concert franco-allemand - Deutscher Internationaler Club in Genf
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Frühjahr 1945<br />
Er<strong>in</strong>nerungen an das Kriegsende <strong>in</strong> <strong>Genf</strong><br />
Von Thomas Guggenheim<br />
Die ersten Er<strong>in</strong>nerungen bezüglich des Zusammenbruchs Nazi-Deutschlands habe ich an die<br />
Befreiung der KZs. Im Januar 1945, kam ich von der Schule nach Hause. Beim Mittagessen<br />
sagte mir me<strong>in</strong>e Mutter: “In Polen haben die Russen e<strong>in</strong> Lager befreit <strong>in</strong> dem jüdische<br />
K<strong>in</strong>der misshandelt wurden.“ (Es handelte sich wahrsche<strong>in</strong>lich um Birkenau.) Ich fragte Sie dann,<br />
was geschehen würde. Sie antwortete, dass die Leiter des Lagers gehängt würden und die K<strong>in</strong>der<br />
mediz<strong>in</strong>isch behandelt werden müssten, da sie alle nicht mehr normal seien. Die Berichte über das<br />
Grauen wuchsen täglich. Besonders die Zeitungsberichte über die Verbrechen <strong>in</strong> Buchenwald s<strong>in</strong>d<br />
mir heute noch <strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerung. Im April 1945 sass ich nach dem Mittagessen <strong>in</strong> unserem Esszimmer<br />
und belauschte e<strong>in</strong> Gespräch zwischen me<strong>in</strong>en Eltern. Me<strong>in</strong>e Mutter sagte zu me<strong>in</strong>em Vater: „In<br />
Buchenwald haben Sie Menschen lebendig verbrannt.“ Wir ahnten was geschehen wäre, hätte<br />
Hitler die Schweiz erobert. Viele Jahre später, 1962 zur Zeit des Eichmann-Prozesses, sagte me<strong>in</strong><br />
Vater zu mir: „Glück muss man haben.“ Wir hatten viel Glück.<br />
Mit grosser Spannung verfolgten wir im Frühjahr 1945 die russische Offensive <strong>in</strong> Schlesien. Jedes<br />
mal, wenn ich aus der Schule nach Hause kam, fragte ich me<strong>in</strong>e Mutter: “S<strong>in</strong>d die Russen schon<br />
<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>?“ In den <strong>Genf</strong>er jüdischen Familien war man besonders stolz auf e<strong>in</strong>en Sowjetischen<br />
Kommandanten jüdischer Abstammung, Marschall Tscherniakowski. Er fi el bei den Kämpfen <strong>in</strong><br />
Ostpreussen. Wir alle waren sehr traurig.<br />
Endlich kam das Ende des Alptraums näher. An e<strong>in</strong>em Dienstagnachmittag, 1. Mai 1945, war ich<br />
mit me<strong>in</strong>er Mutter im Badezimmer und sie schnitt mir die F<strong>in</strong>gernägel. Das Telefon kl<strong>in</strong>gelte. Es war<br />
e<strong>in</strong> Freund der Familie. Me<strong>in</strong>e Mutter kam nach dem Telefongespräch strahlend <strong>in</strong>s Badezimmer<br />
zurück und sie sagte: “Hitler ist tot.“ Am darauf folgenden Tag feierte me<strong>in</strong> Grossvater se<strong>in</strong>en<br />
70. Geburtstag. Der besagte Freund der Familie überbrachte die Nachricht über die H<strong>in</strong>richtung<br />
Mussol<strong>in</strong>is.<br />
E<strong>in</strong>e Woche später, am 7. Mai 1945 um 4 Uhr nachmittags, holte mich me<strong>in</strong>e Mutter <strong>in</strong> der Schule ab.<br />
Sie musste mich zu e<strong>in</strong>em Zahnarztbesuch begleiten. Sie sagte der Lehrer<strong>in</strong>: “La guerre est fi nit.“<br />
Als die Klasse der „Grossen“ die Nachricht erfuhr, brach wilder Jubel aus. Die Lehrer<strong>in</strong> ärgerte sich<br />
hierüber: “Man müsste sich würdig verhalten, es gibt ke<strong>in</strong>en Anlass zum Jubel.“<br />
Auf dem Weg zum Zahnarzt, die Praxis lag <strong>in</strong> der Rue du Stand, waren die Strassen voller Menschen.<br />
In den Geschäften verkaufte man die Fahnen der Siegermächte. In den Strassen wurde der alte<br />
Freudentanz der <strong>Genf</strong>er Bürger, der Picoulet getanzt. Am Abend wurde <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Elternhaus<br />
gefeiert. Me<strong>in</strong>e Eltern luden me<strong>in</strong>e Grosseltern e<strong>in</strong> und auch Gerhard Riegner1, der bereits 1942<br />
Amerikaner und Engländer über das Schicksal der Juden <strong>in</strong> Europa <strong>in</strong>formierte. Wir K<strong>in</strong>der durften<br />
an diesem Abend Champagner tr<strong>in</strong>ken. Der König von England hielt e<strong>in</strong>e Radioansprache. Die<br />
Stimmung war zwiespältig. E<strong>in</strong>erseits waren wir froh, dass es mit dem verbrecherischem Regime zu