13.11.2013 Aufrufe

ПОДКАМЕННАЯ ТУНГУСКА PODKAMENNAYA TUNGUSKA

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>ПОДКАМЕННАЯ</strong> <strong>ТУНГУСКА</strong><br />

<strong>PODKAMENNAYA</strong> <strong>TUNGUSKA</strong><br />

Teil 1


545 KM PER KANU AUF DER STEINIGEN <strong>TUNGUSKA</strong><br />

ZENTRALSIBIRIEN, JULI – AUGUST 2013<br />

keimen von Zeit zu Zeit interessante neue Theorien<br />

auf, um das Phänomen zu erklären: vom Absturz<br />

(und anschließenden Abschleppen) eines<br />

Raumschiffes bis hin zu Selbstentzündung und<br />

Explosion einer Mückenwolke ist alles dabei.<br />

Samstag, 27.07.2013<br />

Berlin<br />

Es gibt eine alte Geschichte von Piets Vater, der<br />

im Winterurlaub eines schönen Morgens in der<br />

Gondel an sich herunter sah und bemerkte, dass er<br />

statt Skistiefeln noch seine Hausschuhe anhatte.<br />

Ganz in dieser Tradition bemerkte sein Sohn im<br />

Taxi auf dem Weg zum Flughafen Schönefeld,<br />

dass er statt der Wanderstiefel noch seine ausgelatschten<br />

Alltagssneaker anhatte – nicht wirklich<br />

ideal, wenn man auf dem Weg in die zentralsibirische<br />

Taiga ist...<br />

Ansonsten haben wir (d.h. der Herr Fab und Piet,<br />

yours truly) alles dabei: das neugekaufte Zelt<br />

(Wechsel Halos Geodät, schicket Ding), Schlafsäcke,<br />

Isomatten, Kocher, ein paar Klamotten, und<br />

natürlich unseren bewährten Ally Faltkanadier –<br />

„Mongol-däh“ getauft in Reminiszenz an unsere<br />

Tour auf Ider Gol und Selenge. Insgesamt ein<br />

nicht unerheblicher Haufen Geraffel, mit dem wir<br />

noch unsere Freude haben werden. Endlich geht<br />

es los - nach einem guten Jahr Planung, Auswertung<br />

sämtlicher auffindbarer Berichte im Internet,<br />

dem Zusammensuchen und Ergänzen von Landkarten<br />

um ungefähre Entfernungen, Stromschnellen<br />

und Standorte von Jagdhütten, und nicht zuletzt<br />

der Optimierung unseres Bootes mit einer<br />

Spritzdecke.<br />

Unser Ziel ist die Podkamennaya Tunguska, rechter<br />

Zufluss des Yenissey, insgesamt etwa 1800 km<br />

lang und, von der durchschnittlichen Wassermenge<br />

her, etwa anderthalb mal so groß wie die Elbe.<br />

In der Nähe fand im Jahre 1908 das „Tunguska-<br />

Ereignis“ statt, der Einschlag eines Meteoriten,<br />

dessen gewaltige Explosion riesige Waldgebiete<br />

wie Streichhölzer umlegte und noch hunderte Kilometer<br />

entfernt zu hören war. Bis heute gibt es<br />

immer wieder Versuche, Teile des Meteoriten zu<br />

finden. Da dies aber bisher keinem gelungen ist,<br />

Das untere Drittel des Flusses gilt als eine der<br />

schönsten Flusslandschaften Russlands: die Tunguska<br />

fließt durch menschenleere Taiga und über<br />

rund 200 km durch eine Schlucht, in der in endloser<br />

Reihe steinerne Säulen aus dem Wald aufragen<br />

wie die Zinnen einer Burg. Bequemerweise<br />

ist der Ausgangspunkt unserer Reise vergleichsweise<br />

einfach zu erreichen: An Flusskilometer<br />

545 liegt Baikit, ein Ort von ca. 3000 Einwohnern,<br />

der dreimal die Woche von „Nordstar“ angeflogen<br />

wird – der ehemaligen Never-come-back-<br />

Airline „Taymir“, die mit dem alten Namen offenbar<br />

auch viele schlechte Eigenschaften abgelegt<br />

hat und einen durchaus annehmbaren Eindruck<br />

hinterließ – zumindest, sobald wir einmal in der<br />

Luft waren.<br />

Zunächst einmal soll uns aber Aeroflot nach Krasnoyarsk<br />

bringen. Dass wir dabei nicht unerhebliche<br />

Mittel für unser Übergepäck auf den Tresen<br />

werden legen müssen war uns von vorneherein


ewußt – wir zahlen mit breitem Lächeln und besteigen<br />

das Flugzeug nach Moskau ungeschmälerter<br />

Laune. Flug, Einreise, Umsteigen und Weiterflug<br />

verlaufen unspektakulär, und nur das wir bei<br />

der Ankunft in Krasnoyarsk tatsächlich unser<br />

komplettes Gepäck vollständig und unbeschädigt<br />

auf dem Förderband wiederfinden, ruft eine gewisse<br />

(angenehme) Überraschung hervor.<br />

Sonntag, 28.07.2013<br />

День Военно-Морского Флота (Tag der Flotte)<br />

Krasnoyarsk<br />

denn so ist, ob wir da alles zu kaufen kriegen, und<br />

bitte um Informationen über die zwei relevanten<br />

Tierarten an der Tunguska: Fische und, vor allem,<br />

Bären.<br />

- „Naja,“ sacht er, „in diesem Jahr gibt es verdammt<br />

viele davon. Die Taiga brennt, und das<br />

treibt die ganzen Viecher an den Fluss. Und komisch<br />

drauf sind sie deswegen natürlich auch.<br />

`Ne Kanone habt Ihr dabei?“<br />

Wir verneinen mit leicht mulmigem Gefühl.<br />

Das Hotel Krasnoyarsk liegt am zentralen Platz<br />

mit Blick auf eine riesige Brücke über den Yenissey,<br />

der hier vier- oder fünfhundert Meter breit<br />

durch die Stadt fließt. Wir verabreden mit Aleksej,<br />

dass er uns am nächsten Morgen zum Flughafen<br />

zurückbringt, schleppen unser Gedöns ins<br />

Zimmer, und hauen uns noch ein paar Stunden<br />

aufs Ohr. Fab loggt sich ins Internet ein<br />

(Android), bei P. bleibt es beim Versuch (Scheiß<br />

Iphone).<br />

Es ist gegen sechs Uhr morgens, als wir gebeugt<br />

unter der Last von 80 kg Ausrüstung unserem<br />

Fahrer zum Taxi folgen, um vom Flughafen Krasnoyarsk<br />

in die Stadt zu gelangen. Alexej heißt er<br />

(wie wir später erfahren), und beim Anblick unserer<br />

Paddel stellt er zwangsläufig die Frage (eine<br />

der russischsten aller Fragen):<br />

- „На рыбалку?“ [Angeln?]<br />

- „Klar,“ sagen wir, „auf die Podkammenka...“<br />

- „Das ist meine Heimat! Ich bin in Baikit geboren<br />

und erst vor 2 Jahren nach Krasnoyarsk gezogen!“<br />

Dit is ja schomma keen schlechta Anfang, denken<br />

wir uns. Ich beginne ihn auszufragen, wie Baikit


Nach dem Frühstück stehen letzte Besorgungen<br />

an: ein halbstündiger Marsch bringt uns über die<br />

Brücke auf die finstere Seite der Stadt, nur um<br />

dort vor einem verschlossenen Winz-outdoorladen<br />

zu stehen, der mit fulminanter Internetpräsenz<br />

gelockt hatte. Danach eine Taxifahrt zur<br />

nächstgelegenen Mall, wo immerhin alles zu haben<br />

ist, was noch benötigt wird. Piet ersteht ein<br />

paar wildnistaugliche Schuhe und eine Regenjacke,<br />

und beide gönnen wir uns ein mückendichtes<br />

Kapuzenhemd aus Netzstoff, das uns noch viel<br />

Anlass zu Dankbarkeit und Freude geben wird.<br />

Im Supermarkt erwerben wir eine Gewürzgrundaustattung<br />

und, in der Abteilung „Elitäre Spirituosen“,<br />

je eine Flasche Single Malt, Armenischen<br />

Congnac und Ecuadorianischen Rum – auch hier<br />

viel Anlass zu Dankbarkeit und Freude.<br />

Wir besichtigen irgendeine olle Kirche (so in etwa<br />

die einzige Sehenswürdigkeit in Krasnoyarsk) und<br />

lassen den Nachmittag dann vorüberziehen, indem<br />

wir aus sicherer Entfernung bei einem kühlen Bier<br />

den Reservisten der Marine bei dem besoffenen<br />

Treiben zusehen, welches sie aus Anlass des Tages<br />

der Flotte veranstalten. Alles in allem verläuft<br />

das aber recht ruhig und gesittet – kein Vergleich<br />

zu Chaos und Schrecken, wie es die Fallschirmjäger<br />

alljährlich an ihrem Feiertag russlandweit<br />

heraufbeschwören.<br />

Montag, 29.07.2013<br />

Krasnoyarsk – Baikit<br />

Wir müssen früh raus, um rechtzeitig am Flughafen<br />

zu sein – mit unserem Riesenberg Gepäck<br />

wollen wir beim Check-in nicht in Zeitnot geraten.<br />

Prompt geraten wir auf dem Weg aus der<br />

Stadt auch in einen ernsthaften Stau. Immerhin<br />

hat Alexej so Zeit, uns von der Taiga und dem<br />

Angeln auf der Tunguska vorzuschwärmen.<br />

Baikit selber mag er nicht mehr, weil das Klima<br />

dort zu materialistisch und hemdsärmelig geworden<br />

sei. Stattdessen fährt er so oft es geht nach<br />

Burnyj, einem kleinen Nest von Altgläubigen,<br />

welches am Velmo liegt, einem Zufluss der Podkamennaya<br />

Tunguska etwa auf der Mitte unserer<br />

Strecke. Er schreibt uns auch gleich einen Kontakt<br />

auf: der Mann scheint dort der große Zampano<br />

zu sein, am ganzen Fluss bekannt, und falls wir<br />

in irgendwelche Probleme gerieten, sollten wir<br />

versuchen, mit ihm Kontakt aufzunehmen<br />

(allerdings hat er kein Telefon...) oder uns zumindest<br />

auf ihn berufen. Schließlich schlägt er vor,<br />

einen Freund in Baikit anzurufen, der uns vielleicht<br />

das Hotel reservieren und sonst noch etwas<br />

helfen könnte – wir sagen nicht nein...<br />

Im Flughafen angekommen ergattern wir einen<br />

günstigen Ausgangspunkt als sechste oder siebte<br />

in der Check-in-Schlange und beglückwünschen<br />

uns schon über das gute Timing, als der junge<br />

Schalterdrache per Lautsprecher verkündet, alle<br />

mit Übergepäck könnten sich bitte gleich nach<br />

ganz hinten begeben und warten, bis der Check-in<br />

vorbei ist. Da sie aber als nächstes dazu übergeht,<br />

eine Familie abzufertigen, die plötzlich mit jeder<br />

Menge Koffern und Kisten von irgendwoher auftaucht,<br />

bleiben auch wir an unserem Platz und<br />

drängeln nach Landessitte weiter mit nach vorne.<br />

Erfolglos – die Familie waren offensichtlich<br />

Freunde von ihr, und da könnte ja jeder kommen...<br />

Am Ende stehen wir mit einigen anderen armen


Sündern um den Tresen herum und verfolgen angespannt,<br />

wie das Gepäck der verbliebenen<br />

„leichten“ Passagiere gewogen wird (Koffer 10<br />

kg, Handgepäck 6 kg, ein Hund inklusive Käfig 8<br />

kg...). Am Ende macht sich der Kopilot daran,<br />

mit Stift und Zettel zusammenzurechnen, was<br />

noch alles mit soll – nicht ohne dass der Drachen<br />

nochmals auf uns zeigt und vorwurfsvoll ausruft:<br />

„Die haben über 80 kg!!“ Was sollen wir bloß<br />

machen, wenn nur das halbe Boot mitkommt!?<br />

Am Ende murmelt der Kopilot aber ein erlösendes<br />

„Kannallesmit,“ und nachdem wir wieder ordentlich<br />

Geld fürs Übergepäck rausgehauen haben,<br />

fliegen wir unspektakulär in einer neuen Propellermaschine<br />

über den endlosen grünen Teppich<br />

der Taiga nach Baikit.<br />

Baikit ist keine Stadt der Ruhe, sondern... Nein<br />

doch, wenn man ehrlich ist, scheint in Baikit nicht<br />

nur im Winter der Hund ernstlich verfroren zu<br />

sein. Der Ort hat etwa 3000 Einwohner; Kindergarten<br />

und Schule, ein Krankenhaus, ein Sägewerk,<br />

eine Neftebasa, wo in riesigen Tanks Öl und<br />

Benzin eingelagert werden, wenn während des<br />

Frühjahrshochwassers der Versorgungskonvoi den<br />

Fluss hinaufkommt. Kleine Geschäfte gibt es<br />

mehr als erwartet, und tatsächlich stehen in einer<br />

Baracke sogar zwei Bankautomaten. Vor der Polizeistation<br />

warnt ein Anschlag vor ein paar Mördern,<br />

die aus einem Straflager abgehauen sind und<br />

irgendwo in der Taiga vermutet werden.<br />

Aber beginnen wir am Anfang: nach der Landung<br />

versammeln sich die Passagiere um das Flugzeug<br />

und beginnen gemeinsam, dass Gepäck auszuladen.<br />

Man kennt sich ja größtenteils, und so ist<br />

alles schnell nach hinten durchgereicht und verteilt.<br />

Währenddessen kommen die Verwandten<br />

der Passagiere durch das offene Tor auf das Flugfeld<br />

gelaufen, um beim Schleppen zu helfen. Als<br />

wir unsere große orangene Tasche mit den quergesteckten<br />

Paddeln Schritt für Schritt vorwärts<br />

wuchten, winkt uns schon von weitem grinsend<br />

ein junger Kerl zu: „Hej, Touristy!“ Aleksej hat<br />

Wort gehalten, und sein Freund Igor ist zum Flughafen<br />

gekommen, um uns abzuholen.


Wir verladen unseren Kram in seinem UAZik-<br />

Geländewagen und machen uns auf den Weg zum<br />

Hotel, welches er schon für uns klargemacht hat.<br />

Die Fahrt geht über staubtrockene Schotterpisten,<br />

zwischen Kiefernwäldchen und Holzbaracken<br />

hindurch, und schließlich ein kleines Stück an der<br />

Tunguska entlang. Igor lacht sich kaputt, während<br />

wir uns die Nasen an der Scheibe plattdrücken...<br />

Das Hotel ist eine langgezogene, gedrungene Baracke,<br />

die durchaus Gulag-Assoziationen hervorruft.<br />

Drinnen ist es zwar einfach, aber nicht unerfreulich;<br />

auffällig sind lediglich die Heizungsrohre,<br />

die nicht nur „über Putz“, sondern auch „über<br />

Estrich“ verlaufen – der Heizungsstrang liegt offen<br />

auf dem Fußboden im zentralen Flur. Will<br />

man in sein Zimmer, muss man folglich über ein<br />

paar Rohre steigen... Ansonsten ist alles wie im<br />

Ritz Carlton in Moskau, wir geben kurz unsere<br />

Pässe ab, um registriert zu werden, bezahlen und<br />

bekommen unseren Zimmerschlüssel. Igor verspricht,<br />

uns am nächsten Morgen um Zehn abzuholen,<br />

um uns bei unseren Einkäufen zu helfen<br />

und uns an den Fluss zu bringen.<br />

Das Diner nehmen wir im Schein der Abendsonne<br />

am Fluss. Hier ist er zwar keine Schönheit –<br />

überall liegt Müll rum und ragen zerfledderte Enden<br />

von Stahlseilen aus der Erde – aber wir erkennen<br />

sein Potential. Eine freundliche Hündin gesellt<br />

sich zu uns, und wir teilen Brot und Käse.<br />

Nach etwa einer Stunde – wir beginnen uns zu<br />

ärgern, dass wir nicht mehr Bier mitgenommen<br />

haben – klingelt das Telefon. Igor ist dran: seine<br />

Freundin feiert einundzwanzigsten Geburtstag,<br />

und er hat der Geburtstagsgesellschaft von uns<br />

erzählt. Niemand hat ihm geglaubt, dass da echte<br />

Deutsche irgendwo in der Gegend rumsitzen, und<br />

so lädt er uns ein – eine Win-win-<br />

Situation: wir können mitfeiern,<br />

und seine Vertrauenswürdigkeit<br />

wird wiederhergestellt.<br />

Am „Stadtrand“ – also da, wo<br />

Baikit an die Taiga grenzt, steht<br />

das Holzhaus von Igor und seiner<br />

Familie. Im Garten brennt ein<br />

Grill, Musik kommt von seinem<br />

Laptop, und um den reichgedeckten<br />

Tisch sitzen jede Menge junge<br />

Sibirierinnen, die hübscheste von<br />

ihnen Mascha, das Geburtstagskind,<br />

ihres Zeichens Hauptmann<br />

der Miliz. Es gibt Schaschlik, geräucherten und<br />

getrockneten Fisch aus der Tunguska, und noch so<br />

alles Mögliche. Igors Mutter ist auch dabei, und<br />

sie erzählt von seinem älteren Bruder, der eines<br />

Tages nicht mehr aus der Taiga (also, in diesem<br />

Falle, dem Wald direkt hinter dem Haus) zurückkehrte.<br />

Der Abend wird noch sehr rund – unter anderem<br />

nimmt Igor den einen oder anderen Schoppen zuviel<br />

und wird von seiner Braut unter Androhung<br />

von Schlägen ins Bett gebracht.:)


Dienstag, 30.07.2013<br />

Baikit / Tag 1 auf der Tunguska<br />

Die Taiga.<br />

Wir haben natürlich gewußt, dass die Taiga nicht<br />

einfach irgendein Wald ist, aber der Respekt, den<br />

die Menschen vor Ort ihr entgegenbringen, hat<br />

uns schon beeindruckt. Baikit hat einen Flughafen,<br />

eine Buslinie, Taxis – aber alles endet<br />

entweder am Fluss oder am Waldrand. Heraus<br />

geht es eigentlich nur durch die Luft. Die<br />

Grenze zwischen dem Ort und der Taiga ist<br />

fast absolut; niemand übertritt sie nur zum<br />

Spaß. So ist die Taiga z.B. voller Pilze – allerdings<br />

ist es für einen Großteil der Leute vor<br />

Ort viel zu gruselig, als dass sie sich auf Pilzsuche<br />

machen würden. Wir nehmen uns das<br />

zu Herzen, und halten uns fast immer dicht ans<br />

Ufer der Tunguska. Abgesehen von der Gefahr<br />

durch Bären, die offensichtlich nicht von der<br />

Hand zu weisen ist, droht in der Taiga vor allem<br />

der totale Orientierungsverlust, den man schon ein<br />

paar Schritte vom Flussufer entfernt erleiden<br />

kann. Es ist eng, feucht, modrig, dunkel und voller<br />

Viecher die summen, fliegen, krabbeln und<br />

stechen – wenn man sich da verläuft, ist das beileibe<br />

kein Spaß.<br />

Whatever. Igor holt uns vom Hotel ab – viel zu<br />

früh, obwohl er ernsthaft stramm war – und wir<br />

machen unsere Einkaufsrunde durch die Gemeinde.<br />

Am Ende fahren wir zur „Neftebasa“, wo er<br />

arbeitet und sich extra für uns frei genommen hat,<br />

um das verfahrene Benzin zurück zu tanken. 20<br />

Liter hätte er gerne, und auf Piets Frage, wie viel<br />

denn reinpasse in seinen Tank antwortet er passen<br />

täte viel, aber 20 Liter sei ok. Die Tankstelle an<br />

der Neftebasa sieht wie folgt aus: ein großer<br />

Sandplatz, an einer Seite ein Container mit Kasse,<br />

an der anderen Seite Container mit Zapfsäulen:<br />

Diesel, Fünfundachtziger, Fünfundneunziger. Piet<br />

schnürt zum Kassenhäuschen, und weil es ja hieß,<br />

rein ginge eine Menge, bezahlt er für 30 statt für<br />

20 Liter. Was er nicht wußte war zum Einen, dass<br />

sich diese Aussage auf das Gesamtfassungsvermögen<br />

der beiden 45-Liter-Tanks bezog, die von<br />

rechts und links unabhängig zu befüllen sind, und<br />

zum Anderen, dass die nicht ganz neue Technik<br />

der Neftebasa keine Rückschlagventile hat. Ehe<br />

wir uns versehen, steht der Wagen in einer<br />

Pfütze von rund 10 Litern Benzin. An Zapfsäulen<br />

in Deutschland klebt die lustige Aufforderung:<br />

„Tropfmengen sind sofort aufzunehmen!“<br />

– in Sibirien steht für solche Fälle<br />

ein Kübel mit Sand und eine Schaufel bereit.<br />

Die Einkäufe sind schnell erledigt – Fressalien,<br />

Erfrischungsgetränke, einen faltbaren<br />

Eimer, eine Axt und eine Bratpfanne – dann<br />

bauen wir unter den fachkundigen Kommentaren<br />

des Fischereiaufsehers („Nußschale!“)<br />

unser Boot auf. Nicht nur ein Klugscheißer<br />

vor dem Herrn - Igor und Freunde erzählen später,<br />

dass er der größte Wilderer weit und breit sei.<br />

Wir stoßen mit den Jungs auf eine gute Reise an,<br />

bedanken uns für die großartige Unterstützung<br />

und machen uns auf den Weg.<br />

Es ist 13:30 Uhr.


Vor uns liegen 545 km – Taiga und Tunguska,<br />

unterbrochen von drei kleinen Ortschaften und<br />

vier Stromschnellen. 16 Tage Zeit haben wir für<br />

die Strecke, bis wir aus dem Ort Bor, gelegen am<br />

Zusammenfluss von Tunguska und Yenissey, wieder<br />

nach Krasnoyarsk zurückfliegen wollen.<br />

Die Sonne scheint, und ruhig trägt uns der Fluss<br />

von Baikit nach Westen. Sehr ruhig, um ehrlich<br />

zu sein – die Fließgeschwindigkeit mag zwischen<br />

einem und zwei Stundenkilometern liegen. Wir<br />

machen noch ein letztes Telefonat nach Hause,<br />

dann ist Schluß mit Handyempfang. Für Notfälle<br />

und gelegentliche Lebenszeichen haben wir ein<br />

Sattelitentelefon dabei. Auf den ersten paar Kilometern<br />

begegnen wir noch einigen Booten, die<br />

von oder zum Fischen oder sonstwohin fahren,<br />

aber bald kehrt Ruhe ein.<br />

Wir kommen an den ersten kleineren Zuflüssen<br />

vorbei, die sich in einzelne kleine Wasserläufe<br />

gefächert über aufgeschwemmte Kiesbänke in die<br />

Tunguska ergießen. Hier sollen die Fische stehen,<br />

haben wir von den Jungs in Baikit gelernt. Am<br />

Flüsschen Ongne packen wir also Blinker, Spinner,<br />

Gummifische und unsere extra angeschafften<br />

Luxusruten aus („Die haben besonders feine Action,<br />

aber auch genug Rückgrat, wenn mal ein<br />

Großer anspricht,“ hatte der Verkäufer betont)<br />

und waten in das kalte, klare Wasser. Nach einigen<br />

Würfen haben wir zwar noch keine Fische<br />

gefangen, verspüren aber das plötzliche Bedürfnis,<br />

schlechte Witze über gesunkene U-Boote zu<br />

reißen und ein paar Terroristen auf dem Scheißhaus<br />

abzuknallen – kurz: wir fühlen uns wie echte<br />

Putins.<br />

Sonnenbrille, Hut,<br />

nackter Oberkörper –<br />

ein wahrer H***fürst.<br />

Wie kann man ihn<br />

noch toppen? Wir<br />

beschließen, bei<br />

nächster Gelegenheit<br />

NUR mit Sonnenbrille<br />

und Hut bekleidet zu<br />

angeln. Leider<br />

schließt sich das Zeitfenster,<br />

bevor wir die Idee in die Tat umsetzen<br />

können, und Freund Mücke wird zu unserem ständigen<br />

Begleiter. Uns beim Nacktangeln den Hintern<br />

zerstechen zu lassen, erscheint uns dann doch<br />

nicht ratsam.


Wir paddeln bis relativ spät am Abend. Bei Km<br />

516 überholt uns ein kurioses Gespann: ein Kutter<br />

schiebt einen Leichter mit einer Hütte darauf<br />

Flussabwärts. Eine erste Jägerhütte am Zufluss<br />

Bugarikta, die wir nach der Karte finden, verwerfen<br />

wir, da sie zu gammelig ist. Vernünftige Zeltplätze<br />

bieten sich nicht an – das Ufer ist steinig<br />

und steigt steil an, bis in einer Höhe von 12 m die<br />

Taiga beginnt. (Während des Frühjahrshochwassers<br />

verzwanzigfacht sich die Wassermenge im<br />

Fluss auf bis zu 30.000 m³/s., und das Wasser<br />

steht bis an den Waldrand.) Zum Glück bleibt<br />

es lange hell. Wir müssen weitere zehn Kilometer<br />

abreißen, bis wir gegen zehn Uhr an der<br />

nächsten Hütte ankommen. Wir schleppen<br />

unsere Ausrüstung einen kleinen Pfad das steile<br />

Ufer hoch, wobei wir uns Mühe geben,<br />

möglichst viel Radau zu machen, um eventuell<br />

anwesende Bären zu vertreiben.<br />

Mit den Jagdhütten hat es folgende Bewandtnis:<br />

das sind einfache Blockhütten, die den<br />

Jägern als Unterkunft dienen, wenn sie im<br />

Winter ihre Fallen kontrollieren. Ein Raum,<br />

eine kleine Tür, ein kleines Fenster, ein Ofen und<br />

zwei Pritschen – viel mehr ist bei den kleineren<br />

nicht zu erwarten. Oft liegt noch einiges an Müll<br />

herum. Die größeren Hütten sind in der Regel<br />

dreiteilig: Haupthütte, Banja und ein überdachter<br />

„Innenhof“ dazwischen. In der Regel findet man<br />

dort eine Axt, etwas Werkzeug, Decken, Feuerholz<br />

und Streichhölzer, ein paar Kochtöpfe, Tee<br />

und Salz. Auf den Pritschen liegen Bären- und<br />

Rentierfelle. Die Hütten haben keine Schlösser an<br />

den Türen, und das ungeschriebene Gesetz der<br />

Taiga erlaubt es jedermann, sie zu benutzen.<br />

Wir machen es uns den Umständen entsprechend<br />

bequem (es handelt sich um eine kleine Hütte)<br />

und beginnen zu kochen. Oder versuchen es zumindest,<br />

denn der verdammte teure Primus-<br />

Allesbrenner geht nicht an. Wir haben extra eine<br />

neue Brennstoffflasche organisiert und einen kleinen<br />

Kanister mit Benzin in Baikit aufgetrieben,<br />

und jetzt stehen wir vor dem Ding und sehen zu,<br />

wie er Benzin rumsaut, rußt, qualmt – und ausgeht.<br />

Zehnmal. Zwanzigmal. Wir erinnern uns an<br />

den Schüttelreim aus der Mongolei:<br />

Heute bleibt die Küche kalt,<br />

denn der Brenner ist verstopft<br />

mit Benzin aus Galt.<br />

Tatsächlich scheint das Problem aber darin<br />

zu bestehen, dass das Ding einfach Scheiße<br />

ist.<br />

Zum Glück findet sich zwischen dem um die<br />

Hütte herumliegenden Unrat eine große Konservendose<br />

ohne Deckel, aus der wir mit ein<br />

paar beherzten Axtschlägen einen ausgezeichneten<br />

Hobo-Ofen basteln. Beim ersten<br />

Versuch an diesem Abend qualmt er noch<br />

etwas stark, aber im Laufe der nächsten Tage<br />

passen wir ihn immer besser an und haben<br />

eine Menge Freude mit ihm. Den Kanister mit<br />

dem Benzin stellen wir in der nächsten Hütte zu<br />

den Vorräten. Nach einem Abendbrot aus Reis<br />

und Dosenfleisch kriechen wir unter unsere


Mosquitonetze und schlafen steinartig.


Mittwoch, 31.07.2013<br />

Tag 2., Km 506 – 462<br />

Ein ruhiger Tag. Bei allerfeinstem Sonnenschein<br />

paddeln wir dahin und genießen den Ausblick auf<br />

die Felszinnen, die sich vor uns bis zum Horizont<br />

an den Flussufern aufreihen. Ein paar kleine<br />

Stromschnellen lassen das Wasser ein wenig in<br />

Bewegung geraten – an sich nicht erwähnenswert,<br />

aber die meiste Zeit liegt der Fluss glatt wie ein<br />

Spiegel vor uns. Das sieht zwar schön aus, aber<br />

wir sehen, dass wir uns jeden Kilometer werden<br />

hart erarbeiten müssen – und das sind hier noch<br />

genau fünfhundert. Oder 100.000 Bootslängen,<br />

oder ebenso viele Paddelschläge pro Mann. Passt<br />

schon.<br />

Kurz darauf passieren wir auf einer langen Geraden,<br />

auf der uns die Sonne kilometerweit genau in<br />

den Nacken knallt, am linken Flussufer einen<br />

Grab- oder Gedenkstein. Leider kommen wir auf<br />

dem zugewachsenen Steilufer nicht nah genug<br />

heran, um zu sehen, wessen Portrait da auf der<br />

Emailleplakette abgebildet ist. (Das Internet sagt,<br />

dort seien 1961 zwei 22-jährige „tragisch umgekommen“).<br />

Endlich klappt es auch mit dem Angeln – an der<br />

Malaya Nirungda, einem wunderschönen Zufluss<br />

bei Km 490, fangen wir 3 Äschen, Piet eine, Fab<br />

zwei. Yes! Wir paddeln noch weiter bis Km 462,<br />

wo sich der Fluss in einem weiten Tal teilt und um<br />

die Insel Polporo herumfließt. An der stromaufwärts<br />

gelegenen Seite erstreckt sich hier wegen<br />

des niedrigen Wasserstandes eine lange Kieszunge<br />

ins Wasser. Wir stellen das Zelt in eine kleinen<br />

Mulde aus relativ feinen Kieseln, filtern Wasser,<br />

nehmen die Fische aus und legen sie in Alufolie<br />

gewickelt in die Glut. Dazu kochen wir Kartoffeln<br />

auf dem Hobo-ofen.


Donnerstag, 01.08.2013<br />

Tag 3, Km 462 – 430<br />

Wieder lacht uns das Wetter. Wir fahren durch<br />

großartige Landschaft und sehen riesige Raubvögel<br />

in der Gegend herumfliegen. Mittags legen<br />

wir am Zufluss der Bolshaya Nirungda inmitten<br />

eines grandiosen Panoramas an, um zu angeln.<br />

Sobald wir im Wasser stehen, kommen zu Dutzenden<br />

kleine Putzerfische angeschwommen und<br />

machen sich an unseren Füßen zu schaffen – relativ<br />

witzig. Nach rund 15 Minuten haben wir 4<br />

Äschen gefangen – Piet eine, Fab drei – dann hören<br />

wir auf, weil wir mehr abends nicht werden<br />

aufessen können. Ziemlich geil – das Wasser ist<br />

so klar, dass man die Fische manchmal an der<br />

Stelle, wo sich das Wasser des Zuflusses mit dem<br />

der Tunguska vermischt, stehen sieht. Wenn man<br />

Glück hat, kann man dann zusehen, wie sie den<br />

Blinker verfolgen, bevor sie „ansprechen“.<br />

Einige Kilometer weiter nähern wir uns der ersten<br />

von vier auf unserem Weg liegenden Stromschnellen<br />

– diese ist aufgeteilt in zwei etwa einen<br />

Kilometer voneinander entfernte Schwellen, die<br />

„Babushka“ und „Dedushka“ heißen; davor liegt<br />

noch ein kleines Stück Kabbelwasser, „Shiverka“<br />

genannt. Das ganze liegt an bzw. hinter einer<br />

scharfen Rechtskurve, die der Fluss an dieser Stelle<br />

zwischen steilen Bergwänden beschreibt. In<br />

den uns bekannten Reiseberichten schwanken die<br />

Beschreibungen der Stromschnellen zwischen<br />

Nichtderredewert und Ogottogott – das ganze<br />

scheint stark wasserstandsabhängig zu sein. Auf<br />

jeden Fall haben wir hierfür unsere Spritzdecke<br />

angeschafft. Die Erfahrung in der Mongolei hat<br />

uns gezeigt, dass der Ally auch auf sehr ruppigem<br />

Wasser noch ruhig und sicher zu fahren ist – solange<br />

er trocken bleibt. Er ist in sich sehr flexibel,<br />

so dass er sich gut an die Wellen schmiegt, kippstabil<br />

bleibt und gut in der Spur zu halten ist. Allerdings<br />

nimmt er durch die offene Bauweise jede<br />

Menge Wasser über – und sobald drei / vier Eimer<br />

voll im Boot sind, ist Schluß mit der Stabilität...<br />

Wir verpacken also unser Gedöns, ziehen unsere<br />

Spritzschürzen an, um das Boot dicht zu machen,<br />

und lassen uns noch ein wenig treiben.<br />

Wir bemerken, dass sich der Himmel zunehmend<br />

verdunkelt, und langsam kann man einen deutlichen<br />

Brandgeruch in der Luft ausmachen - wir<br />

fahren auf einen Waldbrand zu. Der Fluss wird<br />

schmaler, und von unten wirbeln immer wieder<br />

Strömungen aus der Tiefe, die das Boot mal nach<br />

links, mal nach rechts versetzen. Inzwischen ist<br />

die Sicht deutlich schlechter geworden, sie beträgt<br />

vielleicht noch einen Kilometer, und der Qualm in<br />

der Nase ist unangenehm stark. Woher er genau<br />

kommt, können wir nicht sehen, denn wir nähern<br />

uns der Kurve, hinter der wir den Beginn der<br />

Stromschnelle vermuten, aber seine Stärke nimmt<br />

weiter zu. Komisches Gefühl, in der völligen Stille<br />

des Waldes unter einer Sonne, die rot und<br />

schwach durch die Rauchglocke scheint, auf eine<br />

unbekannte Stromschnelle und einen Waldbrand<br />

zuzufahren...<br />

Allerdings auch geil, irgendwie – und eine Alternative<br />

haben wir ja ohnehin nicht. Am rechten<br />

Ufer liegt wie ein zertretener Käfer das Wrack


eines großen Lastkahns – rostbraun und von Wasser<br />

und Eis völlig plattgedrückt. Hinter der Kurve<br />

beginnt die eigentliche Stromschnelle. Der Fluss<br />

ist hier etwa 200 m breit, und wir halten uns in der<br />

Mitte. Die Wellen sind vielleicht einen halben<br />

Meter hoch und laufen von allen Seiten chaotisch<br />

durcheinander. Wir müssen ein wenig manövrieren,<br />

um einigen dicht unter der Wasserlinie verborgenen<br />

Felsen auszuweichen, und steuern kurz<br />

vor dem Ende durch den Hauptschwall. Hier sind<br />

die Wellen etwa achtzig Zentimeter hoch, ein paar<br />

hintereinander, und es geht ordentlich rauf und<br />

runter. Die letzte Welle läuft einmal in ganzer<br />

Länge über das Boot – spätestens hier wären wir<br />

ohne Spritzdecke abgesoffen. So ist das Ganze<br />

ein großer Spaß. Wir warten noch eine Weile auf<br />

den 2. Teil der Stromschnelle, aber offenbar haben<br />

wir den schon oberhalb passiert, als wir uns<br />

Gedanken über den Waldbrand machten, und ihn<br />

nicht wahrgenommen.<br />

Wir machen eine kurze Pause am Chagdatkan.<br />

Der Zufluss kommt durch ein enges Tal zwischen<br />

Felszinnen hindurch und in Kaskaden über breite<br />

Steinplatten hinweg von der rechten Seite zur<br />

Tunguska herabgeflossen. In einer schmucken<br />

Naturbadewanne seifen wir uns im kalten Wasser<br />

fix ab, immer mit einem Auge in Richtung Wald,<br />

um nicht im wahrsten Sinne des Wortes mit heruntergelassenen<br />

Hosen von Meister Petz überrascht<br />

zu werden.<br />

Nach einer weiteren Stunde im Qualm passieren<br />

wir einen kleineren Berg, über den sich von der<br />

uns abgewandten Seite eine Rauchwolke zur Tunguska<br />

und dann hinab ins Flusstal wälzt. Das<br />

Feuer scheint sich direkt dahinter zu befinden.<br />

Zum Glück lässt der Rauch ab hier wieder nach.<br />

Wir paddeln noch weiter bis zum Kilometer 430,<br />

und nach einigem angestrengten Suchen entdecken<br />

wir die Hütte, die laut eines russischen Berichtes<br />

aus dem Internet genau gegenüber des entsprechenden<br />

Kilometerschildes liegt. Sie steht<br />

versteckt neben einem von einem winzigen Bächlein<br />

tief eingeschnittenen Tal auf einer Anhöhe<br />

etwas zurückgesetzt vom Fluss. Wir sortieren<br />

unsere Sachen, um nicht alles den steilen Pfad das<br />

Ufer hinaufschleppen zu müssen, und machen<br />

dann jeder 2 Mal schwer bepackt die gut hundert<br />

Meter bis zur Hütte. Als erstes greifen wir uns die<br />

große Axt vor der Hütte und bollern damit gegen<br />

ein großes leeres Ölfaß, dass die Tannenzapfen<br />

von den Bäumen fallen. Zumindest von einem<br />

normal sich verhaltenden Bär sollte uns bis auf<br />

weiteres keine Gefahr mehr drohen.<br />

Die Hütte besteht aus zwei Einzelgebäuden unter<br />

einem gemeinsamen Dach. Kurz spielen wir mit<br />

dem Gedanken, die Banja anzuheizen, entscheiden<br />

uns dann aber dagegen – zuviel Streß. Die<br />

Hütte ist relativ gut ausgestattet – an der Wand<br />

hängt sogar ein Transistorradio, im überdachten<br />

„Zwischenhof“ steht ein oller Kühlschrank, der<br />

Boden ist dick mit Axtspänen bedeckt, die knochentrocken<br />

sind und vorzüglich in unseren Hoboofen<br />

passen. Wir braten uns die Fische in der eigens<br />

in Baikit angeschafften Pfanne, genießen die<br />

Stille BÄMM! und lassen den BÄMM! Abend bei<br />

einem BÄMM!! kühlen BÄMM!! BÄMM!! Bier<br />

ausklingen. Ab und zu bollern wir beherzt gegen<br />

das Ölfaß.<br />

Vor dem Zubettgehen gilt es, noch ein wenig aufzuräumen.<br />

Die verkeimten Decken fliegen von<br />

den Pritschen in die Ecke, und über die muchtigen<br />

Bären- und Rentierfelle decken wir Zeltunterlage<br />

bzw. Rettungsdecke. Von oben schließt jeweils<br />

das Moskitonetz die Sache ab. Eigentlich sind die<br />

Hütten erstaunlich mückenfrei, aber es ist trotzdem<br />

schön einen Kokon zu haben, der einen gegen<br />

den allgemeinen Grundgammel abschirmt.


Freitag, 02.08.2013<br />

Tag 4, Km 430 – 375<br />

Das Wetter ist unverändert ausgezeichnet. Unser<br />

erstes Ziel ist die Ortschaft Poligus bei Kilometer<br />

420, wo wir schnell ein paar Besorgungen machen<br />

wollen, um dann möglichst zackig wieder in der<br />

Wildnis zu verschwinden. Poligus ha so um die<br />

300 Einwohner, die in ein paar rumpeligen Holzhäusern<br />

am rechten Ufer der Tunguska leben.<br />

Das Dorf wird dominiert von einem riesigen<br />

mehrstöckigen Holzgebäude, welches Verwaltung,<br />

Schule, Kindergarten usw. beherbergt und<br />

schon von weitem zu sehen ist. Wir legen gegen<br />

11 Uhr etwa hundert Meter von vier Männern an,<br />

die sich um einen Laster und eine Zwei-Liter-<br />

Plastikflasche Bier versammelt haben. Sie zeigen<br />

P. freundlich den Weg zum örtlichen Geschäft –<br />

einer unmarkierten grauen Baracke, vor der ein<br />

trübsinniger Ewenke sitzt – und lächeln zum Abschied<br />

mit ihren insgesamt 32 Zähnen. Auf dem<br />

Weg zum Shopping gilt es, fast mannstiefe Treckerfurchen<br />

zu forcieren, dann auf einen hölzernen<br />

Bürgersteig hinaufzusteigen und eine kleine<br />

Brücke über eine Fernwärmeleitung zu überqueren.<br />

Im blitzblanken Laden ersteht P. bei zwei<br />

Verkäuferinnen in adretten hellblauen Rüschenschürzen<br />

eine neonrosa Seifendose, einen roten<br />

Trichter, ein Geschirrhandtuch in herbstlichem<br />

Flecktarn, sämtliches vorhandene Mückenparfüm<br />

(kann man nie genug von haben), und eine eine<br />

Zwei-Liter-Plastikflasche Bier. Der direkte Weg<br />

zurück zum Boot führt P über den Hubschrauberlandeplatz<br />

des Ortes – ein Quadrat, 10 m x 10 m,<br />

mehr oder weniger eben mit schweren Betonplatten<br />

befestigt und an 3 Ecken von rot-weißen<br />

Holzpyramiden markiert. Man steht da und wundert<br />

sich – wohin in Dreiteufelsnamen verschwindet<br />

eine einzelne hölzerne Hubschrauberlandeplatzmarkierungspyramide<br />

aus der vierten Ecke?<br />

Ein wahrscheinlich auf ewig ungelöstes Rätsel.<br />

Als wir später wieder in Krasnoyarsk sind, wird<br />

uns Alexej (Remember? der Taxifahrer) von Poligus<br />

vorschwärmen: sie seien da früher immer zur<br />

Disko hingefahren (125 km mit dem Motorboot),<br />

weil die Weiber da noch nicht so verwöhnt gewesen<br />

seien und die Jungs aus dem mondänen Baikit<br />

dementsprechend leichtes Spiel gegen die versoffenen<br />

Poligussen gehabt hätten...


Egal – wir verstauen die Beute, schieben das Boot<br />

in die Strömung, und die Rätsel der Perlen und<br />

Pyramiden Poligus‘ bleiben ungelöst hinter uns<br />

zurück. Nächstes Objekt unserer Aufmerksamkeit<br />

ist der Muchnoj Porog – die<br />

„Mehlstromschnelle“, auf Deutsch. Es kursieren<br />

verschiedene Erklärungen für den Namen. Eine<br />

besagt, dieser Flussabschnitt sähe wegen der vielen<br />

Schaumkronen wie mit Mehl bestäubt aus;<br />

eine andere verweist auf die Ähnlichkeit der Wörter<br />

Muká (Mehl) und Múka (Folter, Quälerei).<br />

Letztere war ganz zweifelsohne gegeben, als früher<br />

die Boote zur Versorgung der Pelzhändleraußenposten<br />

durch diese Stromschnellen getreidelt<br />

werden mußten - mit Muskelkraft, über die<br />

Felsen am Ufer stolpernd und von Mückenwolken<br />

umschwärmt. Die beste Theorie ist, dass eben<br />

hierbei ein mit Mehl beladenes Boot umgeschlagen<br />

und abgesoffen sei, woraufhin der Fluss tagelang<br />

weißes Wasser geführt hätte. Schöne Story,<br />

glauben wir aber genauso wenig wie die mit den<br />

Mädels aus Poligus.<br />

Die Stromschnelle beginnt bei Km 395 nach einer<br />

langgezogenen Rechtskurve, erstreckt sich über<br />

ca. 2 km zwischen relativ flachen Hügeln auf beiden<br />

Seiten und endet dann in einer abrupten<br />

Linkskurve vor einem steilen, massiven Bergrücken.<br />

Das Gefälle im Fluss ist mit bloßem Auge<br />

zu erkennen – als ob man eine sanft geneigte Skipiste<br />

herunterblickt. Klar abgesetzte Stufen gibt<br />

es hier nicht, dafür über die ganze Länge und<br />

Breite der Stromschnelle wild verteilte Felsen<br />

kurz unter der Wasserlinie, die ständige Kurswechsel<br />

erforderlich machen. Die Sonne scheint,<br />

ein paar Wolken sind am Himmel, und wir schüsseln<br />

mit bestimmt 15 km/h durch die Wellen –<br />

supergeil.<br />

Ein paar Kilometer später, wir haben die Spritzschürzen<br />

wieder abgelegt, den Fotoapparat und<br />

die Schokolade ausgepackt, laufen wir an einer<br />

winzigen Stufe tatsächlich auf einen Felsen. Nach<br />

dem wilden Ritt schon entspannt, haben wir die<br />

paar kleinen Kräuselwellen nicht ernst genommen,<br />

und schon sitzen wir mittschiffs fest, während<br />

die Strömung das Boot unaufhaltsam querstellt.<br />

Zum Glück ist der Felsen groß genug, so<br />

dass P aussteigen und uns mit einem Ruck befreien<br />

kann, sonst wären wir – im Zahmwasser –<br />

schmählich gekentert...<br />

Unser Ziel für den Abend ist der kleine Zufluss<br />

Bugar (oder Bugarikta, man weiß dit nich so genau,<br />

und es ist ja auch keiner da, den man fragen<br />

könnte), bei dem eine schöne Hütte stehen soll.<br />

Tatsächlich ist sie schon von weitem zu sehen,<br />

und wir landen frohgemut an. Leider müssen wir<br />

feststellen, dass das Ufer von vorne bis hinten von<br />

Bären zertrampelt ist, darunter jede Menge Spuren<br />

einer Mutter mit ihren zwei Jungen. Wir lärmen<br />

herum, als säßen wir vor einem Friedrichshainer<br />

Späti um zwei Uhr morgens. Unser halbherziger<br />

Versuch, den Pfad zur Hütte zu finden, bleibt erfolglos.<br />

Ohnehin haben wir den Entschluß ge-


fasst, hier nicht zu bleiben, und Fab will nur einen<br />

kurzen Kontrollwurf mit der Angel machen. Sofort<br />

hat er eine Äsche am Haken, und da will P<br />

natürlich nicht zurückstehen. Er legt schnell eine<br />

Einliterdose Tuborg zum Kühlen in das Flüsschen,<br />

das hier auf einer Breite von vielleicht 10 m<br />

munter aus undurchdringlichem Gestrüpp herausplätschert,<br />

und nimmt mit hochgekrempelten Hosenbeinen<br />

und aufgestellten Nackenhaaren seinen<br />

Platz in der Mitte der Nahrungskette ein. Zum<br />

Glück lassen die gefiederten Freunde, wie wir die<br />

Äschen wegen ihrer riesigen, bunt schillernden<br />

Rückenflossen nennen, nicht lange auf sich warten.<br />

Das Bier ist kaum kalt, als wir jeder unsere<br />

zweite an Land ziehen, und mit einem gewissen<br />

Gefühl der Erleichterung machen wir uns aus dem<br />

Staub.<br />

Als Ersatz-nachtlager steuern wir die Insel<br />

Kochenyatskiy bei Km 375 an. Die Insel ist so<br />

drei/vier Kilometer lang, mit Wald bestanden, und<br />

wieder bietet sich eine schöne große Landzunge<br />

mit –stellenweise- feinem Kies als Lagerplatz an.<br />

Bis zum Waldrand auf der Insel ist es fast ein Kilometer,<br />

darum paddeln wir nach dem Ausladen<br />

noch einmal zum anderen Ufer, um Feuerholz zu<br />

holen, das wir in der in der Mitte des Bootes zu<br />

einem großen Haufen aufschichten. Als wir zurückpaddeln,<br />

kommt ein zerdeppertes Aluboot<br />

vorbei. Auf unserer Höhe macht es halt, und wir<br />

unterhalten uns kurz. Der junge Kerl an Bord will<br />

mit seinen zwei Begleiterinnen (ganz hübsche<br />

Mädels in bunten Kopftüchern) noch etwas weiter<br />

Flussabwärts. Er empfiehlt uns, bis zum nächsten<br />

linken Zufluss weiterzufahren, da dort eine gute<br />

Hütte sei. Wir bedanken uns, bleiben aber auf<br />

unserer Landzunge – da wissen wir wenigstens,<br />

woran wir sind. Das Zelt wird aufgebaut und wie<br />

immer mit eigens herbeigeschleppten Felsen abgespannt,<br />

weil die Häringe auf dem komischen<br />

Grund nicht greifen. Fab pult die ekligen Sachen<br />

aus den Fischen raus, dann wandern sie in Alufolie<br />

in die Glut. Wir sitzen bis spät an unserem<br />

riesigen Lagerfeuer und schlafen steinartig.


2013<br />

Fabian Laucken (Fotos)<br />

Piet Mumm (Text + Fotos)

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!