Festschrift - Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung
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<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> schwerer und<br />
mehrfacher <strong>Behinderung</strong> in<br />
unserer Gesellschaft – eine<br />
Aufgabe der <strong>Lebenshilfe</strong><br />
Prof. Dr. Martin Th. Hahn 2<br />
1. Wir fragen: Wer sind <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong><br />
schwerer und mehrfacher <strong>Behinderung</strong>?<br />
1.1 Wir sehen Unterschiede<br />
Es sind <strong>Menschen</strong>, die jetzt nicht unter uns<br />
sind. Ich sehe keinen.<br />
Wir fragen: Warum sind sie jetzt nicht unter<br />
uns, obwohl das Programm doch darauf hinweist,<br />
dass über sie geredet wird. Nicht <strong>mit</strong><br />
ihnen, sondern über sie.<br />
Und wir haben schnell Antworten auf unser<br />
Fragen, weil vermutlich alle von uns solche<br />
<strong>Menschen</strong> kennen!<br />
Die Antworten könnten lauten: Diese <strong>Menschen</strong><br />
könnten uns gar nicht verstehen. Diese<br />
<strong>Menschen</strong> könnten nicht <strong>mit</strong> uns sprechen.<br />
Diese <strong>Menschen</strong> könnten nicht herkommen,<br />
weil sie pfl egebedürftig und vielleicht bettlägerig<br />
sind. Diese <strong>Menschen</strong> könnten unter<br />
fremden <strong>Menschen</strong> Angst bekommen. Diese<br />
<strong>Menschen</strong> könnten sich hier unangemessen<br />
verhalten und z. B. schreien, sich selbst oder<br />
andere verletzen. Wir könnten fortfahren, auf<br />
dem Hintergrund selbst gemachter Wahrnehmungen<br />
und Erfahrungen den Personenkreis<br />
zu beschreiben. Und es tauchten in unseren<br />
Beschreibungsversuchen vielleicht auch Hinweise<br />
auf Pfl egestufen, Zugehörigkeit zu Hilfebedarfsgruppen<br />
und Intelligenzquotienten<br />
auf. Vielleicht auch Hinweise auf die Wohnsituation,<br />
je nach Erfahrungshintergrund: Sie<br />
sind in Pfl egeheimen, in Pfl egeabteilungen<br />
von Komplexeinrichtungen (den früheren<br />
2 Vortrag auf der Mitgliederversammlung der <strong>Lebenshilfe</strong><br />
Niedersachsen in Ganderkesee am 04.12.2004 – in Anlehnung<br />
an vorausgegangene Vorträge und Veröffentlichungen<br />
24<br />
<strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> schweren <strong>Behinderung</strong>en gehören dazu!<br />
Anstalten), in psychiatrischen Kliniken untergebracht<br />
und wohnen im Erwachsenenalter<br />
nur selten bei den Eltern, weil das Zusammenleben<br />
eine Belastung darstellt, der in der<br />
Regel die Familie auf Dauer nicht gewachsen<br />
ist ohne selbst Schaden zu leiden.<br />
So oder so ähnlich könnten sich unsere Antworten<br />
anhören.<br />
Ob uns dabei etwas auffällt?<br />
Alle aufgeführten Merkmale beziehen sich<br />
auf den Unterschied zu einer angenommenen<br />
Normalsituation: Wir haben aufgelistet Abweichungen<br />
in der Kommunikation, in der<br />
Selbstständigkeit bei der Pfl ege, im Bereich<br />
der Intelligenz, im Verhalten, in der Wohnsituation<br />
usw. – Richard von Weizsäcker hat dem<br />
Zitat „Es ist normal, verschieden zu sein“ in einer<br />
Rede großen Nachdruck verliehen, und wir<br />
stimmen ihm vermutlich alle zu, weil wir um<br />
seine Intention wissen: Er wollte, dass wahrnehmbare<br />
Unterschiede zwischen <strong>Menschen</strong><br />
nicht diskriminierend wirken sollen. Er wollte<br />
bewusst machen, dass es zwischen uns allen<br />
nicht nur Unterschiede gibt, sondern dass das<br />
Vorhandensein dieser Unterschiede eine alle<br />
<strong>Menschen</strong> verbindende Gemeinsamkeit darstellt,<br />
die auch <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> <strong>Behinderung</strong>en<br />
einschließt. In unserer multikulturellen Gesellschaft<br />
beziehen wir dies gerne auf Deutsche<br />
und Ausländer, auf <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> unterschiedlicher<br />
Hautfarbe, auf alte und junge<br />
Mitbürger, auf <strong>Menschen</strong> ohne <strong>Behinderung</strong><br />
und solche, die wir vom Schweregrad ihrer <strong>Behinderung</strong><br />
her gesehen als „relativ leicht“ oder<br />
„<strong>mit</strong>telschwer“ behindert bezeichnen.<br />
Beziehen wir auch <strong>Menschen</strong> <strong>mit</strong> schwerer<br />
und mehrfacher <strong>Behinderung</strong> ein?<br />
Ich wage zu behaupten: vermutlich nein! –<br />
Sie fragen: Warum? –<br />
Ich antworte: Weil wir bei diesen <strong>Menschen</strong><br />
auf die Wahrnehmung von Unterschieden<br />
fi xiert sind.