Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Von Rapallo nach Berlin: Stresemann und die deutsche Rußlandpolitik 21<br />
andere verwenden ließ". „Es könne doch kein Zweifel darüber bestehen", so schloß<br />
Stresemann die Besprechung, „daß Deutschland zu Abmachungen mit Rußland<br />
kommen wolle."<br />
Die Verhandlungen wurden am 22. Dezember fortgesetzt, als Tschitscherin auf<br />
der Rückreise von Paris bei Stresemann vorsprach, um über seinen Besuch bei<br />
Briand zu berichten 103 . Stresemann wandte sich wiederum gegen den russischen<br />
Neutralitätsvorschlag, „da seine Formulierung den Eindruck erwecken könnte, als<br />
wenn Deutschland sich mit kriegerischen Gedanken trüge". Statt dessen las er<br />
Tschitscherin aus einem von Gaus ausgearbeiteten Gegenvorschlag 104 vor, der<br />
Tschitscherin „sehr zu gefallen schien". Darin hieß es, daß der Fall, daß Deutschland<br />
in einen bewaffneten Konflikt hineingezogen werden könnte, den Rußland<br />
durch seinen Angriff gegen eine dritte Macht herbeigeführt hätte, „als eine<br />
bloße theoretische Möglichkeit ohne realpolitische Bedeutung" angesehen werden<br />
könne. Tschitscherin verstand diesen Satz zuerst so, „als wenn Kriege, die Rußland<br />
oder Deutschland führten, doch real unmöglich wären, und sagte, das könne er vom<br />
russischen Standpunkt nicht akzeptieren, denn er halte einen Krieg Rußlands gegen<br />
Polen oder Rumänien <strong>für</strong> durchaus im Bereich der Möglichkeit". Als Stresemann<br />
ihm dann seinen Irrtum erklärte, fand Tschitscherin die deutsche Formel „sehr<br />
gut". Er <strong>für</strong>chtete nur noch die Möglichkeit eines wirtschaftlichen Boykotts gegen<br />
Rußland. Doch der Gaussche Entwurf sah auch hier vor, daß keines der beiden<br />
Länder sich einem gegen das andere gerichteten wirtschaftlichen oder finanziellen<br />
Boykott anschließen würde, und Tschitscherin war beruhigt. „Im allgemeinen hatte<br />
ich den Eindruck", so summierte Stresemann das Ergebnis der Unterredung, „daß<br />
Tschitscherin von seinen Berliner Eindrücken sehr befriedigt war und daß der Alpdruck<br />
des gegen Rußland zusammengefaßten Kontinents von ihm geschwunden<br />
ist. . . Die ganzen Verhandlungen vollzogen sich ... in sehr freundschaftlichen<br />
Formen und ließen deutlich den Charakter einer entspannten Lage erkennen."<br />
Eine ähnliche Entspannung sprach aus den Neujahrsglückwünschen Brockdorff-<br />
Rantzaus an Stresemann 105 :<br />
„Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen!"<br />
Entre poire et caviar dämmert mählich dies Erkennen.<br />
Diwan, west- wie östlich, diene drum zum Pfühle,<br />
Zu vermeiden jenen Platz, den verlockend bieten, zwei bekannte Stühle.<br />
Aber es sollten doch noch vier weitere Monate vergehen, ehe die restlichen Differenzen<br />
zwischen den beiden Partnern ausgeglichen und der Berliner Vertrag unterzeichnet<br />
werden konnte. Neue Komplikationen erwuchsen am 13. Dezember aus<br />
der Verhaftung von drei deutschen „Konsularagenten" im Kaukasusgebiet wegen<br />
angeblicher Spionage 108 . Ein weiterer Grund <strong>für</strong> die Verzögerung war die deutsche<br />
103<br />
„Nachlaß", 3113/7129/148109ff.: Aufzeichnung Stresemanns. Gekürzt in Vermächtnis<br />
II, S. 535 f.<br />
104<br />
„Nachlaß", 3113/7129/148132ff.<br />
105<br />
„Nachlaß", 3144/7324/160878f.<br />
106<br />
Hilger a. a. O., S. 148ff.; „Nachlaß", 3113/7129/148117, 148129ff.