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Heft 1 - Institut für Zeitgeschichte

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Die Associazione Nazionalista Italiana von 1910 41<br />

lichen Menschen und ihr sozialer Zusammenhang, auch unter dem Aspekt der Zeitlichkeit,<br />

werden zu einer Abstraktion, weshalb schließlich auch die Berufung auf<br />

Geschichte zu einer Geste bloßer Beschwörung der auf sie projizierten Potenzen<br />

erstarrt. Allerdings sucht der Nationalismus in seiner frühen Phase noch zu argumentieren,<br />

befindet er sich doch in einer Umwelt, in der die Argumente noch nicht<br />

abgeschafft sind. Er hat eine unabsehbare Phase seiner Entwicklung vor sich, in der<br />

er von der Macht ausgeschlossen ist. So sucht er denn, nachdem die Idee der Nation<br />

als das Höchste Wesen statuiert ist, obendrein und eigentlich überflüssigerweise<br />

nachzuweisen, es werde den Menschen, den Italienern, besser ergehen, seien sie<br />

erst einmal Nationalisten geworden.<br />

In der Arbeiterbewegung glaubt Maurizio Maraviglia - in seinem Bericht über die<br />

nationalistische Bewegung und die politischen Parteien 29 — die virtuelle Triebkraft<br />

des italienischen politischen Lebens seit der Niederlage von Adua zu erkennen. Jedes<br />

Problem, und damit trifft er die Ära Giolitti, werde als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit<br />

begriffen; seine Lösung müsse dergestalt immer nur zum Vorteil einer<br />

Minderheit ausfallen. Er vermißt in dieser Politik die nationale Gemeinschaft, von<br />

der er behauptet, sie sei die höchste gesellschaftliche Realität, die die menschliche<br />

Entwicklung bisher gezeitigt habe 30 . Da die Tendenz der sozialen Gerechtigkeit<br />

stets den sozialistischen Forderungen mehr und mehr und unaufhaltsam entgegenkommt,<br />

gibt es <strong>für</strong> den Nationalismus im Grunde nur mehr eine einzige Partei, die<br />

der Reformisten. Ihnen, deren Sieg absehbar sei, indem alle innere Politik auf ihn<br />

hin tendiere, wollen die Nationalisten die einzige wahrhaft unterschiedene Partei<br />

entgegensetzen. Die Auffassung des Reformismus bestehe darin, den Staat als das<br />

Organ der universellen Menschenliebe aufzufassen, als den Tröster und den Heiler<br />

der Schmerzen eines jeden auf Kosten und zum Schaden aller. Für Maraviglia ist<br />

Giovanni Giolitti der persönliche Ausdruck dieses Gedankens, seine Ministerpräsidentschaft<br />

eine „Diktatur", die bei den Konservativen und Liberalen wie bei<br />

den Sozialisten Anerkennung finde. Während die Nation von 1789 in ihrer Einheit<br />

und Unteilbarkeit selber der Ausdruck von Interessen sein wollte und sich nicht<br />

zu einem blinden Gefühl, zu einem Glauben verfestigte, fordert der Nationalismus<br />

von seinen Anhängern als erstes Gefühl und Glauben. Er muß die Differenzen<br />

innerhalb der Nation verdrängen, weil er sonst seinen Gegenstand zu verlieren<br />

<strong>für</strong>chtet.<br />

Innerhalb der unauflösbaren Nation hatte der liberale Gedanke die Interessen<br />

der Individuen freigesetzt und damit auch dem Interesse der Klassen erst den<br />

freieren Ausdruck ermöglicht. Über dem freien Spiel der Interessen war die Nation<br />

nicht verlorengegangen; und es war nicht abzusehen, daß sie je dadurch in ihrem<br />

Bestand gefährdet sein würde. Sie bestätigte sich vielmehr in ihm. Deshalb genügt<br />

es dem neuen Nationalismus keineswegs, die Einheit und Unteilbarkeit der Nation<br />

als Korrektiv gegen ein Übermaß der Freiheit in Erinnerung zu rufen. Er muß<br />

weitergehen. Er ist gezwungen, die Nation von den Individuen völlig loszulösen<br />

29 II movimento nazionalista e i partiti politici. A. a. O., S. 36ff.<br />

30 A.a.O., S. 41.

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