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038 HEUTE<br />
Black Hole Sun<br />
Bekanntestes und<br />
erfolgreichstes Lied <strong>de</strong>r<br />
Grungeband Soundgar<strong>de</strong>n<br />
von 1994. Seine Popularität<br />
bezog <strong>de</strong>r Song nicht<br />
zuletzt aus <strong>de</strong>m extrem<br />
aufwendigen Vi<strong>de</strong>o, in <strong>de</strong>m<br />
eine gruselig überzeichnete,<br />
steril-morbi<strong>de</strong> amerikanische<br />
Vorstadtwelt von einer<br />
apokalyptischen, schwarzlöchrigen<br />
Negativ-Sonne,<br />
<strong>de</strong>r »Black Hole Sun« eben,<br />
mag<strong>de</strong>burgisiert wird.<br />
Chanson Fleuve<br />
Neologismus in Anlehnung<br />
an <strong>de</strong>n Begriff »Roman<br />
Fleuve«, welcher ein groß<br />
angelegtes Romanwerk<br />
bezeichnet, <strong>de</strong>ssen einzelne<br />
Bän<strong>de</strong> sowohl zusammenhängend<br />
als auch in sich<br />
abgeschlossen sind. Ein<br />
Beispiel für die Technik wäre<br />
Marcel Prousts »Auf <strong>de</strong>r<br />
Suche nach <strong>de</strong>r verlorenen<br />
Zeit«. Chanson Fleuve<br />
ist <strong>de</strong>mentsprechend das<br />
Gleiche mit Lie<strong>de</strong>rn.<br />
PeterLicht: Ah, Jens Friebe, das freut mich. Von Kollege zu<br />
Kollege ist ja vieles einfacher. Da muss man nicht so viel<br />
erklären.<br />
Jens Friebe: Meinst du? Was <strong>de</strong>nn, was muss man nicht<br />
erklären?<br />
PL: Na ja. Die Lie<strong>de</strong>r. Ich meine, man sitzt zu Hause und<br />
<strong>de</strong>nkt sich das alles aus und gräbt in tiefen Schichten, das<br />
ist ja auch ein sehr intimer Prozess. Und dann muss man<br />
sich im Interview <strong>de</strong>m Ganzen irgendwie stellen und auf<br />
irgen<strong>de</strong>ine Botschaft o<strong>de</strong>r ein Statement runterbrechen.<br />
Und das will man ja eigentlich gar nicht.<br />
JF: Ja, das kenne ich schon ein bisschen. Aber die Differenz<br />
zwischen Interviewer und Interviewtem ist keine zwischen<br />
Wesen, son<strong>de</strong>rn zwischen Funktionen. Das ist wie bei<br />
Kun<strong>de</strong>n und Anbietern. Abgesehen davon fin<strong>de</strong> ich es schon<br />
komisch, mit welcher Panik manche Leute ihre Texte vor<br />
je<strong>de</strong>r Deutung schützen wollen. Natürlich gehen Texte<br />
selten restlos in einer Erklärung auf. Aber so ist es ja mit<br />
allem, auch mit <strong>de</strong>m Leben und <strong>de</strong>r Liebe, und doch re<strong>de</strong>t<br />
man darüber. Die Liebe kann das aushalten, und das Lied,<br />
sofern es irgend gut ist, doch auch.<br />
PL: Ja, schon. Nur sind gra<strong>de</strong> bei mir Ambivalenzen sehr<br />
wichtig: Dass verschie<strong>de</strong>ne Mo<strong>de</strong>lle in einem Song vorkommen<br />
und man sich <strong>de</strong>nken kann: Es könnte so sein, es könnte<br />
aber auch so sein. Und wenn ich dann sagen soll, ob ich das<br />
Internet nun scheiße fin<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r gut, ist das schon schwierig.<br />
JF: Ja, klar, das ist natürlich dämlich, Texte ins Ein<strong>de</strong>utige<br />
drängeln zu wollen, die so sehr von Zwei- und Drei<strong>de</strong>utigkeit<br />
leben wie <strong>de</strong>ine. Schon <strong>de</strong>r Titel <strong>de</strong>iner neuen Platte »Das<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>« ist multipel auslegbar: einerseits als<br />
das En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>, die man hat, an<strong>de</strong>rerseits als das<br />
En<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>, die man führt. Und <strong>de</strong>r zweite Fall<br />
ist wie<strong>de</strong>rum in sich doppel<strong>de</strong>utig: Soll an die Stelle <strong>de</strong>s<br />
Beschwerens die Aktion treten, o<strong>de</strong>r die Kapitulation? Auf<br />
die gleiche Art schillern die Lie<strong>de</strong>r selbst. In »Begrab mein<br />
iPhone an <strong>de</strong>r Biegung <strong>de</strong>s Flusses« geht <strong>de</strong>r Refrain: »Ich<br />
kenne keinen, <strong>de</strong>r sich selbst gehörte / Hat noch niemals<br />
jemand von gehört«, was ja sowohl verzweifelt als auch<br />
positiv fatalistisch gemeint sein kann. Je nach Laune und<br />
Beleuchtung hört man was an<strong>de</strong>res. Auch hört man <strong>de</strong>ine<br />
alten Lie<strong>de</strong>r an<strong>de</strong>rs im Kontext <strong>de</strong>r neuen. »Ihr lieben 68er«<br />
etwa habe ich damals als zeittypisches revanchistisches<br />
Altlinken-Bashing verstan<strong>de</strong>n, rückblickend erscheint es<br />
eher als Teil eines großen Chanson Fleuve über Sinn und<br />
Sinnlosigkeit von Kritik, auch im Sinne von Bultanski, <strong>de</strong>r<br />
beschreibt, wie die »Künstlerkritik« <strong>de</strong>r Sechziger zum<br />
Motor neoliberaler Umstrukturierung <strong>de</strong>s Arbeitsmarktes<br />
wur<strong>de</strong>. O<strong>de</strong>r geht das zu weit?<br />
PL: Nein, das steckt auf je<strong>de</strong>n Fall mit drin, das Thema<br />
systemstabilisieren<strong>de</strong> Kritik. Du machst das echt gut, du<br />
kannst das alles so schön erklären. [lange Pause] Auf <strong>de</strong>r<br />
Platte wer<strong>de</strong>n einfach verschie<strong>de</strong>ne Möglichkeiten aufgezeigt,<br />
wie die Beschwer<strong>de</strong> en<strong>de</strong>n kann. Und keine dieser<br />
Möglichkeiten funktioniert.<br />
JF: Auf <strong>de</strong>inen letzten drei Platten, und auch in <strong>de</strong>inen Büchern<br />
und Theaterstücken, beschäftigst du dich ja verstärkt<br />
mit <strong>de</strong>m kapitalen Beschwer<strong>de</strong>herd Kapitalismus. Daneben,<br />
und immer wie<strong>de</strong>r damit verschränkt, erscheint die Apokalypse<br />
als großes Thema: Zu Beginn <strong>de</strong>iner Geschichte<br />
»Geschichte meiner Einschätzung zu Beginn <strong>de</strong>s dritten<br />
Jahrtausends« sitzt <strong>de</strong>r Erzähler an einem schönen Tag in<br />
seiner schönen Wohnung auf seinem schönen Sofa. Dann<br />
fängt er an, von Geld zu re<strong>de</strong>n, beziehungsweise von seinem<br />
»Minusgeld«, worau�in zuerst das Sofa, dann auch Haus<br />
und Welt magisch-realistisch liquidiert wer<strong>de</strong>n, um am<br />
En<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>r unberührt dazustehen. Und im Lied »Meine<br />
alten Schuhe« von <strong>de</strong>iner neuen Platte heißt es: »Hier wo die<br />
Träume en<strong>de</strong>n / Sehe ich die große Sonne / Und die große<br />
Sonne verbrennt das ganze Geld«, was mich nicht nur an<br />
die Finanzkrise, son<strong>de</strong>rn auch sofort an »Black Hole Sun«<br />
hat <strong>de</strong>nken lassen. Die Liste ließe sich fortsetzen.<br />
PL: Hmmm. Ja, stimmt. Ziemlich <strong>de</strong>primierend eigentlich,<br />
nicht wahr? Empfin<strong>de</strong>st du die Lie<strong>de</strong>r als <strong>de</strong>pressiv?<br />
JF: Nein, eigentlich nicht. Es hat eher so was vom Tod beim<br />
Tarot: Umbruch und Neuanfang. Beziehungsweise in <strong>de</strong>inen<br />
Versen gesprochen: »Führ mich in die Nacht / Führ mich<br />
raus / Gib mir eine neue I<strong>de</strong>e / Schaffen wir uns ab.« Im<br />
älteren »Lied vom En<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kapitalismus«, das die postkapitalistische<br />
Welt umstandslos für angebrochen erklärt,<br />
gibt es ja auch diese geniale Stelle: »Wir fuhren mit <strong>de</strong>m<br />
Sonnenwagen übers Firmament.« Unsere Gegenwart wird<br />
aus einer utopischen Zukunft heraus mit Bil<strong>de</strong>rn einer für<br />
uns vergangenen Kosmologie geschil<strong>de</strong>rt. Für die, die an<br />
diese Kosmologie glaubten, war sie genauso gleichbe<strong>de</strong>utend<br />
mit <strong>de</strong>r Welt – so »alternativlos« – wie für uns die freie<br />
Marktwirtschaft. Die Apokalypse <strong>de</strong>s Kapitalismus könnte<br />
<strong>de</strong>r Anfang <strong>de</strong>r Welt sein. Was bei dir aber auch anti<strong>de</strong>pressiv<br />
wirkt, ist die Musik. Zehn von zwölf Stücken auf »En<strong>de</strong><br />
<strong>de</strong>r Beschwer<strong>de</strong>« sind ja fast provokant poppig. Drastische<br />
Zeilen wie »Verkauft mein Fleisch an <strong>de</strong>n billigen Stän<strong>de</strong>n«<br />
wer<strong>de</strong>n mit Cher-Effekt gesungen. Die Harmonien, zwischen<br />
späten The Cure und frühen Phoenix, wären i<strong>de</strong>al fürs<br />
Solarium aus »Sonnen<strong>de</strong>ck«. Sie versetzen einen in dieses<br />
schwerelose Whirlpool-Feeling, das Gefühl, »im freien Fall<br />
aufzusteigen«, wie du in »Steigen/Fallen« singst. Aber wo<br />
wir jetzt schon bei Wellness sind, welche sich ja bekanntlich<br />
zur freien Liebe verhält wie Charity zu Revolution, könnte<br />
ich dich auch gleich zum antihedonistischen Programm in<br />
<strong>de</strong>iner Kunst befragen: Zwischengeschlechtlichkeit kommt<br />
in <strong>de</strong>inen Texten kaum vor, die beinahe einzige Ausnahme<br />
ist »Restsexualität«, und da geht es gegen die Verramschung<br />
von Nacktheit. Auch die ikonoklastische Verweigerung<br />
<strong>de</strong>ines Bil<strong>de</strong>s auf Titelblättern wie jetzt im <strong>Intro</strong> und von<br />
Promo-Fotos passt dazu. Ist Askese <strong>de</strong>ine Antwort auf das<br />
Problem, dass Sex als Thema nicht mehr, wie 1968, Protest,<br />
son<strong>de</strong>rn nur noch Prostitution be<strong>de</strong>utet?<br />
PL: Ja, genau. FÜR MICH IST DIESER ZUSAMMEN-<br />
HANG ZWISCHEN SEX UND KAPITALISMUS<br />
VÖLLIG EINDEUTIG. DAUERND SOLL EINEM<br />
IRGENDEIN SCHEISS ÜBER EROTIK VERKAUFT<br />
WERDEN. UND IM POP NERVT MICH DIESE<br />
ZWANGHAFTE VERMISCHUNG DER BEIDEN<br />
BEREICHE. ICH KANN ES NICHT MEHR HÖREN,<br />
WENN IRGENDWELCHE BANDS IM INTERVIEW<br />
SAGEN: WIR MACHEN NUR MUSIK, UM FRAUEN<br />
ABZUSCHLEPPEN.<br />
JF: Ich glaube das meistens nicht. Ich halte das immer für<br />
eine kernige Art, sich um die Antwort auf die dumme Frage