Uster 2011.pdf
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Villa Knecht – Bahnstrasse 7<br />
Die Entfaltung bürgerlicher<br />
Macht und Pracht<br />
Sommer 1895<br />
Für diese Aufnahme hat der Fotograf Julius Gujer vis-à-vis einer<br />
vornehmen Villa an der Bahnstrasse 7 Stellung bezogen. Es ist<br />
ein heiterer Sommertag des Jahres 1895. In der Senke vor der<br />
Villa ziehen sich die Geleise der Eisenbahn dahin. Über der mit<br />
Unkraut überwucherten Böschung und zu Füssen des herrschaft-<br />
lichen Hauses ist die Bahnstrasse als heller Streifen erkennbar.<br />
Ein eiserner Schmiedezaun trennt das Grundstück der Villa von<br />
der Strasse ab. Der runde Pavillon im Garten bringt mit seinem<br />
Kegeldach einen orientalischen Hauch in die behäbig wirkende<br />
Umgebung. Links der Villa verläuft ein kurzer Verbindungsweg<br />
zur Neuwiesenstrasse. Hinter dem lang gezogenen Baukörper<br />
des herrschaftlichen Wohnsitzes steht ein 1873 errichtetes<br />
Wohnhaus, dessen Architektur in <strong>Uster</strong> ohne Beispiel ist. Sein<br />
Sockelgeschoss besteht aus Stein, die Fassaden der darüber<br />
liegenden Stockwerke sind heute mit Holzschindeln verkleidet,<br />
die besonders an Fenstern und Traufe mit Sägearbeiten verziert<br />
sind. Das ungewöhnliche Haus gehörte Heinrich Knecht, der zwischen<br />
1882 und 1902 Inhaber der Baumwollspinnerei <strong>Uster</strong> AG<br />
(BUAG) an der Quellenstrasse war.<br />
Die im Bildzentrum stehende Villa ist das mit Abstand prachtvollste<br />
Privathaus in <strong>Uster</strong>. Der Besitzer, der Stickereifabrikant<br />
Heinrich Pfister-Wirz, liess sie im Jahr 1866 bauen. Zusammen<br />
mit seinem Geschäftspartner Albert Furrer gehörte er zu den<br />
Pionieren des Quartierausbaus nördlich der Bahnlinie. Nach<br />
dem Niedergang seiner Stickerei verkaufte Pfister-Wirz die damals<br />
eher bescheiden wirkende Villa 1879 an seinen Nachbarn<br />
Heinrich Knecht, der sie ab 1883 zur heute noch bestehenden<br />
Form ausbaute. Offensichtlich strebte er dabei an, seinen Status<br />
als wohlhabender Fabrikant in Stein zu meisseln. Knecht liess<br />
seinen neuen Wohnsitz mit barockem Schmuck verzieren. Am<br />
meisten fällt die üppig gestaltete Lukarne über der Mittelachse<br />
der Südfassade auf. In ihren Giebel hat der stolze Hausbesitzer<br />
sein Monogramm einsetzen lassen. Die obere Etage hebt sich<br />
vor allem durch die Fensterüberdachungen und die Mezzaninfenster<br />
unter der Traufe vom Erdgeschoss ab. Die Architektur<br />
offenbart das hierarchische Denken des damaligen Bürgertums:<br />
Im Obergeschoss residierten die Herrschaften, während im Erdgeschoss<br />
die Kammern der Bediensteten lagen. Das Haus zeugt<br />
von dem ausgeprägten Selbstbewusstsein seiner Besitzer, die<br />
ihren Erfolg, ihre Weltanschauung und ihren Reichtum ungeniert<br />
zur Schau stellten.<br />
Aus heutiger Sicht scheint es verwunderlich, dass Pfister-Wirz<br />
seine Villa unmittelbar neben die Bahnlinie bauen liess und folglich<br />
den Bahnlärm und den beissenden Qualm aus den Lokomotiven<br />
in Kauf nahm. Industrielle wie Pfister-Wirz oder Heinrich<br />
Knecht waren Liberale alten Schlages und glaubten an den Fortschritt<br />
wie andere an den lieben Gott. Die zehn Jahre zuvor eröffnete<br />
Glatttalbahn war ein Markstein in der Entwicklung zur Moderne.<br />
Viele Industrielle <strong>Uster</strong>s hatten sich dafür stark engagiert.<br />
Einigen war diese Verbundenheit mit dem neuesten Symbol des<br />
Fortschritts Grund genug, ihre Villen in der Nähe von Eisenbahnlinien<br />
bauen zu lassen. Eine Novität – denn vor der Eisenbahn-Ära<br />
pflegten die Fabrikherren ihre Wohnhäuser ausnahmslos neben<br />
ihren Betrieben zu bauen.<br />
Die Fenster des Mezzanins, einem Zwischengeschoss. Das Monogramm von Heinrich Knecht im Giebelfeld der Lukarne.<br />
Knechts altes Wohnhaus an der Neuwiesenstrasse 8. Den barocken Bauschmuck liess Knecht ab 1883 anbringen.<br />
Orientalisch wirkender Pavillon mit Kegeldach im Garten von Heinrich Knechts Anwesen.