trafik a nten zeitung April/2012
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PErSPEKtiVEN<br />
24<br />
Behörden, Universitäten, Medi-<br />
ziner, Juristen, Historiker und<br />
Hollywoodgrößen über Jahrzehnte<br />
hinweg kaufen oder<br />
einlullen ließen. Oder beides”,<br />
schreiben „Der Standard” und<br />
die „Berner Zeitung” unsisono.<br />
Der Titel ist provokant: „Golden<br />
Holocaust”. Der renommierte<br />
Wissenschaftshistoriker an der<br />
Stanford University in Kalifornien<br />
ist sich der Problematik der<br />
Titelwahl wohl bewusst, wie er<br />
auf Anfrage klarstellt. Proctor,<br />
der sich mit seinen Büchern zur<br />
Rassenhygiene und zur Krebsforschung<br />
im Nationalsozialismus<br />
einen Namen gemacht<br />
hat, dazu: „Ich weiss, dass der<br />
Genozid an Europas Juden nicht<br />
mit den Opfern des Rauchens zu<br />
vergleichen ist. Mit dem Begriff<br />
des Holocaust verwende ich eine<br />
Robert Proctor: Autor von<br />
„Golden Holocaust“<br />
starke Rhetorik, die auch auf<br />
Provokation setzt.”<br />
Ist das nötig? Rauchfreie Zonen<br />
allerorten, deutliche Warnungen<br />
auf den Packungen, zurückgehende<br />
Raucherzahlen in Europa<br />
und den USA – der Kampf gegen<br />
den blauen Dunst scheint<br />
doch gewonnen. „Scheint”, sagt<br />
Proctor, „denn die eigentliche<br />
Katastrophe stehe uns noch bevor:<br />
Im 20.Jahrhundert starben<br />
«nur» etwa 100 Millionen Menschen<br />
an den Folgen des Tabakkonsums<br />
(jeder zweite Raucher).<br />
Sind sie wirklich am Ziga-<br />
rettenrauch gestorben? Proctors<br />
Antwort: „Zu Beginn des 20.<br />
Jahrhunderts gab es kaum doku-<br />
mentierte Fälle von Lungen-<br />
krebs, dann stieg die Kurve steil<br />
an – parallel zum erst dann massiv<br />
einsetzenden Zigarettenkonsum.<br />
Derzeit geht die WHO jährlich<br />
von etwa 6 Millionen Toten<br />
aus, Tendenz steigend. Allein in<br />
China, dem grössten Wachstumsmarkt<br />
der Tabakindustrie<br />
mit noch schwacher Regulierung,<br />
werden im Laufe des 21.Jahrhunderts<br />
vermutlich Hunderte Millionen<br />
Menschen vorzeitig sterben,<br />
weltweit bis zu einer Milliarde.”<br />
„Der Tabakindustrie ist es<br />
wieder einmal gelungen, sich<br />
unsichtbar zu machen“, sagt<br />
Proctor, der in seinem Buch<br />
gerne das Bild des verspiegelten<br />
Glases verwendet, hinter<br />
dem sich die Zigarettendreher<br />
verstecken. Sie sehen alles, aber<br />
agieren völlig geheim. „Golden<br />
Holocaust” erlaube nun den Blick<br />
dahinter.<br />
nebel werfen<br />
und zweifel säen<br />
Infolge eines gerichtlichen Vergleichs<br />
mit 46 US-Bundesstaaten<br />
im Jahr 1998 wurde die US-<br />
Tabakindustrie nicht nur zu im-<br />
mensen Schadenersatzforderungen<br />
in dreistelliger Milliardenhöhe<br />
verurteilt, sondern auch<br />
dazu, ihre Unterlagen aus den<br />
zurückliegenden Prozessen offenzulegen.<br />
So entstand die Legacy Tobacco<br />
Documents Library, die derzeit<br />
13 Millionen Dokumente enthält.<br />
Die Tabakkonzerne hätten<br />
darauf – so Proctor – mit der<br />
Strategie reagiert, das Archiv mit<br />
ihren Papieren zu fluten und so<br />
unbenützbar zumachen. Allerdings<br />
hatten sie – so der „Golden<br />
Holocaust”-Autor – die Rechnung<br />
ohne Internet und Volltext-<br />
suche (http://legacy.library.ucsf.edu)<br />
Weniger Herzinfarkte durch<br />
Rauchverbot in deutschen Gaststätten<br />
Durch das Rauchverbot in Gaststätten hat sich in Deutschland<br />
die Zahl der Herzinfarkte laut einer Studie deutlich verringert.<br />
Seit Einführung der Nichtraucherschutzgesetze 2007 und 2008<br />
seien die Klinikbehandlungen wegen eines Herzinfarktes um acht<br />
Prozent gesunken, wie eine kürzlich in Berlin veröffentlichte Studie<br />
der Krankenkasse DAK-Gesundheit zeigt. Die stationären Behandlungen<br />
wegen einer Angina pectoris, einer Vorstufe des Herzinfarkts,<br />
gingen demnach um 13 Prozent zurück.<br />
Für die Untersuchung wurden über fünf Jahre hinweg Krankenhausdaten<br />
von mehr als drei Millionen DAK-Versicherten ausgewertet.<br />
Nach Angaben der Kasse handelt es sich um die erste<br />
Studie in Deutschland zu diesem Thema und auch um die bisher<br />
größte weltweite Untersuchung dieser Art.<br />
Bereits im Jahr nach der Einführung der Nichtraucherschutz-<br />
gesetze in den deutschen Bundesländern kon<strong>nten</strong> allein bei der<br />
DAK-Gesundheit 1.880 Krankenhausbehandlungen verhindert<br />
und Kosten in Höhe von 7,7 Millionen Euro eingespart werden.<br />
Bundesweit sollen es 150 Millionen Euro sein.<br />
Der Vorsitzende der Krankenkasse, Herbert Rebscher, sieht allerdings<br />
noch Lücken und fordert ein einheitliches Rauchverbot.<br />
„Bayern kann hier mit seinem konseque<strong>nten</strong> Nichtraucherschutz<br />
als Blaupause für andere Bundesländer dienen.“<br />
Nichts übertreiben –<br />
das Leben ist halt ein einziges Risiko<br />
Jetzt ist es also wissenschaftlich erwiesen: Das Rauchverbot rettet<br />
Menschenleben und spart auch noch eine Menge Geld. 150 Millionen<br />
Euro genauer gesagt, welche die Krankenkassen ohne das<br />
Rauchverbot deutschlandweit für die Behandlung von Herzinfarkten<br />
und Angina pectoris hätten ausgeben müssen. Die verhinderten<br />
Fälle von Lungenkrebs und anderer durch das Rauchen verursachten<br />
Leiden sind in der gerade veröffentlichten Untersuchung<br />
der Krankenkasse DAK noch gar nicht eingerechnet.<br />
Bayerns Finanzminister Markus Söder, der neulich in seiner Funktion<br />
als oberster Kapitän der 34 bayerischen Ausflugsdampfer<br />
das Rauchen an Deck verboten hat, kann sich also voll bestätigt<br />
fühlen. Unvergessen sein keinen Widerspruch duldender Befehl:<br />
„Die Seen müssen rauchfrei sein.“<br />
Der Freistaat hat bundesweit ohnehin schon das strengste Nichtraucherschutzgesetz,<br />
doch nach dieser Untersuchung ist absehbar,<br />
dass bald über ein grundsätzliches Rauchverbot im Freien diskutiert<br />
werden wird, zum Beispiel in Biergärten und Fußballstadien.<br />
Bei so viel Regelungswut bekommt man sogar als passionierter<br />
Nichtraucher und Nicht-Gaststätten-Besitzer Lust, sich eine Zigarette<br />
anzuzünden, oder eine echte kubanische Zigarre. Schließlich<br />
gilt in Bayern nach wie vor das – ungeschriebene – Gesetz „Leben<br />
und leben lassen“.<br />
Es ist ja richtig, dass Nichtraucher, vor allem Kinder, vor den<br />
wissenschaftlich nachgewiesenen, Gesundheitsschäden durch<br />
Passivrauchen, also dem Einatmen nikotinschwerer Luft in geschlossenen<br />
Räumen, geschützt werden müssen. Aber man kann<br />
es auch übertreiben. Erwachsene Menschen kann man nicht per<br />
Gesetz dazu zwingen, gesund zu leben. Wer das glaubt, müsste<br />
konsequenterweise auch das Trinken von Alkohol verbieten oder<br />
das Essen fett- und zuckerhaltiger Lebensmittel, deren gesundheitsschädliche<br />
Wirkung wissenschaftlich ebenfalls erwiesen sind.<br />
Und was ist eigentlich mit dem Autofahren? Immerhin sind im<br />
vergangenen Jahr 3991 Menschen bei Unfällen allein in Deutschland<br />
gestorben. Trotzdem kommt keiner auf die Idee, Autos zu<br />
verbieten. Die meisten Unfälle passieren übrigens im Haushalt.<br />
Das Leben ist halt ein einziges Risiko.<br />
Kommentar: Süddeutsche Zeitung<br />
<strong>trafik</strong> a <strong>nten</strong> <strong>zeitung</strong> <strong>April</strong>/<strong>2012</strong>