20.02.2013 Aufrufe

SlovoKult.de Slovothek Nr. 1

SlovoKult.de Slovothek Nr. 1

SlovoKult.de Slovothek Nr. 1

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Impressum:<br />

<strong>SlovoKult</strong>, <strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1, Berlin-Skopje, 2010<br />

© (wenn nicht an<strong>de</strong>rs vermerkt) alle Rechte bei <strong>de</strong>n Autoren und <strong>de</strong>n<br />

Übersetzern, Berlin-Skopje, 2010.<br />

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil dieser Publika� on darf ohne vorherige Zus� mmung<br />

durch <strong>de</strong>n Herausgeber in irgen<strong>de</strong>iner Form o<strong>de</strong>r auf irgen<strong>de</strong>ine Weise - sei es elektronisch,<br />

mechanisch, als Fotokopie, Aufnahme o<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rwei� g - reproduziert, auf einem Datenträger<br />

gespeichert o<strong>de</strong>r übertragen wer<strong>de</strong>n.<br />

ISBN 978-9989-59-323-9<br />

Die Veröff entlichung dieser Publika� on wur<strong>de</strong> von <strong>de</strong>m Verein Albanischer<br />

Verleger in Makedonien (Associa� on of Albanian Publishers - AAP - in<br />

Macedonia) ermöglicht.<br />

Diese Publika� on wur<strong>de</strong> zum Teil von <strong>de</strong>m Kultusministerium <strong>de</strong>r Republik<br />

Makedonien unterstützt.<br />

Herausgeber: <strong>SlovoKult</strong> (Elizabeta Lindner)<br />

Verlag: Blesok, Skopje<br />

Umschlaggestaltung: Ana Matovska<br />

Umschlagfoto: Elizabeta Lindner<br />

Layout und Satz: Igor Isakovski<br />

Lektorat: Petra Huber und Benjamin Langer<br />

Druck: Maring, Skopje, 2010<br />

Printed in Macedonia<br />

Aufl age: 700<br />

Kontakt: <strong>SlovoKult</strong>: www.slovokult.<strong>de</strong>; info@slovokult.<strong>de</strong><br />

Blesok: www.blesok.com.mk; editor@blesok.com.mk<br />

AAP: www.libri.org.mk; shbsh@libri.org.mk


<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong><br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

Lyrik von: Kata Kulavkova, Igor Isakovski,<br />

Eftim Kletnikov und Vladimir Martinovski<br />

Prosa von: Igor Isakovski, Luan Starova, Dragi Mihajlovski,<br />

Kim Mehmeti, Goce Smilevski,<br />

Petre M. Andreevski und Aleksandar Prokopiev<br />

<strong>SlovoKult</strong> (www.slovokult.<strong>de</strong>) ist ein Online-Literaturportal für makedonische<br />

Literatur auf Deutsch. Es wur<strong>de</strong> 2008 von Elizabeta Lindner<br />

gegrün<strong>de</strong>t und hat sich mi� lerweile zu einem Übersetzernetzwerk<br />

entwickelt, das regelmäßig übersetzte Literatur aus Makedonien veröff<br />

entlicht.<br />

<strong>SlovoKult</strong> sind: Elizabeta Lindner, Petra Huber, Benjamin Langer,<br />

Will Firth, Ksenija Čočkova und Lydia Nagel.<br />

Für diese erste Ausgabe <strong>de</strong>r Textsammlung <strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1 zur Leipziger<br />

Buchmesse 2010 gilt unser beson<strong>de</strong>rer Dank: Igor Isakovski und<br />

<strong>de</strong>r Kultureinrichtung Blesok sowie <strong>de</strong>m Verein Albanischer Verleger<br />

in Makedonien (Associa� on of Albanian Publishers in Macedonia).<br />

Wir danken auch: Dem Kultusministerium <strong>de</strong>r Republik Makedonien,<br />

TRADUKI – Literatur aus, nach und in Südosteuropa, <strong>de</strong>r Literaturagentur<br />

Dagmar Schruf, <strong>de</strong>m Wieser Verlag und <strong>de</strong>m Drava Verlag<br />

aus Klagenfurt.<br />

Blesok, Skopje<br />

<strong>SlovoKult</strong>, Berlin<br />

2010


2/<br />

<strong>SlovoKult</strong> Lyrik<br />

Kata Кulavkova<br />

Die große Mu� er<br />

„Ich bin sie.<br />

Ruhe im Schnei<strong>de</strong>rsitz<br />

meine Hü� en tragen die Last <strong>de</strong>r Lebensschöpfung<br />

sind <strong>de</strong>rart breit gewor<strong>de</strong>n<br />

dass sie sich von mir abgetrennt haben<br />

und nicht mehr nur meine sind und nicht nur hier.<br />

Die ganze Welt - mein Zuhause.<br />

Ebenso:<br />

ich habe die Macht<br />

zur selben Zeit an mehreren Orten zu sein.<br />

Ständig im Austausch mit <strong>de</strong>r Ero� k<br />

um eine lebendige, aber sterbliche Welt zu schaff en<br />

- wer<strong>de</strong> ich zum Buch <strong>de</strong>r Verän<strong>de</strong>rungen<br />

ich wechsle meinen Namen, tausche die Symbole<br />

und die Sagen aus, lege die Menschen ab<br />

än<strong>de</strong>re das Cas� ng<br />

die Rollen aber bleiben!<br />

Ich bin diejenige, die mit <strong>de</strong>m Geis� gen spricht,<br />

<strong>de</strong>r das Weltliche entspricht:<br />

Er<strong>de</strong> und Meer, Luna und Himmelsgewölbe!<br />

Oh, welch ein Wi<strong>de</strong>rspruch:<br />

eine Frau zu sein, das Haupt <strong>de</strong>r Fruchtbarkeit<br />

und dabei ein nega� ves, passives<br />

Vorzeichen zu tragen, ein archetypisches Minus<br />

rhythmische Ausschni� e<br />

aus <strong>de</strong>m Tod und aus <strong>de</strong>m Leben!<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Wer soll <strong>de</strong>nn geben, außer <strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r hat?<br />

Wer soll <strong>de</strong>nn verlieren, außer <strong>de</strong>m,<br />

<strong>de</strong>r etwas zu verlieren hat?<br />

Ich, Matrix, Mu� erleib, Gebärmu� er,<br />

mü<strong>de</strong>, mündige, muntere Matrone<br />

aus <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>ren Welt<br />

(nein, diese war mir nie genug!)<br />

trage dir an:<br />

geh ins Meer<br />

<strong>de</strong>nk nicht an die Ohnmacht<br />

<strong>de</strong>nn du weißt nie<br />

wie lange du durchhalten kannst<br />

im Schmerz wie auch im Genuss<br />

schwimm soweit du sehen kannst<br />

und sieh weiter, immer weiter<br />

ich bin’s, auf <strong>de</strong>m Hügel nach<strong>de</strong>nklich erzählend<br />

in meiner Mu� ersprache sprechend<br />

(oh, welche Erleichterung, welche Gemütlichkeit!)<br />

und dir die Kra�<br />

und nicht <strong>de</strong>n Trost gebend!<br />

Später wirst du über meinen Rissen rätseln<br />

über <strong>de</strong>r unterbrochenen Schicksalslinie,<br />

zusammengefasst in <strong>de</strong>n 64 Hexagrammen <strong>de</strong>s Änigmas<br />

und er wird <strong>de</strong>m Rebus einzelne<br />

präzise, parallele, prosaische,<br />

posi� ve Striche hinzufügen.<br />

Eine männliche Synopsis!“<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Elizabeta Lindner<br />

Weitere Gedichte von Kata Kulavkova unter: www.slovokult.<strong>de</strong><br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/3


4/<br />

E� im Kletnikov<br />

Orgie<br />

Voller Dunkelheit <strong>de</strong>r Grund<br />

ohne Rän<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Raum<br />

eingestamp� das Licht<br />

einer weißen Galaxie.<br />

Aber wenn es scheint<br />

dass von <strong>de</strong>m dunklen Überfl uss<br />

das Rückgrat <strong>de</strong>r Welt gebrochen ist<br />

beginnt zu strömen<br />

die Musik <strong>de</strong>r Elemente.<br />

Voll uralter Frische sind die Wasser.<br />

Ein blin<strong>de</strong>r Stern<br />

fi n<strong>de</strong>t seine Pupille wie<strong>de</strong>r<br />

zarter Funken<br />

in <strong>de</strong>r Finsternis <strong>de</strong>r Materie<br />

und es blickt uns an allsehend<br />

das gö� liche Auge.<br />

Aber wo verlor sich<br />

wohin verirrte sich mein Kuss<br />

in diesem trüben Lärm<br />

aus <strong>de</strong>m ein junger<br />

und undurchsich� ger Wald entspross?<br />

Dort, ein Kind<br />

in <strong>de</strong>n Dickichten <strong>de</strong>s Blutes<br />

bevor sein Name ausgesprochen wird<br />

bahnt es einen Weg durch die aufgetürmten Scha� en und singt<br />

wodurch sich wie<strong>de</strong>r erholt<br />

die erschöp� e Welt.<br />

Seine angeschwollene S� mme<br />

führt die verirrten Seelen und Sterne<br />

die Hirten und die Her<strong>de</strong><br />

auf eine Lichtung<br />

über die � e� lauen Wiesen <strong>de</strong>s Himmels.<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Der Ankömmling<br />

Der Ankömmling ha� e<br />

Finsternis in <strong>de</strong>n Augen<br />

und Kälte im Herzen.<br />

Der Hausherr und die Hausherrin<br />

stellten <strong>de</strong>n Teller<br />

an <strong>de</strong>n Ofen,<br />

zur warmen Seele <strong>de</strong>r Ahnen.<br />

Sie stellte ihm noch<br />

einen Krug Gebirgswasser<br />

ans Kopfen<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Be� es<br />

<strong>de</strong>nn sie erkannte an ihm die Verbrennungen<br />

<strong>de</strong>s nie<strong>de</strong>rträch� gen Sommerges� rns.<br />

Dann ward S� lle<br />

und <strong>de</strong>r Traumvogel<br />

nahm <strong>de</strong>n Weg in die Höhen.<br />

Im Morgengrauen,<br />

anstelle <strong>de</strong>s Ankömmlings,<br />

auf <strong>de</strong>r Lagersta� :<br />

Büsche kleiner Blüten<br />

die sich anschicken zu sprießen<br />

und <strong>de</strong>r Krug geborsten,<br />

<strong>de</strong>r nicht ertragen konnte<br />

<strong>de</strong>n leeren Schein<br />

seines Mondantlitzes.<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Filip Kletnikov und Benjamin Langer<br />

Weitere Gedichte von E� im Kletnikov unter: www.slovokult.<strong>de</strong><br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/5


6/<br />

Vladimir Mar� novski<br />

Sommersprossen<br />

(nach <strong>de</strong>m ersten Besuch beim Augenarzt)<br />

Heute Abend<br />

trug ich erstmals<br />

eine Brille und begriff<br />

dass ich in all diesen<br />

letzten Jahren viele Dinge<br />

verpasst habe… Unter<br />

an<strong>de</strong>rem – <strong>de</strong>ine<br />

schönen Sommer<br />

sprossen<br />

Heute Abend<br />

trug ich erstmals<br />

eine Brille und begriff<br />

dass ich in all diesen<br />

letzten Jahren viele Dinge<br />

verpasst habe… Unter<br />

an<strong>de</strong>rem – <strong>de</strong>ine<br />

schönen Sommer<br />

sprossen<br />

Heute Abend<br />

trug ich erstmals<br />

eine Brille und begriff<br />

dass ich in all diesen<br />

letzten Jahren viele Dinge<br />

verpasst habe… Unter<br />

an<strong>de</strong>rem – <strong>de</strong>ine<br />

schönen Sommer<br />

sprossen<br />

Heute Abend<br />

trug ich erstmals<br />

eine Brille und begriff<br />

dass ich in all diesen<br />

letzten Jahren viele Dinge<br />

verpasst habe… Unter<br />

an<strong>de</strong>rem – <strong>de</strong>ine<br />

schönen Sommer<br />

sprossen<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Benjamin Langer<br />

Mit freundlicher Genehmigung von TRADUKI: www.traduki.eu<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Igor Isakovski<br />

Lass uns über das We� er re<strong>de</strong>n<br />

lass uns re<strong>de</strong>n<br />

völlig sinnentleert<br />

ohne Pfl icht<br />

ohne Schmerz ohne Tränen<br />

lass uns einan<strong>de</strong>r etwas erzählen<br />

als ob wir dazu gezwungen wären<br />

vorauszusagen<br />

starke Win<strong>de</strong><br />

heiße Sonne<br />

schwere Regenfälle<br />

überraschen<strong>de</strong> Blitzstrahlen<br />

erahnte Donnerschläge<br />

lass uns wan<strong>de</strong>rn<br />

vielleicht regnet es heute Nacht<br />

vielleicht wer<strong>de</strong>n unsere vergessenen Schirme<br />

nass sein, wie wir selbst<br />

nass wie unsere Augen<br />

nass wie mein Inneres<br />

lass uns au� rechen<br />

an je<strong>de</strong>m Ort einen Teil von uns zurücklassen<br />

überall nur Erinnerungsstücke<br />

an die Anwesenheit<br />

die da ist, um zu bezeugen<br />

wie sehr wir abwesend sind<br />

wie sehr es uns nicht gibt<br />

lass uns hoff en<br />

im geschmolzenen Asphalt<br />

wer<strong>de</strong>n wir unsere Spuren hinterlassen<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/7


8/<br />

um uns wie<strong>de</strong>r zu erkennen<br />

falls wir entschei<strong>de</strong>n, zurückzukehren<br />

vielleicht morgen bringt<br />

das Himmelsgewölbe strahlen<strong>de</strong>n Glanz<br />

und wir rutschen nicht bei unserem Gang<br />

vielleicht morgen<br />

genau morgen<br />

wer<strong>de</strong>n wir unbeschwert<br />

über das We� er re<strong>de</strong>n<br />

lass uns einan<strong>de</strong>r gestehen<br />

wir wer<strong>de</strong>n einan<strong>de</strong>r nichts Neues erzählen<br />

wir wer<strong>de</strong>n über das We� er re<strong>de</strong>n<br />

wir wer<strong>de</strong>n versuchen, nichts vorauszusagen<br />

und wir wer<strong>de</strong>n nass sein<br />

bis auf die Haut<br />

Kleines Schri� stück<br />

Du bist, Liebe, eine schwarze Nymphe<br />

und <strong>de</strong>ine wahre Be<strong>de</strong>utung<br />

bekommst du durch mich<br />

wenn sich unsere Sä� e vermischen,<br />

wirst du zu Licht,<br />

das in mir nach seiner dunklen Seite sucht<br />

meistens fi n<strong>de</strong>st du mich<br />

und dann fängt alles<br />

von Neuem an<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Elizabeta Lindner<br />

Weitere Gedichte von Igor Isakovski unter: www.slovokult.<strong>de</strong><br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


<strong>SlovoKult</strong> Prosa<br />

Igor Isakovski<br />

Prosaist, Lyriker, Herausgeber, Übersetzer<br />

Biographie<br />

Igor Isakovski wur<strong>de</strong> 1970 in Skopje,<br />

Makedonien, geboren. Er studierte<br />

Allgemeine und Vergleichen<strong>de</strong> Literatur<br />

an <strong>de</strong>r Universität „Kiril i Metodij“<br />

in Skopje und Gen<strong>de</strong>r and Culture<br />

Studies an <strong>de</strong>r Zentral-Europäischen<br />

Universität in Budapest, wo er seinen<br />

Magisterabschluss erwarb. Isakovski<br />

ist Grün<strong>de</strong>r und Leiter <strong>de</strong>r<br />

Kultureinrichtung Blesok, wo er das<br />

gleichnamige Online-Magazin als<br />

Redakteur und Webmaster gestaltet.<br />

Er übersetzte zahlreiche literarische<br />

Werke aus <strong>de</strong>m Englischen, Serbischen,<br />

Kroa� schen, Bosnischen und<br />

Slowenischen. Seine Werke wur<strong>de</strong>n<br />

in <strong>de</strong>n USA, <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rlan<strong>de</strong>n, Slowenien,<br />

Serbien, Kroa� en, Australien<br />

und vielen an<strong>de</strong>ren Län<strong>de</strong>rn veröff entlicht. Er lebt und arbeitet in Skopje.<br />

Bibliographie<br />

1991 - Briefe - Roman<br />

1992 - Schwarze Sonne - Lyrik<br />

1993 - Explosionen, schwangere Luna, Erup� onen... - Erzählungen<br />

1995 - Vulkan – Er<strong>de</strong> - Lyrik<br />

1996, 2000 – Himmel - Lyrik<br />

2001 - Gravuren – Blues Sprechkabine – Sammlung kurzer Texte<br />

2002 - Sanduhr - Erzählungen<br />

2004 - Tief im Loch - Lyrik<br />

2005 - Schwimmen im Staub - Roman<br />

2006 - Blues Sprechkabine II - Sammlung kurzer Texte<br />

2008 - Probezeit als Heiliger – Lyrik<br />

2009 - Die Nacht ist am dunkelsten vor <strong>de</strong>r Dämmerung - Lyrik<br />

(mehr unter www.slovokult.<strong>de</strong>)<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/9


10/<br />

Schwimmen im Staub (Roman)<br />

(Auszug)<br />

167. Wir s� egen in die Metro und fuhren in Richtung Stadion. Es war<br />

später Nachmi� ag. Jemand sagte, wir müssten früher hin, um Plätze<br />

direkt vor <strong>de</strong>r Bühne zu erga� ern, also fuhren wir los. Am Eingang<br />

waren wir unter <strong>de</strong>n Ersten. Bis zum Anfang <strong>de</strong>s Konzerts ha� en wir<br />

noch vier Stun<strong>de</strong>n Zeit. Wenn man be<strong>de</strong>nkt, wie früh wir gekommen<br />

waren, hä� e man uns nicht in die erste Reihe vor <strong>de</strong>r Bühne, son<strong>de</strong>rn<br />

oben auf die Bühne lassen müssen, dachte ich. Jemand schlug vor, für<br />

das Konzert Stolichnaya zu kaufen. In <strong>de</strong>r Nähe gab es einen Supermarkt,<br />

genau so einen wie in Skopje. Die gleichen Regale, die gleichen<br />

mürrischen Verkäuferinnen und Spiegel an <strong>de</strong>r Decke, um La<strong>de</strong>ndiebstahl<br />

zu verhin<strong>de</strong>rn. Jemand sagte, wir wür<strong>de</strong>n mit Alkohol nicht reingelassen.<br />

Also kau� en wir auch Sa� in einer Plas� kfl asche, um <strong>de</strong>n<br />

Wodka zu tarnen. Fürs Erste nahmen wir zwei Halbliterfl aschen. Wir<br />

dachten, das wür<strong>de</strong> für <strong>de</strong>n ganzen Abend reichen, aber wie sich herausstellte,<br />

war es nur <strong>de</strong>r Anfang. In <strong>de</strong>n dreieinhalb Stun<strong>de</strong>n bis das<br />

NEP seine Tore öff nete, gingen wir einige Male in <strong>de</strong>n Supermarkt.<br />

Wir verpulverten unsere ganzen Forint. Ich ging noch einmal hin und<br />

klaute eine Flasche. Das Gewimmel <strong>de</strong>r Bowie-Fans war so groß, dass<br />

es niemand merkte. Mars trug eine Gürteltasche mit all unseren Dokumenten.<br />

Er wirkte am nüchternsten von uns allen. Außer<strong>de</strong>m war<br />

er <strong>de</strong>r Älteste, also waren die Pässe bei ihm am sichersten. Wir hüteten<br />

sie wie unsere Augäpfel: die roten Pässe mit <strong>de</strong>m jugoslawischen<br />

Wappen, mit <strong>de</strong>nen wir nach Lust und Laune überall hin fahren konnten.<br />

Heutzutage wer<strong>de</strong>n Aufsätze über sie geschrieben. Aber einem<br />

Dokument so viel Aufmerksamkeit zu widmen – das geht mir einfach<br />

zu weit. Auch wenn das Dokument ein Symbol ist. Für einen verrotteten,<br />

zerfallenen und absolut verfi ckten ... Staat, <strong>de</strong>r quasi von <strong>de</strong>n<br />

Flammen <strong>de</strong>s Wappens <strong>de</strong>r vereinigten Republiken und Provinzen abgefackelt<br />

wur<strong>de</strong>.<br />

(mehr unter www.slovokult.<strong>de</strong>)<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Will Firth<br />

Mit freundlicher Genehmigung <strong>de</strong>r Literaturagentur Dagmar Schruf,<br />

www.schruf.<strong>de</strong><br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Der Tod <strong>de</strong>s Fuchses (Aus <strong>de</strong>m Erzählband „Sanduhr“)<br />

(Auszug)<br />

[...] In Kičevo hielt uns die Polizei an. Rou� nekontrolle. Der Taxifahrer<br />

nahm unsere Personalausweise und s� eg aus. Ein Stück kalte<br />

Winterlu� kam in das aufgeheizte Auto, bevor er die Tür schloss. Er<br />

stand mit <strong>de</strong>n Polizisten draußen, ich und Luna tranken vom Bier. Ich<br />

zün<strong>de</strong>te eine Zigare� e an. Sah <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rschein <strong>de</strong>r Glut in <strong>de</strong>r Scheibe<br />

rechts von mir. Dann sah ich, dicht an <strong>de</strong>r Scheibe, einen Polizisten.<br />

Er lächelte mich an. Ich lächelte zurück.<br />

„Isakovski?“, sagte es von <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>r kalten Nacht her.<br />

„Ja“, sagte ich im Auto und öff nete die Tür.<br />

„Guten Abend, Herr Isakovski“, sagte <strong>de</strong>r Polizist.<br />

Damit wir uns verstehen: Ich ha� e im letzten Jahrzehnt viele Begegnungen<br />

mit Polizisten, aber nicht einer <strong>de</strong>r makedonischen Polizisten<br />

ha� e sich auf diese Weise an mich gewandt. Es gab ein san� es<br />

Lächeln in diesem „Guten Abend“, und ich war verwirrt. Ich war daran<br />

gewöhnt, dass sie mich untersuchten, dass sie kaltblü� g meine Papiere<br />

verlangten, dass sie mich zu Gesprächen vorlu<strong>de</strong>n... Das hier war<br />

etwas völlig Neues. Ich erwartete Ärger...<br />

„Guten Abend“, sagte ich.<br />

„Go� muss schlafen, wenn er schon Kriege, Atombomben, Poli� -<br />

ker, Bullen und all die übrige Kacke zulässt“, sagte <strong>de</strong>r Bulle.<br />

„Jetzt hab ich verschissen“, dachte ich und lächelte. Niemand hätte<br />

mich davon überzeugen können, dass irgen<strong>de</strong>in Bulle meine Erzählung<br />

liest. Und dass er sich dann daran erinnert... Nein, natürlich<br />

nicht. Aber da stand er vor mir, einen Kopf kleiner, mit blon<strong>de</strong>m Haar<br />

unter <strong>de</strong>r Mütze und mit Pistole und Schlagstock am Gürtel. Und zi-<br />

� erte mich Wort für Wort. Ich bin kein Typ mit gutem Gedächtnis;<br />

ich erinnere mich an fast nichts, was ich geschrieben habe. Vielleicht<br />

<strong>de</strong>shalb bin ich baff , wenn jemand meine Texte besser kennt als ich.<br />

Ich bin angenehm baff .<br />

„Scheint so, dass er schlä� “, sagte ich.<br />

„Wie geht es Ihnen, Herr Isakovski?“<br />

„Gut, danke! Wie geht es Ihnen?“<br />

„Tja, noch ein paar Stun<strong>de</strong>n, dann fahren wir nach Hause.“<br />

„...“<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/11


12/<br />

„Und, in Ohrid? Haben Sie dort etwas zu tun?“<br />

„Nein... Ich ha� e die Schnauze gestrichen voll von Skopje.“<br />

Im gleichen Moment tat es mir leid, dass ich so ungehobelt gewesen<br />

war; <strong>de</strong>r Bulle ha� e das nicht verdient. Aber so bin ich eben...<br />

„Verstehe“, sagte er und lächelte.<br />

Ich schwieg.<br />

„Schreiben Sie an etwas Neuem?“, fragte er.<br />

„Ja, ich schreibe immer. Nur veröff entlichen tu ich selten.“<br />

„Naja, selten. Sie haben doch schon drei Bücher!“<br />

„Vier“, sagte ich. „Jetzt wird es gedruckt, in diesen Tagen.“<br />

„Hervorragend!“, sagte er. „Prosa?“<br />

„Nein, Lyrik. Alle mögen meine Prosa.“<br />

Er lächelte.<br />

„Ich dachte, dass Sie wenigstens einhun<strong>de</strong>rt Kilogramm wiegen<br />

und dass Sie ein sehr grober Mensch sind“, sagte er.<br />

Wir sprachen noch eine Weile so, bis mir einfi el, dass ich im T-<br />

Shirt draußen stand, in <strong>de</strong>r mi� leren Mi� e <strong>de</strong>r Winternacht. Wir verabschie<strong>de</strong>ten<br />

uns, drückten einan<strong>de</strong>r fest die Hand, und ich s� eg ein.<br />

Der Fahrer ließ <strong>de</strong>n Motor an. „Zum Teufel, Isakovski“, sagte ich zu<br />

mir, „du wirst dich noch vor Berühmtheit erkälten!“ Der Bulle klop� e<br />

an die Scheibe.<br />

„Entschuldigen Sie... Können Sie mir hier unterschreiben?“<br />

Das war schon zu viel. Ich habe bisher ein paar Autogramme verteilt,<br />

aber die Tatsache, dass fast alle weiblichen Namen gewidmet<br />

waren, spricht genug für sich. Ich unterschrieb.<br />

„Du bist Schri� steller?“, fragte <strong>de</strong>r Fahrer.<br />

„Scheint so“, sagte ich.<br />

Luna lächelte.<br />

Wir reisten durch die Nacht, hetzten Richtung Ohrid. Ich ha� e<br />

es nicht eilig. Ich wollte unterwegs sein, ewig <strong>de</strong>n Aufenthaltsort än<strong>de</strong>rn,<br />

auf Leute stoßen. Auch wenn sie nicht so ne� wären wie <strong>de</strong>r<br />

Bulle vorhin.<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Benjamin Langer<br />

Mit freundlicher Genehmigung von TRADUKI: www.traduki.eu<br />

Photo: Ivana Kuzmanovska<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Luan Starova<br />

Erzähler, Romancier, Dichter, Essayist und Literaturkri� ker<br />

Biographie<br />

Luan Starova, 1941 in Albanien geboren,<br />

ist in Skopje, Makedonien, aufgewachsen.<br />

Er studierte an <strong>de</strong>r Universität<br />

Skopje, wo er später Professor für<br />

Romanische Sprachen wur<strong>de</strong>. Starova<br />

schreibt in Albanisch, Makedonisch und<br />

Französisch. Starova war Botscha� er<br />

<strong>de</strong>r Republik Makedonien in Frankreich,<br />

Portugal, Spanien und bei <strong>de</strong>r UNESCO.<br />

Er ist seit 1970 Mitglied <strong>de</strong>s Makedonischen<br />

Schri� stellerverban<strong>de</strong>s.<br />

Bibliographie (Auswahl)<br />

1992 – Die Brücke <strong>de</strong>r Liebe<br />

1992 - Das Buch <strong>de</strong>s Vaters<br />

1993 - Zeit <strong>de</strong>r Ziegen<br />

1997 - Atheis� sches Museum<br />

1998 - Umgepfl anzte Er<strong>de</strong><br />

2000 - Der Weg <strong>de</strong>r Aale<br />

2002 - Burg aus Asche<br />

2005 - Ervehe. Das Buch <strong>de</strong>r Mu� er<br />

Preise (Auswahl)<br />

11 Oktomvri; 13 Noemvri; Grigor Prličev; Stale Popov<br />

Das Buch <strong>de</strong>r Mu� er (Roman)<br />

(Auszüge)<br />

1. (Seite 18): Für Mu� er gab es in ihrem Leben inmi� en Vaters Bücherschar<br />

nur ein Buch, das sie wirklich ihr eigenes nennen konnte. Es war<br />

aber ein höchst be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s. Ja, mit diesem einzigen eigenen Buch<br />

hat sie jahrelang das Gleichgewicht mit allen an<strong>de</strong>ren Büchern Vaters<br />

aufrechterhalten, die aus verschie<strong>de</strong>nen Zeiten stammten und in unterschiedlichen<br />

Schri� en geschrieben waren.<br />

Mu� ers Buch war ein ganz gewöhnlicher Katalog <strong>de</strong>s großen italienischen<br />

Warenhauses La Rinascente, größtenteils <strong>de</strong>r Frühlingsmo-<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/13


14/<br />

<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Jahres 1949 gewidmet [...].<br />

Dieses ungewöhnliche, bunte Buch ha� e sozusagen auch die ungewöhnlichste<br />

Geschichte von allen in Vaters Bibliothek. Es zeugte<br />

in beson<strong>de</strong>rer Weise vom Exil <strong>de</strong>r Familie und vom glücklichsten Abschni�<br />

im Leben meiner Mu� er. Das Buch war, wie ein hinreißen<strong>de</strong>s<br />

Album, mit Bil<strong>de</strong>rn von Mu� ers Illusionen gefüllt, mit <strong>de</strong>nen sie das<br />

Leben auf <strong>de</strong>m Balkan verbrachte.<br />

2. (Seite 58-60): „Eine kleine italienische Einheit hielt vor unserem Haus<br />

an. Sie war an <strong>de</strong>njenigen Häusern vorübergegangen, über <strong>de</strong>nen<br />

eine italienische Fahne wehte. Die Kin<strong>de</strong>r packte große Angst. Ich<br />

ging zur Pforte hinaus und grüßte die Soldaten auf Italienisch. Davon<br />

waren sie sichtlich überrascht.<br />

‚Sind Sie Italienerin, Signora?‘ fragte <strong>de</strong>r Soldat, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Trupp<br />

anführte.<br />

‚Nein, mein Sohn, aber ich liebe Italien.‘<br />

‚Warum weht dann über Ihrem Haus keine italienische Fahne, wie<br />

über <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren?!‘ bellte <strong>de</strong>r Soldat.<br />

Es gab noch ein wenig Zeit, um <strong>de</strong>m jungen Soldaten meine Ergebenheit<br />

und Liebe zur italienischen Fahne zu erklären. Der Soldat<br />

– bes� mmt ein Feldwebel – kündigte kategorisch an:<br />

‚Wir wer<strong>de</strong>n ein Maschinengewehr auf Ihrem Dach pos� eren.<br />

Von dort aus haben wir <strong>de</strong>n besten Blick in Richtung Feind!‘“[...]<br />

„Die Schießerei fl aute aber bald ab. Man wi� erte eine Feuerpause.<br />

Ich stand allein an <strong>de</strong>r Pforte mit <strong>de</strong>m kleinsten Sohn auf <strong>de</strong>m<br />

Arm, er war gera<strong>de</strong> vier-fünf Monate alt. Die ganze Zeit lächelte er<br />

fröhlich, beson<strong>de</strong>rs nach <strong>de</strong>m Knall eines Gewehrs o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m Rums<br />

einer fernen Granate. Allmählich kamen auch die an<strong>de</strong>ren drei Söhne<br />

herunter. Sie schmiegten sich an mich. Ich bat die Soldaten noch einmal,<br />

in Go� es Namen unser Haus zu verschonen und das Maschinengewehr<br />

an<strong>de</strong>rswo aufzustellen [...].<br />

‚Wir haben keine Zeit, uns in Sen� mentalitäten zu verlieren. Nach<br />

oben mit <strong>de</strong>m Maschinengewehr! Und Sie, Signora, entwe<strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n<br />

Keller mit <strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn o<strong>de</strong>r machen Sie sich von hier fort!‘<br />

Viel Zeit zum Nach<strong>de</strong>nken gab es nicht, also sagte ich sofort zum<br />

Befehlshaber:<br />

‚Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, dass sich vorhin eine an<strong>de</strong>re<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Gruppe eurer Soldaten hier gemel<strong>de</strong>t hat. Das waren Offi ziere. Sie<br />

meinten, sie kämen hierher, um Quar� er zu beziehen!‘<br />

Der Befehlshaber sah mich misstrauisch an. Er konsul� erte kurz<br />

die an<strong>de</strong>ren Soldaten und sprach:<br />

‚Signora, wir haben großen Respekt vor Ihnen und Ihren Kin<strong>de</strong>rn.<br />

Sie sprechen ein fabelha� es Italienisch, als wäre es Ihre Mu� ersprache,<br />

bes� mmt haben Sie italienische Wurzeln und sind eine von uns,<br />

<strong>de</strong>shalb müssen wir Ihnen einfach glauben! Aber damit es klar ist:<br />

Wenn Sie uns hereinlegen, wird es Ihnen schlecht ergehen, wenn wir<br />

zurückkehren!‘<br />

Nach diesen Worten zogen die Soldaten davon. In meinem Herzen<br />

war die Hölle los – die Hölle <strong>de</strong>s Krieges. Zum Glück rückten die<br />

griechischen Soldaten wie<strong>de</strong>r vor. Das Schicksal wollte es so, dass die<br />

Italiener nicht zurückkamen. Wir waren gere� et.“<br />

3. (S. 187-188): Während <strong>de</strong>r Hungerjahre gab es für uns alle einen wun<strong>de</strong>rbaren<br />

Tag, ja man kann fast sagen: einen süßen Tag. Es trug sich<br />

zu, dass Mu� er einmal kurz vor Monatsen<strong>de</strong> <strong>de</strong>m Schwesterchen<br />

das letzte Geld anvertraute und es losschickte, Mehl zu kaufen. Das<br />

Schwesterchen ging aber am La<strong>de</strong>n, in <strong>de</strong>m das Mehl verkau� wur<strong>de</strong>,<br />

vorüber. Es hielt vor <strong>de</strong>m Schaufenster <strong>de</strong>r großen Konditorei in unserem<br />

Stadtviertel an. Kuchen gab es dort, Gebäck und Süßigkeiten; in<br />

<strong>de</strong>r Mi� e aber stand ein großer Elefant aus Schokola<strong>de</strong>, <strong>de</strong>r bes� mmt<br />

min<strong>de</strong>stens ein Kilo wog. Alle Kin<strong>de</strong>r, die an <strong>de</strong>r Konditorei vorbeikamen,<br />

sahen sich begeistert <strong>de</strong>n Elefanten an. Man musste ein wenig<br />

Schokola<strong>de</strong> kaufen, mit Tierbildchen drinnen, und nur eine <strong>de</strong>r vielen<br />

Packungen Schokola<strong>de</strong> enthielt das Bildchen eines kleinen Elefanten<br />

und führte zum begehrten Preis.<br />

Das Schwesterchen war immer noch nicht zurück. Allmählich begann<br />

Mu� er, sich Sorgen zu machen und schickte einen <strong>de</strong>r Brü<strong>de</strong>r,<br />

<strong>de</strong>r gera<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Schule gekommen war, um nach <strong>de</strong>m Verbleib<br />

<strong>de</strong>r Tochter zu sehen. Der Bru<strong>de</strong>r suchte sie im Lebensmi� ella<strong>de</strong>n.<br />

Besorgt ging er weiter zur Konditorei. Und sah das Schwesterchen<br />

mit <strong>de</strong>m großen Schokola<strong>de</strong>nelefanten herauskommen. Es ha� e <strong>de</strong>n<br />

Preis gewonnen und war überglücklich. Den Elefanten konnte es einfach<br />

nicht loslassen.<br />

An <strong>de</strong>m Tag musste Mu� er nicht die übliche Grütze zum Abend-<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/15


16/<br />

essen kochen. Wir teilten uns unseren Schokola<strong>de</strong>nelefanten. Es<br />

blieb auch ein wenig für <strong>de</strong>n nächsten Tag übrig. Aber bereits am Tag<br />

darauf und an vielen weiteren Tagen folgte wie<strong>de</strong>r die gleiche Grütze<br />

mit <strong>de</strong>n gleichen Kichererbsen.<br />

4. (S. 237-239): Eines langen Winters gab es einen <strong>de</strong>r stärksten Schneefälle<br />

in unserer Stadt, einen, <strong>de</strong>r für immer im Gedächtnis blieb. Jahre<br />

später, wenn wir an jene Zeit zurückdachten, sagten wir: „Damals, als<br />

<strong>de</strong>r stärkste Schnee fi el.“<br />

Die Stadt war fast lahmgelegt. Die Busse fuhren nicht, <strong>de</strong>nn die<br />

Straßen waren dick mit Schnee be<strong>de</strong>ckt. Noch in <strong>de</strong>r Morgendämmerung<br />

fl ogen meine Gedanken zu Mu� er. Mit großer Schwierigkeit erkämp�<br />

e ich mir einen Weg durch das Weiß und erreichte schließlich<br />

unser altes Haus. Es war in <strong>de</strong>n Schneemassen versunken, die auch<br />

das Tor vor <strong>de</strong>m Haus beinahe blockierten.<br />

Ich begann, <strong>de</strong>n Weg zur Haustür freizuschaufeln. Mu� er wusste,<br />

dass ich gekommen war, um sie zu uns zu holen, zumin<strong>de</strong>st solange,<br />

bis <strong>de</strong>r Schnee schmelzen wür<strong>de</strong>. Ich fl ehte sie an, zu uns zu kommen,<br />

damit sie nicht unnö� g allein in <strong>de</strong>r Schneewüste wohnte. Sie nannte<br />

alle nur <strong>de</strong>nkbaren Grün<strong>de</strong>, warum sie das Haus nicht verlassen<br />

konnte. Diese ungewöhnliche Diskussion zwischen Mu� er und Sohn<br />

im ununterbrochen fallen<strong>de</strong>n Schnee hä� e man sehen sollen!<br />

Es kamen die Nachbarn von nebenan. Sie legten Mu� er ans Herz,<br />

mit mir zu gehen, obwohl eben sie – die bedür� igen Nachbarn – Mutter<br />

einen Augenblick vorher noch als stärkster Trumpf für das Verbleiben<br />

gegolten ha� en. Mu� er ha� e gemeint, dass die Nachbarn,<br />

die um ihre Einsamkeit herum wohnten, sie gera<strong>de</strong> jetzt am meisten<br />

bräuchten.<br />

[...] Schließlich gab sie nach und s� mmte zu, mit mir zu gehen,<br />

aber erst nach<strong>de</strong>m sie das Haus schön or<strong>de</strong>ntlich hinterlassen hä� e,<br />

betonte sie, obwohl alles schon picobello war. Endlich stand sie da in<br />

ihrem Pelzmantel, <strong>de</strong>n sie seit langem nicht mehr getragen ha� e.<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Will Firth<br />

Mit freundlicher Genehmigung <strong>de</strong>s Wieser Verlags, Klagenfurt<br />

www.wieser-verlag.com<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Dragi Mihajlovski<br />

Prosaist, Essayist, Literaturforscher, Übersetzer<br />

Biographie<br />

Dragi Mihajlovski wur<strong>de</strong> 1951 in Bitola,<br />

Makedonien, geboren. Er studierte<br />

Englische Sprache und Literatur an<br />

<strong>de</strong>r Universität „Sv. Kiril i Metodij“ in<br />

Skopje. Seit 1976 arbeitet er an <strong>de</strong>r<br />

Philologischen Fakultät „Blaže Koneski“<br />

in Skopje. Zur Zeit ist er Professor für<br />

Theorie und Praxis <strong>de</strong>s Übersetzens. Er<br />

arbeitete als Redakteur für die Literaturzeitschri�<br />

en „Le� re Interna� onal“,<br />

„Stožer“ und „Stremež“. Dragi Mihajlovski lebt und arbeitet in Skopje.<br />

Bibliographie<br />

1981 - Bienenstock am Fluss – Roman<br />

1990 - Sohle – Erzählungen<br />

1991 - Ungekreuzigte Gö� er – Essays und Übersetzungen<br />

1994 - Stabhochsprung – Erzählungen<br />

1995 - Das Zauberkesselchen und an<strong>de</strong>re Märchen – Kin<strong>de</strong>rbuch<br />

1999 - Die Tripolskaer Pforte – Erzählungen<br />

2000 - Der Arme und die Lerche – Kin<strong>de</strong>rbuch<br />

2001 - Der Prophet aus Discountryen - Roman<br />

2002 - Der Tod <strong>de</strong>s Scriptors – Roman<br />

2002 - Unter <strong>de</strong>m Babylonischen Turm: die Aufgabe <strong>de</strong>s Übersetzers I –<br />

Studie<br />

2003 - Erzählungen aus <strong>de</strong>r sechsten Etage – Erzählungen<br />

2006 - Mein Skan<strong>de</strong>rbeg – Roman<br />

2009 - Bajazit und Olivera - Roman<br />

Übersetzungen: Dragi Mihajlovski hat bereits über 70.000 Verse aus <strong>de</strong>m<br />

Englischen ins Makedonische und umgekehrt übersetzt.<br />

(mehr unter: www.slovokult.<strong>de</strong>)<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/17


18/<br />

Die Wiesel aus Čair 1 (Erzählung)<br />

Dimitar Borovski, genannt Dimsa, gab <strong>de</strong>n Löff el an einem hässlichen<br />

Novembermorgen im Jahr Zweitausendsiebzehn ab, und bereits<br />

vor Ablauf <strong>de</strong>sselben Tages fand er sich als Wiesel wie<strong>de</strong>r, auf <strong>de</strong>m<br />

dicksten Ast <strong>de</strong>r größten Esche kriechend, die mi� en im Park von Čair<br />

protzig emporragte. Er war immer noch von <strong>de</strong>m Donnerschlag benommen,<br />

<strong>de</strong>r ihn heute morgen am Kopf getroff en ha� e, während<br />

er im Regen spazieren ging, � ef in Gedanken über die Grün<strong>de</strong> für das<br />

Scheitern <strong>de</strong>r Projekte für ein Zusammenleben in irgen<strong>de</strong>iner erweiterten<br />

Gemeinscha� in seinem geliebten Makedonien versunken,<br />

und <strong>de</strong>r ihn nun in dieses vierbeinige Tierchen verwan<strong>de</strong>lt ha� e, das<br />

in einem Fellkleid steckte und vor Kälte stark zi� erte.<br />

„Was für ein beschissenes Glück!“, dachte er, als er diese neue<br />

Situa� on begriff en ha� e, und kroch in eine große Höhle im Stamm<br />

<strong>de</strong>r Esche, um sich ein wenig aufzuwärmen. „Mein ganzes Leben lang<br />

blickte ich in <strong>de</strong>n Himmel und schmie<strong>de</strong>te große Pläne, dachte global,<br />

zum Wohl <strong>de</strong>r Heimat, wie man so sagt, und stürzte dann einfach mit<br />

<strong>de</strong>m Kopf gegen <strong>de</strong>n Bo<strong>de</strong>n, ohne einen einzigen Plan verwirklicht zu<br />

haben, mit geschrump� em Verstand, und <strong>de</strong>r Heimat bin ich Jacke<br />

wie Hose, sie schert sich nicht im Geringsten um mein Schicksal! Was<br />

habe ich <strong>de</strong>nn falsch gemacht?“<br />

Und im Laufe <strong>de</strong>r nächsten fünf Jahre dachte er immer, wenn er<br />

sich sicher fühlte – <strong>de</strong>nn inzwischen kannte er seine Fein<strong>de</strong> im Park,<br />

diejenigen, die ihm <strong>de</strong>n Hals umdrehen und ihn in etwas Dri� es verwan<strong>de</strong>ln<br />

könnten –, hoch auf einem Ast sitzend über sein erstes Leben<br />

nach, darüber, wie schnell es vorbeigegangen war, wie er es mit<br />

Dummheiten verschwen<strong>de</strong>t ha� e, in naivem Unwissen, und darüber,<br />

wie und was er machen wür<strong>de</strong>, sollte er zufällig noch eine zweite<br />

Chance von Go� bekommen, als Mensch auf die Welt zu kommen.<br />

Bei <strong>de</strong>m Gedanken an eine solche zweite Gelegenheit begannen<br />

seine Äuglein sofort zu glänzen, sein Schwänzchen fi ng an lang und<br />

hek� sch zu we<strong>de</strong>ln und sein kleines Herz he� ig zu pochen. In diesen<br />

Augenblicken, die zwar nicht recht häufi g waren, wagte er es sogar,<br />

vor <strong>de</strong>r Morgendämmerung, sozusagen noch vor <strong>de</strong>m Morgengrauen,<br />

wenn fast alles Leben<strong>de</strong>, was irgen<strong>de</strong>in Zuhause ha� e, sich dort<br />

1 Чаир – Stadtbezirk in Skopje (Anmerkung <strong>de</strong>r Übersetzerin)<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


einfand und einschlief, von <strong>de</strong>r Esche hinunter zu kle� ern, vorsich� g<br />

<strong>de</strong>n Park zu durchqueren, dicht an <strong>de</strong>r Stadionmauer <strong>de</strong>s FC Sloga<br />

entlang, dort wo es am dunkelsten war, heimlich und blitzschnell am<br />

Maschendraht von Dau� Kommerz gegenüber <strong>de</strong>m Supermarkt Vero<br />

vorbei zu huschen und im � efen Scha� en <strong>de</strong>r ekligen Müllcontainer<br />

verborgen in die John-Kennedy-Straße, die er noch aus <strong>de</strong>n Zeiten<br />

von Titos Jugoslawien sehr gut kannte, zu glotzen. Der Arme wollte<br />

doch nur wissen, was in <strong>de</strong>r Welt, die er so unerwartet verlassen<br />

ha� e, vor sich ging. Sein Land liebte er doch immer noch! Als er aber<br />

immer wie<strong>de</strong>r sehen konnte, dass sich nichts geän<strong>de</strong>rt ha� e, dass alles<br />

immer noch dreckig, verkommen und schlecht beleuchtet war, genauso<br />

wie in seinem vorherigen Leben, kehrte er, en� äuscht von <strong>de</strong>n<br />

äußeren Umstän<strong>de</strong>n, mit verlorenem Enthusiasmus auf <strong>de</strong>m gleichen<br />

Weg, diesmal aber weniger aufmerksam und langsamer und wie erschlagen,<br />

wie<strong>de</strong>r in seine Höhle inmi� en <strong>de</strong>s Parks zurück.<br />

„Es hat sich also nichts getan?“, wun<strong>de</strong>rte es sich. „Was verlangen<br />

sie <strong>de</strong>nn jetzt noch von uns? Wir haben doch alle Benchmarks erreicht,<br />

die normalen wie auch die nicht normalen, wir haben unseren<br />

Namen und unsere Flagge geän<strong>de</strong>rt, wir haben uns für dumm und<br />

charakterlos, unfrei und halbunabhängig erklärt, viele von uns sind in<br />

ein an<strong>de</strong>res Leben übergewechselt, was sollen wir <strong>de</strong>nn noch tun?“<br />

In solchen Augenblicken, in <strong>de</strong>nen er von einer unglaublichen<br />

Neugier gepeinigt wur<strong>de</strong>, bedauerte er es bi� erlich, dass er kein<br />

Mensch war und daher nicht in <strong>de</strong>r Lage, über die John-Kennedy-<br />

Straße zu laufen, <strong>de</strong>n kleinen Tunnel unter <strong>de</strong>m Haus Nummer eins<br />

zu durchqueren, direkt vor <strong>de</strong>m Haus Novotnis herauszukommen und<br />

bei Alberto eine Zeitung zu kaufen. Aber das war unmöglich, wegen<br />

<strong>de</strong>r unmi� elbar drohen<strong>de</strong>n Gefahr, unter die Rä<strong>de</strong>r eines rasen<strong>de</strong>n<br />

Autos zu geraten o<strong>de</strong>r erschlagen und in einen Pelz für <strong>de</strong>n Hals einer<br />

nach wi<strong>de</strong>rlichem Parfüm s� nken<strong>de</strong>n dicken Dame verwan<strong>de</strong>lt<br />

zu wer<strong>de</strong>n. Dimsa wusste das, und ihm fehlte auch <strong>de</strong>r Mut, sich für<br />

eine weitere Verwandlung zu entschei<strong>de</strong>n, jetzt wo er sich doch an<br />

das Fre� chenleben gewöhnt ha� e. Deshalb saß er stun<strong>de</strong>nlang in<br />

sich zusammengesunken auf <strong>de</strong>m Ast <strong>de</strong>r Esche, en� äuscht von <strong>de</strong>r<br />

unbarmherzigen Unberechenbarkeit Go� es, von <strong>de</strong>ssen komischer<br />

Neigung, geschmacklose Scherze zu machen, seiner unangenehmen<br />

Verrücktheit, die Dinge in <strong>de</strong>r Welt unlogisch zu ordnen, und beson-<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/19


20/<br />

<strong>de</strong>rs von seiner Fähigkeit, je<strong>de</strong>n je<strong>de</strong>rzeit, auch gegen seine eigenen<br />

unbeständigen Absichten in eine an<strong>de</strong>re Körperlichkeit zu verwan<strong>de</strong>ln,<br />

egal, ob diese nun größer o<strong>de</strong>r kleiner ausfi el. Und nicht selten<br />

fragte er sich, warum man ihm seinen Verstand gelassen ha� e, voller<br />

Pläne, Hoff nungen, Wünsche, Vorstellungen und Bestrebungen,<br />

wenn er sich doch durch seine Erlebnisse ha� e überzeugen können,<br />

dass ein einziger Augenblick unangebrachten Verhaltens genügte, um<br />

<strong>de</strong>n Tyrannen, <strong>de</strong>r off ensichtlich nichts An<strong>de</strong>res zu tun ha� e, dazu<br />

zu bringen, alles in Schu� und Asche zu verwan<strong>de</strong>ln. Solche Gedanken<br />

gingen <strong>de</strong>m völlig zerrü� eten Dimsa durch <strong>de</strong>n Kopf, und erst<br />

als ihn die frühmorgendliche Kälte zi� ern ließ, zog er sich in seinen<br />

Unterschlupf im Stamm <strong>de</strong>r dicken Esche zurück, nie<strong>de</strong>rgeschlagen,<br />

dass er dazu verurteilt wor<strong>de</strong>n war, so unanständig entstellt in <strong>de</strong>m<br />

engen Raum <strong>de</strong>s Skopjer Stad� eils Čair eingesperrt zu sein... Und was<br />

konnte er <strong>de</strong>nn bi� eschön an<strong>de</strong>res machen? Gab es <strong>de</strong>nn überhaupt<br />

an<strong>de</strong>re Lösungen für diese eineinhalb Kilo pelziges Fleisch, zurückgelassen,<br />

um im unverzäunten Gefängnis seines eigenen Schicksals zu<br />

ver<strong>de</strong>rben?<br />

Aber so, wie die Dinge plötzlich schlechter wer<strong>de</strong>n können, so<br />

können sie sich genauso plötzlich auch zum Besseren wen<strong>de</strong>n. Auf<br />

Regen folgt Sonnenschein, wie man so sagt. Auf die Trauer folgt die<br />

Freu<strong>de</strong>. Und die Sonne, die Freu<strong>de</strong>, kam für das Wiesel Dimsa völlig<br />

unerwartet eines Dezemberabends im Jahr Zweitausenddreiundzwanzig.<br />

Kaum ha� e er seine beschei<strong>de</strong>ne Abendmahlzeit aufgegessen<br />

– vom nassen Stamm, in <strong>de</strong>m er lebte, abgekratztes Moos – und<br />

machte sich zum Schlafengehen in <strong>de</strong>r Höhle <strong>de</strong>r Esche bereit, die<br />

im Laufe <strong>de</strong>r Jahre immer größer wur<strong>de</strong> und so die Stabilität seines<br />

großen Zuhauses langsam zernagte, als plötzlich sie vor ihm erschien:<br />

neu, frisch, ein wenig merkwürdig im Gesicht, aber <strong>de</strong>nnoch eine<br />

sehr schöne Wieselin, die sich ihm kriechend näherte und ins Ohr<br />

fl üsterte:<br />

„Was? Du erkennst mich nicht? Ich bin es doch, <strong>de</strong>ine Kollegin<br />

vom Ins� tut, Maria Vučidolova , du erinnerst dich, o<strong>de</strong>r? [...]<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Elizabeta Lindner<br />

(Die gesamte Erzählung bald unter: www.slovokult.<strong>de</strong>)<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Aleksandar Prokopiev<br />

Schri� steller, Essayist<br />

Biographie<br />

Aleksandar Prokopiev wur<strong>de</strong> 1953<br />

in Skopje, Makedonien, geboren. Er<br />

studierte allgemeine und vergleichen<strong>de</strong><br />

Literaturwissenscha� an <strong>de</strong>r<br />

Universität Belgrad. Seinen Doktor-<br />

� tel erwarb er an <strong>de</strong>n Universitäten<br />

Belgrad und Sorbonne, Paris. Er ist<br />

als wissenscha� licher Mitarbeiter am<br />

Lehrstuhl für makedonische Literatur<br />

<strong>de</strong>r Universität „Sv. Kiril i Metodij“<br />

in Skopje tä� g. Früher war er auch<br />

Mitglied <strong>de</strong>r berühmten jugoslawischen<br />

Band „Idoli“. Aleksandar Prokopiev<br />

lebt und arbeitet in Skopje.<br />

Bibliographie<br />

1983 - Der junge Meister <strong>de</strong>s Spiels -Erzählungen<br />

1987 - ...o<strong>de</strong>r... - Erzählungen<br />

1988 - Segeln nach Sü<strong>de</strong>n - Erzählungen<br />

1992 - Sermon für die Schlange - Erzählungen<br />

1994 - War Kalimach Postmo<strong>de</strong>rnist? - Essays<br />

1996 - Die Reise <strong>de</strong>s Märchens - Essays<br />

1996 - An� anweisungen für persönlichen Gebrauch - Erzählungen<br />

1998 - Radbild - Haiku<br />

2003 - Der Mann mit vier Uhren - Erzählungen<br />

2007 - Der Späher - Novelle<br />

2009 - Neue An� anweisungen für <strong>de</strong>n persönlichen Gebrauch -<br />

Erzählungen<br />

(mehr unter: www.slovokult.<strong>de</strong>)<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/21


22/<br />

Der Mann mit vier Uhren (Erzählung)<br />

Manch einem mag Folgen<strong>de</strong>s wie eine bloße Anekdote erscheinen.<br />

Mir jedoch ganz bes� mmt nicht – keinesfalls!<br />

In diesem Frühling gehen mir seit <strong>de</strong>m 20. April, je<strong>de</strong>s Mal wenn ich<br />

zwischen 17.30 und 19 Uhr vor <strong>de</strong>m „Bagdad Café“ sitze und versuche,<br />

meinen Macchiato zu genießen, immer wie<strong>de</strong>r die gleichen geschwätzigen<br />

Gedanken durch <strong>de</strong>n Kopf. Diese Gedanken überfallen<br />

mich, wie man so sagt, am helllichten Tag, und sta� mich zu wehren,<br />

erlaube ich ihnen, sich aneinan<strong>de</strong>r zu reihen und meinen ohnehin<br />

plumpen Körper noch schwabbeliger zu machen.<br />

So wird mir zum Beispiel klar, dass:<br />

- ich meine Unterwäsche unterschiedlich o� wechsle: die Unterhose<br />

zweimal am Tag, die Unterhem<strong>de</strong>n einmal die Woche;<br />

- ich einige französischen Wendungen vergessen habe, die ich früher<br />

sicher beherrschte, und nun sta� „trois heures moins le quart“<br />

„<strong>de</strong>ux heures quarante cinque“ sage;<br />

- meine morgendliche Rasur sich auf 40 bis 45 Minuten aus<strong>de</strong>hnt;<br />

- mich letzten Montag die bloße Existenz einer Kiefer störte (gepfl<br />

anzt im Garten meines Vaters am Tag meiner mi� leren Reife, vor<br />

nunmehr 30 Jahren); ich sie fällen lassen musste, weil die herabfallen<strong>de</strong>n<br />

Na<strong>de</strong>ln die Regenrinnen am Dach zu verstopfen drohten;<br />

- ich 60 Prozent <strong>de</strong>r Theaterstücke und 80 Prozent <strong>de</strong>r Filme nicht<br />

zu En<strong>de</strong> anschauen kann, aber an<strong>de</strong>rerseits besessen v on <strong>de</strong>n Horrorszenen<br />

auf <strong>de</strong>m Fernsehbildschirm bin, auf die ich bis spät nach<br />

Mi� ernacht schiele, das Gesicht in <strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n vergraben;<br />

- ich während einer Theaterauff ührung (und zwar einer <strong>de</strong>rjenigen,<br />

die zu En<strong>de</strong> anzuschauen mir gelang, einem Gastspiel einer<br />

argen� nischen Tanzgruppe beim MOT-Fes� val) erleben konnte, wie<br />

man live Tango tanzt, was an sich sehr schön sein kann, wenn man sich<br />

in keinem selbstkri� schen Zustand befi n<strong>de</strong>t, aber damals wie heute<br />

war ich in mich selbst ver� e� , und so verstand ich urplötzlich, warum<br />

Cortázar, Borges und Sábato so be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong> Schri� steller gewor<strong>de</strong>n<br />

sind. Dieses helle Leuchten in <strong>de</strong>n Gedanken und in <strong>de</strong>n Augen kann<br />

je<strong>de</strong>r etwas lei<strong>de</strong>nscha� lichere Mensch haben, aber bei <strong>de</strong>n argen� -<br />

nischen Schri� stellern und auch Tänzern ist es konzentriert, präzise,<br />

wie nach langem Lernen. Die echte Kunst erwächst, das weiß man<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


seit langem, aus <strong>de</strong>r zunehmen<strong>de</strong>n Präzision je<strong>de</strong>s Zuges, und für<br />

eine solche, das wur<strong>de</strong> mir immer klarer, ha� e ich nicht genug Zeit<br />

(dreimal unterstrichen!)<br />

- meine Freun<strong>de</strong> mir immer weniger zuhören, auch wenn ich heillos<br />

von <strong>de</strong>m überzeugt bin, was ich erzähle,; und ich so <strong>de</strong>n Eindruck<br />

habe, dass ich zu tauben Menschen spreche und dass es höchste Zeit<br />

wäre, damit zu beginnen, meine Sätze aufzuschreiben, um sie nicht<br />

nutzlos zu verschwen<strong>de</strong>n; ich aber <strong>de</strong>nnoch auch weiterhin nicht aufhöre,<br />

zu schwätzen o<strong>de</strong>r vor mich hin zu schwätzen und mir kaum<br />

etwas aufschreibe;<br />

- ich mich in einem Gespräch mit Miki, einem jener neuerdings<br />

taub gewor<strong>de</strong>nen Kindheitsfreun<strong>de</strong>, nicht mehr daran erinnern konnte,<br />

wie <strong>de</strong>r Südwind vom Vodno hieß, <strong>de</strong>r die Klei<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Frauen emporfl<br />

a� ern ließ. Damals starrten alle Jungs aus unserem Kiez stun<strong>de</strong>nlang,<br />

im Keller ebenjenes Miki versteckt, auf und zwischen die Beine<br />

<strong>de</strong>r Mädchen und Frauen, die vor <strong>de</strong>m La<strong>de</strong>n „Grombi“ über uns auf<br />

<strong>de</strong>m Kellergi� er stan<strong>de</strong>n, und wenn dann <strong>de</strong>r Wind, an <strong>de</strong>ssen Namen<br />

ich mich nicht mehr erinnern kann, mitunter zu wehen begann,<br />

war das für uns alle eine Premiere, die wir schweigend erlebten. Und<br />

<strong>de</strong>r Name jenes Win<strong>de</strong>s war – wie hä� e es <strong>de</strong>nn auch an<strong>de</strong>rs sein<br />

können – weiblich!<br />

- ich nahezu je<strong>de</strong>s Jahr Mi� e Mai allabendlich einen Ausschlag<br />

an <strong>de</strong>n Armen und Beinen bekomme, <strong>de</strong>r schrecklich juckt und mich<br />

dazu zwingt, min<strong>de</strong>stens dreimal pro Nacht aufzuwachen und mich<br />

wie verrückt zu kratzen, und ich dann aufgrund <strong>de</strong>r nervösen Hitze in<br />

meinem Körper lange Zeit nicht wie<strong>de</strong>r einschlafen kann.<br />

Aus Gewohnheit blickte ich auf meine „Nevada“. 18:37 Uhr.<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Ksenija Čočkova<br />

(Die gesamte Erzählung bald unter: www.slovokult.<strong>de</strong>)<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/23


24/<br />

Kim Mehme�<br />

Prosaist, Essayist, Publizist und Übersetzer<br />

Biographie<br />

Er wur<strong>de</strong> 1955 in Gërçec, makedonisch<br />

Grčec, Makedonien, geboren. Er ist ein<br />

makedonischer Publizist und Schri� -<br />

steller albanischer Na� onalität/Abstammung.<br />

Er schreibt Kurzgeschichten<br />

über das Leben und <strong>de</strong>n Alltag <strong>de</strong>r Makedonier,<br />

die er sowohl auf Albanisch<br />

als auch Makedonisch verfasst. In all<br />

seinen Aufgaben und Erzählungen setzt er sich für ein friedliches Zusammenleben<br />

<strong>de</strong>r verschie<strong>de</strong>nen Ethnien Makedoniens und gegen <strong>de</strong>n Na� onalismus<br />

ein. So war er auch Redakteur <strong>de</strong>s unabhängigen Informa� onsnetzwerkes<br />

AIM, in <strong>de</strong>m sowohl Albaner als auch Makedonier zusammenarbeiteten.<br />

Außer<strong>de</strong>m ist er Direktor <strong>de</strong>s Zentrums für mul� kulturelles Verständnis. Im<br />

März 2000 grün<strong>de</strong>te er gemeinsam mit Iso Rusi die unabhängige Wochenzeitung<br />

Lobi in Skopje, für die er auch schreibt.<br />

Seine Bücher wer<strong>de</strong>n seit einigen Jahren durch Joachim Röhm ins Deutsche<br />

übersetzt und beim Klagenfurter Verlag Drava veröff entlicht.<br />

Bibliographie (Auswahl)<br />

1994 - Der Fisch Extasis (Erzählungen auf Makedonisch)<br />

1995 - Die Sammler verwelkter Blumen (Erzählungen auf Albanisch)<br />

1997 - Nora (Erzählungen auf Makedonisch)<br />

1998 - Mondblume (Erzählungen auf Albanisch und Makedonisch)<br />

2002 - Dorf ohne Friedhof (Erzählungen auf Albanisch und 2003 auf Makedonisch)<br />

Werke auf Deutsch<br />

- Das Haus am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Dorfes - Zeitgenössische Erzählungen aus Mazedonien<br />

(Drava Verlag, 2001)<br />

- Das Dorf <strong>de</strong>r verfl uchten Kin<strong>de</strong>r (Drava Verlag, 2002)<br />

Das Haus am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Dorfes (Erzählung)<br />

(Auszug)<br />

Eine hohe Mauer und Wiesen umgaben das Haus am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Dorfes.<br />

Das Ho� or war schon seit vielen Jahren mit einer ros� gen Kette<br />

verschlossen. Nur die Ei<strong>de</strong>chsen krochen durch die Löcher in <strong>de</strong>r<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Mauer o<strong>de</strong>r die Ritzen zwischen <strong>de</strong>n Torbohlen und gaben sich im<br />

Hof <strong>de</strong>s Hauses ein Stelldichein, das schon lange verlassen war und<br />

bei <strong>de</strong>n Einwohnern als verwünscht galt. Eigentlich sahen alle das<br />

Haus, und zwar mehrmals täglich, wenn sie die Straße hinauf- und<br />

hinuntergingen, aber sie taten so, als bemerkten sie es gar nicht. Go�<br />

allein weiß, warum niemand zu <strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Sklaverei <strong>de</strong>s Schweigens verfallenen<br />

Mauern und <strong>de</strong>m schiefen Dach hinüberschaute, auf <strong>de</strong>m<br />

noch nicht einmal die Adler eine Pause einlegten, weil sie keine Lust<br />

ha� en, auf <strong>de</strong>m längst erkalteten Schornstein ihre Zeit zu vergeu<strong>de</strong>n.<br />

Vor diesem hohen Tor spielten auch keine Kin<strong>de</strong>r, wie dies vor <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />

Haustoren im Dorf gewöhnlich <strong>de</strong>r Fall war. Das Schweigen war<br />

<strong>de</strong>r alleinige Herrscher über das Haus, in das schon seit Jahren kein<br />

Mensch mehr seinen Fuß gesetzt ha� e. Zeuge dafür war das vor <strong>de</strong>r<br />

Pforte wuchern<strong>de</strong> Gras, das mit seinem schweigen<strong>de</strong>n Grün augenfällig<br />

bewies, dass dieses Haus seit Ewigkeiten keine Gäste mehr beherbergt<br />

ha� e, ja dass hier schon lange überhaupt kein Mensch mehr<br />

aus und ein gegangen war. Schon seit ein paar Jahren disku� erte man<br />

im Dorf darüber, ob es nicht besser sei, das Haus ganz abzureißen,<br />

zumal die Zahl jener wuchs, die meinten, es sei sowieso nur noch<br />

ein einziges großes Schlangennest und eine Heimsta� für Gespenster.<br />

Viele im Dorf beschwerten sich schon darüber, dass, wenn man sich<br />

einmal verspätete und erst nach Mi� ernacht ins Dorf zurückkehrte,<br />

im Inneren <strong>de</strong>s Hauses die Schreie einer Frau zu hören seien und jemand<br />

einen mit Steinen bewerfe.<br />

Als vor ein paar Jahren <strong>de</strong>r taubstumme Dalin, <strong>de</strong>r einzige Sohn<br />

<strong>de</strong>r alten Salushe, plötzlich aus <strong>de</strong>m Dorf verschwun<strong>de</strong>n war, ha� en<br />

manche Stein und Bein darauf geschworen, beim Haus am En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s<br />

Dorfes seien seine Schreie zu hören gewesen, und sie behaupteten<br />

gar, er habe ihnen vom Dach <strong>de</strong>s Hauses aus zugerufen: „Geht fort<br />

aus diesem Dorf, <strong>de</strong>nn alle Häuser wird das Gras überwuchern, wenn<br />

sie nicht schon vorher vom Feuer verschlungen wer<strong>de</strong>n!“, was insofern<br />

unmöglich war, als sich dazu bei Dalin auf einmal die Fähigkeit zu<br />

sprechen und zu hören hä� e eingestellt haben müssen.<br />

Aus <strong>de</strong>m Albanischen von Joachim Röhm<br />

Mit freundlicher Genehmigung <strong>de</strong>s Drava Verlags, Klagenfurt<br />

Photo © Bashkim Hasani<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/25


26/<br />

Goce Smilevski<br />

Prosaist, Drama� ker, Essayist, Literaturkri� ker<br />

Biographie<br />

Goce Smilevski wur<strong>de</strong> 1975 in Skopje,<br />

Makedonien, geboren. Er studierte<br />

Allgemeine und Vergleichen<strong>de</strong> Literatur<br />

an <strong>de</strong>r Universität „Sv. Kiril<br />

i Metodij“ in Skopje, Tschechische<br />

Sprache und Literatur an <strong>de</strong>r Karlsuniversität<br />

in Prag und Gen<strong>de</strong>r<br />

and Culture Studies an <strong>de</strong>r Zentral-<br />

Europäischen Universität in Budapest. Er lebt und arbeitet in Skopje.<br />

Bibliographie<br />

2000 - Der Planet <strong>de</strong>r Unerfahrung - Roman<br />

2002 - Gespräch mit Spinoza - Roman<br />

2002 - Gespräch mit Spinoza - Theaterstück<br />

2006 - Drei Tanzschri� e über die Grenze - Theaterstück<br />

2007 - Die Schwester von Sigmund Freud – Roman<br />

Preise: 2002 Roman <strong>de</strong>s Jahres <strong>de</strong>r Tageszeitung „Utrinski vesnik“<br />

(mehr unter www.slovokult.<strong>de</strong>)<br />

Gespräch mit Spinoza (Roman)<br />

(Auszug)<br />

Das Leben o<strong>de</strong>r das, was man Leben nennt, und was <strong>de</strong>r Anfang<br />

<strong>de</strong>s Sterbens ist, begann für mich an einem Punkt. Davor habe ich<br />

auch exis� ert, aber ich lebte nicht, <strong>de</strong>nn das Leben beginnt mit <strong>de</strong>m<br />

ersten Zeichen <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s, und dieses Zeichen war für mich eben dieser<br />

Punkt. Davor, vor <strong>de</strong>m Zeichen <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s, waren Gerüche und<br />

Geschmäcker da, Geräusche und Berührungen, auch Formen und Farben,<br />

doch sie waren nicht miteinan<strong>de</strong>r verbun<strong>de</strong>n, sie wan<strong>de</strong>n und<br />

schlängelten sich so dahin, in einem Kreis, <strong>de</strong>r endlose Dauer ankündigte<br />

– aber keinen Abschni� mit Anfang und En<strong>de</strong>.<br />

Bevor dieser Abschni� begann, und während ich noch im Kreis<br />

exis� erte, passierten Dinge, die an<strong>de</strong>re bezeugen können, an die ich<br />

mich aber nicht erinnere. Auf diese Welt kam ich am 24. November<br />

1632; acht Tage nach <strong>de</strong>r Geburt gab man mir <strong>de</strong>n Namen Bento, später<br />

nannte man mich Baruch und Benedictus, aber alle drei Namen<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


haben die gleiche Be<strong>de</strong>utung – gesegnet; obwohl zu meinem Leben<br />

vielleicht besser mein Nachname passt, <strong>de</strong>r sich vom portugiesischen<br />

Wort espinosa ableitet: Dorn. Ein gesegneter Dorn also, o<strong>de</strong>r ein Gesegneter<br />

in <strong>de</strong>n Dornen, gesegnet seien die Dornen, o<strong>de</strong>r: Ab in die<br />

Dornen mit <strong>de</strong>m Gesegneten!<br />

Meine Mu� er hieß Hana Debora Núñez. Ihren Geburtsort kenne<br />

ich nicht. Ich weiß, dass sie in Portugal geboren wur<strong>de</strong>, vierundzwanzig<br />

Jahre bevor sie mich gebar, und vor mir ha� e sie Isaak und Miriam<br />

auf die Welt gebracht.<br />

Abends, vorm Einschlafen, lauschte ich <strong>de</strong>r warmen S� mme meiner<br />

Mu� er, die Psalmen sang. Das waren meine ersten Erinnerungen:<br />

wie sie am Fenster steht und wie das Licht, das von draußen hereindringt,<br />

ihrer Figur eine silberhelle Kontur verleiht, und wie ihre S� mme<br />

etwas singt, was ich nicht verstehe. Dann erinnere ich mich, wie<br />

ich schon Fragen stellen konnte und fragte: was ist Blut, und was ist<br />

ein Tempel, und was ist Jerusalem, und was sind Diener, und Mu� er<br />

erklärte es mir. Ich fragte: was ist Babylon, was ist eine Wei<strong>de</strong>, was<br />

ist eine Harfe. Langsam, durch diese S� mme, kommt <strong>de</strong>r Schlaf, und<br />

an <strong>de</strong>r unbes� mmten Grenze zwischen Traum und Wachsein höre ich<br />

Mu� ers S� mme von <strong>de</strong>n Hei<strong>de</strong>n singen, die in Go� es Erbe einfi elen,<br />

<strong>de</strong>n Heiligen Tempel entweihten und Jerusalem <strong>de</strong>m Erbo<strong>de</strong>n gleich<br />

machten, und ich beginne im Traum zu sehen, wie die Hei<strong>de</strong>n die<br />

Leichname <strong>de</strong>r Go� esdiener <strong>de</strong>n Vögeln unter <strong>de</strong>m Himmel zum Fraß<br />

vorwerfen und die Körper <strong>de</strong>r Heiligen <strong>de</strong>n Tieren auf <strong>de</strong>m Fel<strong>de</strong>; ich<br />

träume, dass vor Jerusalem ihr Blut vergossen wird; in einer an<strong>de</strong>ren<br />

Nacht singt Mu� ers warme S� mme von <strong>de</strong>n Flüssen Babylons und ich<br />

träume wie<strong>de</strong>r, ich sehe Männer, Frauen und Kin<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>n Flüssen<br />

Babylons sitzen und weinen, während sie ihre Harfen in die Bäume<br />

hängen; dann wan<strong>de</strong>lt sich die Wärme ihrer S� mme zur Wärme eines<br />

Versinkens, eines Falls ins Bo<strong>de</strong>nlose, <strong>de</strong>r gleichzei� g ein Au� auchen<br />

ist in eine sich grenzenlos nach oben <strong>de</strong>hnen<strong>de</strong> Weite, ich verwandle<br />

mich in meinem Traum in diese Weite, in einen Raum ohne Grenzen.<br />

(mehr unter: www.slovokult.<strong>de</strong>)<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Will Firth<br />

Mit freundlicher Genehmigung <strong>de</strong>r Literaturagentur Dagmar Schruf<br />

www.schruf.<strong>de</strong> Photo © Igor Todorovski<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/27


28/<br />

In Memoriam<br />

Petre M. Andreevski<br />

Dichter, Romancier, Erzähler, Drama� ker<br />

Biographie: Petre M. Andreevski wur<strong>de</strong> 1934 in Sloeš� ca im Südwesten Makedoniens<br />

geboren. Er arbeitete u.a. für das makedonische Fernsehen und<br />

die Zeitschri� Razgledi. Andreevski war Mitglied <strong>de</strong>r Makedonischen Aka<strong>de</strong>mie<br />

<strong>de</strong>r Wissenscha� en und Künste und <strong>de</strong>s Makedonischen Schri� stellerverban<strong>de</strong>s.<br />

Er publizierte zahlreiche Gedicht- und Erzählbän<strong>de</strong>, Dramen<br />

sowie vier Romane und wur<strong>de</strong> mit zahlreichen makedonischen Literaturpreisen<br />

ausgezeichnet. In seinem mehrfach aufgelegten Werk Pirej (Die Quecke)<br />

erzählt <strong>de</strong>r Schri� steller von <strong>de</strong>n Strapazen, die die Menschen seiner Heimatregion<br />

während <strong>de</strong>r Balkankriege und <strong>de</strong>s Ersten Weltkriegs überstehen<br />

mussten. Andreevski starb 2006.<br />

Bibliographie (Auswahl): Knoten, 1960; Im Himmel und auf Er<strong>de</strong>n, 1962;<br />

Denicija, 1968; Lob und Beschwer<strong>de</strong>n, 1975; Das ewige Haus, 1987; Die<br />

Quecke, 1980; Heuschrecken, 1983; Die letzten Dor� ewohner, 1987.<br />

Preise: 11 Oktomvri, Braka Miladinovci (zweimal), Racinovo priznanie, Stale<br />

Popov (zweimal).<br />

Die Quecke (Roman)<br />

(Auszug)<br />

Ich heiratete während <strong>de</strong>r Sauerkirschernte, als das Heu eingebracht<br />

wur<strong>de</strong>. Tole, <strong>de</strong>r Töpfer aus Vraneš� ca, war im Dorf und verkau�<br />

e kleine Gefäße zum Verschenken. Für die toten Seelen zu Pfi ngsten.<br />

Er gab sie auch gegen Bohnen, Korn, Strümpfe und Wickelgamaschen<br />

o<strong>de</strong>r gegerbte Schafsfelle, je nach<strong>de</strong>m, wer was ha� e. [...]Für<br />

die Hochzeitsgäste schlachteten wir einen Ziegenbock. Er war groß,<br />

mit riesigen Hörnern. Wir ha� en also genügend Fleisch. An<strong>de</strong>res Essen<br />

auch. Die Gäste brachten große Blechschüsseln mit Reis, Bohnen<br />

und einem Berg Bratkartoff eln. Mit <strong>de</strong>r Leiter hä� est du drau� lettern<br />

können. Und Fla<strong>de</strong>nbrote mit kleinen Löchern in <strong>de</strong>r Kruste, mit<br />

Ei bestrichen, angebräunt wie im Feuer, wie ein trockener Sommer.<br />

Die Leute holten alles hervor, was sie für schöne und für schlechte<br />

Zeiten zurückgelegt ha� en. Jetzt konnten sie sich <strong>de</strong>n Bauch rich� g<br />

voll schlagen. Sie nahmen <strong>de</strong>n Mund voll mit Fleisch, Reis und Brot<br />

und gerieten außer Atem. Um nicht zu ers� cken, kauten sie mit off e-<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


nem Mund. Und das Essen sah man, zerkaut und halb zerkaut; man<br />

sah auch, wie es zwischen <strong>de</strong>n löchrigen Zähnen hängen blieb. Ein<br />

hungriges Volk. Die Armut war eben nicht zu verstecken. Alle ha� en<br />

es eilig, sich tüch� g sa� zu essen. Jemand wollte etwas sagen; dabei<br />

fi el ihm das Essen aus <strong>de</strong>m Mund; er hörte auf zu sprechen. Auch die<br />

an<strong>de</strong>ren kauten dann schweigend weiter. Zum Schluss reinigten sie<br />

sich die Zähne mit <strong>de</strong>n bloßen Fingern o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Fingernägeln, o<strong>de</strong>r<br />

sie stocherten mit <strong>de</strong>r Gabel am Gaumen herum. Bald blutete das<br />

Zahnfl eisch. Einige Gäste brachen sich hinter <strong>de</strong>r Tür Zweige vom Reisigbesen<br />

ab. Nach kurzer Zeit blieb vom Besen nur noch <strong>de</strong>r S� el, ein<br />

nackter Stock. Der ganze Besenkopf war leergepickt, wie abgefressen.<br />

Die Gäste gingen hin und her durchs Haus. [...]<br />

Damals waren die Leute sehr prü<strong>de</strong>, aber heiraten musstest du.<br />

Wie sagte doch Lazor Nočeski: “Wenn du keine Kirsche kriegst, such<br />

dir eine Pfl aume; wenn du keine Erdbeere kriegst, nimm mit einem<br />

Apfel Vorlieb o<strong>de</strong>r mit Vogelbeeren; sonst bleiben dir nur Hagebu� en<br />

und Hagedorn.” Wenn du kein Hagestolz sein willst. Schnell vergeht<br />

die Jugend. Wie Wasser fl ießt sie dahin. [...]<br />

Mein Musikus war Joše, wer <strong>de</strong>nn sonst? Die Muse küsste ihn o�<br />

und gerne, und immer ha� e er die Sackpfeife zur Hand. Er spielte für<br />

mich umsonst. Nur für ein Essen. Und schön spielte <strong>de</strong>r Mann, meisterha�<br />

: Er kniff die Augen zu und ging ganz in <strong>de</strong>r Musik auf, während<br />

seine Finger tanzten und seine Füße stamp� en. Velika führt die<br />

Reihe an, ihr Gesicht leuchtet wie ein Apfel, <strong>de</strong>n man ans Licht holt,<br />

und ich kucke nur und schlucke. Sie tanzt voran, setzt gekonnt die<br />

Schri� e, ihre Brust hebt und senkt sich, die Knöpfchen an <strong>de</strong>r Weste<br />

glänzen wie Tauperlen. Ich schaue nach oben, schaue nach unten zu<br />

ihren Füßen, zu <strong>de</strong>n Schuhen. Ich weiß nicht, wer ihr die Schuhe mit<br />

<strong>de</strong>n Schnallen gekau� hat. Vorne weg tanzt sie, und ich <strong>de</strong>nke, ihr<br />

folgt die ganze Welt. Sie blickt auf die Spitzen ihrer Schuhe. Sie misst<br />

die nächsten Schri� e. Und ich warte darauf, dass es dunkel wird, mit<br />

ganzem Herzen warte ich darauf, dass die Gäste wie<strong>de</strong>r nach Hause<br />

gehen. Meinerseits ha� e ich keine Familie, nur meinen Bru<strong>de</strong>r.<br />

Den konntest du zum Schlafen rausschicken, in die Scheune, er war<br />

schließlich ein Mann. Die meisten staunten aber, dass ich mich zur<br />

Braut legte.<br />

Aus <strong>de</strong>m Makedonischen von Will Firth<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/29


30/<br />

<strong>SlovoKult</strong><br />

Elizabeta Lindner<br />

Redak� on und Übersetzung<br />

(geb. Kostadinovska), geboren 1971 in<br />

Skopje, Makedonien. Studierte Germanis�<br />

k an <strong>de</strong>r Universität „Sv. Kiril i Metodij“<br />

in Skopje und Neuere Deutsche Literatur<br />

und Slavis� k (Russisch und Südslavische<br />

Literatur) an <strong>de</strong>r Universität Regensburg,<br />

wo sie 2005 ihr Studium mit <strong>de</strong>m Magister<br />

abschloss. Seit 2006 lebt sie in Berlin und<br />

arbeitet an Kulturprojekten und als Übersetzerin<br />

und Dolmetscherin. Ins Makedonische<br />

hat sie Werke von Ingo Schulze, Wilhelm Genazino und Walter<br />

Vogt übersetzt und ins Deutsche Lyrik von Igor Isakovski, Kata Kulavkova<br />

und Doroteja Novosel Balov, Theaterstücke von Žanina Mirčevska<br />

und Goce Smilevski, Erzählungen von Dragi Mihajlovski.<br />

Petra Huber<br />

Lektorat und Korrektur<br />

geboren 1968 in Kötz� ng. Sie studierte<br />

Amerikanis� k und Slavis� k an <strong>de</strong>n<br />

Universitäten Regensburg und O<strong>de</strong>ssa.<br />

1997 schloss sie ihr Studium mit <strong>de</strong>m<br />

Magister ab. Petra Huber lebt und arbeitet seit 20 Jahren in Regensburg<br />

als Lektorin und Korrektorin, als Übersetzerin und Wissenscha� -<br />

lerin und seit einigen Jahren auch als Gästeführerin. Sie übersetzt aus<br />

<strong>de</strong>m Russischen und aus <strong>de</strong>m Englischen ins Deutsche.<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Benjamin Langer<br />

Übersetzer<br />

Benjamin Langer, geboren 1976 in<br />

Erlangen, studierte Germanis� k<br />

und Kunstgeschichte in Bamberg<br />

und Budapest. 2004 been<strong>de</strong>te er<br />

sein Studium mit <strong>de</strong>m Diplomabschluss<br />

und arbeitete zunächst als<br />

Lehrer für Deutsch als Fremdsprache<br />

in Bamberg. Von 2005 bis 2006<br />

war er Lektor <strong>de</strong>r Robert Bosch S� � ung und von 2006 bis 2009 Lektor<br />

<strong>de</strong>s DAAD (Deutscher Aka<strong>de</strong>mischer Austauschdienst) an <strong>de</strong>r Universität<br />

„Sv. Kiril i Metodij“ in Skopje, Makedonien. Im Juli 2009 kehrte<br />

er nach Deutschland zurück und ist im Moment an <strong>de</strong>r Freien Universität<br />

Berlin tä� g. Er hat Lyrik von E� im Kletnikov und Prosa von Vlada<br />

Uroševik und Igor Isakovski aus <strong>de</strong>m Makedonischen ins Deutsche<br />

übersetzt.<br />

Will Firth<br />

Übersetzer<br />

geboren 1965 in Newcastle, Australien; Schule<br />

und Studium (Deutsch, Slawis� k) in Canberra;<br />

Weiterbildung in Zagreb und Moskau. Seit 1991<br />

als freier Übersetzer in Berlin tä� g.<br />

Kontakt: www.willfi rth.<strong>de</strong><br />

Eine Auswahl von Übersetzungen aus <strong>de</strong>m<br />

Makedonischen:<br />

- Luan Starova: Ervehe. Das Buch <strong>de</strong>r Mu� er.<br />

Wieser, Klagenfurt 2010<br />

- Petre M. Andreevski: Pirey. Pollitecon Publica� ons, Sydney 2008<br />

- Ivan Dodovski: Der große Koff er. Edi� on Erata, Leipzig 2008<br />

- Rumena Bužarovska: Nora, in: Ostragehege, Dres<strong>de</strong>n III/2007<br />

- Dimitar Baševski: Anya’s Diary. Slovo, Skopje 2007<br />

Photo © Dagmar Schruf<br />

<strong>Slovothek</strong> <strong>Nr</strong>. 1<br />

/31


32/<br />

Ksenija Čočkova<br />

Übersetzerin<br />

geboren 1979 in Skopje, Makedonien.<br />

Sie studierte Deutsche Sprache<br />

und Literatur an <strong>de</strong>r Universität<br />

„Sv. Kiril i Metodij“ in Skopje und<br />

schloss ihr Studium 2002 ab. Sie<br />

war 2008/2009 S� pendia� n <strong>de</strong>s<br />

Programms <strong>de</strong>r Robert Bosch S� ftung<br />

„Kulturmanager aus MOE in<br />

Deutschland“. Sie arbeitet vor allem<br />

als literarische Übersetzerin und<br />

Kulturmanagerin an verschie<strong>de</strong>nen<br />

Projekten. Ins Makedonische hat<br />

sie mehrere Werke von Bernhard<br />

Schlink übersetzt, und aus <strong>de</strong>m Makedonischen<br />

ins Deutsche Prosa von Aleksandar Prokopiev und Lyrik<br />

von Aleksandra Dimitrova.<br />

Lydia Nagel<br />

Übersetzerin<br />

geboren 1977 in Wismar. Nach einer Korbmacherlehre<br />

studierte sie in Berlin, Belgrad<br />

und Moskau Slawis� k und Kulturwissenscha�<br />

. 2008 schloss sie ihr Studium mit<br />

<strong>de</strong>m Magister ab. Sie lebt in Berlin und übersetzt aus verschie<strong>de</strong>nen<br />

slawischen Sprachen ins Deutsche, wobei ihr Haup� nteresse <strong>de</strong>r zeitgenössischen<br />

Prosa und Drama� k gilt.<br />

<strong>SlovoKult</strong>.<strong>de</strong>


Das Wort <strong>SlovoKult</strong> ist eine Zusammensetzung aus: Slovo [`slovo] - altsla-<br />

wisches Wort für: Wort. Später variiert die Be<strong>de</strong>utung in verschie<strong>de</strong>nen<br />

slawischen Sprachen: Re<strong>de</strong>, Buchstabe, Erzählung... Und aus: Kult.<br />

Das Konzept <strong>de</strong>s Online-Portals ist <strong>de</strong>m Kult <strong>de</strong>s Wortes gewidmet.<br />

Denn aus <strong>de</strong>m Wort entsteht <strong>de</strong>r Rest. Und <strong>de</strong>r Rest sehnt sich nach <strong>de</strong>m<br />

Wort.<br />

Unser Schwerpunkt ist die Übersetzung und die Veröff entlichung makedonischer<br />

Literatur ins Deutsche, sowie die Vernetzung, <strong>de</strong>r Austausch und die<br />

Zusammenarbeit <strong>de</strong>r Übersetzer.<br />

Wir präsen� eren:<br />

- Bio-Bibliographien renommierter Autoren<br />

- Einzelne Ga� ungen - Lyrik, Prosa, Drama, Essay<br />

- Ausschni� e aus <strong>de</strong>n Werken<br />

- Rezensionen und Kri� ken<br />

- Interviews mit Autoren, Übersetzern, Kri� kern, Verlegern<br />

- Neuigkeiten, Nachwuchsautoren<br />

- Informa� onen über Veröff entlichungen in <strong>de</strong>n <strong>de</strong>utschsprachigen Län<strong>de</strong>rn<br />

- Informa� onen über Literaturveranstaltungen<br />

- etc.<br />

Dem Wort seine Vielwor� gkeit!<br />

www.slovokult.<strong>de</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!