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Dorothea Lange (1895–1965), Heimatlose Mutter (Migrant Mother ...

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Die Fotografie<br />

Im Frühjahr 1936, als <strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> im Auftrag der Regierung eine große Exkursion durch Kalifornien<br />

unternahm, entstand das Bild, das weltweit in Zeitungen veröffentlicht wurde. Sie war einen Monat unterwegs<br />

gewesen, bis zu 14 Stunden täglich umhergefahren. An einem regnerischen, kalten Märzabend fuhr sie<br />

heim.<br />

„Es regnete. Die Kamerataschen waren gepackt, und auf dem Autositz neben mir hatte ich die Ergebnisse<br />

meiner langen Reise: Die Schachteln enthielten alle für die Post nach Washington fertig belichteten Filmrollen.<br />

Es war ein Augenblick der Erleichterung.<br />

65 Meilen pro Stunde, sieben Stunden lang, würden mich in dieser Nacht nach Hause zu meiner Familie<br />

bringen. Meine Augen klebten an der nassen und glänzenden Landstraße, die sich vor mir erstreckte. Ich<br />

fühlte mich befreit, denn ich konnte meine Gedanken von der Arbeit abwenden und an zu Hause denken.<br />

Ich fuhr in meiner Richtung und nahm das primitive Schild mit einem Pfeil kaum wahr, das an der Straßenseite<br />

aufblitzte und auf ein Erbsenpflückerlager hinweis. Doch aus dem Augenwinkel sah ich es (...)<br />

Nachdem ich mir 20 Meilen lang eingeredet hatte, dass ich weiterfahren sollte, tat ich das Gegenteil. Fast<br />

unbewusst wendete ich auf der leeren Straße. Ich fuhr die 20 Meilen zurück und bog bei dem Schild<br />

„Erbsenpflückerlager“ von der Straße ab.<br />

Ich folgte meinem Instinkt, nicht meinem Verstand. Ich fuhr durch ein verschlammtes Lager und parkte das<br />

Auto. Ich sah die hungrige und verzweifelte <strong>Mutter</strong> und, wie von einem Magnet angezogen, näherte ich mich<br />

ihr. Ich erinnere mich nicht, wie ich ihr meine Gegenwart oder meine Kamera erklärte, aber ich erinnere<br />

mich, dass sie mir keine Frage stellte (...) Sie nannte mir ihr Alter, sie war 32. Sie sagte, dass sie von erfrorenem<br />

Gemüse der umliegenden Felder leben und von Vögeln, die die Kinder töten. Sie hatte gerade die Reifen<br />

ihres Autos verkauft, um Essen zu kaufen. Sie saß in einem schiefen Zelt, ihre Kinder drängten sich um<br />

sie, und sie schien zu wissen, dass meine Bilder ihr helfen könnten, und so half sie mir. Es gab eine Art<br />

Gleichheit zwischen uns.“<br />

<strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> verbrachte knapp zehn Minuten bei der Frau, machte fünf Aufnahmen. Eines dieser Bilder<br />

mit dem Titel „<strong>Heimatlose</strong> <strong>Mutter</strong>“ wurde ihr bekanntestes Foto, eine der am meisten verbreiteten und ausgestellten<br />

Fotografien der Geschichte. 1965 beschrieb P. Elliott in seinem Einführungsessay für die Länge-<br />

Retrospektive im Museum of Modern Art die Magie eines solchen Fotos:<br />

„<strong>Heimatlose</strong> <strong>Mutter</strong> ist berühmt, weil einflussreiche Leute es unerhört aussagekräftig fanden und darauf<br />

drangen, dass die übrige Welt es betrachte. Dieses Bild führt wie nur wenige Bilder einiger anderer Fotografen<br />

ein Eigenleben. Das heißt, es ist weithin als Kunstwerk mit seiner eigenen Botschaft akzeptiert und nicht<br />

als das seines Urhebers. Viele Leute kennen das Bild, ohne dass sie wissen, wer es aufgenommen hat (...)“<br />

Die Fotografie zeigt eine Frau, die älter aussieht als sie ist, den Kopf mit den markanten Zügen und der zerfurchten<br />

Stirn auf die rechte Hand gestützt. Sie blickt besorgt, verzweifelt, aber auch entschlossen in eine<br />

ungewisse Zukunft. In der Linken hält sie ein Bündel mit einem Kleinkind auf dem Schoß, zwei halbwüchsige<br />

Kinder lehnen Schutz suchend die Köpfe an ihre Schulter.<br />

Das biblische Motiv der Madonna mit dem Jesuskind steht beim Betrachter – bewusst oder unbewusst – im<br />

Hintergrund und gibt dem Bild die entscheidende visuelle Kraft. <strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> hat die Frau aus verschie-<br />

MdK 49/2001-12<br />

<strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> (<strong>1895–1965</strong>),<br />

<strong>Heimatlose</strong> <strong>Mutter</strong> (<strong>Migrant</strong> <strong>Mother</strong>),<br />

Nipomo, Kalifornien,<br />

1936<br />

Gelatinesilberdruck, 32,8 × 26,1 cm;<br />

Köln, Museum Ludwig, Sammlung Gruber, Deutschland


MdK Folge 49/2001-12 – <strong>Heimatlose</strong> <strong>Mutter</strong> (<strong>Lange</strong>) 2<br />

denen Blickwinkeln aufgenommen, aber nur dieses Bild traf den Augenblick, der so stark die Gefühle anspricht.<br />

In den Redaktionen und Bildagenturen galt damals das Dogma vom „entscheidenden Augenblick“, den der<br />

Fotograf Henri Cartier-Bresson als das Merkmal guter Fotografie ansah. Da die anderen Bilder viel informativer<br />

sind – sie zeigen den verschlammten Lagerplatz, das schiefe Zelt, zwei armselige Koffer, einen Kinderschaukelstuhl,<br />

eine Pappschachtel, einen Blechteller, eine Petroleumlampe und Müll – trifft hier mit gleichem<br />

Recht der Satz des Fotoreporters Robert Capa zu: „Wenn dein Bild nicht gut ist, warst du nicht nahe<br />

genug dran.“<br />

Dokumentarfotografie im Auftrag der Regierung<br />

Seit dem Ende des Ersten Weltkriegs litt die amerikanische Landwirtschaft unter einer steigenden Überproduktion.<br />

Ein Grund dafür war die zunehmende Mechanisierung. Im Süden wurde die Überproduktion zusätzlich<br />

durch ein archaisches Pächtersystem gefördert, wo sich Strukturen aus der Zeit der Sklaverei fortsetzten.<br />

Die Farmer bestellten meist Land, das ihnen nicht gehörte. Um einen bescheidenen Gewinn oder<br />

auch nur das Existenzminimum zu sichern, waren sie gezwungen, möglichst viel zu produzieren. Erstes Ziel<br />

der Agrarpolitik des New Deal von Präsident Roosevelt musste also sein, die Überproduktion in der Landwirtschaft<br />

zu stoppen. Nichtanbauprämien sollten es den Farmen ermöglichen, ohne wirtschaftliche Einbußen<br />

Land brach liegen zu lassen. Da die Großgrundbesitzer aber nicht verpflichtet waren, die Prämien mit<br />

den Pächtern zu teilen, war ein Großteil von ihnen gezwungen, ihre Höfe zu verlassen und sich als Wanderarbeiter<br />

zu verdingen. Dazu kamen 1934/35 die so genannten Arkies und Orkies, deren Felder in den „Dust<br />

Bowls“ von Arkansas und Oklahoma infolge einer lang anhaltenden Dürreperiode und der zu intensiven<br />

Bodennutzung zu Staub geworden waren. Sie suchten in Kalifornien meist vergeblich Arbeit als Erntehelfer.<br />

Um über die verschiedenen Hilfsprojekte der Bundesregierung zu informieren und Vorurteilen entgegenzuwirken,<br />

wurde eine Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit eingerichtet. Roy E. Stryker erhielt den Auftrag, eine<br />

Geschichte der Wiederansiedlung zu schreiben. Er baute die Fotoabteilung der neu geschaffenen Resettlement<br />

Administation (RA) auf, später Farm Security Administration (FSA), um besondere Programme des<br />

New Deal zu dokumentieren. Es wurde ein zur Legende gewordenes Fotografenteam zusammengestellt, dem<br />

u. a. Ben Shan, Walker Evans und <strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> angehörten, dessen Arbeit weit über die bloße Dokumentation<br />

im Auftrag der Regierung hinausging und richtungsweisend für die Dokumentarfotografie werden<br />

sollte. Beabsichtigt war einerseits eine historische Quellensammlung anzulegen, andererseits Material für<br />

Zeitungen, Zeitschriften und Ausstellungen zur Aufklärung der Öffentlichkeit bereitzustellen. Angestrebt<br />

wurde die unmittelbare Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Auch in der Literatur und in den bildenden<br />

Künsten wurde nun Dokumentation, direkte Erfahrung und Anschaulichkeit zu wichtigen Zielen. In dieser<br />

Atmosphäre fiel den neuen Medien Fotografie und Film eine Schlüsselrolle zu. Die Idee, Fotografie dokumentarisch<br />

bzw. sozialdokumentarisch einzusetzen, war neu und das vorhandene Bildmaterial knapp.<br />

Zur Biografie und zur künstlerischen Entwicklung<br />

<strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> wird 1895 in Hoboken, New Jersey, geboren. Ihre Vorfahren mütterlicherseits wanderten<br />

um 1860 aus Stuttgart in die USA ein. Siebenjährig erkrankt <strong>Dorothea</strong> an Kinderlähmung, fortan hinkt sie.<br />

Mit 65 kommentiert sie: „Ich glaube, das war das Wichtigste, was mir geschehen ist. (Es) prägte mich, leitete<br />

mich, lehrte mich, half mir und demütigte mich. Alles auf einmal. Ich bin niemals darüber hinweggekommen<br />

und bin mir dieses ungeheuren Drucks bewusst.“ Eine Wurzel für ihr tiefes Mitgefühl mit allen benachteiligten<br />

Menschen ist sicher hier zu suchen.<br />

Nach Abschluss der höheren Schule verkündet sie ihre Entscheidung, Fotografin zu werden, obwohl sie noch<br />

nie eine Kamera besessen oder jemals fotografiert hat. Wegen der familiären Einwände gegen den Berufswunsch<br />

besucht sie die New York Training School for Teachers, arbeitet aber nebenher in Fotostudios.<br />

1918 verlässt sie New York für immer, um zusammen mit einer Freundin eine Weltreise anzutreten. Nach<br />

fünf Monaten erreichen sie San Francisco, wo sie das Opfer eines Taschendiebes werden Ihre bisherigen<br />

Erfahrungen verhelfen ihr zu einer Stelle als Fotofachkraft. Bald gelingt es ihr ein eigenes Porträtstudio zu<br />

eröffnen und sie hat Erfolg: sie fotografiert reiche und einflussreiche Familien aus San Francisco. 1920 heiratet<br />

<strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> den anerkannten Maler und Illustrator Maynard Dixon. Während der frühen 20er-Jahre<br />

sind <strong>Lange</strong> und Dixon ein glückliches Paar und genießen das Leben.


MdK Folge 49/2001-12 – <strong>Heimatlose</strong> <strong>Mutter</strong> (<strong>Lange</strong>) 3<br />

Der Börsenkrach von 1929 und die darauf folgende Wirtschaftskrise reduziert allmählich die Aufträge für<br />

<strong>Lange</strong> und Dixon. Gegen Ende des Jahres 1932 bricht schließlich der wirtschaftliche Niedergang mit seiner<br />

ganzen Härte über das Land herein. Die Armen und Hungrigen ziehen durch die Straßen von San Francisco.<br />

Die Fotografin beobachtet eines Tages aus ihrem Fenster Menschen, die auf eine mildtätige Essensausgabe<br />

warten. Sie nähert sich der Gruppe und beginnt, die gedemütigten Menschen, die sich in ihren Wintermänteln<br />

aneinander drücken, zu fotografieren. Es entsteht eines der bleibenden Bilder der Fotogeschichte.<br />

In den folgenden Monaten streift sie häufig durch die Stadt, fotografiert Menschen, die sie bei Demonstrationen<br />

entdeckt, Männer und Frauen, die sich aus den verelendeten Bundesstaaten in die Stadt schleppen. Sie<br />

hat ein Motto für ihre Arbeit gefunden, Worte von Francis Bacon, die sie an die Türe ihres Studios heftet:<br />

„Die Betrachtung der Dinge, so wie sie sind, ohne Ersatz oder Betrug, ohne Irrtum oder Unklarheit, ist eine<br />

edlere Sache als eine Fülle von Erfindungen.“<br />

Um ihre sich anbahnende Dokumentarfotografie finanzieren zu können, macht sie weiterhin Porträtaufnahmen.<br />

1935 erhält <strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> den ersten Regierungsauftrag, die Familien, die von den Great Plains<br />

nach Kalifornien ziehen, im neuen Bundeslager Marysville zu dokumentieren.<br />

Es ist zugleich der Beginn einer engen beruflichen und privaten Beziehung zum regionalen Arbeitsberater<br />

der RA, dem Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Paul Taylor, den sie 1935 nach der Scheidung von<br />

Dixon heiratet.<br />

1936 beginnt eine ausgedehnte Reisetätigkeit, die sie auch in den Osten und Süden der USA führt. Im Sommer<br />

fordert U.S. Camera <strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> auf, „<strong>Heimatlose</strong> <strong>Mutter</strong>“ für die Jahresausstellung hervorragender<br />

Fotos einzureichen, der ersten Ausstellung, die die RA-Fotografen anerkennt. Sie signiert diesen Abzug, der<br />

rasch national und international bekannt wird. 1940–1941 zeigt das Museum of Modern Art in New York eine<br />

Ausstellung von <strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong>s Werk. „<strong>Heimatlose</strong> <strong>Mutter</strong>“ wird in eine Ausstellung von Neuerwerbungen<br />

aufgenommen. Krankheit reduziert ihre Tätigkeit, doch 1954 reist sie im Auftrag der Zeitschrift „Life“<br />

nach Irland, 1958/59 in Begleitung ihres Mannes durch Asien und Europa. <strong>Dorothea</strong> <strong>Lange</strong> stirbt 1965 in<br />

San Francisco. An einer Retrospektive ihrer Arbeit im Museum of Modern Art ist sie noch beteiligt.<br />

Wolf-Dieter Fröscher

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