Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte
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WILHELM ALFF<br />
DIE ASSOCIAZIONE NAZIONALISTA ITALIANA VON 1910*<br />
Als aufmerksamer Beobachter und wie in Übereinstimmung mit einem künftigen<br />
Zeitgeist stellte Jacques Bainville im Jahre 1915 den Irrtum derer fest, die den<br />
„exzentrischen" und „kuriosen" Nationalismus des Vorkriegsitaliens <strong>für</strong> unbedeutend<br />
gehalten hatten. Man hätte, so sagte er, in ihm wenigstens ein Symptom<br />
erblicken müssen. „Sans aller jusqu`à soutenir", so fährt er fort, „que le paradoxe<br />
est seul fécond et qu'il represente toujours la vérité du lendemain . . ., il faut se<br />
garder de n'accorder d'attention qu'aux idées recues". 1 Was Bainville, der seit seiner<br />
Jugend der „Action Francaise" angehörte, <strong>für</strong> ein „bürgerliches Vorurteil" hielt,<br />
daß man nämlich nur den breiten Strom der Ideen beachte, ohne den Sonderformen<br />
des Geistes seine Aufmerksamkeit zu widmen, darf heute als überwunden gelten;<br />
wir haben den Faschismus und die an ihn anknüpfenden Bewegungen ernst zu<br />
nehmen gelernt; und der seit der Jahrhundertwende sich formierende neue Nationalismus<br />
Italiens, der in den Faschismus einmünden sollte, erscheint uns Heutigen<br />
keineswegs mehr so paradox, nachdem des letzteren Geschichte abgeschlossen hinter<br />
uns Hegt. Aber es gehört wesentlich zum Verständnis dieses neuen Nationalismus,<br />
daß man sich vergegenwärtigt, wie wenig selbstverständlich er in seinen Anfängen<br />
den Zeitgenossen erscheinen mußte. Er erschien ihnen wie eine Krankheit, die,<br />
indem sie den Unvorbereiteten überfällt, <strong>für</strong> diesen ihr Unbegreifliches hat. Eine<br />
an stetigen Fortschritt, an parlamentarische Demokratie geradezu gewöhnte Öffentlichkeit<br />
mußte den Nationalismus so empfinden, wie Jacques Bainville es beschrieben<br />
hat.<br />
Enrico Corradini 2 war der erste, der Italien die Ideen eines neuen Nationalismus<br />
verkündet hat. In der Tat war er etwas Neues in der Welt der politischen Ideen,<br />
und es tat sich sogleich sein Widerspruch zu den bisherigen und allgemein geltenden<br />
Auffassungen vom Menschen selber auf. Im Grunde handelte es sich um eine Auffassung<br />
vom Menschen, die die Individuen einem groß angelegten Geschichtsbild<br />
unterordnete, in welchem weder der auf die Erfüllung der Gebote und die Rettung<br />
seiner Seele bedachte Mensch noch die wirtschaftenden und um ihren Vorteil besorgten<br />
Individuen, weder die in der Befolgung häuslicher und bürgerlicher Pflich-<br />
* Eine umfassendere Abhandlung des Themas in Buchform ist vorgesehen. — Der Aufsatz<br />
von Raffaele Molinelli, Per una storia del nazionalismo italiano, in: Rassegna storica del<br />
Risorgimento, 50 (1963), S. 391-406, wurde dem Verfasser erst nach Abschluß der vorliegenden<br />
Arbeit bekannt.<br />
1 La Guerre et l'Italie, Paris 1916, S. 128 f. Bainville braucht nicht einmal die Stimme zu<br />
heben, um den Politikern, die sich sicher wähnen, zu drohen. Er sagt von den Nationalisten<br />
Italiens: „Bien loin du pouvoir, bien loin des ministères, bien loin des centres de la vie de<br />
l'Etat, quelques jeunes hommes qui méditent, que les mêmes idees rassemblent, qui les discutent,<br />
les élaborent en commun, préparent, dans leur obscurité dédaignée, un renouvellement<br />
de la face des choses."<br />
2 Der 1865 in Samminiatello geborene Toskaner, Abgeordneter seit 1913, zum Senator<br />
ernannt im März 1923, von Oktober 1928 an Staatsminister, starb am 10. XII. 1931.