<br />

Bildung ist der zentrale Faktor für ein<br />

Gelingen von Integration. Ob es nun<br />

Kinder von „Gastarbeitern“ oder von<br />

geflüchteten Menschen betrifft – <strong>di</strong>e<br />

deutsche Sprache ist <strong>di</strong>e erste große<br />

Herausforderung für unsere auslän<strong>di</strong>schen<br />

Mitbürger*innen.<br />

Nehmen wir an, dass Familie X aus<br />

einem Kriegsgebiet geflohen ist. Das<br />

Ankommen in einem anderen Land,<br />

dessen Sprache man nicht <strong>ver</strong>steht,<br />

geschweige denn spricht – auf der<br />

einen Seite steht das Glück, keine<br />

Angst mehr vor Verfolgung haben zu<br />

müssen, und auf der anderen Seite<br />

steht das Unbekannte.<br />

Nun gilt in Deutschland: Alle Kinder<br />

(auch <strong>di</strong>e geflüchteten) haben einen<br />

Anspruch auf einen Platz in der Kindertagesstätte,<br />

und auch <strong>di</strong>e Schulpflicht besteht für<br />

„Flüchtlingskinder“. Stu<strong>di</strong>en des Leibniz-Instituts<br />

zeigen aber, dass Kinder mit Fluchterfahrung<br />

deutlich seltener einen Kindergarten<br />

oder eine Kindertagesstätte besuchen. Oft<br />

liegt keine Kita in der Nähe, <strong>di</strong>e zu Fuß oder<br />

gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen<br />

wäre.<br />

Also kommen <strong>di</strong>ese Kinder seltener oder gar nicht<br />

mit deutschsprechenden Alterskamerad*innen<br />

in Kontakt. Um der Bedeutung frühkindlicher<br />

Bildung gerecht zu werden, wären mehr Einrichtungen<br />

und vor allem mehrsprachiges Betreuungspersonal<br />

notwen<strong>di</strong>g.<br />

Kommen <strong>di</strong>ese Kinder<br />

dann ins schulpflichtige Alter<br />

und konnten noch keine<br />

ausreichenden Deutschkenntnisse<br />

erwerben, gibt<br />

es große Probleme. Neben<br />

dem Erwerb der deutschen<br />

Sprache in Wort und Schrift<br />

müssen sie auch für <strong>di</strong>e anderen<br />

grundlegenden Fächer<br />

lernen: Das bedeutet<br />

doppelte Belastung und damit<br />

Schwierigkeiten, Hausaufgaben<br />

selbstän<strong>di</strong>g zu<br />

erarbeiten. Auch wenn der<br />

größte Teil der Flüchtlingseltern<br />

mit großem Engagement<br />

<strong>ver</strong>sucht, <strong>di</strong>e Kinder zu<br />

unterstützen, können sie oft nicht (ausreichend)<br />

helfen, weil sie selbst vor einer Sprachbarriere<br />

stehen. Hier helfen unterstützende Methoden<br />

wie Hausaufgaben- und Nachmittagsbetreuung<br />

und das Besuchen kleiner Lerngruppen, am besten<br />

mit mehrsprachigen Fachkräften.<br />

© Andrea Damm, pixelio.de<br />

Parallel zur Bildung der Kinder sollte auch in der<br />

Erwachsenenbildung mehr Augenmerk auf <strong>di</strong>e<br />

Unterweisung in der deutschen Sprache gerade<br />

bei den Müttern gelegt werden. Sie leisten<br />

<strong>di</strong>e Hauptarbeit bei der Kindererziehung und bei<br />

den Hausaufgaben. Nur so kann <strong>di</strong>e notwen<strong>di</strong>ge<br />

Unterstützung daheim erfolgen. Leider scheitert<br />

es häufig am mangelnden Angebot von Sprachkursen<br />

für <strong>di</strong>e Erwachsenen oder (wie bei uns<br />

auf dem Land) an der schlechten Verkehrsanbindung.<br />

Ohne Deutschkenntnisse können Eltern<br />

aber nicht hilfreich zur Seite stehen.<br />

Es sollte aber auch erwähnt werden, dass viele<br />

Migrantinnen oft im hohen Maß Fachkenntnisse<br />

erworben haben. Hier könnten bereits vorhandene<br />

Ausbildungen und Stu<strong>di</strong>enlehrgänge<br />

schneller anerkannt und so <strong>di</strong>e <strong>Frauen</strong> in den<br />

Arbeitsmarkt integriert werden.<br />

Vielen Migrant*innen bleibt wegen mangelnder<br />

Deutschkenntnisse eine weiterführende Schule<br />

<strong>ver</strong>wehrt. Viele arbeiten deswegen im Niedriglohnsektor.<br />

Sie <strong>ver</strong><strong>di</strong>enen nicht viel, oft sind es<br />

ungesicherte (Mini-)Jobs – und damit sind sie<br />

auch <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e als Erste gekün<strong>di</strong>gt werden.<br />

Gerade in der Corona-Pandemie hat sich deutlich<br />

gezeigt, wie sehr wir auf <strong>Frauen</strong> in der Pflege<br />

und in der Altenbetreuung angewiesen sind.<br />

Das ganze Gefüge würde zusammenbrechen,<br />

wenn es <strong>di</strong>e Reinigungskräfte, das Küchenpersonal<br />

und <strong>di</strong>e Pflegekräfte mit <strong>Migration</strong>shintergrund<br />

nicht mehr gäbe.<br />

Geringer Ver<strong>di</strong>enst bedeutet langfristig eine<br />

kleine Rente, das ist gleichbedeutend mit Altersarmut.<br />

Das führt oft dazu, dass Unterstützung<br />

durch den Staat in Anspruch genommen werden<br />

muss. Eine Investition in Bildung und Chancengleichheit<br />

in Schulen, Stu<strong>di</strong>um und Ausbildung<br />

zur Bekämpfung <strong>di</strong>eses strukturellen Rassismus<br />

ist dringend geboten – und es baut zugleich<br />

4


langfristig <strong>di</strong>e Notwen<strong>di</strong>gkeit von<br />

Transferleistungen ab.<br />

In Deutschland leben mehr als<br />

20 Millionen Menschen mit <strong>Migration</strong>shintergrund,<br />

das ist ein<br />

substanzieller Teil der erwerbstätigen<br />

Bevölkerung. Mehrere<br />

Stu<strong>di</strong>en zeigen, dass Menschen<br />

mit <strong>Migration</strong>shintergrund bei<br />

der Jobsuche benachteiligt werden.<br />

Die meisten <strong>di</strong>eser Stu<strong>di</strong>en<br />

<strong>ver</strong>wenden sogenannte Korrespondenztests.<br />

Dabei werden<br />

fiktive Bewerbungen <strong>ver</strong>schickt,<br />

<strong>di</strong>e sich nur in einem Merkmal<br />

unterscheiden: Eine Testperson<br />

hat einen deutschen Namen, <strong>di</strong>e<br />

andere einen „auslän<strong>di</strong>sch“ klingenden<br />

Namen.<br />

Laut einer Stu<strong>di</strong>e 1 aus dem Jahr<br />

2018 erhalten Menschen mit<br />

<strong>Migration</strong>shintergrund deutlich<br />

seltener eine positive Rückmeldung<br />

auf ihre Bewerbungen. Die<br />

Chancen variierten je nach Herkunftsland: Besonders<br />

schlechte Chancen hatten Menschen<br />

albanischer, marokkanischer oder äthiopischer<br />

Abstammung. Etwas bessere Chancen hatten<br />

Bewerber*innen aus einem westeuropäischen<br />

Land sowie aus Japan oder China.<br />

Ähnliche Ergebnisse lieferte eine Stu<strong>di</strong>e 2 zu<br />

Praktikumsbewerbungen aus dem Jahr 2010.<br />

Demnach reicht <strong>di</strong>e Angabe eines türkischen<br />

Namens, um <strong>di</strong>e Chance auf ein Vorstellungsgespräch<br />

um 14% zu senken – in kleineren Unternehmen<br />

sogar um 24%.<br />

Der <strong>ver</strong>.<strong>di</strong> Landesmigrationsausschuss <strong>Bayern</strong><br />

auf einer Klausurtagung in Brannenburg<br />

Besonders stark von Diskriminierung betroffen<br />

sind Musliminnen, <strong>di</strong>e ein Kopftuch tragen: Sie<br />

müssen sich viermal so oft bewerben, um für<br />

ähnlich viele Bewerbungsgespräche eingeladen<br />

zu werden wie Bewerberinnen mit deutschem<br />

Namen ohne Kopftuch 3 . Und nach einer Expertise<br />

der „Anti<strong>di</strong>skriminierungsstelle des Bundes“<br />

gilt das Kopftuch bei vielen Arbeitgebern „überwiegend<br />

als unerwünscht oder sogar als un<strong>ver</strong>einbar<br />

mit Berufstätigkeit“.<br />

Was wäre, wenn Bewerbungs<strong>ver</strong>fahren<br />

anonymisiert werden würden?<br />

Wenn es nur auf Qualifikationen und<br />

Kenntnisse ankäme? Würde das <strong>di</strong>e<br />

berufliche Situation für Migrantinnen<br />

und Migranten <strong>ver</strong>bessern?<br />

Was für ein Potenzial an Fähigkeiten,<br />

Wissen und interkulturellen Kompetenzen<br />

so <strong>ver</strong>loren geht, ist kaum zu<br />

ermessen. Damit sich <strong>di</strong>e Rahmenbe<strong>di</strong>ngungen<br />

im Bildungsbereich und auf<br />

dem Arbeitsmarkt positiv <strong>ver</strong>ändern,<br />

bedarf es großer Anstrengungen.<br />

Denn: Wissen ist Macht!<br />

Belinda Morrison-Tohol, Charlotte<br />

Johnson & Suna Acikgöz<br />

<strong>Migration</strong> Mittelfranken & Landesmigration<br />

<strong>Bayern</strong><br />

1<br />

Ruud Koopmans, Susanne Veit, Ruta Yemane: Ethnische<br />

Hierarchien in der Bewerberauswahl. Wissenschaftszentrum<br />

Berlin für Sozialforschung (2018)<br />

2<br />

Leo Kaas, Christian Manger: Ethnic Discrimination<br />

in Germany’s Labour Market: A Field Experiment.<br />

IZA DP No. 4741 (2010)<br />

3<br />

Doris Weichselbaumer: Discrimination against Female<br />

Migrants Wearing Headscarves. IZA DP No.<br />

10217 (2016)<br />

5


Ein Stück Torte bitte!<br />

Wie kommt eigentlich ein Mann dazu, einen Artikel<br />

über Feminismus zu schreiben?<br />

Ich bin in <strong>di</strong>eses Thema nahezu ungewollt hineingerutscht<br />

als jemand, der das Thema Feminismus<br />

nur aus Polit-Talkshows aus den<br />

Öffentlich-Rechtlichen kannte. Ich kann nicht behaupten,<br />

dass ich es wirklich <strong>ver</strong>standen hätte.<br />

In Fernsehsendungen sieht man immer nur <strong>di</strong>e<br />

gleichen fünf Menschen, <strong>di</strong>e immer wieder über<br />

<strong>di</strong>e gleichen Themen sprechen: Gendern, weibliche/männliche<br />

Ampel-Figürchen und <strong>di</strong>e Einführung<br />

von Unisex-Toiletten. Wenn man also<br />

das Thema Feminismus nur aus solchen Shows<br />

kennt, erhält man eine <strong>ver</strong>schobene Sicht der<br />

Dinge – Feminist*innen <strong>di</strong>skutieren nur über<br />

„belanglose“ Themen. Dabei behaupte ich, dass<br />

man mit einer richtig guten Auswahl von Gästen<br />

sehr gut und fun<strong>di</strong>ert <strong>di</strong>skutieren könnte.<br />

So saß ich also irgendwann in Seminaren, Orgagruppen<br />

und Gremien als Queerfeminist und<br />

wunderte mich, wieso alles so weiß um mich<br />

herum ist. Beschäftigt man sich als nicht-weiße<br />

Person mit der Geschichte von marginalisierten<br />

Gruppierungen, so sind es meistens weiße<br />

Menschen, <strong>di</strong>e an vorderster Front stehen und<br />

das wahrgenommene Gesicht <strong>di</strong>eser Bewegung<br />

sind – ganz egal, wie kritisch vielleicht <strong>di</strong>e Positionen<br />

einiger Vorzeigepersonen (z.B. Alice<br />

Schwarzer) mittlerweile sein mögen.<br />

Wer räumt einen Platz?<br />

Als politisch und gewerkschaftlich akti<strong>ver</strong><br />

Mensch hat man in der Organisation <strong>di</strong>e ein<br />

oder andere Rede gehört, es wird betont, wie<br />

bunt, also vielfältig und multikulturell doch <strong>di</strong>ese<br />

Organisation ist. Schaut man sich <strong>di</strong>e Hauptamtlichen<br />

und Funktionär*innen an, so stellt man<br />

fest, dass es damit nicht so weit her ist.<br />

Wieso eigentlich?<br />

Es gibt bekanntlich nur eine Torte, <strong>di</strong>e <strong>ver</strong>teilt<br />

werden kann. Jede neue Person, <strong>di</strong>e ein Stück<br />

abhaben möchte, macht das Stückchen Torte einer<br />

anderen Person streitig. Wer wird also freiwillig<br />

den Stuhl am Verhandlungstisch räumen?<br />

Immer dann, wenn es um Macht und Zugeständnisse<br />

geht, sitzen alle sehr gemütlich am Tisch.<br />

Die Idee, <strong>di</strong>esen Tisch zu <strong>ver</strong>größern, damit dort<br />

mehr Stühle Platz haben, kommt den meisten<br />

nicht in den Sinn – vielmehr geht es um <strong>di</strong>e Frage,<br />

wer seinen/ihren Stuhl räumen sollte, damit<br />

<strong>di</strong>e neue Gruppierung am Tisch Platz findet.<br />

Wieso Feminismus intersektionell gedacht<br />

werden muss<br />

Die Forderungen für marginalisierte Gruppen<br />

in Deutschland sind aus weißer Perspektive<br />

gedacht. Als weiße Feministin reicht es zum<br />

Beispiel aus, auf den Gender Pay Gap hinzuweisen.<br />

Wenn man dafür sorgen würde, dass<br />

<strong>di</strong>e ungleiche Bezahlung von Mann und Frau<br />

überwunden würde, wäre damit <strong>di</strong>eses Thema<br />

für <strong>di</strong>e weiße Frau erle<strong>di</strong>gt. Nicht so für nicht-weiße<br />

<strong>Frauen</strong>, denn sie werden nicht nur wegen ihres<br />

Geschlechts <strong>di</strong>skriminiert. Denn neben dem<br />

Gender Pay Gap existiert auch der Migrant Pay<br />

Gap, der besagt, dass Deutsche mit <strong>Migration</strong>shintergrund<br />

und Ausländer*innen schlechter<br />

bezahlt werden als Deutsche ohne <strong>di</strong>esen Hintergrund.<br />

Kann man bei einer schwarzen Frau<br />

also behaupten, dass sie nur aufgrund ihres Geschlechts<br />

<strong>di</strong>skriminiert wird, oder spielen andere<br />

Diskriminierungsformen wie zum Beispiel Rassismus<br />

auch eine Rolle?<br />

Genau hierfür braucht es den intersektionalen<br />

Feminismus.<br />

Nicht-weiße <strong>Frauen</strong> <strong>ver</strong>einen im Schnitt mehr<br />

Diskriminierungsformen auf sich als ihre weißen<br />

Mitstreiterinnen. Die dadurch entstehende Benachteiligung<br />

zieht sich durch das ganze Leben.<br />

Eine schwarze Frau, <strong>di</strong>e schlechter bezahlt wird<br />

als ihre weiße Kollegin, wird folglich auch eine geringere<br />

Rente als ihre weiße Kollegin bekommen.<br />

Was also ist zu tun?<br />

Wenn ich den Anspruch habe, als Feminist*in<br />

alle <strong>Frauen</strong> anzusprechen, dann müssen meine<br />

Forderungen <strong>di</strong>e Probleme aller miteinschließen<br />

und ich muss bereit sein, <strong>di</strong>ese <strong>Frauen</strong> zu befähigen,<br />

für sich selbst zu sprechen und ihnen <strong>di</strong>e<br />

dafür nötige Bühne zu geben. Es geht nicht darum,<br />

anderen ihren Platz streitig zu machen, sondern<br />

darum, alle <strong>Frauen</strong> in Deutschland abzuholen,<br />

partizipieren und vor allem mitgestalten zu<br />

lassen, damit alle sich unseren gemeinsamen<br />

Anliegen und Forderungen für mehr Gerechtigkeit<br />

anschließen.<br />

Die erste Feministin, der ich länger und gerne (in<br />

einer Polit-Talkshow) zugehört habe, war Lady<br />

Bitch Ray – eine türkisch-stämmige Feministin<br />

und Rapperin. Sie hat ähnliche Erfahrungen wie<br />

ich im türkischen Patriarchat gemacht. Wenn sie<br />

<strong>di</strong>e Ketten des Patriarchats durchbrechen kann<br />

und zu sich stehen kann, dann kann ich das als<br />

schwuler türkischer Mann auch. Repräsentation<br />

ist also viel wichtiger, als man manchmal denkt.<br />

Oguz Sherif Akman, <strong>Migration</strong> Mittelfranken &<br />

Landesmigration <strong>Bayern</strong><br />

6


Erfolg für <strong>di</strong>e Kampagne<br />

#BanuMussBleiben<br />

33 Mahnwachen, von <strong>ver</strong>.<strong>di</strong> organisiert, mit fast 3.700 Teilnehmer*innen waren erfolgreich. Der<br />

Verbleib von Dr. Dilay Banu Büyükavci in der Bundesrepublik ist bis auf Weiteres gesichert: Die<br />

Ausländerbehörde der Stadt Nürnberg hat das Verfahren ruhend gestellt.<br />

Dr. Dilay Banu Büyükavci<br />

Es wird un<strong>ver</strong>gessen bleiben, wie das<br />

8.-März-Bündnis mit feministisch-kämpferischen<br />

Tönen den Kornmarkt beschallte, das Nürnberger<br />

Jugendbündnis <strong>di</strong>e beeindruckende Breite<br />

der politischen Jugendorganisationen demonstrierte.<br />

Ebenso un<strong>ver</strong>gessen der Trommelworkshop<br />

von Dieter Weberpals bei der Mahnwache<br />

der <strong>ver</strong>.<strong>di</strong>-Selbstän<strong>di</strong>gen sowie der lyrisch-politische<br />

Vorgeschmack auf das Banu-Buch „Meine<br />

Zelle war ein großer Garten“ vom Verleger und<br />

Autor Marian Wild.<br />

Hintergrund war, dass <strong>di</strong>e Ausweisung der<br />

<strong>ver</strong>.<strong>di</strong>-Kollegin Dr. Banu Büyükavci drohte. Ihr<br />

einziges Vergehen war, dass sie der „Türkischen<br />

Kommunistischen Partei“ angehört, <strong>di</strong>e<br />

vom türkischen Staat als Terrororganisation<br />

geführt wird. In Deutschland ist <strong>di</strong>e<br />

Partei jedoch weder <strong>ver</strong>boten noch als<br />

Terrororganisation eingestuft. „Ich finde,<br />

das ist Unrecht, was da passiert. Banu ist<br />

nicht für eine Straftat <strong>ver</strong>urteilt wurden,<br />

sondern nur für <strong>di</strong>e Mitgliedschaft in einer<br />

politischen Organisation, <strong>di</strong>e hierzulande<br />

nicht einmal <strong>ver</strong>boten ist“, so Linda<br />

Schneider, stell<strong>ver</strong>tretende Landesbezirksleiterin<br />

<strong>ver</strong>.<strong>di</strong> <strong>Bayern</strong>.<br />

Banu Büyükavci arbeitet<br />

seit rund zehn Jahren<br />

als Psychiaterin im Klinikum<br />

Nürnberg. Sie wird von ihren<br />

Kolleg*innen und Patient*innen<br />

sehr geschätzt. Seit gut<br />

acht Jahren ist sie bei der Gewerkschaft<br />

<strong>ver</strong>.<strong>di</strong> aktiv.<br />

Die Landesbezirksleiterin von<br />

<strong>ver</strong>.<strong>di</strong> <strong>Bayern</strong> Luise Klemens,<br />

<strong>di</strong>e sich per Brief an den Staatsminister<br />

Herrmann gewandt<br />

und sich für sie eingesetzt hat,<br />

schreibt über <strong>di</strong>e Kollegin: „Wir<br />

erleben Banu stets als besonnene<br />

Frau, <strong>di</strong>e bemüht war,<br />

auch bei widerstrebenden Interessen<br />

und Diskussionen Kompromisse zu finden.“<br />

Die ehemalige Bundesfamilienministerin und<br />

Ehrenbürgerin der Stadt Nürnberg, Renate<br />

Schmidt, bezeichnete <strong>di</strong>e drohende Ausweisung<br />

von Banu als „dreifach ungerecht“ und bezog<br />

sich hierbei auf das Straf<strong>ver</strong>fahren, <strong>di</strong>e Verurteilung<br />

und <strong>di</strong>e nun mögliche Ausweisung. Dies<br />

alles ist „eines Rechtsstaates unwür<strong>di</strong>g“.<br />

Alle Personen und Organisationen aufzulisten,<br />

<strong>di</strong>e zu <strong>di</strong>esem Erfolg geführt haben, würde <strong>di</strong>e<br />

<strong>Zeitschrift</strong> sprengen. Aber stell<strong>ver</strong>tretend seien<br />

hier Charlotte Johnson (Vorsitzende des <strong>ver</strong>.<strong>di</strong><br />

Landesmigrationsausschusses <strong>Bayern</strong>) und Uli<br />

Schneeweiß (<strong>ver</strong>.<strong>di</strong> Mittelfranken) genannt.<br />

Bettina Messinger<br />

Renate Schmidt (Mitte) bei der Demo „Banu<br />

muss bleiben” in Nürnberg<br />

7


„Wohlfühlrassismus“ – oder wann<br />

Weiße gerne über Rassismus reden<br />

Der Mord an George Floyd stellte für viele Menschen eine Zäsur dar, <strong>di</strong>e für viele Weiße noch<br />

nie so sichtbar in Erscheinung getreten ist. Die erschreckenden Bilder, <strong>di</strong>e um <strong>di</strong>e ganze Welt<br />

gingen, haben sehr viele Menschen zutiefst berührt – auch in Deutschland.<br />

den Nicht-Weiße im Bildungswesen und auf<br />

dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt erleben.<br />

Was weiße Menschen anfangen müssen zu tun,<br />

gerade wenn es um Rassismus geht, ist zuzuhören<br />

und im zweiten Schritt sich einzugestehen,<br />

dass niemand von Rassismus und Vorurteilen<br />

frei ist, auch nicht Migrant*innen.<br />

Weiße Menschen, <strong>di</strong>e noch nie etwas mit dem<br />

Thema Rassismus zu tun hatten, beschäftigten<br />

sich mit ihnen fremden Themen wie Polizeibrutalität,<br />

Racial Profiling und Rassismus. Viele<br />

Demos und Kundgebungen wurden organisiert,<br />

und viele weiße Menschen haben ihre Solidarität<br />

bekundet. Für einen Moment hatte man das<br />

Gefühl, dass das Thema Rassismus in Deutschland<br />

ganz offen von der Mehrheit der Gesellschaft<br />

<strong>di</strong>skutiert wird.<br />

Doch wie sieht es mit rassistischer Gewalt und<br />

Polizeibrutalität in Deutschland aus? Reagieren<br />

weiße Deutsche mit der gleichen Empörung,<br />

wenn es um Opfer von Polizeibrutalität und<br />

Rassismus in Deutschland gehr? Oder gibt es<br />

so eine Art „Wohlfühlrassismus“, bei dem man<br />

sich ganz ohne schlechtes Gewissen über <strong>di</strong>e<br />

Zustände in anderen Ländern empören kann –<br />

solange wir eben nicht über <strong>di</strong>e Zustände vor<br />

der eigenen Haustür reden.<br />

Bitte halte mir meinen eigenen<br />

Rassismus nicht vor!<br />

Oury Jalloh und Amad Ahmad. Der Unterschied<br />

zwischen <strong>di</strong>esen beiden und George Floyd ist,<br />

dass sie Opfer von Polizeigewalt in Deutschland<br />

geworden sind, und das öffentliche Interesse<br />

und <strong>di</strong>e Empörung über <strong>di</strong>e Umstände ihrer<br />

Ermordung <strong>ver</strong>schwindend gering sind. Sobald<br />

wir mit einem negativ behafteten Thema konfrontiert<br />

werden, machen wir <strong>di</strong>e Schotten <strong>di</strong>cht<br />

und wollen uns damit nicht auseinandersetzen.<br />

Wehe, es würde in einem Gespräch herauskommen,<br />

dass wir Teil des rassistischen Systems in<br />

Deutschland sind – es ist doch viel angenehmer,<br />

sich über <strong>di</strong>e Verhältnisse in anderen Ländern<br />

zu echauffieren!<br />

Der Großteil der weißen Bevölkerung lehnt<br />

jegliche Diskussion ab und bagatellisiert <strong>di</strong>e<br />

Wichtigkeit der Thematik, ganz egal, ob es sich<br />

hierbei um <strong>di</strong>e Umbenennung von Produkten/<br />

Straßennamen oder um den Rassismus dreht,<br />

Viele stellen sich Rassismus als eine Art Seuche<br />

vor. Diese Betrachtungsweise hilft aber nicht<br />

weiter, denn entweder man ist von der Seuche<br />

befallen oder nicht, Grauzonen gibt es bei <strong>di</strong>eser<br />

Betrachtungsweise nicht. Würde man sich<br />

Rassismus aller<strong>di</strong>ngs als einen Raum oder als<br />

den Boden vorstellen, auf dem wir alle stehen,<br />

dann wäre man eher in der Lage, eine offene<br />

Diskussion über Rassismus in Deutschland zu<br />

führen – ohne dass sich irgendjemand dabei angegriffen<br />

fühlt. Wir sind alle Teile des Systems<br />

Rassismus!<br />

Wichtig ist uns eine Gesellschaft, in der unsere<br />

rassistischen Erfahrungen nicht kleingeredet<br />

werden, in der man sich traut, Missstände bei<br />

der Polizei und anderswo ganz offen anzusprechen<br />

und sie auch anzugehen, in der uns nicht<br />

immer wieder (<strong>di</strong>rekt oder in<strong>di</strong>rekt) gesagt wird,<br />

dass wir keine Deutschen sind, da wir anders<br />

aussehen, dass wir uns integrieren sollten und<br />

andere pauschalisierte Argumente.<br />

Mal schauen, ob unsere Wunschliste irgendwann<br />

in der fernen Zukunft in Erfüllung gehen<br />

wird. Denn wichtig ist doch: Herkunft Mensch!<br />

Oguz Sherif Akman & Charlotte Johnson<br />

<strong>Migration</strong> Mittelfranken & Landesmigration<br />

<strong>Bayern</strong><br />

8


Integration ist keine Einbahnstraße<br />

Nicht ohne Uns!<br />

Bereits seit 2011 ist der Landesbezirk <strong>Bayern</strong> mit<br />

seinen drei bezirklichen <strong>Migration</strong>sausschüssen<br />

Mittelfranken, München und Augsburg aktiv.<br />

Besonders stolz sind wir darauf, dass <strong>di</strong>e ehrenamtliche<br />

Spitze <strong>di</strong>eser drei bezirklichen Ausschüsse<br />

weiblich ist. Ein vielfältiges Gremium<br />

von Kolleg*innen mit interkultureller Erfahrung<br />

und Kompetenz aus 17 <strong>ver</strong>schiedenen Ländern<br />

und unterschiedlichen Berufen - angefangen<br />

von der Pflegefachkraft, Rechtsanwältin, Verkäuferin<br />

bis hin zur Ärztin. Derzeit sind Personen<br />

aus 10 unserer 13 Fachbereiche sowie der<br />

Jugend und der Senior*innen in unseren Ausschüssen<br />

<strong>ver</strong>treten. Mit den vielseitigen Themen<br />

setzen wir uns sowohl für <strong>di</strong>e Verbesserung von<br />

Arbeits- und Lebensbe<strong>di</strong>ngungen als auch für<br />

<strong>di</strong>e Anliegen von Migrant*innen ein. Auch wenn<br />

<strong>di</strong>e Auswirkungen nicht sofort, wie auf anderen<br />

Feldern unserer Gewerkschaftsarbeit, sichtbar<br />

werden, sind <strong>di</strong>e Anliegen von Menschen mit<br />

<strong>Migration</strong>shintergrund ein für uns dauerhaftes,<br />

nicht wegzudenkendes Thema. Die wichtige<br />

Netzwerkarbeit mit anderen Organisationen,<br />

Vereinen, Institutionen sowie öffentlichen Stellen,<br />

der stän<strong>di</strong>ge Aus- und Aufbau weiterer Kontakte<br />

und <strong>di</strong>e Gewinnung neuer Mitglieder sind<br />

für uns unab<strong>di</strong>ngbar.<br />

Vielfalt in <strong>ver</strong>.<strong>di</strong> fördern und gemeinsam<br />

<strong>ver</strong>ankern<br />

Nicht über uns, sondern mit uns reden. Die<br />

Zahl der bei <strong>ver</strong>.<strong>di</strong> organisierten Migrant*innen<br />

hat seit 2011 um circa 8% zugenommen.<br />

Migrantische Lebenslagen (Diskriminierung,<br />

Benachteiligung am Arbeitsmarkt, Wahlrecht,<br />

Altersarmut …) müssen mehr Gehör finden,<br />

wenn <strong>di</strong>e Gewerkschaft <strong>ver</strong>.<strong>di</strong> <strong>di</strong>e Kolleg*innen<br />

zum einen binden und <strong>ver</strong>treten und zum anderen<br />

neue Kolleginnen mit <strong>Migration</strong>shintergrund<br />

gewinnen will.<br />

Was gilt es also zu tun?<br />

Die Stärkung der Repräsentanz von Kolleg*innen<br />

ist längst überfällig: Ehrenamtliche Funktionsträger*innen<br />

müssen in allen Gremien, sei<br />

es auf Bezirks-, Landes- und Bundesebene,<br />

<strong>ver</strong>treten sein. Ebenso muss <strong>di</strong>e Sichtbarkeit<br />

von hauptamtlichen Mitarbeiter*innen, auch in<br />

Führungsfunktionen, von Geschäftsführung bis<br />

hin in den Bundesvorstand<br />

nicht nur gefördert, sondern<br />

auch umgesetzt werden.<br />

Es müssen Mentoring-<br />

Projekte entwickelt werden,<br />

um Migrant*innen zu fördern<br />

und zu unterstützen.<br />

Die Stärkung der Vielfaltsund<br />

Sprachkompetenz bei<br />

hauptamtlichen Kolleg*innen<br />

ist ein weiterer wichtiger<br />

Schritt. Auch in der<br />

Beratung ist <strong>di</strong>e Mehrsprachigkeit<br />

unerlässlich.<br />

Notwen<strong>di</strong>g ist hier ein Gesamtkonzept<br />

für gewerkschaftliche<br />

Regelarbeit in<br />

der Einwanderungsgesellschaft, das in <strong>di</strong>e bestehenden<br />

Prozesse der Organisationsreform<br />

eingebunden ist. „Vielfalt ist unsere Stärke –<br />

Kein Wir Ohne Uns“! Dies sollten auf allen Ebenen,<br />

ob im Arbeitsalltag, im sozialen Miteinander<br />

innerhalb der Gesellschaft, bei Benachteiligung<br />

von <strong>Frauen</strong>, in Politik, Institutionen und anderswo<br />

nicht nur schöne Worte bleiben, sondern<br />

sollte in der Tat „umgesetzt und gelebt“ werden.<br />

„Integration ist keine Einbahnstraße, sondern<br />

alle sind gefordert“, stellt der <strong>Migration</strong>sausschuss<br />

fest. Die Kolleginnen und Kollegen des<br />

<strong>Migration</strong>sausschusses werden sich weiter bei<br />

allen Themenfeldern innerhalb der Organisation<br />

beteiligen, einmischen und aktiv mitgestalten.<br />

Denn Fakt ist: „Demokratie braucht Vielfalt“!<br />

Charlotte Johnson, Vorsitzende Landesmigration<br />

<strong>Bayern</strong> & Mittelfranken<br />

9


Deutschland als Auswanderungsland<br />

<strong>Migration</strong> ist seit jeher ein zentrales Element gesellschaftlichen Wandels. Zahllose Beispiele belegen,<br />

in welchem Maß räumliche Bewegungen, insbesondere seit dem frühen 19. Jahrhundert,<br />

<strong>di</strong>e Welt <strong>ver</strong>änderten. Im Folgenden <strong>ver</strong>suchen wir, <strong>di</strong>e Entwicklung in Deutschland darzustellen.<br />

Beginn der Industrialisierung<br />

Mit Beginn der Industrialisierung im frühen 19.<br />

Jahrhundert bis in <strong>di</strong>e 1890er Jahre kam es vor<br />

allem zu Massenauswanderungen aus Deutschland<br />

über den Atlantik, vor allem in <strong>di</strong>e USA.<br />

Weitere Ziele waren – mit erheblichem Abstand<br />

– Kanada, Brasilien, Argentinien und Australien.<br />

Gründe waren ein rasant ansteigendes Bevölkerungswachstum<br />

und ein weit weniger vorhandenes<br />

Erwerbsangebot in Deutschland. Die<br />

Chancen in Übersee, vor allem in den USA, erschienen<br />

attraktiv. In den Jahren von 1846 bis<br />

ca. 1890 kann man von einer Massenauswanderung<br />

sprechen, zu <strong>di</strong>esem Zeitpunkt waren es<br />

Blick in das Auswanderermuseum<br />

Hamburg BallinStadt<br />

knapp drei Millionen Menschen, <strong>di</strong>e <strong>ver</strong>suchten,<br />

sich eine Existenz außerhalb Deutschlands aufzubauen.<br />

1893 war das letzte Jahr der starken<br />

Auswanderung aus Deutschland in <strong>di</strong>e USA<br />

(Wirtschaftskrise in den USA) vor dem Ersten<br />

Weltkrieg.<br />

Zwischen den beiden Weltkriegen<br />

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gab es<br />

einen weiteren Höhepunkt transatlantischer<br />

<strong>Migration</strong>: Zwischen 1919 und 1932 wanderten<br />

insgesamt weit über eine halbe Million Deutsche<br />

in überseeische Länder aus, auch <strong>di</strong>esmal waren<br />

<strong>di</strong>e USA das Hauptziel. Den Höhepunkt bildete<br />

das Krisenjahr 1923: 115.000 Menschen <strong>ver</strong>ließen<br />

das Deutschland der Weimarer Republik.<br />

Schon in den ersten Wochen und Monaten seit<br />

der Machtübernahme der Nationalsozialisten flohen<br />

Tausende Juden aus Deutschland. Bis Mitte<br />

1938 sind von den 1933 in Deutschland lebenden<br />

500.000 Juden ca. 143.000 ausgewandert. Aber<br />

auch nicht-jü<strong>di</strong>sche Intellektuelle, Schriftsteller*innen<br />

und weitere künstlerisch Tätige, zum Teil sehr<br />

prominente Personen, <strong>ver</strong>ließen Deutschland, um<br />

der Verfolgung durch <strong>di</strong>e Nazis zu entkommen.<br />

Frankreich galt als „Durchgangsstation“, von<br />

1933 bis 1942 hielten sich dort ca. 285.000 Geflüchtete<br />

aus dem deutschsprachigen Raum auf,<br />

von denen jedoch <strong>di</strong>e meisten in andere Exilländer<br />

weiterreisten. Die in Deutschland bereits seit<br />

dem Jahr 1931 geltende „Reichsfluchtsteuer“<br />

(25% des Vermögens!) und restriktive Vorschriften<br />

für einen Vermögenstransfer machten es aller<strong>di</strong>ngs<br />

sehr schwer, Einreisegenehmigungen<br />

für mögliche Zielländer zu erhalten.<br />

1938 beriet <strong>di</strong>e Konferenz von Evian über Aufnahmemöglichkeiten<br />

für <strong>di</strong>e Flüchtlinge aus Nazi-Deutschland<br />

– ohne nennenswerten Erfolg,<br />

durchaus <strong>ver</strong>gleichbar mit den heutigen Versuchen<br />

der EU, Flüchtlinge nach Quoten auf <strong>di</strong>e<br />

einzelnen Länder zu <strong>ver</strong>teilen.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

Nach 1945 kehrten viele Überlebende der KZs in<br />

ihre Heimatländer zurück, vor allem Juden aus<br />

Ungarn, Rumänien, der Ukraine und Frankreich<br />

(zahlenmäßig <strong>di</strong>e wichtigsten). Viele wanderten<br />

in <strong>di</strong>e USA, nach Kanada oder Palästina aus. In<br />

den anderthalb Jahrzehnten zwischen 1946 und<br />

1961 gingen insgesamt knapp 780 .000 Deutsche<br />

auf Dauer oder für begrenzte Zeit nach<br />

Übersee. Das war <strong>di</strong>e stärkste Auswanderungsbewegung<br />

aus Deutschland im 20. Jahrhundert.<br />

Und heute?<br />

Im Jahr 2018 (neuere Zahlen liegen nicht vor) kehrten<br />

262.000 deutsche Staatsbürger*innen dem<br />

Land den Rücken – aller<strong>di</strong>ngs gab es 202.000, <strong>di</strong>e<br />

in <strong>di</strong>esem Jahr aus dem Ausland heimkehrten.<br />

Dagmar Fries<br />

Quellen: Jochen Oltmer, Bundeszentrale für politische<br />

Bildung (2017)<br />

Walter D. Kamphoefner: Sozialgeschichte der Auswanderung<br />

im 19. Jahrhundert (2006)<br />

Klaus J. Bade: Die deutsche überseeische Massenauswanderung<br />

im 19. und frühen 20. Jahrhundert.<br />

(2006)<br />

Susanne Heim, Annette Nogarède,<br />

www.lernen-aus-der-geschichte.de (2015)<br />

10


Deutschland als Einwanderungsland<br />

Wir müssen nicht bis zu den Bajuwaren, Vandalen<br />

und Hunnen oder den römischen Truppen<br />

zurückgehen, Einwanderung prägt <strong>di</strong>eses<br />

Land bis heute. Französische Einflüsse – sowohl<br />

durch <strong>di</strong>e Hugenotten, <strong>di</strong>e hier Zuflucht<br />

gesucht haben, als auch Napoleons Spuren –<br />

haben sich nicht nur im Rechtssystem oder Kölner<br />

Hausnummern wie 4711 erhalten, sondern<br />

waren in einigen Regionen kulturell und ökonomisch<br />

sehr wirksam.<br />

Mit Beginn der Industrialisierung <strong>ver</strong>schob sich<br />

der Schwerpunkt in Deutschland von der Auszur<br />

Einwanderung. Ab 1870 wurden insbesondere<br />

ins Ruhrgebiet Bergarbeiter aus Polen<br />

angeworben. Dazu kam ab Ende des 19. Jahrhunderts<br />

eine große Zahl von Wanderarbeitern<br />

aus Polen, Russland und Österreich/Ungarn,<br />

<strong>di</strong>e saisonal für <strong>di</strong>e Ernte angeworben wurden.<br />

Bereits der Erste Weltkrieg hat durch Flucht<br />

und Vertreibung zu großen Zwangswanderungen<br />

geführt. Das NS-Regime zwang Millionen<br />

Menschen in <strong>di</strong>e Arbeitsskla<strong>ver</strong>ei, 1944 arbeiteten<br />

in Deutschland 7,5 Millionen auslän<strong>di</strong>sche<br />

Zwangsarbeiter*innen.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg mussten Millionen<br />

Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten<br />

und Displaced Persons in Deutschland untergebracht<br />

werden – wohl eine der größten <strong>Migration</strong>sbewegungen<br />

der modernen Geschichte.<br />

Ab 1955 wurde eine große Zahl von sog. Gastarbeitern<br />

aus den Mittelmeerländern angeworben,<br />

erst aus Italien, dann aus Griechenland und<br />

Spanien, später auch aus der Türkei, Marokko,<br />

Portugal, Tunesien und zuletzt aus Jugoslawien.<br />

Von 1961 bis zum Anwerbestopp aufgrund der<br />

Ölkrise 1973 kamen zwar 14 Millionen Arbeitskräfte<br />

in <strong>di</strong>e BRD, 11 Millionen kehrten jedoch<br />

wieder in ihre Herkunftsländer zurück. Bis Mitte<br />

der 80er Jahre beschränkte sich <strong>di</strong>e Einwanderung<br />

im Wesentlichen auf den Familiennachzug.<br />

Graffito, gesehen in Bamberg<br />

© Alexander Hauk / alexander-hauk.de / pixelio.de<br />

Von 1950 bis zur massiven Einschränkung des<br />

Grundrechts auf Asyl erreichten ca. 3 Millionen<br />

Asylbewerber*innen <strong>di</strong>e BRD, der Höhepunkt<br />

war 1992 mit 440.000 Menschen. Das Asylrecht<br />

wurde mit menschen<strong>ver</strong>achtender Propaganda,<br />

<strong>di</strong>e nicht mehr von Menschen, sondern nur noch<br />

in Flutmetaphern sprach, sturmreif geschossen<br />

– <strong>di</strong>e rassistische Gewalt z.B. in Mölln, Rostock-<br />

Lichtenhagen und Solingen war <strong>di</strong>e Folge. Anders<br />

sah es bei den „Aussiedler*innen“ bzw.<br />

ab 1993 „Spätaussiedler*innen“ aus: Zwischen<br />

1950 und 2008 wurden ca. 4,5 Millionen freundlich-stillschweigend<br />

aufgenommen.<br />

Kriege <strong>ver</strong>ursachen weltweit Flucht und Vertreibung.<br />

2015 hat Deutschland eine große Zahl<br />

von Kriegsflüchtlingen aus Syrien aufgenommen.<br />

Doch inzwischen ist <strong>di</strong>e „Festung Europa“<br />

militärisch abgesichert, Flüchtlinge ertrinken im<br />

Mittelmeer, während Seenotretter*innen kriminalisiert<br />

werden. Und <strong>ver</strong>schiedene Abkommen<br />

sorgen dafür, dass über <strong>di</strong>e „Drittstaatenregelungen“<br />

den meisten Menschen der Weg in <strong>di</strong>e<br />

BRD <strong>ver</strong>sperrt ist.<br />

xxx<br />

Menschenhandel<br />

Corinna Poll<br />

Wie viele Personen als Opfer von Menschenhandel<br />

in <strong>di</strong>e BRD kommen, kann nur<br />

geschätzt werden.<br />

Im Bundeslagebild Menschenhandel und<br />

Ausbeutung 2020 des Bundeskriminalamts<br />

wird festgestellt, dass <strong>di</strong>e Gesamtzahl der<br />

Verfahren wegen Menschenhandels und<br />

Ausbeutung deutlich angestiegen ist und<br />

dass <strong>di</strong>e Verfahren wegen Arbeitsausbeutung<br />

und Ausbeutung von Minderjährigen<br />

stark zugenommen haben. Aller<strong>di</strong>ngs dürften<br />

<strong>di</strong>e Verfahren nach §§232f Strafgesetzbuch<br />

nur einen Bruchteil der realen Zahlen<br />

umfassen.<br />

C.P.<br />

11


Schlusspunkt!<br />

© Günter Wangerin<br />

Handgeschriebenes Plakat, gesehen in der Münchner U-Bahn-Station<br />

Stiglmaierplatz<br />

12

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