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prima! Magazin - Ausgabe Dezember 2020

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Foto © LEXI „Das einsamste Volk in Europa!“ Walter Reiss über das neueste Buch von Paul Lendvai: „Die Ungarn“. Europakenner, Journalist, Leiter der Sendung Europastudio und Buchautor Paul Lendvai „Orban ist ein Wendehals erster Klasse“, meinte der Doyen des europäischen Journalismus, Paul Lendvai, im prima!-Interview vor einem Jahr. An dieser Einschätzung hat sich nichts geändert, wie man in seinem neuesten Buch „Die Ungarn“ nachlesen kann. Schon vor 30 Jahren erzählte er – spannend, detailreich und gut lesbar – die von Stolz und vielen Niederlagen geprägte Geschichte der Magyaren. Leicht gekürzt, überarbeitet und vor allem aktualisiert ist das Buch „Die Ungarn“ (Verlag Ecowin, € 28,--) nun neu aufgelegt worden. FROHE WEIHNACHTEN UND ALLES GUTE FÜR DAS JAHR 2017 2021 wünschen wünscht Bürgermeister Bürgermeister Bernd Strobl, Bernd Vizebgm. Strobl Richard sowie Kranz alle Vertreter sowie alle der Vertreter Gemeinde der Ollersdorf! Gemeinde OLLERSDORF Der 1929 in Budapest geborene Paul Lendvai ist profunder Ungarn-Kenner, scharfer Orbán-Kritiker und bietet Leserinnen und Lesern in 35 Kapiteln Gelegenheit, zu Ungarn-Verstehern zu werden. Der politisch oft so störrisch empfundene Nachbar Ungarn blickt – anders als das junge, fast hundertjährige Burgenland – auf eine tausendjährige Geschichte zurück: „Die Verwüstungen des vom Westen wiederholt im Stich gelassenen Landes während des Mongolensturmes 1241, die Katastrophe von Mohács 1526 mit der daraus folgenden, anderthalb Jahrhunderte andauernden Türkenbesetzung, die Niederwerfung des Freiheitskampfes 1848/49 durch die vereinten Streitkräfte der Habsburger und des russischen Zaren, die Zerstörung des historischen Ungarns durch das Diktat von Trianon 1920, die vier Jahrzehnte der Sowjetherrschaft und des Kommunismus nach dem Zweiten Weltkrieg samt der blutigen Niederschlagung des Oktoberaufstandes von 1956 waren Katastrophen, die das Bewusstsein der Verlassenheit immer wieder verschärften.“ Mit diesem „Gefühl des Ausgeliefertseins“ ist – so Lendvai – Ungarn im 21. Jahrhundert zum politischen Hybrid geworden: Keine Diktatur, aber auch keine Demokratie: „weg von der liberalen Demokratie in eine autoritäre Zukunft.“ Die Prognose des seit 60 Jahren in Wien lebenden Autors: „Angesichts der Passivität der Europäischen Union und der Gleichgültigkeit der internationalen Öffentlichkeit sind die Aussichten auf einen progressiven und liberalen Wechsel in Ungarn düster.“ Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte Paul Lendvai | ecowin Verlag 8 DEZEMBER 2020 www.prima-magazin.at

ATTENTAT WIEN IM FOKUS Es ist etwa 20.30 Uhr, als Felix K. zu seinem Handy greift und seine Eltern in Oberwart anruft. „Mama, ich bin okay, macht euch keine Sorgen“, sagt er mehrmals hektisch, als diese abhebt. „Warum solltest du nicht okay sein?“, ist die verwunderte Antwort. Es ist Montag, der 2. November und was Felix‘ Eltern zu diesem Zeitpunkt in Oberwart noch nicht wissen: Ihr Sohn ist mitten im Geschehen des Terrorattentats in Wien. Nicole Mühl Foto © Jeff Mangione / KURIER / picturedesk.com Am 2. November wurden vier Zivilpersonen bei einem Terroranschlag in der Wiener Innenstadt getötet. Ebenso der Täter, ein IS-Sympathisant „Da war so viel Menschlichkeit“ Wie bekannt, war es der letzte Abend vor der Ausgangsbeschränkung. Es ist kurz vor 20 Uhr am 2. November. Felix K. (Name wurde geändert) steht mit zwei Freunden vor einem Lokal in der Judengasse und raucht. Eigentlich würden sie gerne draußen sitzen. Aber da ist alles besetzt. Also gehen sie ins Lokal, um die nächste Runde zu bestellen. „Und dann ist es passiert“, sagt Felix. Mehrere Knallgeräusche sind zu hören, als ob jemand mit einem Stuhl herumwirft. „Eine Barschlägerei“, war der erste Gedanke, der Felix durch den Kopf geht. Dann rennen die ersten Leute fluchtartig ins Lokal Richtung Toilette. Ein junger Mann bleibt stehen und meint, dass sein Arm gebrochen ist. Tatsächlich ist er zerschossen. Immer mehr Leute stürzen panisch herein. Von draußen sind Schüsse zu hören. Felix und seinen Freunden ist schlagartig klar, dass hier gerade etwas Extremes passiert. Ein Kellner reagiert sofort und bringt die Leute in den Keller eines Hinterhofes. 30 Menschen sind es. „Dort war dann das Ausmaß erkennbar“, sagt Felix. Er ist Milizsoldat. Durch seine Ausbildung weiß er, wie man Schussverletzungen versorgt. Aber psychisch mit so einer Situation umzugehen, „ich wüsste nicht, wie man sich darauf vorbereitet“, sagt er. Fürsorge mitten im Terror In dieser extremen Situation leisten die Menschen sofort gegenseitig Erste Hilfe, organisieren sich. Die Verwundeten werden im Keller auf eine Seite gebracht und versorgt. Felix ist unter den Helfern. Seine Ausbildung lässt ihn jetzt routiniert und konzentriert handeln. Wunden werden sofort abgebunden, um die Blutungen zu stillen. Mit T-Shirts, Pullovern, Gürteln. Aus den Wohnungen oberhalb werden Tischdecken in den Hof geworfen. Als Unterlage für die Verletzten. Druckverbände werden angelegt. „Die leichteste Wunde war eine Schussverletzung mit drei Einschüssen. Bei einem Mann war der Arm so zerschossen, dass man den Knochen gesehen hat“, berichtet Felix gefasst. Dennoch, die Leute bleiben ruhig. Keiner weint oder jammert. Einige verlassen den Keller, um zu schauen, ob noch andere Hilfe suchen und um Schmiere zu stehen, ob vielleicht sogar der Täter selbst kommt. „Die Menschen waren enorm solidarisch“, sagt Felix. Im Schock bleibt für Todesangst keine Zeit. Rückblickend sagt Felix heute, dass die Polizei unheimlich schnell vor Ort war. Cobra-Beamte, die den Hof bereits gesichert haben, als der Täter noch am Schwedenplatz war. Von außen kommen Nachrichten über die Lage. Schließlich auch jene, dass der Täter, ein Sympathisant der Terrororganisation „Islamischer Staat“, vor der Ruprechtskirche erschossen wurde. Nach und nach werden die Verletzten aus dem Keller in den Hof transportiert. Sanitäter kommen. Endlich. Bis dahin ist die Sorge um die Verwundeten im Fokus. Felix selbst und alle anderen müssen bis um halb drei Uhr nachts vor Ort bleiben. „Weil bis dahin die Situation nicht ganz klar war, ob nicht noch ein weiterer Täter unterwegs ist.“ Über sieben Stunden. Dann werden sie von der Polizei vom Ort wegbegleitet. Vorbei an dem Täter, der tot vor der Ruprechtskirche liegt. Vorbei an der Kellnerin, die eines der Todesopfer ist. Wochen später Videos von der Nacht kann sich Felix heute nicht ansehen. Er und seine Freunde nehmen professionelle Hilfe zur Verarbeitung des Traumas in Anspruch. Reden hilft. Hasserfüllt ist Felix nicht. „Es ist eine rationale Wut. Es muss jemanden im Hintergrund geben, der diesen jungen 20-jährigen Menschen zu dieser schrecklichen Tat angestiftet hat. Das macht mich wütend“, sagt er. Der Attentäter sei in gewisser Weise auch ein Opfer. „Aber es gibt auch ein positives Gefühl“, sagt Felix. Der Zusammenhalt in jener Nacht im Keller zwischen Menschen, die sich fremd sind. Für die es aber selbstverständlich war, aufeinander aufzupassen. „Da hab ich den Glauben an die Menschheit wiedergewonnen.“ Den Begriff Held mag er nicht. Bei sich selbst schon gar nicht. Hilfe sollte selbstverständlich sein. Wichtig sei nur, dass es allen, die mit ihm an diesem Ort waren, gut geht. Eine Botschaft hat er: Keine Hassbotschaften gegenüber Andersgläubigen zulassen und niemals generalisieren. Davor warnt er. Das gibt den Hintermännern des Täters die Chance, uns zu spalten und noch mehr Hass aufzubauen. „Ich lasse das nicht zu. Meinen Glauben an die Menschheit hat der Attentäter nicht zerbrechen können. Daran ist er gescheitert.“ DEZEMBER 2020 9

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