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Tagesprotokoll 04 - Ver.di

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Mittwoch, 21. September 2011<br />

Vierter Kongresstag<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Beginn: 9.<strong>04</strong> Uhr<br />

415<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Einen wunderschönen guten Morgen, Kolleginnen und Kollegen! Wir haben, wie Ihr<br />

seht, das Team gewechselt: heute mit norddeutscher Dominanz - das ist, glaube ich,<br />

nicht zu überhören – und bayerischer Unterstützung zu meiner Linken. Ich finde das<br />

ausgesprochen gut. Ich kann mich an Zeiten erinnern, dass, wenn jemand in Norddeutschland<br />

auftrat, einer aufsprang und rief: Hoch <strong>di</strong>e internationale Solidarität!<br />

Das ist längst vorbei. Wir sind uns viel nähergekommen.<br />

Ich hoffe, Ihr hattet einen schönen Parteienabend.<br />

Wir haben heute ein paar Besonderheiten. Dieser Tag ist vom Arbeitsteil her etwas<br />

kürzer; denn wir müssen hier spätestens um 16 Uhr <strong>di</strong>e Bühne räumen. Dann wird<br />

umgebaut, um danach <strong>di</strong>e Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussion mit den Parteienvertretern stattfinden<br />

zu lassen. Dann haben wir noch unsere ver.<strong>di</strong>-Fete heute Abend. Ihr sollt natürlich<br />

noch ein bisschen Zeit haben, um Euch ein bisschen aufbrezeln zu können. (Heiterkeit)<br />

Heute ist Tag 4 unseres Kongresses, Mittwoch – falls Ihr das vergessen haben solltet.<br />

Wir haben gestern, am Dienstag, von einem Mitglied des Bundesvorstands ein schönes<br />

Kompliment bekommen. Uns wurde gesagt: Ihr seid da vorne so herrlich entspannt;<br />

das ist wunderschön anzusehen. Ich habe geantwortet: Ja, das stimmt; aber<br />

Ihr seht jetzt auch entspannter aus als am Montag. (Leichte Heiterkeit)<br />

Bevor wir zur weiteren Antragsberatung kommen, noch einige Besonderheiten zu<br />

Anfang: Als Erstes möchte ich mitteilen, dass <strong>di</strong>e Kollegin Elke Fleßner gestern hier<br />

leider verunfallt ist. Ihr seht, wir haben hier einen Haufen Treppen; da kann man<br />

schon mal stürzen. Also seid bitte vorsichtig! Ich glaube, wir wünschen als Kongress<br />

<strong>di</strong>eser Kollegin alles Gute und gute Genesung. (Beifall) Ich hoffe, dass sie bald wieder<br />

gesund wird. Passt auf Eure Knochen auf!<br />

Wir starten wie jeden Tag mit den Geburtstagen und unseren Geburtstagskindern.<br />

Heute haben Geburtstag <strong>di</strong>e Kollegin Karola Güth (Beifall), <strong>di</strong>e Kollegin Gerlinde<br />

Strasdeit, der Kollege Immo Schlepper, der momentan nicht hier sein kann, aber<br />

heute Abend wiederkommt, <strong>di</strong>e Kollegin Erika Wehde (Beifall) und <strong>di</strong>e Kollegin Regina<br />

Rohde. Kommt bitte hier vorne auf <strong>di</strong>e Bühne. (Beifall - Zur Musik „Happy


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Mittwoch, 21. September 2011<br />

Birthday‚ betreten <strong>di</strong>e Geburtstagskinder <strong>di</strong>e Bühne und nehmen unter rhythmischem<br />

Klatschen ein Präsent entgegen) Alles Gute noch einmal zu Eurem Geburtstag!<br />

Wenn Ihr Euch über <strong>di</strong>e geschmückte Bühne wundern oder freuen solltet, so erkläre<br />

ich Euch jetzt den Hintergrund: Wir haben heute „Weltfriedenstag‚, und wir haben<br />

es für angemessen gehalten, dass <strong>di</strong>e Kollegin Sonja Franke, <strong>di</strong>e das hier so herrlich<br />

mit vorbereitet hat, noch etwas zu <strong>di</strong>esem Tag sagt, bevor wir in den weiteren Kongressablauf<br />

einsteigen. Sonja, Du hast das Wort.<br />

Sonja Franke, 460<br />

Einen schönen guten Morgen Euch allen von hier vorne. Viele wundern sich, viele<br />

haben ein anderes Datum im Gedächtnis: den 1. September. Das ist auch richtig. Der<br />

1. September war in der ehemaligen DDR der „Tag des Friedens‚, in der Bundesrepublik<br />

ist es der „Antikriegstag‚. Aber am 21. September 1981 hat <strong>di</strong>e UNO-<br />

Vollversammlung vereinbart, den „Weltfriedenstag‚ ins Leben zu rufen. Wer jetzt<br />

richtig gerechnet hat, der weiß, dass er sich in <strong>di</strong>esem Jahr zum 30. Mal jährt.<br />

Zu <strong>di</strong>esem „Weltfriedenstag‚ ist dazu aufgerufen worden, in den Ländern und zwischen<br />

den Ländern verstärkt <strong>di</strong>e Idee des Friedens weiterzutragen. Auch sollen Hilfsorganisationen<br />

an <strong>di</strong>esem Tag gefahrlos in Kriegszonen reisen können, um dort Hilfestellung<br />

zu geben.<br />

Der Kranich steht in Japan für den Frieden. Das gemeinsame Falten wäre zu zeitaufwen<strong>di</strong>g<br />

gewesen. Deshalb habt Ihr <strong>di</strong>e Kraniche als Friedenssymbol hier vorne liegen.<br />

Meine Mitstreiterinnen, <strong>di</strong>e hier so fleißig mit gefaltet und aufgebaut haben, <strong>di</strong>e sich<br />

<strong>di</strong>e halbe Nacht um <strong>di</strong>e Ohren geschlagen haben, damit das heute hier entsprechend<br />

ankommt, und ich würden uns freuen, wenn <strong>di</strong>ese Kraniche hier vom Po<strong>di</strong>um aus zu<br />

Euch in <strong>di</strong>e Reihen fliegen würden. Nehmt sie Euch einfach mit in <strong>di</strong>e Reihen. Wir<br />

versuchen auch, für all <strong>di</strong>e nachzufalten, <strong>di</strong>e noch einen Bedarf haben. Wir würden<br />

uns also freuen, wenn <strong>di</strong>eses Symbol zu Euch ins Plenum kommt. Denn auch der<br />

Frieden muss hinaus in <strong>di</strong>e Welt ziehen! (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Vielen Dank, Sonja.<br />

Wir hatten gestern eine angeregte Diskussion über <strong>di</strong>e Frage des Vetorechts, sehr<br />

engagiert von der Jugend vorgetragen. Die Jugend hat sich gestern Abend noch<br />

einmal getroffen und hat <strong>di</strong>e Diskussion, weil sie nicht ganz spannungsfrei war, aus-


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gewertet. Der Kollege Cedrik Sommer mit der Delegiertennummer 39 möchte jetzt<br />

im Namen der Jugend noch einige Worte sagen. Sei herzlich willkommen! (Beifall)<br />

Cedrik Sommer, 39<br />

Ich stehe hier, weil wir Jugendlichen uns gestern noch einmal getroffen haben, weil<br />

wir <strong>di</strong>e Stimmung nach und während der letzten Diskussion sehr schade fanden und<br />

noch einmal das Wort an Euch richten wollen.<br />

Wir sind hier und stehen hier für <strong>di</strong>e Interessen der jungen Generation. Dabei richten<br />

sich viele Sachen, <strong>di</strong>e wir kritisieren, nicht an Euch, <strong>di</strong>e Ihr hier im Saal sitzt, sondern<br />

vielleicht an Leute, <strong>di</strong>e gerade nicht hier sitzen. Aber wir, <strong>di</strong>e Delegierten, sind <strong>di</strong>e<br />

Entscheidungsträgerinnen und –träger, und deshalb müssen wir <strong>di</strong>ese Themen gemeinsam<br />

<strong>di</strong>skutieren und entscheiden. (Beifall)<br />

Die ver.<strong>di</strong>-Jugend arbeitet sehr eng mit allen Generationen zusammen, besonders<br />

auch mit den Seniorinnen und Senioren. (Beifall) Ly<strong>di</strong>a aus dem Bundesseniorenausschuss<br />

sitzt bei uns im Bundesjugendvorstand. Wir freuen uns besonders, dass sie<br />

auf der Bundesjugendkonferenz um zwei Uhr nachts unseren gemeinsamen Antrag<br />

zum Generationenvertrag unterstützt hat. (Beifall)<br />

Falls sich gestern im Laufe der Diskussion jemand verletzt gefühlt hat, könnt Ihr sicher<br />

sein: Das war nicht unsere Absicht. (Beifall) Unser Ziel sind gute, auch kritische<br />

Debatten. Wir haben Anträge, und wir haben Ideen. Lasst uns gemeinsam <strong>di</strong>skutieren.<br />

Lasst uns gemeinsam Entscheidungen treffen. Denn wir sind ver.<strong>di</strong>, vereint für<br />

Gerechtigkeit, gemeinsam stark! (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Cedric, Du merkst schon am Applaus, dass Du den Nerv des Kongresses positiv getroffen<br />

hast.<br />

Bevor wir in <strong>di</strong>e weitere Antragsberatung einsteigen, möchte ich mitteilen, wie sich<br />

nach der Konstituierung <strong>di</strong>e Ausschüsse des Gewerkschaftsrats zusammensetzen.<br />

Wir haben das gestern schon über <strong>di</strong>e Videowand laufen lassen, aber ich möchte das<br />

hier auch noch einmal vortragen.<br />

In den Haushalts- und Finanzausschuss des Gewerkschaftsrats sind gewählt worden<br />

Susanne Bleidt, Annette Gregor, Angelika Jähn, Margitta Jahn, Stefanie Weiß, Jörg<br />

Grünefeld, Markus Jordan, Wilfried Weisbrod und Manfred Wirsch.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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In den Personalausschuss sind gewählt worden Daniela Catalano, Karin Kettner, Renate<br />

Sindt, Hannelore Walz, Clau<strong>di</strong>a Wörmann-Adam, Alfons Buchholz, Mario Gebhardt,<br />

Jürgen Hohmann und Gregor von Paczensky. Herzlichen Glückwunsch dazu<br />

(Beifall) und ein gutes Händchen bei Eurer anspruchsvollen Aufgabe.<br />

Ich denke, wir können jetzt wieder zu den Anträgen kommen. Wir fahren in der Tagesordnung<br />

fort. Gestern haben wir den Antragsblock E unterbrochen. Wir kommen<br />

jetzt zum Untersachgebiet Tarifpolitik öD. Das sind <strong>di</strong>e Anträge E 115 bis E 172, mit<br />

denen wir uns jetzt befassen.<br />

Ich rufe zunächst <strong>di</strong>e Anträge auf, zu denen Wortmeldungen oder Änderungsanträge<br />

vorliegen. Das sind als erste der Antrag E 161 und der Änderungsantrag E 161-1.<br />

Dazu hat <strong>di</strong>e Antragskommission zuerst das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Die Antragskommission empfiehlt <strong>di</strong>e Annahme des Antrages E 161-1.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Dazu liegen uns keine Wortmeldungen vor. Dann können wir <strong>di</strong>rekt zu der Abstimmung<br />

darüber kommen. Wer der Empfehlung der Antragskommission folgen möchte,<br />

den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Ohne Gegenstimme<br />

bei einer Enthaltung so angenommen.<br />

Ich rufe dann auf den Antrag E 161 - Einheitliche <strong>Ver</strong>gütung PIP. Karola!<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Durch <strong>di</strong>e Annahme des Änderungsantrages verändert sich <strong>di</strong>e Empfehlung. Die<br />

Empfehlung lautet jetzt Annahme mit Änderungen als Arbeitsmaterial zum Bundesvorstand.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Karola. Auch dazu liegen uns keine Wortmeldungen vor. Wer der geänderten<br />

Empfehlung der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen.<br />

– Gegenprobe! – Enthaltungen? – Bei zwei Enthaltungen ohne Gegenstimme<br />

so angenommen.<br />

Ich rufe auf den Antrag E 162. Wir haben hier vermerkt, dass eine Wortmeldung<br />

vorliegen soll. Sie liegt uns aber nicht vor. Ich frage vorsorglich: Hat sich jemand zu


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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

dem Antrag E 172 zu Wort gemeldet? – Das ist nicht der Fall. Dann gehe ich davon<br />

aus, dass das ein Fehler unsererseits war. Dann geht der Antrag mit in <strong>di</strong>e En-bloc-<br />

Abstimmung.<br />

Ich rufe auf den Antrag E 164 und dazu den Änderungsantrag E 164-1. Hier hat zunächst<br />

<strong>di</strong>e Antragskommission das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Auch hier empfehlen wir, den Änderungsantrag anzunehmen.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Es liegen keine Wortmeldungen zu dem Antrag E 164-1 vor. Wer der Empfehlung<br />

der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe!<br />

– Enthaltungen? – Ohne Gegenstimme bei wenigen Enthaltungen ist der<br />

Empfehlung gefolgt worden.<br />

Dann kommen wir zum Antrag E 164. Möchtest Du das Wort dazu, Karola?<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Hier ändert sich jetzt durch <strong>di</strong>e Annahme des Änderungsantrages <strong>di</strong>e Empfehlung.<br />

Die neue Empfehlung lautet Annahme mit Änderungen als Arbeitsmaterial zum<br />

Bundesvorstand.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Auch dazu liegen keine Wortmeldungen vor. Dann kommen wir zur Abstimmung.<br />

Wer der Empfehlung der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das<br />

Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Ohne Gegenstimme bei einer Enthaltung<br />

in der geänderten Fassung angenommen.<br />

Ich rufe dann den Antrag E 167 auf. Ich möchte auf eine Besonderheit hinweisen: Je<br />

nachdem – das ist im Grunde ein Satzungsantrag -, ob sich <strong>di</strong>e Empfehlung noch<br />

mal ändert, brauchen wir eine Zweidrittelmehrheit. Das stellt sich aber erst heraus,<br />

wenn wir wissen, wie <strong>di</strong>e Diskussion verläuft.<br />

Wortmeldungen liegen uns dazu nicht vor. Insofern hat jetzt <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

zunächst das Wort zum Antrag E 167.


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Sprecherin der Antragskommission<br />

Wir empfehlen <strong>di</strong>e Annahme als Arbeitsmaterial zum Gewerkschaftsrat.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Wünscht jemand das Wort? – Das ist nicht der Fall. Dann kommen wir zur Abstimmung.<br />

Dazu reicht jetzt <strong>di</strong>e einfache Mehrheit. Wer der Empfehlung der Antragskommission<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! –<br />

Enthaltungen? – Einstimmig so angenommen.<br />

Dann rufe ich auf den Antrag E 168. Da gilt dasselbe <strong>Ver</strong>fahren wie eben. Gegebenenfalls<br />

ist eine Zweidrittelmehrheit notwen<strong>di</strong>g. Das ist aber nur der Fall, wenn <strong>di</strong>e<br />

Empfehlung geändert würde. Auch dazu hat <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Die Empfehlung lautet erle<strong>di</strong>gt durch Antrag E 167.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Wer <strong>di</strong>eser Empfehlung folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe!<br />

– Enthaltungen? – Ohne Gegenstimmen bei einer Enthaltung so beschlossen.<br />

Dann sind wir mit dem Untersachgebiet fertig. Das heißt, mit dem Untersachgebiet<br />

„Tarifpolitik/Budget‚ sind wir natürlich noch nicht vollstän<strong>di</strong>g fertig, weil wir noch<br />

<strong>di</strong>e En-bloc-Abstimmung durchführen müssen, in <strong>di</strong>e wir jetzt kommen.<br />

Wir haben gestern in der Kongresshalle darüber <strong>di</strong>skutiert, wie wir damit umgehen,<br />

dass es erfreulicherweise doch so viele Empfehlungen gibt, zu denen es keine Wortmeldungen<br />

gibt, weshalb sie in <strong>di</strong>e En-bloc-Abstimmung kommen. Gestern war es<br />

für viele offensichtlich ein Spaß, wenn ich hier <strong>di</strong>ese ellenlangen Zahlenkolonnen<br />

vorlese. Wir haben uns deshalb entschieden, heute ein neues <strong>Ver</strong>fahren auszuprobieren,<br />

um das abzukürzen. (Beifall) Dabei müssen wir natürlich sicherstellen – da<br />

müsst Ihr bitte auch ein wenig aufpassen –, dass das Protokoll und <strong>di</strong>e Organisation<br />

hinterher noch wissen, was wir eigentlich beschlossen haben. Insofern hoffen wir,<br />

dass uns das gelingt.<br />

Für <strong>di</strong>e En-bloc-Abstimmung rufe ich nun auf <strong>di</strong>e Anträge E 115 bis 160, den Antrag<br />

E 163, <strong>di</strong>e Anträge 165 und 166 sowie <strong>di</strong>e Anträge 169 bis 172. Wer den Empfehlungen<br />

der Antragskommission für <strong>di</strong>e aufgerufenen Anträge folgen möchte, den<br />

bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Ohne Gegen-


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stimmen bei wenigen Enthaltungen so angenommen. (Zuruf) – Ich höre gerade,<br />

auch den Antrag E 162 hätte ich für <strong>di</strong>e En-bloc-Abstimmung aufrufen müssen. Ich<br />

schaue mal kurz in meine Unterlagen. (Zuruf: Dazu lag ja auch eine Wortmeldung<br />

vor!) – Nein, dazu gab es keine Wortmeldung. Deswegen habe ich gesagt, der<br />

kommt in <strong>di</strong>e En-bloc-Abstimmung hinein. Also Ihr merkt, dass wir noch ein bisschen<br />

üben, um das hinzukriegen. Aber ich glaube, das geht vom <strong>Ver</strong>fahren her deutlich<br />

schneller, als wenn wir <strong>di</strong>e Anträge einzeln aufrufen.<br />

Okay, dann verlassen wir das Untersachgebiet „Tarifpolitik/Budget‚ und kommen<br />

zum Untersachgebiet „Organisation der Tarifpolitik‚. Dabei handelt es sich um <strong>di</strong>e<br />

Anträge E 173 bis 181.<br />

Als Erstes rufe ich für <strong>di</strong>e Einzelabstimmung auf den Antrag E 173. Da es sich auch<br />

hierbei um Satzungsfragen handelt, ist, je nachdem, wie <strong>di</strong>e Empfehlung am Ende<br />

lautet, gegebenenfalls eine Zweidrittelmehrheit notwen<strong>di</strong>g. Dazu liegen keine<br />

Wortmeldungen vor. Dann hat <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort.<br />

Sprecher der Antragskommission<br />

Zum Antrag E 173 – Fachbereichsübergreifende Tarifkoor<strong>di</strong>nation/erweitertes Vetorecht<br />

– empfiehlt <strong>di</strong>e Antragskommission Annahme als Arbeitsmaterial zur Weiterleitung<br />

an den Gewerkschaftsrat.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Dann kommen wir zur Abstimmung. Wer der Empfehlung der Antragskommission<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen?<br />

– Bei wenigen Enthaltungen und ohne Gegenstimmen ist der Empfehlung so gefolgt.<br />

Ich rufe auf den Antrag 178. Dazu hat als Erstes <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort.<br />

Es bereitet sich vor der Kollege Björn Wolf mit der Delegiertennummer 993. Aber<br />

zunächst <strong>di</strong>e Antragskommission.<br />

Sprecher der Antragskommission<br />

Der ver.<strong>di</strong>-Bundesvorstand muss <strong>di</strong>e Möglichkeit haben, zu überprüfen, ob das Antragsbegehren<br />

in den unterschiedlichen Tarifbereichen überhaupt umsetzbar ist.<br />

Nicht in allen Tarifbereichen sind <strong>di</strong>e entsprechenden Informationen über <strong>di</strong>e Tarifbindung<br />

aller Unternehmen des Tarifbereichs vorhanden. Deshalb können <strong>di</strong>e entsprechenden<br />

Listen sehr fehleranfällig sein. Unvollstän<strong>di</strong>ge oder sogar falsche Listen,<br />

<strong>di</strong>e veröffentlicht werden, könnten sogar negative Auswirkungen haben.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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Die Annahme des Antrags als Arbeitsmaterial an den Bundesvorstand würde <strong>di</strong>e<br />

Chance eröffnen, in ausgewählten Tarifbereichen und in bestimmten Regionen das<br />

Instrument zu überprüfen und Kosten und Nutzen gegeneinander abzuwägen. Wir<br />

empfehlen deshalb Annahme als Arbeitsmaterial zur Weiterleitung an den Bundesvorstand.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Mario. – Dann hat das Wort der Kollege Björn Wolf mit der Delegiertennummer<br />

993.<br />

Björn Wolf, 993<br />

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich bin vom Landesbezirk Hessen.<br />

(Björn Wolf platziert ein Paar Schuhe auf dem Rednerpult) – Ja, das sind <strong>di</strong>e Schuhe,<br />

<strong>di</strong>e im Antrag erwähnt werden. Wer <strong>di</strong>e Begründung gelesen hat und sich merken<br />

konnte, wird sich vielleicht an den Fall erinnern: Vor einiger Zeit stand ich im Schuhladen,<br />

und mir stellten sich zwei Fragen: Wird in <strong>di</strong>esem Schuhgeschäft eigentlich<br />

nach Tarif bezahlt? Wie sieht es aus mit dem Hersteller? Da habe ich mich nicht<br />

mehr so wohl gefühlt; denn ich fragte mich: Wo bin ich hier eigentlich gelandet? Bin<br />

ich hier in einem Betrieb, in dem alles mit rechten Dingen zugeht, oder ist das vielleicht<br />

der „Schuh-Schlecker‚? Wer weiß das schon?<br />

Dann habe ich mir gedacht: Na ja, ich versuche, <strong>di</strong>e Frage mal zu beantworten. Aber<br />

das war leider nicht möglich. Die Beschäftigten – das kommt ja in vielen Betrieben<br />

vor – wussten es selber nicht so genau. Und genaue Nachfragen führten zu verlegenem<br />

Schulterzucken. Auch eine Recherche im Internet brachte mich nicht so recht<br />

weiter. Ich habe da wirklich einige Stunden gesucht, habe aber weder bei der<br />

Schuhhandelskette noch bei dem Schuhhersteller irgendein Ergebnis erzielen können.<br />

Deshalb habe ich mir gesagt, dann mache ich mich mal auf <strong>di</strong>e Suche. Ich habe bei<br />

ganz vielen Unternehmen <strong>di</strong>e Internetseiten durchforstet und habe dann Folgendes<br />

gefunden: Unternehmensphilosophien, Strategien, Familiengeschichten, Vision and<br />

Mission, Marktanteile und so weiter und so weiter. Alles war da, alles prima, alles in<br />

Hochglanz. Aber Tarifvertrag, Tarifgebundenheit? Fehlanzeige, absolute totale Fehlanzeige!<br />

Kolleginnen und Kollegen, für <strong>Ver</strong>braucher hat Tarifgebundenheit in <strong>di</strong>esem Land<br />

überhaupt keine Bedeutung. Man erkennt sie nicht einmal. Das ist meiner Ansicht<br />

nach ein absoluter Skandal. (Beifall) Wie sollen sich <strong>di</strong>e Konsumenten denn eigent-


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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

lich entscheiden? Wie sollen sie erkennen, dass sie ihren Brief besser zur Post bringen<br />

als zu TNT, dass sie ihre Haare lieber beim Friseur um <strong>di</strong>e Ecke schneiden lassen als<br />

beim Friseur<strong>di</strong>scounter am Flughafen oder welche Krankenkasse eigentlich noch vernünftige<br />

Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen bietet? Brauchen wir für jeden Schuhladen an der Ecke<br />

eine Kampagne à la Schlecker? Das können wir nicht leisten, und wie denn auch?<br />

Abgesehen davon würde es auch gar nicht funktionieren. Denn – Ihr wisst es – <strong>di</strong>e<br />

kollektive Erinnerung an <strong>di</strong>e vorherige Kampagne ist schnell vergessen.<br />

Die Umweltbewegung hat es uns vorgemacht. Da gibt es Demeter, da gibt es<br />

Bioland, da gibt es den Blauen Engel und schließlich, man höre und staune, das Bio-<br />

Siegel. Damit <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>braucher entscheiden können, so das Prinzip, werden sie informiert.<br />

Man zeichnet <strong>di</strong>e Produkte aus, und der Gesetzgeber erkennt sogar irgendwann,<br />

dass es vielleicht notwen<strong>di</strong>g ist, den <strong>Ver</strong>braucher an <strong>di</strong>eser Stelle zu informieren.<br />

Davon sind wir Gewerkschaften und ver.<strong>di</strong> im Besonderen in Bezug auf <strong>di</strong>e Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen<br />

der Beschäftigten meilenweit entfernt.<br />

Um es auf den Punkt zu bringen: Die <strong>Ver</strong>braucher erfahren mehr über <strong>di</strong>e Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen<br />

von Hühnern als über <strong>di</strong>e Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen von beschäftigten Menschen.<br />

(Beifall) Das ist ja wohl ein schlechter Witz.<br />

Ihr seht, worum es bei <strong>di</strong>esem Antrag geht, nämlich erstens müssen wir <strong>di</strong>e Konsumenten<br />

besser informieren. Dazu müssen wir veröffentlichen, und zwar so schnell es<br />

geht, welche Unternehmen mit uns einen Deal machen. Denn wir bei ver.<strong>di</strong>, wir sind<br />

<strong>di</strong>e Experten, was Gute Arbeit und Lohnbe<strong>di</strong>ngungen in der Dienstleistung betrifft.<br />

Zweitens. Wir müssen <strong>di</strong>e Konsumenten mit der Nase darauf stoßen, dass <strong>di</strong>ese Informationen<br />

auch existieren. Wir haben <strong>di</strong>e, und wenn <strong>di</strong>e Antragskommission sagt:<br />

„Die liegen nicht überall vor‚, dann ist es unsere verdammte Pflicht, <strong>di</strong>ese Informationen<br />

zusammenzutragen und so schnell wie möglich unters Volk zu bringen. (Beifall)<br />

Drittens geht es bei <strong>di</strong>esem Antrag um eine positive Diskriminierung derjenigen Arbeitgeber,<br />

<strong>di</strong>e sich an <strong>di</strong>e Spielregeln halten, und zwar idealerweise absolut, vollstän<strong>di</strong>g<br />

und inklusive aller Töchterunternehmen. Uns geht es also darum, dass nicht<br />

nur in der Konzernmutter nach Tarif bezahlt wird. (Beifall) Wir wollen <strong>di</strong>ese als Vorbilder<br />

für andere darstellen, <strong>di</strong>e sich nicht daran halten.<br />

Ihr habt es gehört: Die Antragskommission empfiehlt den Antrag als Arbeitsmaterial.<br />

Aber ich denke – und deswegen stehe ich hier –, wir sollten <strong>di</strong>esen Antrag annehmen,<br />

um Folgendes deutlich zu machen: (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Erstens. Unser Job ist es, gute Tarifverträge abzuschließen. Das können wir, und wir<br />

sollten uns auch darüber bewusst sein, welche wir abschließen.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Kommst Du bitte zum Ende.<br />

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Björn Wolf, 993<br />

Ja. – Wer sich als <strong>Ver</strong>braucher darauf verlässt, ist gut beraten, und wer in Zukunft<br />

beim Volk ankommen will, muss mit uns Tarifverträge abschließen.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Machst Du jetzt bitte wirklich Schluss. (Heiterkeit)<br />

Björn Wolf, 993<br />

Also: Die konsequente <strong>Ver</strong>öffentlichung aller tarifgebundenen Unternehmen ist der<br />

erste notwen<strong>di</strong>ge Schritt. Den müssen wir einfach gestalten. Dafür brauchen wir keinen<br />

Gesetzgeber. Wir können es jetzt machen, indem wir beschließen, den Antrag<br />

anzunehmen. – Vielen Dank. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke für Deinen Beitrag. – Die Antragskommission bleibt bei ihrer Empfehlung. Es<br />

liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Dann kommen wir zur Abstimmung über<br />

den Antrag E 178. Wer der Empfehlung der Antragskommission folgen möchte, den<br />

bitte ich um das Kartenzeichen. – Die Gegenprobe! – Das Erste fand <strong>di</strong>e deutliche<br />

Mehrheit. (Zurufe: Nein!) – Dann probieren wir es noch einmal, und dann schauen<br />

alle von der Kongressleitung genau hin.<br />

Wer der Empfehlung der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das<br />

Kartenzeichen. – Die Gegenprobe! – Ich glaube, wir müssen es auszählen, bevor es<br />

zu Irritationen kommt. (Beifall) Dann bitte ich <strong>di</strong>e Kolleginnen und Kollegen Stimmzählerinnen<br />

und Stimmzähler, ihre Plätze einzunehmen. – Sind alle Zählblöcke besetzt?<br />

Könnt Ihr mir bitte ein Handzeichen geben? (Zuruf: Einen Moment noch!) –<br />

Martin, gibst Du mir ein Zeichen, wenn Ihr fertig seid? – Die Zählerinnen und Zähler<br />

sind nun auf ihren Plätzen.<br />

Dann können wir jetzt anfangen, und ich bitte noch einmal um <strong>di</strong>e Stimmen derjenigen,<br />

<strong>di</strong>e für <strong>di</strong>e Empfehlung der Antragskommission sind. Haltet Eure Stimmkarten<br />

bitte so lange hoch, bis Ihr das Signal bekommt, dass ausgezählt ist. Nehmt sie bitte<br />

nicht vorher runter. (Thies Hansen: Kann ich den Arm wechseln?) – Ja, Thies, Du


Mittwoch, 21. September 2011<br />

425<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

darfst den Arm wechseln. (Heiterkeit) Sind jetzt alle Stimmen gezählt? – Das scheint<br />

der Fall zu sein. Dann bitte ich jetzt um <strong>di</strong>e Gegenprobe. – Wir harren der Ad<strong>di</strong>tion.<br />

Nur eine Info für <strong>di</strong>e Zählerinnen und Zähler: Wir fragen jetzt nicht mehr nach den<br />

Enthaltungen. Wir wollen nur <strong>di</strong>e Mehrheiten klären. Entschul<strong>di</strong>gung, dass wir das<br />

nicht vorher gesagt haben.<br />

Kolleginnen und Kollegen, Ihr wundert Euch wahrscheinlich, dass das jetzt etwas<br />

dauert. Aber es war das erste Mal, dass wir auszählen mussten. Und jetzt kam es zu<br />

Irritationen, weil wir festgestellt haben, dass <strong>di</strong>e Stimmen <strong>di</strong>eses Blocks – das ist wohl<br />

der C-Block – gar nicht mitgezählt worden sind. Deswegen schlage ich vor – ich hoffe,<br />

dass Ihr das akzeptiert –, dass wir alle anderen Stimmen – <strong>di</strong>e sind völlig korrekt<br />

ausgezählt worden – erst einmal beiseitelassen und <strong>di</strong>esen Block noch einmal abstimmen<br />

lassen, damit sichergestellt ist, dass das Ergebnis auch stimmt. Es handelt<br />

sich nur um den C-Block hier vorne. Dann können <strong>di</strong>e Stimmen dazugezählt werden,<br />

und dann kann das Endergebnis bekannt gegeben werden. Ich hoffe, Ihr akzeptiert<br />

das. Wenn Ihr das tut, dann klatscht bitte. (Beifall) – Das ist der Fall.<br />

Dann wiederhole ich für <strong>di</strong>esen Block hier vorne <strong>di</strong>e Abstimmung. Wer der Empfehlung<br />

der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. –<br />

Sind <strong>di</strong>e Pro-Stimmen gezählt worden, Martin? – Dann kommen wir jetzt zur Gegenprobe.<br />

Wer der Empfehlung der Antragskommission nicht folgen möchte, den<br />

bitte ich um das Kartenzeichen. Das ist einfacher zu zählen. – Danke schön. Jetzt<br />

warten wir noch einen Moment, und dann erhalten wir das Endergebnis. Danke für<br />

Eure Geduld.<br />

Wir haben in der Leitung hier gerade darüber <strong>di</strong>skutiert, dass es eigentlich ein guter<br />

Mechanismus ist. Immer wenn es uns ein bisschen zu stressig wird, lassen wir auszählen<br />

und haben ein bisschen Ruhe hier oben. (Heiterkeit)<br />

Gut, dass Ihr so hartnäckig ward. Ich gebe das Zählergebnis bekannt. Für <strong>di</strong>e Annahme<br />

der Empfehlung haben 399 Kolleginnen und Kollegen gestimmt, gegen <strong>di</strong>e<br />

Annahme haben 435 gestimmt. (Starker Beifall)<br />

Da <strong>di</strong>e Empfehlung der Antragskommission abgelehnt wurde, kommen wir jetzt zur<br />

Abstimmung über den Antrag in der Ursprungsfassung. Wer dem Antragsbegehren<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Wenige Gegenstimmen.<br />

– Enthaltungen? – Wenige Enthaltungen. Damit ist der Antrag in der<br />

Ursprungsfassung angenommen. (Beifall)<br />

Ich rufe <strong>di</strong>e Anträge E 181 und den Änderungsantrag dazu E 181-1. Den Namen des<br />

Antragstellers könnt Ihr hier vorne lesen. Zuerst behandeln wir wie immer den Änderungsantrag.<br />

Möchte <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort?


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

426<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Sprecher der Antragskommission<br />

Der Änderungsantrag präzisiert das Anliegen des Antragstellers. Deswegen empfehlen<br />

wir Annahme des Änderungsantrags.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke schön. Wir kommen zur Abstimmung. Wer der Empfehlung der Antragskommission<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! –<br />

Keine Gegenstimmen, das ist ja wunderbar. Enthaltungen? – Auch keine Enthaltungen.<br />

Einstimmig so angenommen.<br />

Dann rufe ich auf den Antrag E 181. Wünscht <strong>di</strong>e Antragskommission dazu das<br />

Wort?<br />

Sprecher der Antragskommission<br />

Somit ändert sich unsere Empfehlung zu Antrag E 181 in Annahme mit Änderungen<br />

und Weiterleitung an den Gewerkschaftsrat.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Wer <strong>di</strong>eser Empfehlung folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe!<br />

– Enthaltungen? – Keine Gegenstimmen, keine Enthaltungen. So angenommen.<br />

Damit sind wir mit den für <strong>di</strong>e Einzelabstimmung herausgezogenen Anträgen fertig,<br />

und wir kommen zur En-bloc-Abstimmung über <strong>di</strong>e Anträge E 174, E 175, E 176,<br />

E 177, E 179 und E 180. Wer den Empfehlungen der Antragskommission zu <strong>di</strong>esen<br />

aufgerufenen Anträgen folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe!<br />

– Ich sehe keine Gegenstimmen. Enthaltungen? – Ich sehe auch keine<br />

Enthaltungen. Einstimmig angenommen.<br />

Jetzt bin ich darauf hingewiesen worden, dass ich zwar vorhin bei den Abstimmungen<br />

zum Block E darauf hingewiesen habe, dass wir ursprünglich angenommen hatten,<br />

zum Antrag E 162 liege eine Wortmeldung vor. Die lag nicht vor; deswegen<br />

hatte ich darauf hingewiesen, dass der Antrag in <strong>di</strong>e En-bloc-Abstimmung kommt.<br />

Ich habe aber vergessen, ihn noch einmal gesondert mit aufzurufen. Damit es völlig<br />

unstrittig ist, hole ich das für das Protokoll jetzt noch einmal nach und bitte Euch,<br />

über den Antrag E 162 noch einmal nachträglich abzustimmen, damit er nicht im


Mittwoch, 21. September 2011<br />

427<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Protokoll fehlt. – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Ich sehe keine Gegenstimmen und<br />

keine Enthaltungen. Einstimmig angenommen.<br />

Damit haben wir das Sachgebiet E – Tarifpolitik – abgeschlossen und kommen jetzt<br />

zum Sachgebiet K.<br />

Wir haben <strong>di</strong>e Situation – der eine wird sich freuen, der andere wird das eher anders<br />

sehen –, dass ab morgen Papst Bene<strong>di</strong>kt <strong>di</strong>e Bundesrepublik besucht. Das ist Grund<br />

genug für uns, <strong>di</strong>e Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen in kirchlichen Einrichtungen genauer zu betrachten.<br />

(Beifall) Denn trotz des breiten sozialen Engagements der Kirchen in<br />

Deutschland werden den Beschäftigten in kirchlichen Einrichtungen demokratische<br />

Grundrechte wie das Streikrecht seitens der kirchlichen Arbeitgeber weitgehend vorenthalten.<br />

Wir haben dazu in mehreren Beiträgen schon Kritik vernommen.<br />

Aus <strong>di</strong>esem Anlass setzt sich der ver.<strong>di</strong>-Kongress hier heute Morgen einen inhaltlichen<br />

Schwerpunkt mit einem kleinen Film mit Beiträgen von ver.<strong>di</strong>-Mitgliedern, <strong>di</strong>e<br />

in kirchlichen Einrichtungen arbeiten. Nach <strong>di</strong>esem Film, den wir gleich einspielen,<br />

werden <strong>di</strong>e Kollegin A und der Kollege B (für das Protokoll anonymisiert; <strong>di</strong>e Red.)<br />

mit der Redaktionsleiterin beim Deutschlandfunk, Christiane Wirtz, über ihre Erfahrungen<br />

als Beschäftigte und Gewerkschafter sprechen.<br />

Film ab, bitte. (Einspielung des Films „Kirchen als Arbeitgeber‚)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Liebe Christiane Wirtz, liebe Kollegin A und lieber Kollege B, wir freuen uns auf Eure<br />

Diskussion hier auf der Bühne. Seid herzlich willkommen! (Beifall)<br />

Christiane Wirtz, Moderatorin<br />

Ich begrüße hier auf dem Po<strong>di</strong>um <strong>di</strong>e Kollegin A. Sie arbeitet in einem evangelischen<br />

Krankenhaus. Ich würde sagen, wir bleiben einfach beim Du hier während des Gesprächs.<br />

Und zu meiner Linken der Kollege B. Auch Dich haben wir schon im Film<br />

gesehen. Du arbeitest in der evangelischen Altenhilfe.<br />

Im Film haben wir gerade das Zitat gehört, „Gott kann man nicht bestreiken‚. Kann<br />

man Gott bestreiken?<br />

Kollegin A<br />

Nein, wir bestreiken ja auch nicht Gott. Wir bestreiken einfach <strong>di</strong>e Kirchenoberen,<br />

<strong>di</strong>e von Tuten und Blasen keine Ahnung haben. (Beifall) Sie sollten einfach bei ihrer


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

428<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Religionsarbeit bleiben und sich nicht mit den niederen Dingen beschäftigen wollen<br />

und so ein plattes Zitat einfach lassen. Da könnte ich platzen. Das hat einfach mit<br />

der Realität überhaupt nichts zu tun.<br />

Christiane Wirtz<br />

Wie ist das mit dem Streik in Deinem Krankenhaus. Du hast mir eben erzählt im Vorgespräch,<br />

da bahnt sich ein erster Warnstreik an. Nächste Woche?<br />

Kollegin A<br />

Nächste Woche geht es in <strong>di</strong>e Vollen. Wir freuen uns schon darauf. Da wird für drei<br />

Stunden im OP <strong>di</strong>e Arbeit niedergelegt. Es werden nur zwei Notfall-Säle gefahren,<br />

<strong>di</strong>e von unseren Kolleginnen besetzt werden, <strong>di</strong>e aus verschiedenen Gründen, wie<br />

jetzt <strong>di</strong>e Probezeit oder befristete Arbeitszeitverträge, am besten nicht streiken sollen.<br />

Aber alle anderen gehen kräftig zur Sache. (Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Wir haben auch in dem Film erfahren, dass <strong>di</strong>e Gewerkschaftsnähe in kirchlichen<br />

Einrichtungen nicht ganz so weit verbreitet ist. Das ist bei Euch anders?<br />

Kollegin A<br />

Ja. Wir haben natürlich auch jemanden, der einfach weit voran ist auf der einen Seite,<br />

auf der Arbeitnehmerseite. Und auf der anderen, der Arbeitgeberseite, muss man<br />

sagen, haben wir einfach einen superliberalen, toleranten Geschäftsführer, der sagt,<br />

natürlich wollen wir Tarifvertrage, aber aufgrund des Vorstandes kann er einfach<br />

nicht so reagieren, wie er möchte. Aber ich weiß, dass uns von seiner Seite keine<br />

Hindernisse in den Weg gelegt werden. Die kommen wiederum von oben, <strong>di</strong>e keine<br />

Ahnung haben.<br />

Christiane Wirtz<br />

Kirchliche Einrichtungen lassen sich das ja nicht unbe<strong>di</strong>ngt so gerne gefallen, wenn<br />

gestreikt wird in ihren Einrichtungen. Gibt es da irgendwelche gerichtlichen Schritte<br />

seitens des Arbeitgebers bei Euch?<br />

Kollegin A<br />

Na ja, das Landesarbeitsgericht hat festgelegt: Kirche darf streiken. Jetzt geht der<br />

Streit in der nächsten Instanz weiter. Da werden wir abwarten, was <strong>di</strong>e demnächst


Mittwoch, 21. September 2011<br />

429<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

im Frühjahr, Mitte nächsten Jahres entscheiden werden. So lange werden wir natürlich<br />

unser Recht zum Streik auch nützen.<br />

Christiane Wirtz<br />

Das sieht der Arbeitgeber auch so? Das heißt, es gibt so etwas wie eine Friedensbereitschaft<br />

seitens des Arbeitgebers bei Euch?<br />

Kollegin A<br />

Ja; unser Geschäftsführer unterstützt, wie gesagt, unsere Belange, kann aber nicht<br />

so frei agieren. Aber er legt uns da keine Steine in den Weg.<br />

Christiane Wirtz<br />

Kollege B, Dich haben wir eben im Film auch schon gesehen. Da ging es um <strong>di</strong>e Bekanntmachung<br />

eines Streiks, der stattfinden sollte. Wovor haben <strong>di</strong>e Arbeitgeber so<br />

eine Angst, wenn da Plakate bei Euch hängen?<br />

Kollege B<br />

Das war ein Aufruf zu einer Demo, um darauf aufmerksam zu machen, dass in der<br />

Kirche nicht das normale Recht gilt, sondern das kirchliche Arbeitsrecht. Und <strong>di</strong>es hat<br />

Lücken in der Durchsetzungsfähigkeit.<br />

Es kommt dazu, dass Beschlüsse gefasst werden, auch in Schiedsverfahren oder Gerichtsverfahren,<br />

aber nicht umgesetzt werden, und es gibt keine Sanktionen. Wir<br />

haben auf der Demo das öffentlich machen wollen und angekün<strong>di</strong>gt, dass wir das<br />

kirchliche Arbeitsrecht aufgeben wollen. Das war auch auf dem Plakat zu sehen und<br />

dementsprechend hat der Arbeitgeber schnell reagiert und das immer wieder entfernt.<br />

Christiane Wirtz<br />

Du hast mir eben im Vorgespräch erzählt, es gibt nicht nur <strong>di</strong>ese Geschichte mit dem<br />

Aushang, sondern Du hast auch von einem Pranger gesprochen. Was hatte es damit<br />

auf sich?<br />

Kollege B<br />

Die Prangerliste. Der kirchliche Arbeitgeber hat eine Eigensanierung durchgeführt.<br />

Diese Eigensanierung bedeutet, dass <strong>di</strong>e Kirche sich aufgespalten hat in einen nor-


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

430<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

malen Bereich und in einen <strong>Ver</strong>ein. Der <strong>Ver</strong>ein bleibt weiter in der Kirche und <strong>di</strong>e<br />

GmbH wird ausgegliedert beziehungsweise wird aus der Kirche herausgelöst. Die<br />

Mitarbeiter müssen schlechte Arbeitsverträge unterschreiben, damit <strong>di</strong>e Eigensanierung<br />

klappt. Sonst wird ihnen angedroht, dass der Laden <strong>di</strong>chtgemacht wird.<br />

Bei uns haben sich Leute entsprechend verweigert, und <strong>di</strong>e sind auf <strong>di</strong>e Prangerliste<br />

gekommen. Es gab <strong>di</strong>e <strong>di</strong>rekte Aufforderung vom Arbeitgeber, dass <strong>di</strong>e anderen Kollegen<br />

auf <strong>di</strong>e Kollegen hinwirken müssen, damit <strong>di</strong>e Umsetzung klappt. Dagegen<br />

haben wir geklagt, und <strong>di</strong>ese Mitarbeiter haben dann auch Recht bekommen. (Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Wie haben <strong>di</strong>e Kollegen reagiert, also <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e nicht auf der Prangerliste standen,<br />

aber eigentlich, wenn es nach dem Arbeitgeber gegangen wäre, auf <strong>di</strong>e anderen<br />

Kollegen hätten einwirken sollen?<br />

Kollege B<br />

Da ging es natürlich hoch her. Das ging so weit, dass Mitarbeiter, <strong>di</strong>e als Gruppe für<br />

mich bekanntermaßen für den Arbeitgeber waren, uns <strong>di</strong>e Bude eingerannt und gedroht<br />

haben, wenn wir nicht unterschreiben würden. – Ja gut, dass sind <strong>di</strong>e Wunden,<br />

<strong>di</strong>e nach dem Betriebsübergang zu heilen waren.<br />

Christiane Wirtz<br />

Kollegin A, noch einmal zurück zu Dir: Gibt es für Dich irgendeine Erklärung, warum<br />

in kirchlichen Einrichtungen ein anderes Arbeitsrecht gelten soll als beispielsweise in<br />

einem städtischen Krankenhaus?<br />

Kollegin A<br />

Nein, weil <strong>di</strong>e Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen genau <strong>di</strong>e Gleichen sind. Aber unter dem Deckmäntelchen<br />

der Nächstenliebe sollen wir einfach kleingehalten werden. Ich finde es<br />

furchtbar gemein, dass <strong>di</strong>e Tätigkeiten mit niedrigeren Arbeitslöhnen, <strong>di</strong>e beispielsweise<br />

<strong>di</strong>e Reinigungskräfte und <strong>di</strong>e Beschäftigten in der Küche erhalten, outgesourct<br />

worden sind. Unten wird bei neuen <strong>Ver</strong>trägen gekürzt, wenn wir, <strong>di</strong>e oberen Gehaltsgruppen,<br />

mehr Geld bekommen sollen. Das geht für mich überhaupt nicht.<br />

Die arbeiten ganz normal marktwirtschaftlich wie alle anderen Einrichtungen auch<br />

und haben überhaupt keine Begründung dafür, warum sie das anders handhaben<br />

sollten. – Nein, das geht nicht. (Beifall)


Mittwoch, 21. September 2011<br />

431<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Christiane Wirtz<br />

Da würde ich gerne noch einmal einhaken: Das Geld wird sozusagen umverteilt. Was<br />

hat das damit auf sich?<br />

Kollegin A<br />

Ja, genau. Das letzte Gebot, das durch <strong>di</strong>e arbeitsrechtliche Kommission an uns herangetragen<br />

wurde, sah vor, dass bei unteren Lohngruppen – Pflegehelfer und so<br />

weiter – gekürzt wird und dass bei den oberen Lohngruppen – wie Ärzten und<br />

Krankenschwestern – draufgeschlagen wird. Das ist eine tierische Ungerechtigkeit.<br />

Das ist natürlich auch nicht durchgegangen. Das ist klar. (Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Du hast eben erzählt, dass Ihr einen relativ liberalen Geschäftsführer, habt, dass aber<br />

der Einfluss der Kirchen so stark ist, dass <strong>di</strong>ese Lohnkürzungen vorgenommen werden.<br />

Wie muss man sich das vorstellen? Inwieweit nimmt <strong>di</strong>e Kirche im täglichen<br />

Leben beziehungsweise auf <strong>di</strong>e Tarifarbeit Einfluss? Welche Strukturen gibt es da?<br />

Kollegin A<br />

Es gibt halt den Kirchenvorstand, dem unser Geschäftsführer unterstellt ist. Er trägt<br />

seine Belange, <strong>di</strong>e er ändern oder durchbringen möchte, dem Kirchenvorstand vor.<br />

Das sind Menschen, <strong>di</strong>e irgendwo im kirchlichen Leben arbeiten, aber nicht unbe<strong>di</strong>ngt<br />

einen Bezug zum Krankenhauswesen oder zum Altenpflegewesen haben. Die<br />

sitzen dann da und sind quasi den Geschäftsberichten ausgeliefert und machen sich<br />

daraus ein Bild. Je nach Tagesform entscheiden sie dann: Ja, nehmen wir an, oder<br />

nein, nehmen wir nicht an. Bei allem, was mit Machteinschnitten zu tun hat – das<br />

Streikrecht ist in deren Köpfen irgendwie ein Machteinschnitt -, sind sie erst einmal<br />

dagegen. Davon haben sie zwar keine Ahnung, aber sie sind erst einmal dagegen.<br />

Christiane Wirtz<br />

Inwieweit glaubst Du, dass sie <strong>di</strong>e Be<strong>di</strong>ngungen in den Einrichtungen, in Krankenhäusern,<br />

in der Altenpflege aus eigener Anschauung kennen? Inwieweit können sie<br />

wertschätzen, welche Arbeit dort geleistet wird?<br />

Kollegin A<br />

Dazu müssten sie erst einmal zwei, drei Wochen in einer Einrichtung arbeiten, um<br />

hautnah zu erleben, was es heißt, in einem Altenheim - ich rede jetzt vom Alten-


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

432<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

heim, im Krankenhaus ist <strong>di</strong>e Situation wieder anders - mit anderthalb Personen<br />

dreißig pflegebedürftige Menschen menschengerecht in den Alltag einzubinden.<br />

Dafür müssten sie erst einmal <strong>di</strong>ese Erfahrung machen. Die machen sie aber nicht;<br />

denn das ist doch unbequem; da kann ich doch besser irgendwie von oben herab<br />

entscheiden und kann darauf achten, dass ich meine Schäflein beisammen halte. Ich<br />

muss mir doch kein persönliches Bild machen; denn das wird mir ja vom Geschäftsführer<br />

geliefert. Der versucht natürlich, seine Zahlen zu schönen – ob <strong>di</strong>e nun reell<br />

sind oder nicht; das spielt ja keine Rolle. (Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Kollege B, es hieß eben auch in dem Einspielfilm, dass man, wenn man für eine<br />

kirchliche Einrichtung arbeitet, gewissermaßen „im Namen des Herrn‚ unterwegs ist.<br />

Wie stark fühlst Du Dich <strong>di</strong>esem Ausspruch in der täglichen Arbeit verpflichtet?<br />

Kollege B<br />

Ich werde vom Arbeitsvertrag darauf verpflichtet. Wenn ich das privat oder in der<br />

Arbeit leben wollte, müsste ich auch <strong>di</strong>e entsprechenden Be<strong>di</strong>ngungen haben. Der<br />

Arbeitgeber verhält sich letztendlich, ich sage einmal: schlimmer als ein Arbeitgeber<br />

im privaten Bereich, weil er weiß, dass er keine Sanktionen zu befürchten hat.<br />

Dementsprechend kann ich nicht feststellen, dass ich mich in der Arbeit kirchlicher<br />

oder den Werten verbundener verhalten kann. Wenn ich den rechtlich freien Hintergrund<br />

hätte, könnte ich das den Menschen besser angedeihen lassen.<br />

Christiane Wirtz<br />

Leidet <strong>di</strong>e tägliche Arbeit unter den Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen?<br />

Kollege B<br />

Da kommt es eben auf den Menschen an. Wir sind als Menschen leider so gestrickt,<br />

dass wir, wenn Hilfsbedürftigkeit da ist, eher darauf reagieren und uns entsprechend<br />

ausbeuten lassen, als dass wir aktiv dagegenhalten.<br />

Christiane Wirtz<br />

Nun ist der Papst in <strong>di</strong>eser Woche in Deutschland. Kollegin A, wenn Du <strong>di</strong>e Möglichkeit<br />

hättest, ihm in einer kleinen Privatau<strong>di</strong>enz zu begegnen, was wäre <strong>di</strong>e Frohe<br />

Botschaft, <strong>di</strong>e Du ihm mit auf den Weg geben würdest?


Mittwoch, 21. September 2011<br />

Kollegin A<br />

Komm runter! (Heiterkeit – lebhafter Beifall)<br />

433<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Christiane Wirtz<br />

Kollege B, <strong>di</strong>e Frage auch an Dich: Was wäre Deine ähnlich signifikante Botschaft an<br />

den Heiligen Vater?<br />

Kollege B<br />

Er möge sich vor Ort <strong>di</strong>e Arbeitsverhältnisse angucken und entscheiden, in welcher<br />

Einrichtung <strong>di</strong>e Freude größer ist: in einer Einrichtung, wo ich mich um <strong>di</strong>e wirtschaftliche<br />

Seite weniger kümmern muss und mich mehr um meine eigentliche Aufgabe<br />

kümmern kann, oder in einer Einrichtung, wo ich <strong>di</strong>esen Spagat zwischen dem<br />

Druck von oben, dem Anspruch und den tatsächlichen Möglichkeiten aushalten<br />

muss. Ich glaube, er wird sich lieber in einer öffentlichen Einrichtung pflegen lassen.<br />

(Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Herzlichen Dank, Kollegen, dass Ihr uns von Euren Erfahrungen berichtet habt. Viel<br />

Glück für den Streik nächste Woche. - Danke. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Auch von uns vielen Dank für Eure Bereitschaft, Euch hier der Diskussion zu stellen.<br />

Vielen Dank auch an Christiane Wirtz für <strong>di</strong>e punktgenaue Moderation.<br />

Bevor wir in den Antragsblock K einsteigen, möchte ich darauf hinweisen, dass heute<br />

Mittag <strong>di</strong>e Wortmeldefrist für <strong>di</strong>e Sachgebiete F – Europäische und internationale<br />

Politik -, L – Gewerkschaftliche Bildungsarbeit – und M – Organisationspolitik - abläuft.<br />

Für <strong>di</strong>ese drei Sachgebiete endet also <strong>di</strong>e Wortmeldefrist heute Mittag um 12<br />

Uhr. Wenn Ihr dazu sprechen wollt, meldet Euch bitte rechtzeitig.<br />

Wir kommen jetzt zum Sachgebiet Rechtspolitik und Rechtsschutz und dabei zunächst<br />

zum Untersachgebiet Rechtspolitik. Ich rufe auf <strong>di</strong>e Anträge K 001 bis K 024.<br />

Wir beginnen mit dem Antrag K 001 und dem Änderungsantrag K 001-1. Zu dem<br />

Änderungsantrag hat zunächst <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort. Ich begrüße hier<br />

oben – Ihr habt mitgekriegt, dass <strong>di</strong>e Antragskommission gewechselt hat – Renate<br />

Sindt, Mario Materne und Jörg Grünefeld. (Beifall) Renate, möchtest Du etwas dazu<br />

sagen?


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Ja. Wir haben zu dem Änderungsantrag <strong>di</strong>e Annahme empfohlen.<br />

434<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Dazu liegen keine Wortmeldungen vor. Insofern kommen wir gleich zur Abstimmung<br />

über <strong>di</strong>e Empfehlung zum Änderungsantrag K 001-1. Wer der Empfehlung der Antragskommission<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe!<br />

– Keine Gegenstimmen. Enthaltungen? - Keine Enthaltungen, also einstimmig<br />

angenommen.<br />

Dann kommen wir zum Antrag K 001. Auch dazu hat zunächst <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

das Wort. Es bereitet sich vor der Kollege Herbert Deppisch mit der Delegiertennummer<br />

62. Die Antragskommission hat das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Da wir dem Änderungsantrag stattgegeben haben, lautet <strong>di</strong>e Empfehlung der Antragskommission<br />

zum Antrag K 001 jetzt Annahme mit Änderungen.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke dafür. Der Kollege Herbert Deppisch hat jetzt das Wort. Es bereitet sich vor<br />

<strong>di</strong>e Kollegin Kathi Petersen mit der Delegiertennummer 93.<br />

Herbert Deppisch, 62<br />

Herbert Deppisch zieht zurück!<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Herbert Deppisch zieht zurück; vielen Dank dafür. Dann hat das Wort Kathi Petersen.<br />

Es bereitet sich vor der Kollege Manfred Freyermuth. Kathi, wo bist Du?<br />

Kathi Petersen, 83<br />

Hier. – Ich fasse mich kurz, weil der Kollege Freyermuth das etwas ausführlicher machen<br />

wird. Ich denke, der Film und <strong>di</strong>e Moderation eben haben sehr emotionale Bewegungen<br />

hervorgerufen. Wir sollten darüber nicht vergessen, dass es durchaus<br />

auch Gemeinsamkeiten zwischen Gewerkschaft und Kirche gibt. Es wurde hier auf


Mittwoch, 21. September 2011<br />

435<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

dem Kongress schon beklagt, dass sehr viele Menschen ein Ohnmachtsgefühl haben<br />

und sagen, <strong>di</strong>e da oben machen eh, was sie wollen. Wir können keinen Einfluss darauf<br />

nehmen. Sowohl <strong>di</strong>e Kirchen als auch Gewerkschaften gehen aber davon aus,<br />

dass <strong>di</strong>e Welt zum Besseren hin verändert werden kann. Dabei sollten wir <strong>di</strong>e Kirchen<br />

mit ins Boot nehmen. Wir sind in manchen Punkten Bündnispartner.<br />

Das ändert nichts daran, dass wir sie an ihrem selbst gesteckten Anspruch packen<br />

sollten, dass es nämlich nicht akzeptabel ist, dass sie ihre Beschäftigten schlechter<br />

behandeln, als <strong>di</strong>e Beschäftigten in der sogenannten Welt da draußen behandelt<br />

werden. Ich denke, dass <strong>di</strong>e Kirchen in religiösen Angelegenheiten selber bestimmen<br />

können, ist okay; nicht akzeptabel ist aber, dass sie selber festlegen, worüber sie selber<br />

bestimmen können. Damit würden sie ihren Bereich selber definieren. Ich denke,<br />

das ist nicht akzeptabel. Das müssten wir dann auch für alle anderen Religionsgemeinschaften<br />

akzeptieren.<br />

Noch ein Punkt: Die Kirchen müssen auch einsehen, dass es nichts bringt, wenn sie<br />

mit ihren Wohlfahrtsverbänden über <strong>di</strong>e Preise mit anderen Anbietern in dem Bereich<br />

konkurrieren. Das fördert nur <strong>di</strong>e Geiz-ist-geil-Mentalität. Das kann auch nicht<br />

im Interesse der Kirchen sein. Grundsätzlich: Wenn in der Kirche weniger gerechnet<br />

und in der Wirtschaft weniger geglaubt würde, dann wäre es besser für unsere Gesellschaft.<br />

(Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke Dir, Kathi. – Es spricht jetzt der Kollege Manfred Freyermuth mit der Teilnehmernummer<br />

49. Es bereitet sich vor der Kollege Erich Sczepanski.<br />

Manfred Freyermuth, 49<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Thema Kirche als Arbeitgeber hat ja in <strong>di</strong>esem<br />

Kongress eine große Rolle gespielt. Der Film hat noch einmal eindrücklich deutlich<br />

gemacht, wie <strong>di</strong>e Situation ist. Und <strong>di</strong>e Kollegen, <strong>di</strong>e interviewt worden sind, haben<br />

ja auch gezeigt, dass wir unterwegs sind, um unsere Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen zu verbessern.<br />

Deshalb fasse auch ich mich kurz.<br />

Ich will das einfach noch einmal zusammenfassen, was unsere Ziele sind. Wir wollen<br />

faire und gerechte Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen. Wir wollen Bezahlung auf Branchenniveau.<br />

Wir wollen Tarifverträge. Wir wollen das Streikrecht, das demokratische Recht, um<br />

unsere Forderungen durchzusetzen. In der nächsten Woche werden Warnstreiks<br />

durchgeführt, und wir wissen, dass das nur ein Anfang sein kann. Wir stellen uns auf<br />

einen langen Kampf ein. Dieser Kongress macht uns Mut für <strong>di</strong>ese Auseinandersetzung,<br />

und <strong>di</strong>e Kampagne bei Schlecker hat uns gezeigt, dass man aus einer defensi-


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

436<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

ven Situation herauskommen kann und erfolgreich für Tarifverträge kämpfen kann.<br />

Das werden wir tun. (Beifall)<br />

Das gesellschaftliche Klima ist reif für Tarifverträge in der Kirche. Wir haben <strong>di</strong>e<br />

Schnauze gestrichen voll von den arroganten Kirchenjuristen, <strong>di</strong>e um ihre Privilegien<br />

fürchten. Wir setzen uns für einen gerechten Lohn für unsere Beschäftigten ein. Das<br />

machen wir gemeinsam, gemeinsam für Gerechtigkeit. Ich hoffe auf Eure Unterstützung.<br />

– Vielen Dank. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Manfred. – Es hat jetzt das Wort der Kollege Erich Sczepanski mit der Delegiertennummer<br />

620. Es bereitet sich vor der Kollege Michael Passior. Erich, Du hast<br />

das Wort.<br />

Erich Sczepanski, 620<br />

Danke. Erst mal Grüß Gott und eine Entschul<strong>di</strong>gung bei der Antragskommission und<br />

beim Schreib<strong>di</strong>enst. In dem Änderungsantrag K 001-1 muss es natürlich nicht Bündniskommission,<br />

sondern Bundeskommission heißen. Ich entschul<strong>di</strong>ge mich für meine<br />

schlechte Handschrift und bitte um <strong>Ver</strong>ständnis. Ich habe es vor Jahrzehnten mal<br />

besser gelernt.<br />

Ganz kurz für Euch zur Information. Es ist unseren Kollegen in katholischen Bereichen,<br />

der Caritas, gelungen, nach jahrelanger Bettelei – das Bundesarbeitsgericht hat<br />

gesagt, Tarifverhandlungen ohne Streikrecht sind kollektives Betteln; das ist nicht<br />

von mir, sondern vom Bundesarbeitsgericht – den TVöD für <strong>di</strong>e Pflege, für den sozialen<br />

Erziehungs<strong>di</strong>enst zu übernehmen. Nicht zu übernehmen ist er beispielsweise für<br />

<strong>di</strong>e Servicegesellschaften, für Facility Management, Reinigungs<strong>di</strong>enst, Hausmeistertätigkeiten,<br />

für den <strong>Ver</strong>waltungsbereich. Da komme ich gleich zu dem Problem, das<br />

wir im Bereich der katholischen Kirche haben, nämlich <strong>di</strong>e sogenannten schwarzen<br />

Schafe.<br />

Ein Beispiel aus Berlin: Es gibt den Caritas-<strong>Ver</strong>band, der mit einer eigenen Servicegesellschaft<br />

mit schlechtem Beispiel vorausgeht. Es gibt in Berlin kein einziges Krankenhaus,<br />

das ohne Leiharbeit oder Servicegesellschaften auskommt. Da müssten eigentlich<br />

auch <strong>di</strong>e Kirchen, speziell <strong>di</strong>e katholische Kirche mit dem Anspruch auf sozial<br />

angemessene Löhne, ein Interesse daran haben, <strong>di</strong>esen Wettbewerb zu beenden,<br />

den wir im Sozialbereich haben. Das ist nämlich ein <strong>Ver</strong>drängungswettbewerb, ein<br />

Kostenwettbewerb zulasten der Beschäftigten und zulasten der Betreuten.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

437<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Das geht mit verschiedenen Möglichkeiten. Mindestlohndebatte – Ellen, Du wirst mir<br />

recht geben – ist an der Diakonie gescheitert; denn sonst hätten wir deutlich bessere<br />

Löhne. Es geht mit einem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag. Wenn <strong>di</strong>e katholische<br />

Kirche wirklich ein Interesse daran hätte, sozial angemessene Löhne zu haben und<br />

den Wettbewerb zu beenden, dann sollte sie es auch ermöglichen, dass wir gemeinsam<br />

über einen Tarifvertrag „Soziale Dienste‚ mit der Caritas zu entsprechenden<br />

allgemeinverbindlichen Regelungen kommen können. – Danke. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Erich. – Es spricht jetzt der Kollege Michael Passior mit der Delegiertennummer<br />

577.<br />

Michael Passior, 577<br />

Ich ziehe meine Wortmeldung zurück. (Leichter Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Nun hat sich noch unser Vorsitzender zu Wort gemeldet. Bitte, Frank, Du hast das<br />

Wort.<br />

Frank Bsirske, ver.<strong>di</strong>-Vorsitzender<br />

Kolleginnen und Kollegen, ich möchte <strong>di</strong>e Gelegenheit der Debatte über <strong>di</strong>esen Antrag<br />

einfach noch einmal dazu nutzen, deutlich zu machen, was da abgeht, wie argumentiert<br />

wird und was mit <strong>di</strong>eser Argumentation bewirkt wird.<br />

Die kirchlichen Wirtschaftsunternehmen stützen sich bei der Ablehnung von Tarifverträgen<br />

und bei der <strong>Ver</strong>neinung des Streikrechts auf den Kirchenartikel der Weimarer<br />

Reichsverfassung. Der ist eins zu eins ins Grundgesetz übernommen worden. Dieser<br />

Kirchenartikel der Weimarer Reichsverfassung ermöglicht der Kirche ein Selbstbestimmungsrecht<br />

in personellen Angelegenheiten der Kirche. Was damit gemeint ist,<br />

ist klar: das Recht, Pastoren einzusetzen und sich dabei nicht vom Staat bevormunden<br />

lassen zu müssen, das Recht, Bischöfe einzusetzen und sich dabei nicht vom<br />

Staat bevormunden lassen zu müssen.<br />

In der Weimarer Republik auf dem Boden der Weimarer Reichsverfassung war völlig<br />

klar, dass <strong>di</strong>eses Selbstbestimmungsrecht der Kirchen in ihren personellen Angelegenheiten<br />

im Rahmen der für alle geltenden Gesetze und im Rahmen der für alle<br />

geltenden <strong>Ver</strong>fassungsrechte stattfindet. Deswegen hat es in der Weimarer Zeit auch<br />

Streiks gegeben, Streiks bei Kirchen. Das war völlig klar und unbeanstandet.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

438<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Dann kam der Faschismus. 1934 ist in der Betriebsverfassung auf <strong>di</strong>e Betriebsgemeinschaft<br />

abgestellt worden, 1938 mit der <strong>Ver</strong>gütungsordnung für den öffentlichen<br />

Dienst auf <strong>di</strong>e Dienstgemeinschaft. Dieser Begriff der Dienstgemeinschaft ist in<br />

den Fünfzigerjahren fortgeführt worden mit einem eins zu eins ins Grundgesetz<br />

übernommenen Kirchenartikel, und dann ist so getan worden, als würde seitdem im<br />

Grunde für <strong>di</strong>e 1,3 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das normale<br />

Arbeitsrecht und das normale <strong>Ver</strong>fassungsrecht inklusive des Streikrechts nicht gelten.<br />

Das ist merkwür<strong>di</strong>g, weil das Bundesverfassungsgericht <strong>di</strong>e Notstandsparagrafen so<br />

auslegt, dass selbst im Notstandsfall, selbst im <strong>Ver</strong>tei<strong>di</strong>gungsfall der Bundesrepublik<br />

das Streikrecht nicht ausgehebelt wird und das Streikrecht selbst unter Be<strong>di</strong>ngungen<br />

des Kriegsfalls für <strong>di</strong>e Bundesrepublik weiter gilt. Dennoch nehmen <strong>di</strong>e Kirchen sich<br />

das Recht heraus, zu behaupten, für <strong>di</strong>e bei ihnen in kirchlichen Wirtschaftsunternehmen<br />

Beschäftigten gilt das Streikrecht nicht. Kolleginnen und Kollegen, das ist<br />

nicht akzeptabel. (Beifall)<br />

Interessant ist dabei natürlich <strong>di</strong>e Frage, warum das 40 Jahre lang kein Problem gewesen<br />

ist. Warum taucht das jetzt auf und ist nicht schon viel früher Gegenstand<br />

politischer Auseinandersetzungen gewesen? Das hat damit zu tun, dass sich über<br />

mehrere Jahrzehnte hinweg <strong>di</strong>e kirchlichen Wirtschaftsunternehmen am BAT, also an<br />

dem Tarifrecht des öffentlichen Dienstes und an seiner Weiterentwicklung, orientiert<br />

haben und <strong>di</strong>e Tarifverträge des öffentlichen Dienstes faktisch den Beschäftigungsbedungen<br />

der bei ihnen Beschäftigten zugrunde gelegt haben.<br />

Damit haben sie seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts gebrochen, und<br />

zwar verstärkt im letzten Jahrzehnt unter den Be<strong>di</strong>ngungen der <strong>Ver</strong>marktung der<br />

sozialen Dienste unter Be<strong>di</strong>ngungen, unter denen <strong>di</strong>e sozialen Dienste und <strong>di</strong>e Wohlfahrtsverbände<br />

einem Wettbewerbsdruck ausgesetzt worden sind. Sie haben <strong>di</strong>esen<br />

Wettbewerbsdruck weitergegeben an ihre Beschäftigten und tragen den Wettbewerb<br />

im Grunde auf dem Rücken der Beschäftigten aus und verschaffen sich mit<br />

ihrer Auslegung der rechtlichen Gegebenheiten Wettbewerbsvorteile zulasten der<br />

Beschäftigten und zulasten anderer Wettbewerber, Kolleginnen und Kollegen, und<br />

das ist nicht akzeptabel. (Beifall)<br />

Wir haben untersucht, wie weit sich <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>gütungen im Krankenpflegebereich beim<br />

Diakonischen Werk der EKD unterscheiden von denen des TVöD. Im Westen liegt <strong>di</strong>e<br />

Anfangsvergütung für Krankenpflegekräfte um 5,65 Prozent höher, geht aber mit<br />

steigender Betriebszugehörigkeit in einen wachsenden Rückstand über, der bei<br />

13,41 Prozent negativem Abstand auf den TVöD endet. Im Osten ist er noch viel<br />

ausgeprägter. Da fangen <strong>di</strong>e von vornherein mit weniger Lohn an und liegen am


Mittwoch, 21. September 2011<br />

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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Ende 18 Prozent unter den Löhnen nach dem TVöD. Bei den geringer qualifizierten<br />

Kräften ist es noch ausgeprägter. Da liegen <strong>di</strong>e Löhne fast 30 Prozent, genau 28,9<br />

Prozent unter TVöD. Das ist <strong>di</strong>e Situation.<br />

Diese Situation macht sich zum Beispiel ein Krankenhauskonzern wie Agaplesion mit<br />

18.000 Beschäftigten und mehreren Milliarden Umsatz im Jahr und einem ausgewiesenen<br />

Gewinn von fast 30 Millionen im letzten Jahr zunutze. Kolleginnen und Kollegen,<br />

das ist nicht akzeptabel. (Beifall)<br />

Ich möchte abschließend noch darauf hinweisen, was der Präses der EKD, Herr<br />

Schneider, im Bundesvorstand geantwortet hat, als wir das angesprochen haben. Er<br />

hat gesagt: „Ja. Aber wir verzichten doch auf Aussperrung.‚ (Große Heiterkeit)<br />

„Und weil sich Aussperrung mit unserem <strong>Ver</strong>ständnis von Umgang mit den Beschäftigten<br />

und von Dienstgemeinschaft nicht vereinbaren lässt, gibt es natürlich auch<br />

kein Streikrecht, weil das gewissermaßen das Pendant ist; denn das Recht auf Aussperrung<br />

findet sein Pendant im Recht auf Streik. Und wenn wir auf das Recht auf<br />

Aussperrung verzichten, dann brauchen Sie doch auch kein Streikrecht.‚ Ich habe<br />

geantwortet, Kolleginnen und Kollegen: „Das ist ja eine schöne Sache. Dann könnten<br />

demnächst ja alle Arbeitgeber erklären, sie verzichten darauf, aussperren zu wollen,<br />

und dann gibt es in der Bundesrepublik kein Streikrecht mehr.‚<br />

Kolleginnen und Kollegen, wo sind wir denn, wenn sich eine solche Logik als Recht<br />

für <strong>di</strong>e Beschäftigten in der Gesellschaft durchsetzen kann? Das wollen wir nicht akzeptieren.<br />

Und deswegen sagen wir: Schluss mit der Benachteiligung! Schluss mit<br />

den vordemokratischen Zuständen bei kirchlichen Wirtschaftsunternehmen! (Lebhafter<br />

Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Frank. – Nun haben wir eine weitere Wortmeldung von Ellen Paschke, Mitglied<br />

des Bundesvorstands. Sie hat <strong>di</strong>e Teilnehmernummer 13. Ellen, Du hast das<br />

Wort.<br />

Ellen Paschke, Bundesvorstand<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich habe in meiner Vorstellungsrunde schon einmal<br />

darauf hingewiesen, dass Anfang 2000 der soziale Bereich von der Politik zum<br />

Wettbewerb freigegeben worden ist. Das haben sich <strong>di</strong>e Kirchen zunutze gemacht.<br />

Die Diakonie hat einen eigenen Arbeitgeberverband gegründet, einen sogenannten<br />

v3d, also VdDD. Dieser Arbeitgeberverband war Mitglied in der BDA. Der Vorsitzende<br />

<strong>di</strong>eses Arbeitgeberverbandes war im Präsi<strong>di</strong>um, im Vorstand der BDA. Jetzt sind


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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Mittwoch, 21. September 2011<br />

sie ausgetreten, weil sie gesagt haben: „Das passt ja nicht zusammen. Wir werden<br />

hier mit weltlichem Recht zusammengeschmissen.‚<br />

Ich sage Euch: Die Kirchen haben seinerzeit, als sie <strong>di</strong>esen Arbeitgeberverband gegründet<br />

haben, als Begründung dafür geschrieben, dass sie sozusagen keine Tarifverträge<br />

wollen, dass sie das kirchliche Arbeitsrecht behalten wollen; denn sie wollen<br />

sich dadurch Wettbewerbsvorteile erschleichen.<br />

Ich finde, das ist ein Skandal. Hier ist vorhin gesagt worden, dass wir mit den Kirchen<br />

zusammenarbeiten müssen. Wahr ist, dass das Gesundheitswesen und <strong>di</strong>e Altenpflege<br />

schlecht refinanziert sind. Wahr ist aber auch, dass ich seit Jahr und Tag unterwegs<br />

bin, um mit den Wohlfahrtsverbänden und Kirchen sozusagen eine politische<br />

Kampagne zu fahren, damit der Wettbewerb nicht über Lohndumping, sondern<br />

über Qualität stattfindet. Da verweigern sich aber <strong>di</strong>e Kirchen, liebe Kolleginnen und<br />

Kollegen. (Beifall – Pfiffe)<br />

Hier ist vorhin gesagt worden, dass <strong>di</strong>e Caritas ihre Grundordnung dahin gehend<br />

geändert hat, dass sie den TVöD anwendet. Die Caritas hat das aber nur auf ihre<br />

Serviceeinrichtungen begrenzt. Ich kann Euch sagen: Es gibt einen Alexianer-Orden,<br />

der nicht den Bischöfen, sondern <strong>di</strong>rekt dem Papst unterstellt ist. Die haben über<br />

50.000 Beschäftigte in Deutschland, und <strong>di</strong>e sind tariflos. Das ist ein Skandal, liebe<br />

Kolleginnen und Kollegen. (Beifall)<br />

Und sie sind rigoros. Wenn wir in Niedersachsen eine Serviceeinrichtung organisieren<br />

und <strong>di</strong>e Kirchen zu Tarifverhandlungen auffordern, dann lehnen sie das mit der Begründung<br />

ab, dass für sie der dritte Weg gelte. Wir aber sagen: Nein, für Serviceeinrichtungen<br />

gilt der dritte Weg nicht. Wisst Ihr, was <strong>di</strong>e gemacht haben? – Die haben<br />

<strong>di</strong>e Servicegesellschaften einfach aufgelöst und dem Alexianer-Orden zugeordnet.<br />

Das sind doch Schweinereien, <strong>di</strong>e wir hier in Deutschland nicht weiter dulden können,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen. (Beifall)<br />

Warum haben wir in der Altenpflege einen Mindestlohn von 7,50 Euro für Altenpflegehelferinnen?<br />

– Weil sich der <strong>Ver</strong>treter der Diakonie der evangelischen Kirche<br />

mit dem privaten Arbeitgeberverband verbündet hat, welcher natürlich ren<strong>di</strong>teorientiert<br />

arbeitet. Bevor wir den Mindestlohn hatten, zahlte <strong>di</strong>e Diakonie im Osten einer<br />

Altenpflegehelferin 6,50 Euro. Das ist Ausbeutung, und das geht nicht, liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen. (Beifall)<br />

Jetzt setzt <strong>di</strong>e Evangelische Kirche in Deutschland noch einen oben drauf: Am 4. November<br />

wird ihre Synode in Magdeburg tagen. Wir haben auch Synodalen, <strong>di</strong>e in<br />

ver.<strong>di</strong> organisiert sind. In der Synode sitzen auch Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen.<br />

Und wisst Ihr, was <strong>di</strong>e am 4. November beschließen wollen? – Sie wollen in das


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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Kirchengesetz hineinschreiben, dass <strong>di</strong>e Beschäftigten in der Evangelischen Kirche in<br />

Deutschland kein Streikrecht haben. Dagegen werden wir demonstrieren; Frank wird<br />

auch dort sein. Das muss ein Ende haben. Von <strong>di</strong>esem Kongress muss ein Signal<br />

ausgehen: Kein Sonderrecht mehr für Kirchen! Streikrecht für alle! (Lebhafter Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Ellen. Ich denke, es ist deutlich geworden, wie prominent <strong>di</strong>eses Thema besetzt<br />

ist und dass Ihr den Nerv des Kongresses getroffen habt. – Bevor wir zur Abstimmung<br />

über den Antrag K 001 kommen, hat <strong>di</strong>e Antragskommission noch einmal<br />

das Wort. Da es eine Reihe von Redebeiträgen gab, wiederholt sie noch einmal, worum<br />

es geht. Bitte, Renate.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Kolleginnen und Kollegen, Ihr habt eine Menge zu <strong>di</strong>esem Thema gehört. Ich glaube,<br />

jedem hier im Raum ist klargeworden, dass wir ganz große Handlungsbedarfe<br />

beim Bodenpersonal haben. Daher stehen wir zu unserer Empfehlung, den Antrag<br />

mit den entsprechenden Änderungen anzunehmen.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung,<br />

Danke, Renate. – Wer der Empfehlung der Antragskommission folgen möchte, den<br />

bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Ich sehe keine Gegenstimmen. Die<br />

Enthaltungen! – Ich sehe auch keine Enthaltungen. Dann ist <strong>di</strong>eser Antrag einstimmig<br />

angenommen. (Beifall)<br />

Ich rufe zur Einzelabstimmung den Antrag K 013 auf. Dabei geht es um <strong>di</strong>e Novellierung<br />

des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, AGG. Dazu liegt eine Wortmeldung<br />

vor. Es bereitet sich bitte <strong>di</strong>e Delegierte Monika Hübenbecker mit der Delegiertennummer<br />

187 vor. Vorher hat aber <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Kolleginnen und Kollegen! Ihr habt den Antrag gesehen. Er spricht sich für <strong>di</strong>e Novellierung<br />

des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes aus. Wir haben das umfassend<br />

beraten und sind zu dem Entschluss gekommen, dass es noch rechtliche Unsauberkeiten<br />

gibt, <strong>di</strong>e nachgearbeitet werden müssen. Die Forderung betreffend Paragraf<br />

17 AGG, <strong>di</strong>e Personalräte den Betriebsräten gleichzustellen, wurde bereits<br />

während des Gesetzgebungsverfahrens erhoben. Der Gesetzgeber hat sich seinerzeit<br />

dagegen entschieden.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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Zurzeit ist Fakt: Das Personalvertretungsrecht enthält bisher keine Regelungen, <strong>di</strong>e<br />

entsprechend dem Paragraf 23 Betriebsverfassungsgesetz anzuwenden sind, sodass<br />

es hier tatsächlich zu einer Änderung im Bundespersonalvertretungsgesetz kommen<br />

müsste.<br />

Die Forderung nach den Anti<strong>di</strong>skriminierungsstellen auf Länderebene ist natürlich<br />

außerordentlich begrüßenswert. Daher empfehlen wir <strong>di</strong>e Annahme als Arbeitsmaterial<br />

zur Weiterleitung an den Bundesvorstand.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Renate. – Jetzt spricht <strong>di</strong>e Kollegin Monika Hübenbecker mit der Delegiertennummer<br />

187. Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor.<br />

Monika Hübenbecker, 187<br />

Bei <strong>Ver</strong>stößen gegen das AGG haben Beschäftigte ein Beschwerderecht, wenn sie<br />

sexueller Belästigung, <strong>Ver</strong>letzung der Würde, Einschüchterung, Entwür<strong>di</strong>gung oder<br />

Belei<strong>di</strong>gungen ausgesetzt sind. Auch <strong>di</strong>e Ungleichbehandlung wegen Teilzeit oder<br />

Vollzeit gehört dazu.<br />

Auch in Betrieben und <strong>Ver</strong>waltungen des öffentlichen Dienstes sind <strong>Ver</strong>stöße zu beklagen<br />

und Beschäftigte von Diskriminierungen betroffen. Dass der Gesetzgeber <strong>di</strong>e<br />

Rechte von Personalräten im Personalvertretungsgesetz den Rechten von Beschäftigten<br />

in der Betriebsverfassung nicht gleichgestellt hat, ist an sich schon ein Skandal.<br />

Es ist wichtig, dass sich Betroffene bei einem <strong>Ver</strong>stoß zuerst an <strong>di</strong>e ihnen bekannte<br />

Interessensvertretung beziehungsweise vertraute Personen wenden können. Diese<br />

können dann Abhilfe auf dem Klageweg gegen den Arbeitgeber durchsetzen. Warum<br />

sich Beschäftigte im öffentlichen Dienst an Dritte, zum Beispiel an <strong>di</strong>e Anti<strong>di</strong>skriminierungsstelle,<br />

wenden oder den <strong>di</strong>rekten Weg zum Arbeitgeber beziehungsweise<br />

Dienstherrn nehmen müssen, stellt an sich schon eine nicht hinnehmbare Diskriminierung<br />

gegenüber den Beschäftigungsverhältnissen in der freien Wirtschaft<br />

dar.<br />

Damit das AGG kein zahnloser Tiger bleibt, müssen regionale Anti<strong>di</strong>skriminierungsstellen<br />

mit entsprechendem Personal so eingerichtet sein, dass Betroffene schnell Rat<br />

und Unterstützung erhalten können und nicht erst Wochen auf Antwort warten<br />

müssen.<br />

Die Annahme des Antrags als Arbeitsmaterial zur Weiterleitung an den Bundesvorstand<br />

wird empfohlen. Die Weiterentwicklung des Personalvertretungsrechts in Bund


Mittwoch, 21. September 2011<br />

443<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

und Ländern ist aufgrund <strong>di</strong>eses Antrags sehr ernst zu nehmen. Des Weiteren ist auf<br />

ein Klagerecht der Personalräte und ver.<strong>di</strong> sowie der weiteren ÖD-Gewerkschaften<br />

beim jeweiligen Gesetzgeber hinzuwirken.<br />

Da <strong>di</strong>eser Antrag nicht <strong>di</strong>e Finanzen von ver.<strong>di</strong> betrifft, sondern Bund und Länder <strong>di</strong>e<br />

Kosten übernehmen, plä<strong>di</strong>eren wir auf Annahme des Antrags in seiner bestehenden<br />

Fassung. – Vielen Dank. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Monika. – Die Antragskommission bleibt bei ihrer Empfehlung, <strong>di</strong>e Annahme<br />

als Arbeitsmaterial zur Weiterleitung an den Bundesvorstand lautet. Wer <strong>di</strong>eser Empfehlung<br />

der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen.<br />

– Die Gegenprobe! – Das Erste fand <strong>di</strong>e deutliche Mehrheit. Enthaltungen? – Bei<br />

einigen wenigen Enthaltungen ist der Empfehlung so gefolgt worden.<br />

Damit kommen wir zur En-bloc-Abstimmung über das Untersachgebiet Rechtspolitik,<br />

und ich rufe <strong>di</strong>e Anträge K 002 bis K 012 und <strong>di</strong>e Anträge K 014 bis K024 zur Abstimmung<br />

auf. Wer den Empfehlungen der Antragskommission folgen möchte, den<br />

bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Eine Gegenstimme. Enthaltungen?<br />

– Keine. Damit haben wir <strong>di</strong>e Behandlung des Untersachgebiets Rechtspolitik abgeschlossen.<br />

Ich rufe das Untersachgebiet Rechtsschutz auf und damit <strong>di</strong>e Anträge K 025 bis<br />

K 036. Dazu liegen uns überhaupt keine Wortmeldungen vor. Insofern können wir<br />

über das gesamte Untersachgebiet Rechtsschutz en bloc abstimmen. Aber bevor wir<br />

das tun, hat natürlich <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort dazu. – Das braucht sie<br />

nicht.<br />

Dann kommen wir <strong>di</strong>rekt in <strong>di</strong>e Abstimmung. Wer den Empfehlungen der Antragskommission<br />

zu den Anträgen K 025 bis K 036 folgen möchte, den bitte ich um das<br />

Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Ich sehe einige Gegenstimmen. Enthaltungen? – Da<br />

hinten gibt es ein paar Enthaltungen. Bei einigen Gegenstimmen und einigen Enthaltungen<br />

ist der Empfehlung gefolgt.<br />

Damit haben wir das Sachgebiet Rechtspolitik und Rechtsschutz abgeschlossen.<br />

Bevor wir uns in <strong>di</strong>e Pause begeben, möchten wir mit Euch gern über eine Resolution<br />

<strong>di</strong>skutieren, <strong>di</strong>e Euch vorliegen müsste, und darüber abstimmen. Sie lautet „Solidarität<br />

mit den Streikenden beim ‚Schwarzwälder Boten‘‚. Dazu gibt es zwei Wortmeldungen.<br />

Zunächst spricht der Kollege Holger Egger mit der Delegiertennummer<br />

7. Du hast das Wort.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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Holger Egger, 007<br />

Mein Name ist Egger, Holger Egger, Delegiertennummer 007. (Heiterkeit – Beifall)<br />

Danke.<br />

Ich habe <strong>di</strong>e Resolution eingebracht. Es geht um einen Streik beim „Schwarzwälder<br />

Boten‚. Das ist eine mittelgroße Zeitung im Schwarzwald. Die Kolleginnen und Kollegen<br />

dort streiken seit mehreren Monaten. (Beifall) Es geht darum, dass <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>leger<br />

Gesellschaften ausgegliedert haben und in <strong>di</strong>esen Gesellschaften <strong>di</strong>e Beschäftigten<br />

20 bis 30 Prozent unter Tarif beschäftigen wollen. Dagegen wehren <strong>di</strong>e sich.<br />

Es gibt jetzt zwar einen Abschluss im Journalistenbereich, aber trotzdem streiken <strong>di</strong>e<br />

Kolleginnen und Kollegen weiter. Die sind so tough, dass sie bis jetzt durchhalten<br />

und vorhaben, noch weiterzumachen. Aller<strong>di</strong>ngs weigert sich der Arbeitgeber, überhaupt<br />

Gespräche mit ihnen zu führen. Der Arbeitgeber möchte eine <strong>Ver</strong>einbarung<br />

mit dem Betriebsrat, aber er möchte nicht mit der Gewerkschaft reden. Das ist unverschämt.<br />

Dieses <strong>Ver</strong>halten ist völlig undemokratisch. Deshalb würde es den Kolleginnen<br />

und Kollegen helfen, wenn wir <strong>di</strong>ese Resolution möglichst einstimmig verabschieden<br />

könnten. Darum bitte ich. – Danke schön. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke Holger. – Es folgt der Kollege Rainer Butenschön mit der Delegiertennummer<br />

750. Rainer, Du hast das Wort.<br />

Rainer Butenschön, 750<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, <strong>di</strong>e Zustände, gegen <strong>di</strong>e unsere Kolleginnen und<br />

Kollegen beim „Schwarzwälder Boten‚ streiken, sind kein Einzelfall. Ich habe zu Beginn<br />

des Kongresses eine Information verteilt über <strong>di</strong>e Zustände bei den Me<strong>di</strong>en in<br />

Mecklenburg-Vorpommern, und ich möchte mich dafür bedanken, dass ich einige<br />

hundert zustimmende Unterschriften bekommen habe.<br />

Auch <strong>di</strong>e dort beschriebenen Zustände in Mecklenburg-Vorpommern sind kein Einzelfall.<br />

Sie weisen vielmehr darauf hin, dass <strong>di</strong>e vierte Gewalt in unserem Land in einem<br />

erbärmlichen Zustand ist. Sie ist jedenfalls in großen Teilen in einem erbärmlichen<br />

Zustand, in einem so erbärmlichen Zustand, dass es demokratiegefährdend ist,<br />

weil <strong>di</strong>ese Me<strong>di</strong>en ihren <strong>Ver</strong>fassungsauftrag nur noch in Teilen oder teilweise auch<br />

gar nicht mehr erfüllen können.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

445<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Das dürfen wir so nicht hinnehmen. Wir sind auf gute Zeitungen angewiesen, um<br />

den Kampf um <strong>di</strong>e Köpfe auch in unserem Sinne führen zu können. Es ist ja zu Beginn,<br />

nur um ein Beispiel zu nennen, das Synonym „Sarrazin‚genannt worden. Fragt<br />

Euch einmal: Was wäre <strong>di</strong>eser Sarrazin ohne <strong>di</strong>e Millionenauflage von „Bild‚ und<br />

ohne <strong>di</strong>e Millionenauflage des „Spiegel‚? Wäre sein Buch überhaupt so verkauft<br />

worden, wie es verkauft worden ist? Wäre er Millionär geworden? Wären Teile unseres<br />

Volkes so verhetzt worden ohne <strong>di</strong>e Unterstützung durch <strong>di</strong>ese Me<strong>di</strong>en? (Beifall)<br />

Ihr kennt sicherlich Rudolf Augstein; er ist schon gestorben. Er hat sein Blatt, den<br />

„Spiegel‚, zeitweise als „Sturmgeschütz der Demokratie‚ verstanden und auch so<br />

eingesetzt. Er hat aber auch den außerordentlich fragwür<strong>di</strong>gen Satz geprägt, mit<br />

Blick auf <strong>Ver</strong>leger, es sei ein Grundrecht eines jeden Kaufmanns, dumme Käufer aufzuspüren<br />

und noch dümmer zu machen.<br />

Es ist sicherlich eine richtige Beschreibung dafür, wie manche Me<strong>di</strong>en – das Wort<br />

„Bild‚ ist gefallen, der vollstän<strong>di</strong>g tariffreie Bauer-Konzern hat auch solche Me<strong>di</strong>en –<br />

agieren. Aber es hat mit dem, was im Grundgesetz steht über Pressefreiheit, es hat<br />

mit den Privilegien, <strong>di</strong>e das Me<strong>di</strong>enkapital in <strong>di</strong>esem Lande unver<strong>di</strong>enterweise hat,<br />

jedenfalls in Teilen unver<strong>di</strong>enterweise hat, absolut nichts zu tun.<br />

Der frühere Mitbegründer und Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung‚,<br />

Paul Sethe, hat 1985 in einem berühmt gewordenen Leserbrief, damals im „Spiegel‚<br />

abgedruckt, gesagt: „Im Grundgesetz stehen wunderschöne Bestimmungen über <strong>di</strong>e<br />

Freiheit der Presse. Die <strong>Ver</strong>fassung garantiert <strong>di</strong>ese Freiheiten. Die ökonomische<br />

Wirklichkeit zerstört sie.‚ Er hat zu <strong>di</strong>eser ökonomischen Wirklichkeit den Satz geprägt:<br />

„Pressefreiheit ist in unserem Land <strong>di</strong>e Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre<br />

Meinung zu sagen.‚ (Beifall)<br />

An <strong>di</strong>esem Satz ist alles richtig, nur <strong>di</strong>e Zahl stimmt nicht mehr. Die Zahl 200 galt<br />

vielleicht 1965, heute sind es hier im Lande zwei Hände voll von Konzernen, <strong>di</strong>e das<br />

Me<strong>di</strong>engeschäft bestimmen. Wenn Ihr auf den Globus schaut, auf das global agierende<br />

Me<strong>di</strong>enkapital, zum Beispiel auf Bertelsmann – darüber wird noch zu reden<br />

sein – oder auf Murdoch, der ja gerade durch einen Riesenskandal auf sich aufmerksam<br />

machte, stellt Ihr fest: Es sind einige wenige reiche Kapitalgruppen, <strong>di</strong>e das Me<strong>di</strong>engeschäft<br />

bestimmen. Der Schweizer Sozialist Jean Ziegler hat gesagt: „Es hat in<br />

der Weltgeschichte noch nie einen Zustand gegeben, wo so wenige Leute so viele<br />

Menschen belügen konnten.‚<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, <strong>di</strong>esen Zustand müssen wir ändern, und ver.<strong>di</strong> ist da<br />

auch auf dem Weg. (Beifall) Da wir ja schon einiges über <strong>di</strong>e Demokratisierung der<br />

Wirtschaft und der Gesellschaft beschlossen haben, sage ich Euch: Es gibt keine Demokratie<br />

ohne demokratische Me<strong>di</strong>en. – Dafür setzen wir uns ein. (Beifall)


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

446<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Rainer. – Wir haben eine weitere Wortmeldung zu <strong>di</strong>eser Resolution. Es bereitet<br />

sich vor der Kollege Ulrich Janßen mit der Delegiertennummer 757.<br />

Ich bin auf einen Fehler im drittletzten Absatz der Resolution hingewiesen worden.<br />

Es geht dort um <strong>di</strong>e Beschäftigten der „Nord-West-Zeitung‚ in – und jetzt kommt<br />

es, und das kann ich gut nachvollziehen, denn ich habe beim Schreiben auch<br />

manchmal Durst und kann deshalb verstehen, dass einem „Flens‚ in den Kopf<br />

kommt – fälschlicherweise Flensburg. Es handelt sich hier aber nicht um Flensburg,<br />

sondern um Oldenburg.<br />

Jetzt hat Ulrich Janßen das Wort.<br />

Ulrich Janßen, 757<br />

Moin liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich komme aus Oldenburg, von der „Nord-<br />

West-Zeitung‚. Oldenburg ist keine Brauereistadt im Gegensatz zu Flensburg, aber<br />

Jever ist ziemlich nah.<br />

Ich habe mich einmal gemeldet, um <strong>di</strong>esen Fehler zu korrigieren, und bin dankbar,<br />

dass das schon jemand anderes gemacht hat. Aber ich möchte - ganz kurz nur,<br />

gleich ist ja auch Pause – ein paar ergänzende Worte zu <strong>di</strong>eser Resolution sagen.<br />

Ich bin aus der Flächentarifrunde, <strong>di</strong>e wir ja, wie schon mehrfach angeklungen ist,<br />

ganz erfolgreich bestanden haben, nach Hause gekommen und habe dort quasi im<br />

selben Moment erfahren, dass auch unser <strong>Ver</strong>lag in den OT-Status gewechselt ist.<br />

Das hat mir natürlich erst einmal <strong>di</strong>e Sprache verschlagen.<br />

Wir müssen jetzt sehen, dass wir für einen Haustarif mobilisieren. Ganz viele Kolleginnen<br />

und Kollegen von Euch aus der Branche der Zeitungsverlage, aber auch aus<br />

anderen Branchen haben uns schon mit Solidaritätsschreiben unterstützt. Mal waren<br />

es drei Wörter, mal waren es drei Zeilen, mal waren es drei Seiten – alle haben geholfen.<br />

Dafür möchte ich mich bei Euch sehr herzlich bedanken. (Beifall)<br />

Das ist der eine Punkt. Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte, ist eine Ergänzung<br />

zu dem, was Rainer Butenschön gesagt hat. Wir haben es in der Zeitungsverlagsbranche<br />

zu tun mit einer neuen Generation von Managern. Die <strong>Ver</strong>leger mit einem<br />

publizistischen Engagement, mit dem gefühlten und gelebten Auftrag, <strong>di</strong>e Pressefreiheit<br />

in <strong>di</strong>esem Land zu stützen und zu gewährleisten, <strong>di</strong>e sterben aus. Sie werden<br />

ersetzt durch eine Generation von Managern, denen es in vielen Häusern egal


Mittwoch, 21. September 2011<br />

447<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

ist, ob sie Zeitungen produzieren oder ob sie irgendetwas anderes produzieren, mit<br />

dem sich Geld machen lässt.<br />

Natürlich ist <strong>di</strong>e Situation in der Branche nicht mehr so wie vor ein paar Jahren. Nicht<br />

zuletzt durch <strong>di</strong>e Konkurrenz des Internet hat sich dort etwas getan. Aber man muss<br />

auch sagen: 20, 30, 40 Jahre nach dem Krieg gab es kaum eine legale Branche in<br />

der Bundesrepublik, in der sich so viel Geld ver<strong>di</strong>enen ließ wie mit Tageszeitungen.<br />

Aus <strong>di</strong>eser Zeit sind <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>lage verwöhnt und jetzt versuchen sie, <strong>di</strong>e Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen<br />

zu drücken. Wir haben das für <strong>di</strong>e Redakteure weitgehend abwehren können.<br />

Die „Nordwest-Zeitung‚ und der „Schwarzwälder Bote‚ sind nur Beispiele von<br />

Zeitungshäusern, <strong>di</strong>e versuchen, jetzt nach <strong>di</strong>esem Abschluss aus der Tarifbindung<br />

herauszukommen, um in einem Häuserkampf gegen uns durchzusetzen, was ihnen<br />

in der Flächentarifrunde versagt blieb.<br />

Ich möchte mich nochmals bei allen von Euch bedanken und Euch auch dazu aufrufen,<br />

bei den Tageszeitungen an Euren Orten genau hinzugucken. In Anlehnung an<br />

das Beispiel aus dem Schuhgeschäft, das wir vorhin auf dem Tisch hatten, guckt<br />

auch bei den Tageszeitungen hin, sind sie tarifgebunden. Guckt hin und redet mit<br />

den Redaktionen, redet mit den Redakteuren. Fragt sie, ob sie noch tarifmäßig beschäftigt<br />

werden. Es werden immer weniger. – Ich danke für Eure Aufmerksamkeit<br />

und wünsche eine schöne Pause. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke schön, für Deinen Beitrag. Wir haben keine weiteren Wortmeldungen. Dann<br />

kommen wir zur Abstimmung über <strong>di</strong>e Resolution „Solidarität mit den Streikenden<br />

beim Schwarzwälder Boten‚ mit der Änderung im drittletzten Absatz, dass es sich<br />

bei den Beschäftigten der „Nordwest-Zeitung‚ um den Ort Oldenburg, nicht um<br />

Flensburg handelt.<br />

Wer <strong>di</strong>ese Resolution unterstützen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. –<br />

Gegenprobe! – Enthaltungen? – Einstimmig so angenommen. (Beifall)<br />

Bevor wir gleich in <strong>di</strong>e Pause gehen, möchte ich Euch ganz kurz einen Brief verlesen,<br />

der an Frank Bsirske als Vorsitzender der <strong>Ver</strong>einten Dienstleistungsgewerkschaft gerichtet<br />

ist. Den Absender nenne ich am Ende:<br />

„Sehr geehrter Herr Bsirske! Zu Ihrer überzeugenden Wiederwahl zum Vorsitzenden<br />

der <strong>Ver</strong>einten Dienstleistungsgewerkschaft gratuliere ich Ihnen sehr herzlich. Auch<br />

Ihren Stellvertretern und den übrigen Mitgliedern des Bundesvorstands gratuliere ich<br />

zur Wahl.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

448<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Vor zehn Jahren haben sich verschiedene Gewerkschaften zur neuen Gewerkschaft<br />

ver.<strong>di</strong> zusammengeschlossen, und seitdem setzt ver.<strong>di</strong> wichtige Impulse im gewerkschaftlichen<br />

und politischen Leben unseres Landes. Sie haben maßgeblich an der<br />

Zusammenführung und der inhaltlichen Profilierung von ver.<strong>di</strong> mitgewirkt.<br />

Unser Land braucht starke Gewerkschaften, und ver.<strong>di</strong> ist eine solche starke Gewerkschaft.<br />

Für <strong>di</strong>e vor Ihnen liegenden Aufgaben wünsche ich der Gewerkschaft ver.<strong>di</strong><br />

alles Gute und Ihnen persönlich eine glückliche Hand.<br />

Mit freundlichen Grüßen‚ – <strong>di</strong>e Bundeskanzlerin Angela Merkel. (Ah-Rufe – Beifall)<br />

Wir unterbrechen jetzt den Kongress für eine viertelstün<strong>di</strong>ge Pause.<br />

(Unterbrechung des Kongresses: 10.54 Uhr)<br />

•<br />

(Fortsetzung des Kongresses: 11.10 Uhr)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Kolleginnen und Kollegen, nehmt bitte Platz. Wir wollen mit unserem Kongress fortfahren.<br />

Ich sehe schwer gelichtete Reihen. Jetzt haben wir zwei Möglichkeiten: Entweder<br />

warten wir noch einen Moment, oder wir nutzen <strong>di</strong>e Gelegenheit, um durchzuziehen.<br />

– Ich glaube, wir warten zu <strong>di</strong>esem Zeitpunkt des Kongresses noch etwas.<br />

Kolleginnen und Kollegen, bevor wir jetzt mit unserem Kongress fortfahren, einige<br />

Mitteilungen: Wir sind mehrfach gefragt worden, ob es möglich sei, <strong>di</strong>e Sticks zu<br />

aktualisieren. Ich kann Euch mitteilen, dass wir am Sonnabendmorgen am Info-<br />

Counter neue Sticks erhalten können, auf denen voraussichtlich alle Änderungen<br />

eingebaut sind. Darauf sind dann auch <strong>di</strong>e Tagungsprotokolle (Beifall) und, wenn<br />

möglich, <strong>di</strong>e Filme und <strong>di</strong>e Events enthalten. Insofern habt Ihr dann eine aktualisierte<br />

Form. Ich finde das eine tolle Leistung und hoffe, dass das klappt. So ist es jedenfalls<br />

vorgesehen.<br />

Weiterhin sind wir darauf hingewiesen worden – das freut mich sehr -, dass <strong>di</strong>eser<br />

Kongress per Livestream im Internet verfolgt werden kann. Uns haben ganz viele<br />

Kolleginnen und Kollegen rückgemeldet, dass sie es wunderbar finden, dass sie das<br />

nachvollziehen können, dass sie sich darüber freuen, wie professionell <strong>di</strong>eser Kongress<br />

abläuft. Sie wünschen uns weiterhin alles Gute. Also nutzt <strong>di</strong>e Gelegenheit –<br />

wir freuen uns darüber –, und macht dafür Werbung: Wir machen sehr transparent,


Mittwoch, 21. September 2011<br />

449<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

was wir tun. Viele Kolleginnen und Kollegen nutzen das auch. Ich finde das super.<br />

(Beifall)<br />

Wir haben bisher sehr viel über <strong>di</strong>e Bedeutung der Zusammenarbeit in Europa <strong>di</strong>skutiert.<br />

Deshalb haben wir unabhängig davon, ob das in <strong>di</strong>e Tagesordnung passt oder<br />

nicht, überlegt, hier jemandem das Wort zu geben, und zwar der Dorota Dzingel<br />

zum Thema Europapolitik und ihre Bedeutung. Sie ist eine der Kolleginnen bei uns,<br />

<strong>di</strong>e zum einen hier Delegierte ist und zum anderen sozusagen für deutsch-polnische<br />

Freundschaft steht. Dorota, sei herzlich willkommen! Wir bauen Dich jetzt hier einfach<br />

ein. Du hast das Wort. Du hast <strong>di</strong>e Delegiertennummer 575.<br />

Dorota Dzingel, 575<br />

Schönen guten Morgen! Ich sage das auch in meiner Sprache: Dzień dobry! (Beifall)<br />

Ich könnte das auch in mehreren Sprachen sagen, um <strong>di</strong>e Bedeutung dessen, was<br />

wir hier machen und <strong>di</strong>skutieren, hervorzuheben.<br />

Dazu möchte ich kurz persönlich sagen: Ich lebe seit 24 Jahren in Deutschland. In<br />

<strong>di</strong>eser Zeit hat sich nicht nur Deutschland, hat sich nicht nur Polen, sondern auch<br />

Europa entwickelt. Vor allem bin ich stolz darauf, dass ich hier in Leipzig stehen<br />

kann. (Beifall)<br />

Ich möchte sagen: Gestern Abend war ein Parlamentarierabend. Ich habe da vergeblich<br />

nach den Europaparlamentariern gesucht. Ich habe mich gefragt: Hören <strong>di</strong>e das,<br />

was wir hier machen, was wir hier <strong>di</strong>skutieren, was uns am Herzen liegt? Ich habe<br />

das recherchiert. Wir haben im Europäischen Parlament 736 Europa-Abgeordnete. Es<br />

waren 19 hier eingeladen – das habe ich im Kongressleitungsbüro erfahren -, davon<br />

waren gestern drei da.<br />

Liebe Kollegen und Kolleginnen, ich komme aus einem Land, wo <strong>di</strong>e Gewerkschaft<br />

vieles verändert hat. Ich möchte auch an <strong>di</strong>e Jugend ein paar Worte richten: Liebe<br />

Kollegen und Kolleginnen 18 plus, ich beneide Euch. Als ich 18 Jahre alt war, standen<br />

in meiner Heimat Panzer an der Straße, und da gab es <strong>di</strong>e Polizeistunde. Ich<br />

freue mich, dass Ihr hier <strong>di</strong>skutiert und in einem freien Land lebt. Ich beneide Euch<br />

wirklich. (Beifall)<br />

Wir hatten hier viele Reden zum Thema „Europa – ja, aber anders‚. Liebe Kollegen<br />

und Kolleginnen, ja, auch ich wünsche mir Europa anders. Ich lebe hier 24 Jahre,<br />

und ich habe keine Lust – auch wenn das gestern auf dem SPD-Abend so schön war<br />

- zu akzeptieren, dass der Deutsche eine polnische Putzfrau und der Pole einen ukrainischen<br />

Fahrer und was nicht alles hat. Ich möchte nicht ein solches Europa. Ich


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

450<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

möchte nicht, dass wir immer weiter nach Osten gehen und billige Arbeitskräfte globalisiert<br />

verteilen. Das möchte ich nicht. (Beifall)<br />

Ich will noch ein paar Worte an Frank richten. Ich hatte einen anderen Gewerkschaftsvorsitzenden.<br />

Der heißt Lech Walesa. Jetzt habe ich Frank. Ich möchte Dich<br />

bitten, Frank, dass der Tanker, auf dem Du der Kapitän bist, einen neuen Heimathafen<br />

hat, nämlich nicht ver.<strong>di</strong> - Deutschland, sondern vielleicht ver.<strong>di</strong> – das neue Europa.<br />

(Beifall)<br />

Ich weiß, <strong>Ver</strong>änderungen sind Prozesse und brauchen Zeit. Es gibt ein chinesisches<br />

Sprichwort – ich habe chinesische Heilkonzepte stu<strong>di</strong>ert -, das sagt: Auch eine Weltreise<br />

fängt man mit dem ersten Schritt an. Liebe Kollegen und Kolleginnen, schaut<br />

bitte im Internet auf der Seite „Europäisches Parlament - Informationsbüro in<br />

Deutschland‚, wer der Abgeordnete für Euch in Europa ist, wer sich mit Euch beschäftigt,<br />

wer Euch vertritt.<br />

Wir haben im Jahr 2014 <strong>di</strong>e nächste Europawahl. Bis dahin haben wir noch Zeit, <strong>di</strong>e<br />

Abgeordneten in Betriebe auf Bezirksebene und auf Landesebene einzuladen. Lasst<br />

uns ihnen zuhören für den Frieden in Europa. (Beifall)<br />

Zu allerletzt: Ich habe einen Papst gehabt, Johannes Paul II. Ohne den würde ich<br />

heute hier nicht stehen, und in Leipzig würden wir wahrscheinlich keinen gesamtdeutschen<br />

Kongress machen. Er hat einst auf Polnisch gesagt – es ist mir eine Ehre,<br />

seine Worte zu zitieren –: „Nie lękajcie się!‚ („Fürchtet Euch nicht!‚; <strong>di</strong>e Red.) Also:<br />

Habt keine Angst vor einem anderen Europa! – Danke. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Dorota. Zwei Hinweise noch, bevor wir zum Sachgebiet A kommen: Wir<br />

möchten alle Rednerinnen und Redner bitten – bei allem <strong>Ver</strong>ständnis dafür, dass<br />

Euch <strong>di</strong>e Abkürzungen in Euren Bereichen sehr geläufig sind -, für den Kongress<br />

nicht solche Abkürzungen zu nutzen. Dann haben <strong>di</strong>e anderen <strong>di</strong>e Chance, zu verstehen,<br />

was damit jeweils gemeint ist. (Leichter Beifall)<br />

Das Zweite: Die Spendendosen der Jugend gehen hier noch einmal herum. Ein Hinweis:<br />

Es muss nicht klötern, sondern rascheln. Ihr könnt da also auch Scheine hineinschmeißen.<br />

(Leichter Beifall)<br />

Wir können jetzt in der Antragsberatung fortfahren. Ihr seht, dass hier vorne <strong>di</strong>e<br />

Sprecherinnen der Antragskommission Platz genommen haben. Ihr seht jetzt Marion<br />

Junker, Martina Grundler und Julia Müller.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

451<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Ich rufe aus dem Antragsblock A zunächst das Untersachgebiet „Öffentliche Daseinsvorsorge‚<br />

und <strong>di</strong>e Anträge A 001 bis A 032 auf. Wie gehabt, rufe ich <strong>di</strong>e Anträge<br />

auf, <strong>di</strong>e in <strong>di</strong>e Einzelabstimmung gehen, <strong>di</strong>e anderen gehen in <strong>di</strong>e En-bloc-<br />

Abstimmung. Zunächst möchte <strong>di</strong>e Antragskommission etwas Grundsätzliches zu<br />

<strong>di</strong>esem Antragsblock sagen. Bitte, Marion.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Kolleginnen und Kollegen, im Antrag A 001 – deswegen ist es gut, dass wir eine<br />

kurze Einführung machen – beschreiben wir - wir, <strong>di</strong>e Gewerkschaft -, wie wir uns<br />

einen Sozialstaat vorstellen. Es geht dabei um <strong>di</strong>e Abkehr von einem Gewährleistungsstaat<br />

hin zu einem aktiven Sozialstaat, der <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>antwortung übernimmt für<br />

<strong>di</strong>e Gestaltung gesellschaftlicher Grundlagen und das Miteinander der Menschen.<br />

Dazu gehören im Bereich der Bildung natürlich Kitas, Jugendeinrichtungen, aber<br />

auch Bildung im Berufsleben und Arbeitsleben. Dazu gehört weiter Arbeitsmarkt-<br />

und Beschäftigungspolitik, und vor allen Dingen gehört dazu, dass <strong>di</strong>e Kosten der<br />

betrieblichen <strong>Ver</strong>schleißpolitik nicht wir zahlen, sondern der <strong>Ver</strong>ursacher, das heißt<br />

<strong>di</strong>e Kapitaleigner, <strong>di</strong>e uns verschleißen wollen. (Beifall)<br />

Das steht im Gegensatz zu den Regierungsparteien, <strong>di</strong>e den Sozialstaat rein als Kostenträger<br />

betrachten und deswegen mit Kürzungen, Abbau sozialer Leistungen und<br />

Abbau öffentlicher Leistungen und Entstaatlichung reagieren. Unsere Forderungen,<br />

<strong>di</strong>e komprimiert in dem Antrag enthalten sind, sind öffentliche Investitionen und Eigentumsausbau,<br />

das heißt Kitas, Schule, Gesundheitsbetreuung, Kultur und Freizeit<br />

insgesamt, Stopp der weiteren Privatisierung im öffentlichen Eigentum und dass der<br />

öffentliche Sektor endlich wieder seine Bedeutung wahrnimmt, <strong>di</strong>e er als Gegenpol<br />

zur Privatwirtschaft hat.<br />

Wir haben gerade etwas zu Europa gehört, unter anderem, dass wir auf der einen<br />

Seite hier in unserem Land unsere Einnahmenseite stärken, aber auch auf europäischer<br />

Ebene dafür sorgen, dass es zum Beispiel in den <strong>Ver</strong>trägen soziale Fortschrittsklauseln<br />

gibt.<br />

So viel zum Überblick. Das ist der gesamte Themenblock. – Danke. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Marion, für <strong>di</strong>e Erläuterung. Wir kommen dann zu den einzelnen Anträgen.<br />

Ich rufe als erstes den Antrag A 001 sowie <strong>di</strong>e Änderungsanträge A 001-1 und<br />

A 001-2 auf. Vorweg hat <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort zum Änderungsantrag<br />

A 001-1.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

452<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Zum Antrag A 001-1 vom Kollegen Uwe Theilen haben wir folgende Empfehlung: Zu<br />

dem ersten Satz schlagen wir in den Zeilen 3 und 4 folgende Umformulierung vor:<br />

„Unter Sozialstaat im Sinne von Artikel 20 Grundgesetz versteht ver.<strong>di</strong> das Folgende:‚<br />

Alle anderen vorgeschlagenen Änderungen werden zur Annahme empfohlen.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Marion. – Dazu liegt uns bisher keine Wortmeldung vor. Ich gucke mal vorsichtshalber<br />

in <strong>di</strong>e Runde. – Es gibt einen Geschäftsordnungsantrag.<br />

Uwe Theilen, 43<br />

Ihr könnt nicht den Antrag A 001-1 aufrufen, ohne den Antrag A 001 aufzurufen.<br />

Das geht einfach nicht.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Das habe ich aber bereits getan.<br />

Uwe Theilen, 43<br />

Das geht eben nicht, weil sich das aufeinander bezieht.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Genau deswegen muss ich sie ja zusammen aufrufen, weil sie sich aufeinander beziehen.<br />

Das habe ich getan.<br />

Uwe Theilen, 43<br />

Da <strong>di</strong>e Änderungsanträge bis zum Abgabeschluss von Wortmeldungen nicht bekannt<br />

waren, habe ich mich gemeldet zum Antrag A 001. Jetzt könnt Ihr doch nicht<br />

so tun: Es gibt keine Wortmeldung, ich lasse abstimmen.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Habe ich doch nicht. Deswegen habe ich doch gefragt, ob es dazu Wortmeldungen<br />

gibt.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

Uwe Theilen, 43<br />

Zum Antrag A 001 gibt es eine Wortmeldung, aber nicht zu A 001-1.<br />

453<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Deswegen fragen wir jedes Mal, weil das genau der Mechanismus ist, den Du völlig<br />

richtig beschreibst, dass wir hier im Kongress <strong>di</strong>e Möglichkeit haben, zu den Änderungen,<br />

<strong>di</strong>e es gibt, das Wort zu ergreifen.<br />

Uwe Theilen, 43<br />

Dann melde ich mich zum Antrag A 001-1 zu Wort.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Herzlich willkommen dazu. (Heiterkeit und Beifall)<br />

Uwe Theilen, 43<br />

Danke schön. – Kolleginnen und Kollegen, der Antrag A 001 hat mir durchaus einige<br />

Probleme bereitet. Ich will jetzt nicht auf den gesamten Text eingehen, nur auf <strong>di</strong>e<br />

ersten beiden Absätze des Originaltextes. Auf <strong>di</strong>ese wird nämlich im weiteren Text<br />

überhaupt kein Bezug genommen. Das steht so da, als wenn hier eine Realität beschrieben<br />

würde, als wenn also Gesundheitspolitik, Tarifpolitik oder Gesetze zwangsläufig<br />

das auch erfüllen würden, was da definiert ist. Ich glaube, nach der ganzen<br />

Diskussion hier würde keiner unterschreiben, Arbeits- und Gesundheitspolitik sorgen<br />

für humane Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen. Die Gesetze sorgen für gar nichts. Das sind <strong>di</strong>e<br />

Grundlagen, und wir müssen dafür sorgen, dass dadurch humane Arbeitsplätze entstehen.<br />

Deswegen wäre es konsequent gewesen, <strong>di</strong>e Absätze 1 und 2 ganz zu streichen. Die<br />

Entschließung als solche würde dadurch nicht an Qualität verlieren. Das wollte ich<br />

dem Gewerkschaftsrat aber quasi nicht antun. Deshalb habe ich gesagt: Diese ersten<br />

beiden Absätze setzen wir in Anführungsstriche und stellen dadurch dar, dass man<br />

so einen Sozialstaat möglicherweise beschreiben könnte. So, wie das formuliert ist,<br />

ist das vielleicht abgeschrieben aus Wikipe<strong>di</strong>a oder aus einem Schulbuch; aber das ist<br />

keine Formulierung von Gewerkschaften.<br />

Die Änderungen, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Antragskommission jetzt vorgenommen hat, explizit zur<br />

Haltung von ver.<strong>di</strong>, kann ich nicht unterschreiben. Ich bitte Euch daher, <strong>di</strong>eser Änderung<br />

nicht zustimmen, sondern der von mir vorgeschlagenen Änderung zuzustimmen.<br />

– Danke schön. (Beifall)


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

454<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Uwe. – Gibt es weitere Wortmeldungen aus dem Kongress zu <strong>di</strong>esem Änderungsantrag?<br />

– Das ist nicht der Fall. Dann hat jetzt noch einmal <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

<strong>di</strong>e Möglichkeit, dazu Stellung zu beziehen.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Keine weitere Stellungnahme.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Ihr bleibt also bei Eurer Empfehlung Annahme mit Änderung, wie vorgetragen; okay.<br />

Wer <strong>di</strong>eser Empfehlung der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das<br />

Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Einige wenige Gegenstimmen. Enthaltungen? - Bei<br />

einigen Enthaltungen und einigen Gegenstimmen so beschlossen.<br />

Dann rufe ich auf den Antrag A 001-2. Ich gucke erst einmal in <strong>di</strong>e Runde, ob es<br />

dazu Wortmeldungen gibt. – Das ist nicht der Fall. Dann hat <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Wir empfehlen den Antrag aus folgendem Grund zur Ablehnung: Im Antrag des<br />

Gewerkschaftsrats wird in den Zeilen 137 bis 143 <strong>di</strong>e Forderung nach einer Koor<strong>di</strong>nierung<br />

der Lohnpolitik gestellt mit dem Ziel, deutliche Lohnunterschiede auszugleichen<br />

und so <strong>di</strong>e im Antrag kritisierten wirtschaftlichen Ungleichgewichte zu beseitigen.<br />

Es ist so, dass der Änderungsantrag weit über <strong>di</strong>e Problematik, <strong>di</strong>e da dargestellt<br />

wird, hinausgeht. Deswegen empfehlen wir Ablehnung. – Danke.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Wir haben jetzt folgende Situation. Wir haben noch eine Wortmeldung. Ich vermute,<br />

Gotthard, dass Du zu <strong>di</strong>esem Antrag A 001-2 sprechen willst. Gotthard Krupp-<br />

Boulboulle mit der Delegiertennummer 124, Du hast das Wort.<br />

Gotthard Krupp-Boulboulle, 124<br />

Kolleginnen und Kollegen, ich hatte der Antragskommission schon einen neuen Vorschlag<br />

gemacht; aber den hat sie wohl nicht übernommen. Wir hatten das schon<br />

mal im Zusammenhang mit dem Antrag D 001 <strong>di</strong>skutiert. Dabei geht es um <strong>di</strong>e


Mittwoch, 21. September 2011<br />

455<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

lohnpolitische Koor<strong>di</strong>nierung. Da hatte ich in der damaligen Diskussion darauf hingewiesen,<br />

dass von EU-Seite genau so etwas vorgesehen ist im Wettbewerbspakt.<br />

Ich wollte nicht – und da hat Frank Werneke recht –, dass man überhaupt nicht miteinander<br />

spricht, denn das ist ja eine tarifpolitische Sache, sondern mir geht es ganz<br />

klar um <strong>di</strong>ese Frage von europäischen Lohnleitlinien, <strong>di</strong>e von der Politik vorgegeben<br />

ist. Da hat Frank Werneke gesagt: „Wir sind ganz klar gegen europäische Lohnleitlinien.‚<br />

Und damit hat er recht. Nur – und das ist <strong>di</strong>e Frage, und deswegen steht es<br />

hier –: Warum schreiben wir es dann nicht?<br />

Deshalb schlage ich jetzt vor, dass <strong>di</strong>e Zeilen nicht zu ersetzen sind, sondern stehenbleiben.<br />

Das bedeutet: für eine Koor<strong>di</strong>nierung und Diskussion und was weiß ich, wie<br />

es auch praktisch aussieht. Aber wir sollten dazuschreiben den ersten Absatz: „Politische<br />

Orientierungen, Leitlinien und Vorgaben unter dem Etikett der ‚Lohnangleichung‘<br />

und ‚Koor<strong>di</strong>nierung‘ unter dem Vorwand ‚Unausweichlichkeit des Schuldenabbaus‘<br />

und des Diktats der ‚leeren Kassen‘ sei es auf nationaler oder europäischer<br />

Ebene lehnen wir grundsätzlich ab.‚ Wir sollten so deutlich machen, dass wir das<br />

von europäischer Ebene ablehnen.<br />

Ich verstehe nicht, warum das nicht einfach noch mal klargestellt werden kann. Es<br />

kommt ja nicht darauf an, wie wir Worte verstehen, sondern wie sie draußen verstanden<br />

werden. Ich bin sicher, dass es ein ganz wichtiges Signal wäre, wenn man<br />

das eingrenzen würde. Deswegen bleibe ich dabei, dass <strong>di</strong>eser erste Absatz im Text<br />

bleiben sollte. – Recht herzlichen Dank. (Leichter Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Gotthard. – Das Wort hat jetzt noch einmal <strong>di</strong>e Antragskommission, Marion.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Wir werden den ersten Absatz zur Annahme empfehlen, wie Du das jetzt vorgetragen<br />

hast. – Danke. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Okay. Dann haben wir eine geänderte Empfehlung, wie hier vorgetragen. Wer der<br />

geänderten Empfehlung folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe!<br />

– Enthaltungen? – Eine Enthaltung, Gegenstimmen habe ich nicht gesehen.<br />

Dann ist <strong>di</strong>eser Änderungsantrag in der geänderten Fassung angenommen.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

456<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Ich rufe jetzt auf den Antrag A 001. Dazu liegen mir zwei Wortmeldungen vor, und<br />

zwar exakt <strong>di</strong>e gleichen Wortmeldungen der beiden Kollegen, <strong>di</strong>e eben gesprochen<br />

haben, nämlich Uwe Theilen und Gotthard Krupp-Boulboulle.<br />

Sind Eure Anliegen durch Eure vorherigen Beiträge erle<strong>di</strong>gt, oder möchtest Du, Uwe,<br />

noch einmal dazu sprechen? Du hattest ja schon zu dem Antrag A 001-1 geredet. –<br />

Nein, Uwe zieht zurück. Vielen Dank dafür.<br />

An Gotthard nun <strong>di</strong>e gleiche Frage. – Gut, das hat sich auch erle<strong>di</strong>gt. Wunderbar.<br />

Vielen Dank dafür.<br />

Dann gebe ich noch einmal der Antragskommission zum Antrag A 001 das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Zum Antrag A 001 empfehlen wir Annahme mit den Änderungen, <strong>di</strong>e mit den beiden<br />

folgenden Anträgen vorgenommen worden sind. – Danke.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Und der andere Teil der Empfehlung bleibt, dass dadurch <strong>di</strong>e Anträge A 006 und<br />

A 007 erle<strong>di</strong>gt werden? – Okay. Wer <strong>di</strong>eser Empfehlung folgen möchte, den bitte ich<br />

um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Ich sehe keine Gegenstimmen. Enthaltungen?<br />

– Einige Enthaltungen. Damit ist der Empfehlung so gefolgt.<br />

Dann rufe ich auf den Antrag A 014 und den Änderungsantrag A 014-1. Bisher liegen<br />

dazu keine Wortmeldungen vor. Die Antragskommission hat das Wort zu dem<br />

Antrag A 014-1.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Die Antragskommission empfiehlt <strong>di</strong>e Annahme der Änderung von der Kollegin Elisabeth<br />

Adam, wie sie hier vorgetragen worden sind.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Ich sehe keine Wortmeldungen. Dann kommen wir zur Abstimmung über <strong>di</strong>esen<br />

Antrag. Wer der Empfehlung folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. –<br />

Gegenprobe! – Enthaltungen? – Einstimmig so angenommen.<br />

Dann rufe ich auf den Antrag A 014. Auch dazu liegen keine Wortmeldungen vor.<br />

Möchte <strong>di</strong>e Antragskommission noch etwas dazu sagen? – Nein. Die Empfehlung


Mittwoch, 21. September 2011<br />

457<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

der Antragskommission lautet: Annahme. Dann kommen wir auch hier gleich zur<br />

Abstimmung. Wer der Empfehlung der Antragskommission auf Annahme folgen<br />

möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Eine Gegenstimme.<br />

Enthaltungen? – Einige wenige Enthaltungen. So angenommen.<br />

Dann rufe ich auf den Initiativantrag I 001 zum Antragsblock A. Der befasst sich damit,<br />

dass der Nord-Ostsee-Kanal sofort saniert werden muss. Das ist ein Antrag von<br />

Volker Krause.<br />

Ich sehe keine Wortmeldung dazu. Möchte <strong>di</strong>e Antragskommission noch etwas dazu<br />

sagen, Marion?<br />

Wir müssen noch mal einen Schritt zurück zur letzten Abstimmung. Die Annahme<br />

des Änderungsantrags hat natürlich zur Folge, dass der Inhalt natürlich jetzt übertragen<br />

werden muss auf den Ursprungsantrag. Deswegen lautet <strong>di</strong>e Empfehlung zum<br />

Antrag A 014 jetzt: Annahme mit Änderungen. Der lieben Ordnung halber bitte ich<br />

auch hier noch mal um das Kartenzeichen, wenn Ihr dem folgen möchtet. - Gegenprobe!<br />

– Gegenstimmen sehe ich nicht. Enthaltungen? – Sehe ich auch nicht. So angenommen.<br />

Dann kommen wir jetzt zum Initiativantrag I 001 zum Antragsblock A. – Dort drüben<br />

sehe ich einen Geschäftsordnungsantrag. Gehe bitte ans Saalmikrofon 4 oder 1.<br />

Eine Delegierte<br />

Ich finde es wunderbar, dass Ihr <strong>di</strong>e Organisation so straff macht. Das ist <strong>di</strong>e Anwendung<br />

des Hormocenta-Prinzips; das finde ich immer sehr gut. Aber Ihr macht das<br />

jetzt so straff, dass man eigentlich nicht mehr hinterherkommt. Du hast eben gerade<br />

dokumentiert, dass Du selbst nicht mehr hinterherkommst. Also wenn Ihr das ein<br />

klein wenig so machen würdet, dass man wenigstens in den Materialien finden<br />

kann, um was es gerade geht, wäre das sehr gut. Das wäre meine herzliche Bitte. Ich<br />

glaube, ich bin nicht <strong>di</strong>e Einzige, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>ese Bitte äußert. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Ich neige fast dazu, das jetzt nicht als Geschäftsordnungsantrag zu werten, sondern<br />

als Appell, dem ich gerne nachkomme. Denn es hilft in der Tat auch mir, wenn ich<br />

ein bisschen ruhiger durch <strong>di</strong>e Materialien gehen kann. Ich hoffe, dass wir das<br />

durchhalten; denn das hängt am Ende von der Menge der Anträge ab. Aber du hast<br />

recht, denn <strong>di</strong>e Delegierten müssen natürlich nachvollziehen können, worin <strong>di</strong>e Änderungen<br />

bestehen. Insofern vielen Dank für den Hinweis. Wir wollen das gerne tun.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

458<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Gleichwohl kommen wir jetzt zum Initiativantrag I 001 zum Antragsblock A, der sich<br />

mit der Sanierung des Nord-Ostsee-Kanals befasst. Dazu hat das Wort <strong>di</strong>e Antragskommission.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Die Antragskommission empfiehlt Annahme.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Wünscht jemand das Wort? – Das sehe ich nicht. Dann kommen wir zur Abstimmung<br />

über <strong>di</strong>esen Initiativantrag. Wer der Empfehlung der Antragskommission auf<br />

Annahme folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! - Einige<br />

Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Bei einigen Gegenstimmen und einigen<br />

Enthaltungen ist <strong>di</strong>eser Empfehlung der Antragskommission so gefolgt.<br />

Ich rufe auf <strong>di</strong>e Anträge A 031 und den dazugehörigen Änderungsantrag A 031-1,<br />

der als Erstes befasst wird. Dazu hat <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort. Als Nächster<br />

hat sich gemeldet der Kollege Friedhelm Schutt, der auch Antragsteller des Änderungsantrags<br />

ist. Du hast zwar geschrieben, Du meldest Dich zum Antrag A 031,<br />

aber ich vermute, zu dem Änderungsantrag und der Empfehlung dazu. Insofern bereite<br />

Dich mal darauf vor, gleich zum Antrag A 031-1 zu sprechen, wenn ich das<br />

richtig interpretiere; sonst natürlich nicht. Als Erstes aber hat dazu <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Kolleginnen und Kollegen, den Änderungsantrag des Kollegen Friedhelm Schutt<br />

empfehlen wir zur Ablehnung, und zwar aus folgendem Grund:<br />

Anders als in anderen Anträgen wird hier ein konkretes Datum vorgeschrieben, bis<br />

wann der Bundesvorstand seinen Arbeitsauftrag erle<strong>di</strong>gt haben muss, und nicht wie<br />

sonst, dass man eben halt hingeht und sagt, in einem bestimmten Zeitraum soll der<br />

Arbeitsauftrag erle<strong>di</strong>gt werden oder dass bis zu einem bestimmten Zeitpunkt ein<br />

Sachstandsbericht zu geben ist. Das Entscheidende ist <strong>di</strong>eses festgesetzte Datum.<br />

Deswegen empfiehlt <strong>di</strong>e Antragskommission Ablehnung.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Vielen Dank, Marion. – Friedhelm, ich sehe, dass ich mit meiner Interpretation richtig<br />

gelegen habe. Du hast jetzt das Wort.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

459<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Friedhelm Schutt, 493<br />

Ich war gerade schon bei der Antragskommission. Den Antrag A 031-1 ziehen wir<br />

zurück, und wir wollen den ursprünglichen Antrag, der <strong>di</strong>e Überweisung an den<br />

Bundesvorstand vorsieht, so bestehen lassen. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke schön, Friedhelm. – Damit ist der Antrag zurückgezogen, und ich rufe auf<br />

den Antrag A 031. Wiederum hat <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Wir empfehlen Annahme als Arbeitsmaterial zur Weiterleitung an den Bundesvorstand.<br />

Das ist ja logisch.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Es liegen keine Wortmeldungen vor. Insofern kommen wir zur Abstimmung. Wer der<br />

Empfehlung der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen.<br />

– Gegenprobe! – Keine Gegenstimmen. Enthaltungen! – Keine. So angenommen.<br />

Damit haben wir das Untersachgebiet „Öffentliche Daseinsvorsorge‚ durchgearbeitet<br />

und kommen zur En-bloc-Abstimmung. Ich möchte der Technik jetzt Gelegenheit<br />

geben, das auch entsprechend einzublenden.<br />

Wir stimmen en bloc ab über <strong>di</strong>e Anträge A 002 bis A 030 sowie über den Antrag<br />

A 032. Wer den Empfehlungen der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich<br />

um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Enthaltungen! – Einstimmig so gefolgt. Vielen<br />

Dank.<br />

Dann rufe ich das Untersachgebiet „Gute Arbeit/Dienstleistungspolitik‚ auf. Dabei<br />

handelt es sich um <strong>di</strong>e Anträge A 033 bis A <strong>04</strong>9. Die Sprecherin der Antragskommission<br />

ist <strong>di</strong>eselbe. Insofern brauche ich hier keinen Namen anzusagen.<br />

Zur Einzelabstimmung rufe ich auf den Antrag A <strong>04</strong>0 sowie den dazugehörigen Änderungsantrag<br />

A <strong>04</strong>0-1.<br />

Dazu hat als Erstes <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort, und ich schaue in <strong>di</strong>e Runde,<br />

ob es dazu Wortmeldungen gibt. Bitte, Marion.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

460<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

A <strong>04</strong>0-1 ist der Antrag der Kollegin Elisabeth Adam, und <strong>di</strong>esen empfiehlt <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

zur Annahme.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Marion. Wird dazu das Wort gewünscht? – Das sehe ich nicht. Dann kommen<br />

wir zur Abstimmung über den Änderungsantrag A <strong>04</strong>0-1. Wer der Empfehlung<br />

der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe!<br />

– Enthaltungen! – Ohne Gegenstimmen bei wenigen Enthaltungen so<br />

gefolgt.<br />

Ich rufe auf den Antrag A <strong>04</strong>0. Auch dazu liegen keine Wortmeldungen vor, und ich<br />

gebe der Antragskommission das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Die Antragskommission empfiehlt Annahme als Arbeitsmaterial zur Weiterleitung an<br />

den Bundesvorstand in der geänderten Fassung.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Moment, wir haben eine kleine Irritation. Die Folie stimmte nicht. <strong>Ver</strong>gesst <strong>di</strong>e Folie<br />

von eben. Berücksichtigt das, was Marion eben gesagt hat: Annahme als Arbeitsmaterial<br />

zur Weiterleitung an den Bundesvorstand in der geänderten Fassung. Wer dem<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Danke schön.<br />

Das ist eine Gegenstimme. Enthaltungen! – Bei einer Gegenstimme sind wir dem<br />

Antragsbegehren so gefolgt.<br />

War das alles? – Dann kommen wir in <strong>di</strong>e En-bloc-Abstimmung über <strong>di</strong>e Anträge<br />

A 033 bis A 039 sowie über <strong>di</strong>e Anträge A <strong>04</strong>1 bis A <strong>04</strong>9. Wer den Empfehlungen<br />

der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe!<br />

– Enthaltungen! – Einstimmig so angenommen. Vielen Dank.<br />

Ich muss hier meine Zettel sortieren, damit ich ein bisschen Luft kriege. (Heiterkeit)<br />

Bevor wir jetzt mit dem nächsten Block – das ist das Untersachgebiet „Mindestlohn‚,<br />

das ich hiermit aufrufe – weitermachen, hat als Erstes <strong>di</strong>e Antragskommission für<br />

eine allgemeine Ansage das Wort.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

461<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Die allgemeine Ansage bezieht sich auf <strong>di</strong>e Höhe in <strong>di</strong>esem Block. Es geht im Grunde<br />

genommen um einen Prozess. Die 8,50 oder 10 Euro können ja nicht das Ende sein,<br />

sondern es geht auch darum, wie sich <strong>di</strong>e Lohnentwicklung gestaltet. Deswegen<br />

können 8,50 Euro nicht das Ende sein. Wir werden unsere Forderungen weiter stellen.<br />

– Danke.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Damit rufe ich das Untersachgebiet „Mindestlohn‚ auf. Dabei handelt es sich um <strong>di</strong>e<br />

Anträge A 050 bis A 072. Wir steigen in <strong>di</strong>e Einzelabstimmung mit den Anträgen<br />

A 050 bis A 050-1 ein. Dazu liegt uns eine Reihe von Wortmeldungen vor. Als Erstes<br />

rufe ich den Änderungsantrag A 050-1 auf, und dazu hat wiederum <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Wir empfehlen Ablehnung des Antrags A 050-1, weil in dem Antrag eine Höhe genannt<br />

wird, <strong>di</strong>e in einem anderen Antrag anders angesetzt worden ist. Ich müsste<br />

jetzt den anderen Antrag erklären. Das ist jetzt ein bisschen doof. – Okay, ich habe<br />

gerade das Signal bekommen: Mach es!<br />

Kolleginnen und Kollegen, Ihr habt den Antrag A 050 vorliegen, und <strong>di</strong>eser Antrag<br />

ist in verkehrter Form wiedergegeben worden. Guckt Euch den ersten Satz an. Da<br />

steht: Die Initiative für einen gesetzlichen Mindestlohn wird weiterhin fortgesetzt,<br />

jedoch mit einer Höhe von 8,50 Euro. – Die Empfehlung der Antragskommission lautete,<br />

das Wort „jedoch‚ zu streichen und vor „8,50 Euro‚ das Wort „zurzeit‚ einzufügen.<br />

Das ist das, was ich vorhin gesagt habe: Es ist ein Prozess. Wir fordern jetzt 8,50 Euro,<br />

aber das heißt ja nicht, dass wir in zehn Jahren immer noch nur 8,50 Euro fordern.<br />

Hoffentlich haben wir dann eine andere Welt, in der der Mindestlohn dann in<br />

regelmäßigen Prozessen angepasst wird. Das „zurzeit‚ ist also das Entscheidende.<br />

(<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Deswegen haben wir <strong>di</strong>e Ablehnung des A 050-1 empfohlen.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke für <strong>di</strong>e Erläuterungen, Marion. – Jetzt liegen uns mehrere Wortmeldungen<br />

vor. Als Erstes hat sich <strong>di</strong>e Kollegin Regina Richter mit der Delegiertennummer 987<br />

gemeldet. Wolltest Du zum Ursprungsantrag oder zum Änderungsantrag reden? –<br />

Zum Änderungsantrag. Dann stelle ich Dich erst einmal zurück und rufe den Kollegen<br />

Helmut Born mit der Delegiertennummer 315 auf. Helmut, möchtest Du zum


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

462<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Änderungsantrag reden? – Das ist der Fall. Dann hast Du das Wort. – Warum taucht<br />

Ihr jetzt zu zweit auf?<br />

Helmut Born, 315<br />

Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen. Marlies und ich sind Antragstellerin und<br />

Antragsteller für den Änderungsantrag, und deshalb treten wir hier jetzt gemeinsam<br />

auf. (Beifall)<br />

Der ursprüngliche Antrag sah ja etwas anders aus. Es liegt jetzt ein neuer Antrag<br />

A 050 vor. Unser Anliegen ist aber, dass wir uns im Prinzip für eine andere Höhe des<br />

Mindestlohns einsetzen und <strong>di</strong>e möglichst hier auch verabschieden. Die meisten der<br />

Anträge, <strong>di</strong>e nach dem Antrag A 050 noch folgenden, sahen ja eine Höhe von 10 bis<br />

12 Euro vor. In Nordrhein-Westfalen haben wir im Herbst letzten Jahres beschlossen,<br />

dass der Mindestlohn auf 9,50 Euro festgesetzt werden soll.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir hatten natürlich eine Diskussion, und wir finden<br />

auch, dass ver.<strong>di</strong> mit der Mindestlohnkampagne und mit der Forderung zusammen<br />

mit der NGG, <strong>di</strong>e dann nachher auch breit vom DGB getragen wurde, einen riesigen<br />

politischen Erfolg erzielt hat. Es ist ins allgemeine Bewusstsein eingegangen, dass<br />

Arbeit sich auch lohnen muss und nicht Arbeit in Armut bedeuten darf, liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen. Das ist auch der Ansatzpunkt. Wenn wir einen gesetzlichen<br />

Mindestlohn fordern, dann muss <strong>di</strong>eser Mindestlohn auch armutsfest sein. Rechnet<br />

einmal nach. Bei einer durchschnittlichen Arbeitszeit von 170 Stunden im Monat und<br />

8,50 Euro bekommt man circa 1.400 Euro. Wir meinen, das ist eben nicht armutsfest.<br />

(Beifall)<br />

Wir bitten deshalb darum, dass Ihr Euch noch einmal intensiv mit <strong>di</strong>eser Frage auseinandersetzt<br />

und unserem Antrag zustimmt.<br />

Marlies wird nun noch, so wie es auch im Antrag aus Hessen steht, <strong>di</strong>e Auswirkungen<br />

der Höhe des Mindestlohns auf <strong>di</strong>e später zu erwartende Rente erläutern.<br />

Marlies Müller, 629<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei einem Mindestlohn von 10 Euro wird es so sein,<br />

dass man nach 45 Jahren Vollzeitbeschäftigung nur auf eine Rente von 710 Euro<br />

kommt. Das ist sozusagen eine durchschnittliche Grundsicherung von heute. Das ist<br />

für uns ein Anlass zu sagen: Um von dem Geld leben zu können und auch eine menschenwür<strong>di</strong>ge<br />

Rente zu bekommen, von der man auch leben kann, wollen wir uns<br />

für 10 Euro jetzt stark machen. – Danke. (Beifall)


Mittwoch, 21. September 2011<br />

463<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Helmut Born, 315<br />

Daraus schlussfolgernd würde es natürlich bedeuten, dass wir <strong>di</strong>e Ergänzungen in<br />

dem zweiten Satz erst einmal nicht brauchen. Aber natürlich sind wir für eine jährliche<br />

Überprüfung der Höhe des Mindestlohns. Bei der Entwicklung der Preissteigerungsrate<br />

auch in <strong>di</strong>esem Jahr denken wir, dass das zwingend notwen<strong>di</strong>g ist.<br />

Zuletzt vielleicht noch zu dem Hinweis, der auch in dem Antrag A 050 steht: Wir<br />

möchten betonen, dass es in der Tat sehr wichtig ist, dass wir den Druck auf <strong>di</strong>e Politik<br />

erhöhen, damit <strong>di</strong>eser gesetzliche Mindestlohn auch wirklich eingeführt wird. Wir<br />

müssen auch überlegen, wie wir das politisch durchsetzen. – Schönen Dank. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke Helmut, danke Marlies. – Für das Protokoll: Sie hatten sich beide ordnungsgemäß<br />

gemeldet. Deswegen hatten sie auch beide fünf Minuten Redezeit. Die haben<br />

sie gar nicht genutzt. Und der lieben Vollstän<strong>di</strong>gkeit halber nenne ich auch noch<br />

<strong>di</strong>e Delegiertennummer von Marlies Müller. Das ist <strong>di</strong>e Nummer 629. Die Delegiertennummer<br />

von Helmut hatte ich bereits genannt.<br />

Es haben sich noch eine Reihe von Kolleginnen und Kollegen gemeldet. Ich laufe<br />

jetzt immer Gefahr, dass <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e sich zum Antrag A 050 gemeldet haben,<br />

eigentlich zum Änderungsantrag sprechen möchten. Wenn das der Fall ist, müsst Ihr<br />

Euch bemerkbar machen.<br />

Sonst habe ich hier mit dem Hinweis auf den Änderungsantrag jetzt <strong>di</strong>e Wortmeldung<br />

der Kollegin Christine Kunz mit der Delegiertennummer 125.<br />

Christine Kunz, 125<br />

Kolleginnen und Kollegen, ich komme vom Fachbereich 13. Wir haben natürlich insbesondere<br />

solche Anträge zum Thema Mindestlohn sehr intensiv <strong>di</strong>skutiert, weil wir<br />

im Fachbereich 13 doch eine Menge Branchen haben, <strong>di</strong>e um den Mindestlohn auch<br />

wirklich kämpfen und mit ihren Löhnen und Gehältern weit darunter liegen.<br />

Wir hatten, als wir <strong>di</strong>e Festlegung Mindestlohn 7,50 Euro getroffen haben, schon<br />

große Schwierigkeiten mit etlichen Tarifverträgen. Ich erinnere nur an Wach<strong>di</strong>enste<br />

und Sicherheit, Friseurhandwerk, Callcenter, Zeitarbeit und so weiter. Wir hatten also<br />

große Schwierigkeiten, <strong>di</strong>e Tarifverträge so zu gestalten, dass wir zumindest <strong>di</strong>e<br />

7,50 Euro in Aussicht stellen, sodass wir <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>träge auch abschließen konnten.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

464<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Wir haben also <strong>di</strong>ese 8,50 Euro in unserer letzten Vorstandssitzung und auch auf der<br />

Konferenz <strong>di</strong>skutiert und gesagt: 8,50 Euro sind ein Ziel, das auch erreichbar ist.<br />

10 Euro würden einen Großteil der gesamten ver.<strong>di</strong>-Mannschaft ausschließen. Es<br />

würde bedeuten, dass wir etliche Tarifverträge nicht mehr abschließen können. Wir<br />

würden nur noch in der Clearingstelle landen. Ihr müsstet davon ausgehen, dass wir<br />

uns von etlichen Branchen in ver.<strong>di</strong> für <strong>di</strong>e Zukunft verabschieden müssen. Das wollen<br />

wir nicht, und darum plä<strong>di</strong>ere ich dafür, <strong>di</strong>esen Änderungsantrag abzulehnen<br />

und dem Antrag A 050 in seiner ursprünglichen Fassung mit 8,50 Euro zuzustimmen.<br />

(Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Christine. – Jetzt frage ich noch <strong>di</strong>e Kollegin Gerlinde Strasdeit mit der Delegiertennummer<br />

41, ob sie zum Originalantrag oder zum Änderungsantrag sprechen<br />

möchte. Willst Du zum Änderungsantrag sprechen? (Zuruf: Nein!) – Nein. Dann<br />

musst Du noch einen Augenblick warten. Die gleiche Frage stelle ich an den Kollegen<br />

Reinhard Nold mit der Delegiertennummer 246. (Zuruf: Zum Originalantrag!) –<br />

Auch zum Originalantrag.<br />

Dann hat jetzt <strong>di</strong>e Kollegin Petra Gerstenkorn, Mitglied des Bundesvorstands, mit der<br />

Teilnehmernummer 8 das Wort.<br />

Petra Gerstenkorn, Bundesvorstand<br />

Zunächst ein norddeutsches „Moin‚, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte<br />

bei <strong>di</strong>esem Thema Mindestlohn anknüpfen an <strong>di</strong>e Ausführungen von Christine Kunz.<br />

Ich glaube, dass wir uns beim Thema Mindestlohn und den Forderungen für einen<br />

gesetzlichen Mindestlohn wirklich in einem richtigen Dilemma befinden. Auf der einen<br />

Seite ist <strong>di</strong>e Forderung für einen gesetzlichen Mindestlohn – gucken wir einmal<br />

kurz zurück – für Gewerkschaften ja auch eher ein ungewöhnlicher Angang gewesen,<br />

so jedenfalls vor etlichen Jahren <strong>di</strong>e Sicht der IG Metall und zum Teil auch der<br />

BCE. Jetzt hat der DGB einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro auf seinem<br />

letzten Kongress beschlossen. Wir hatten vorher 7,50 Euro.<br />

Es ist auch für <strong>di</strong>e Kolleginnen und Kollegen im Fachbereich 13 ein tiefes Anliegen,<br />

Altersarmut zu bekämpfen. Ein gesetzlicher Mindestlohn von 10 Euro würde einigermaßen<br />

dafür sorgen, dass das nicht eintritt. Dennoch ist <strong>di</strong>e tarifpolitische Realität<br />

gerade im Fachbereich 13 eine andere. Mit der Forderung von 7,50 Euro haben wir<br />

einen Mindestlohntarifvertrag, der auch nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz allgemein<br />

verbindlich geworden ist, im Juni <strong>di</strong>eses Jahres abgeschlossen, der in der Tat<br />

7,50 Euro erreicht. Diese 7,50 Euro erreicht er nicht jetzt, sondern <strong>di</strong>ese 7,50 Euro<br />

erreicht er 2013. Mit <strong>di</strong>esem allgemein verbindlichen Mindestlohn haben wir Tarif-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

465<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

verträge ersetzt, zum Beispiel einen GÖD-Tarifvertrag in Sachsen, der noch im Jahr<br />

2010 einen Stundengrundlohn von 5,36 Euro vorgesehen hatte.<br />

Das heißt, wir haben da einen gewaltigen Sprung gemacht auf 6,53 und 7,50 Euro<br />

von – ich will <strong>di</strong>e Zahlen noch einmal sagen aus dem GÖD-Tarifvertrag – 5,36 Euro<br />

und wir haben einen allgemeinverbindlichen ver.<strong>di</strong>-Tarifvertrag für <strong>di</strong>e Bewachung<br />

und Sicherheit allgemein. Das ist schon eine große Kraftanstrengung gewesen, in<br />

<strong>di</strong>eser Branche Bewachung auf <strong>di</strong>ese Höhen überhaupt zu kommen.<br />

Kolleginnen und Kollegen, es darf nicht passieren, was bei unserer Forderung gesetzlicher<br />

Mindestlohn zum Teil passiert ist, dass <strong>di</strong>e Forderung gesetzlicher Mindestlohn<br />

dann zum Teil verunmöglicht hat, Tarifverträge abzuschließen, <strong>di</strong>e an das Niveau<br />

von 7,50 Euro noch nicht herankamen, aber kurz darunter lagen. Das heißt, wir<br />

brauchen dann auch eine <strong>Ver</strong>stän<strong>di</strong>gung darüber, dass nach wie vor möglich sein<br />

muss, Tarifpolitik und auch eine Tarifstrategie in den Fachbereichen zu entwickeln,<br />

<strong>di</strong>e es überhaupt erst ermöglicht, da hinzukommen.<br />

Ansonsten würden wir uns wirklich auch der tarifpolitischen Handlungsfähigkeit in<br />

manchen Bereichen begeben, wenn wir sagen, dann müssen aber auch wirklich <strong>di</strong>ese<br />

10 Euro sofort erreicht werden. Da ist dann – da bin ich mir sehr sicher – der<br />

Fachbereich 13 auch nicht allein, sondern es gibt auch andere Fachbereiche, <strong>di</strong>e im<br />

Moment zwischen 7,50 und 8 Euro liegen. Es muss dann wirklich klar sein: Es kann<br />

nicht <strong>di</strong>e Maxime sein, sofort Tarifverträge daran zu messen. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Petra. Wir haben weitere Wortmeldungen. Ich bitte den Kollegen Volker<br />

Mörbe mit der Delegiertennummer 6<strong>04</strong> ans Mikrophon.<br />

Volker Mörbe, 6<strong>04</strong><br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Antrag lautet ja nicht, dass wir jetzt nur noch<br />

Tarifverträge abschließen sollen über 10 Euro. Es ist eine Forderung nach einem<br />

Mindestlohn von 10 Euro. Es ist doch natürlich ein totaler Unterschied, ob wir verlangen,<br />

dass das Parlament festlegt, jeder Arbeitgeber muss sich daran halten und<br />

darf nicht unter 10 Euro gehen, hier eine Wettbewerbsregel eingezogen wird, als<br />

wenn wir als Tarifvertragspartei eingreifen, und uns mit Dumpinglöhnen, mit Dumpingkonkurrenz<br />

auseinandersetzen müssen, vielleicht auch mit einer geringen Durchsetzungskraft<br />

in den Bereichen.<br />

Deswegen sollten wir das nicht miteinander vermischen. Wir müssen <strong>di</strong>e 10 Euro<br />

fordern, weil 8,50 Euro bedeuten, wie heute schon vorgerechnet worden ist, dass


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

466<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

wir eine Forderung nach Altersarmut aufstellen. Das kann nicht sein, dass ver.<strong>di</strong> Altersarmut<br />

fordert. (Beifall)<br />

Deswegen muss es bei den 10 Euro bleiben. Wir brauchen <strong>di</strong>ese Mindestlohn-<br />

Regelung als Wettbewerbsregelung. Da hat Petra sicher recht. Wir müssen uns davon<br />

verabschieden, dann zu sagen, wir müssen bei neuen den Tarifabschlüssen, bis<br />

es <strong>di</strong>esen gesetzlichen Mindestlohn gibt, uns daran orientieren. Natürlich können wir<br />

im Bereich derjenigen, <strong>di</strong>e 6 Euro Stundenlohn haben und nach einem guten Streik<br />

30 Prozent Lohnerhöhung durchgesetzt haben und damit bei 8 Euro liegen, nicht<br />

sagen, das machen wir nicht.<br />

Ich bin ganz klar für <strong>di</strong>e Trennung. Es sind auch vollkommen unterschiedliche Angelegenheiten.<br />

Aber damit wir überhaupt glaubwür<strong>di</strong>g sind als ver.<strong>di</strong>, brauchen wir <strong>di</strong>e<br />

10 Euro, sonst dringen wir nicht durch mit unseren Argumenten, weil wir damit <strong>di</strong>e<br />

Armutslöhne selber fordern. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Volker. Es spricht jetzt unser Vorsitzender Frank Bsirske.<br />

Frank Bsirske, ver.<strong>di</strong>-Vorsitzender<br />

Kolleginnen und Kollegen! Wir sind auf einem guten Weg bei der Durchsetzung eines<br />

gesetzlichen Mindestlohns auch in Deutschland, aber wir haben ihn noch nicht.<br />

Wir müssen uns überlegen, wie wir möglichst viel Energie entfalten können, um ihn<br />

zu kriegen.<br />

Dabei ist <strong>di</strong>e Einheit der Gewerkschaften im DGB eine wichtige Größe. Im Vorfeld<br />

des DGB-Kongresses hat es dazu Diskussionen gegeben, mit welcher Höhe man <strong>di</strong>e<br />

Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn weiterentwickeln will und dabei<br />

weiter geschlossen auftreten kann.<br />

Von uns waren zu dem Zeitpunkt 9 Euro in <strong>di</strong>e Diskussion gebracht. Das ist selbst bei<br />

der NGG nicht mitgetragen worden. Das Ergebnis sind jetzt <strong>di</strong>e 8,50 Euro. Wir tun<br />

uns keinen Gefallen, liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn jetzt alle möglichen Einzelgewerkschaften<br />

mit unterschiedlichen Forderungen auftreten, welches Niveau aus<br />

ihrer Sicht denn sinnvoll wäre, (Beifall) weil das verunklart und im Grunde auch <strong>di</strong>e<br />

Durchsetzungsmöglichkeit schwächt.<br />

Die 8,50 Euro orientieren sich zurzeit am Durchschnittsniveau der westeuropäischen<br />

gesetzlichen Mindestlöhne. Dabei liegt den 8,50 Euro auch zugrunde, dass man<br />

kaum davon ausgehen kann, dass sich <strong>di</strong>e Bundesrepublik von null – wir sind eines


Mittwoch, 21. September 2011<br />

467<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

der ganz, ganz wenigen Länder, wo es keinen gesetzlichen Mindestlohn gibt – in<br />

einem Zug an <strong>di</strong>e Spitze des westeuropäischen Mindestlohn-Niveaus setzen wird und<br />

kann.<br />

Deswegen ist das Durchschnittsniveau der westeuropäischen Mindestlöhne gewissermaßen<br />

ein Bezugspunkt, mit dem man auch gut argumentieren kann und <strong>di</strong>e<br />

Einheit der DGB-Gewerkschaften eine wichtige Größe bei der Durchsetzung des gesetzlichen<br />

Mindestlohns 2013 bleibt. Ich werbe sehr darum, dass wir <strong>di</strong>ese Einheit<br />

nicht aufgeben und auch nicht infrage stellen. (Beifall)<br />

Die „Frankfurter Allgemeine Zeitung‚ – Ihr könnt das dem Pressespiegel entnehmen,<br />

der Euch vorliegt – hat in der Berichterstattung zum gestrigen Tag und zur Grundsatzrede<br />

aufgenommen den Hinweis darauf, dass wir „unter anderem fordern, es<br />

war der wiedergewählte ver.<strong>di</strong>-Vorsitzende Frank Bsirske, abermals einen gesetzlichen<br />

Mindestlohn‚ – jetzt werde ich zitiert – „beginnend mit 8,50 Euro und dann<br />

ziemlich flott ansteigend auf 10 Euro in der Stunde.‚<br />

Ich finde, dass das eine Formel ist, <strong>di</strong>e mit der <strong>Ver</strong>stän<strong>di</strong>gung im DGB gut verträglich<br />

ist. (Beifall) Ich bitte Euch, dass wir auf <strong>di</strong>eser Grundlage das Thema weiter bearbeiten<br />

und in <strong>di</strong>esem Sinne der Antragskommission folgen. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Wir haben eine weitere Wortmeldung des Kollegen Christian Hass mit der Delegiertennummer<br />

976. Christian, Du hast das Wort.<br />

Christian Hass, 976<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bitte unterstützt den Antrag A 050. Wir als ver.<strong>di</strong>-<br />

Bundeskongress müssen hier auch reale Forderungen stellen. Alles, was jetzt über<br />

8,50 Euro läuft, ist gesellschaftlich noch nicht angekommen. Es wurde ja gerade gesagt,<br />

hinsichtlich des Fachbereichs 13 haben wir <strong>di</strong>e Schwierigkeiten.<br />

Wenn wir beispielsweise einen Mindestlohn von 10 Euro wollen, dann muss man<br />

auch real <strong>di</strong>ese 10 Euro gesellschaftlich durchsetzen. Diese Kraft haben wir meiner<br />

Ansicht nach noch nicht. Da müssen wir hinkommen, aber wir haben sie halt noch<br />

nicht.<br />

Von daher lasst uns <strong>di</strong>ese 8,50 Euro hier beschließen, dann können wir beispielsweise<br />

das in einer Clearing-Stelle umsetzen. Aber eine 10-Euro-Forderung ist zurzeit<br />

nicht möglich.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

468<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Christian. Es liegen uns keine weiteren Wortmeldungen zum Antrag A 050-1<br />

vor. Die Antragskommission benötigt jetzt ein bisschen Zeit. (Eine Delegierte hebt im<br />

hinteren Teil des Saals <strong>di</strong>e Hand zur Wortmeldung) – Ihr müsst <strong>di</strong>e Wortmeldung hier<br />

vorne abgeben. Wir haben feste Spielregeln. – Sabine, ich möchte wirklich Dich und<br />

<strong>di</strong>e anderen bitten, damit Ihr uns das Handling des Kongresses hier ermöglicht, dass<br />

Ihr <strong>di</strong>e Wortmeldungen so abgebt, dass wir das händeln können. Wenn wir Schluss<br />

machen und es springen immer wieder welche auf, haben wir ein Problem, den<br />

Kongress sauber und ordentlich abzuwickeln. (Beifall)<br />

Also tut uns den Gefallen. Ihr merkt ja nicht erst zum Ende, dass Ihr zu <strong>di</strong>esem Thema<br />

reden wollt. Ihr habt doch wirklich genug Möglichkeiten, das hier vorne abzugeben.<br />

Das soll protokolliert werden, das soll fair und transparent zugehen. Es macht<br />

uns das Leben einfacher, wenn Ihr einfach Eure Zettel abgebt. Der Bundesvorstand<br />

macht das ja auch. Macht das bitte. – Jetzt haben wir das abgeschlossen, und nun<br />

muss sich <strong>di</strong>e AK dazu beraten.<br />

Sabine Mies, 986<br />

Nein. Nach Ihren eigenen Regeln, <strong>di</strong>e Sie selber aufgestellt haben, darf man sich<br />

noch melden!<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Genau. Das sage ich ja.<br />

Sabine Mies, 986<br />

Natürlich soll man vorher <strong>di</strong>e Wortmeldung abgeben. Aber man darf sich während<br />

der Diskussion melden. Das habe ich getan, und ich möchte jetzt auch drankommen.<br />

(Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Zur weiteren Klärung: Ich kann verstehen, dass das missverständlich war oder so interpretiert<br />

werden könnte. Deswegen mache ich jetzt noch einmal eine Ausnahme.<br />

Hinterher möchte ich wirklich jeden bitten zu verstehen: Mit Melden ist <strong>di</strong>e formale<br />

Meldung an der Wortmeldestelle gemeint. Wir müssen das erfassen können. Denn<br />

sonst hat <strong>di</strong>e Antragskommission enorme Schwierigkeiten. (Beifall) nach Ende der<br />

Debatte – –


Mittwoch, 21. September 2011<br />

469<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Sabine Mies, 986<br />

Ich habe das Gefühl, es geht nur gegen meinen Namen. Bei meiner ersten Rede haben<br />

Sie schon – –<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Nein.<br />

Sabine Mies, 986<br />

Es sind hier schon mehrere Sachen passiert, und das sollte eigentlich so nicht sein.<br />

Sie haben selber Regeln aufgestellt. Bitte halten Sie sich auch daran.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Dabei bin ich. Ich versuche noch einmal darzustellen, worin <strong>di</strong>e Problematik besteht:<br />

Wir versuchen von der Kongressleitung das so zu organisieren, dass wir alle Beiträge<br />

abarbeiten und dass <strong>di</strong>e Antragskommission dann <strong>di</strong>e Möglichkeit hat, das sozusagen<br />

zu bewerten und zu überlegen, ob sie damit neu umgeht. Wenn sie das tut und<br />

weitere Wortmeldungen kommen, kann <strong>di</strong>e Antragskommission das kaum bewältigen.<br />

Das ist der Hintergrund.<br />

Insofern noch einmal: Sabine, was Du dort hineininterpretierst – das kann ich für uns<br />

sagen –, stimmt überhaupt nicht. Ich kann Dich nur bitten, dass auch Du Dich an <strong>di</strong>e<br />

Spielregeln hältst, <strong>di</strong>e für alle gelten. (Beifall) Das einmal zur Klarstellung.<br />

Jetzt haben wir einen GO-Antrag am Saalmikro 5.<br />

Kornelia Dubbel, 801<br />

Jeder hat <strong>Ver</strong>ständnis, dass es besser ist, wenn man <strong>di</strong>e Wortmeldezettel vorne abgibt<br />

und dass das <strong>di</strong>e Organisation erleichtert. Aber in einem Kongress müssen auch<br />

spontane Wortmeldungen möglich sein. Das kann innerhalb der Diskussion ganz<br />

schnell erforderlich werden. In solchen Fällen, denke ich, werden wir es verkraften,<br />

wenn auch spontan noch Wortmeldungen zugelassen werden. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Ich möchte nicht, dass Sabine <strong>di</strong>e Ausnahme bleibt. Vielmehr muss das möglich sein.<br />

Ich kenne das von vielen Kongressen nicht anders, und das schaffen wir auch hier.<br />

(Beifall)


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

470<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Möchte jemand formal Gegenrede halten? – Du hast Dich vorher gemeldet, also<br />

kannst du dazu reden.<br />

Susanne Treptow, 807<br />

Ich rede jetzt formal dagegen – was immer „formal‚ auch heißt. Ich habe mich<br />

schon öfter zu Wort gemeldet. Das bedeutet immer: Mein Wortmeldezettel ist schon<br />

ausgefüllt, ich muss nur noch eine Zahl draufschreiben. Ich renne dann zum Wortmeldetisch,<br />

und dann bin ich schon am Mikro; denn das Mikro ist in der Nähe des<br />

Wortmeldetisches. Das heißt, ich kann innerhalb von 15 Sekunden hier stehen. Ich<br />

finde, das ist schon ziemlich spontan. Von daher brauchen wir hier keine Ausnahmen.<br />

(Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Ich lasse jetzt über den Geschäftsordnungsantrag abstimmen. Kornelia hatte gefordert,<br />

das lockerer zu handhaben. Jetzt wurde in der Gegenrede erläutert, warum es<br />

auch mit Wortmeldezetteln geht. Ich lasse über den GO-Antrag abstimmen. Wer<br />

dafür ist, dass wir sozusagen auch ohne Wortmeldezettel, also uns spontan melden<br />

können, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Das ist <strong>di</strong>e deutliche<br />

Mehrheit. – Enthaltungen? – Bei wenigen Enthaltungen ist der GO-Antrag abgelehnt.<br />

(Beifall)<br />

Gleichwohl machen wir bei Dir <strong>di</strong>e Ausnahme, Sabine. Bitte interpretiere da nichts<br />

hinein, was nicht der Fall. Es geht nur darum, hier den Kongress vernünftig abzuarbeiten<br />

und der Antragskommission <strong>di</strong>e Arbeit zu erleichtern. Sabine, Du hast das<br />

Wort.<br />

Sabine Mies, 986<br />

Ich muss eins vorweg sagen: Ich will hier keinen verärgern, und es soll auch nicht<br />

negativ herüberkommen. Aber ich möchte jetzt gehört werden. Denn ich spreche<br />

hier für 19.000 Mitarbeiter. 19.000 sind wir in ganz Deutschland von der Firma<br />

Securitas.<br />

Der Mindestlohn ist für uns mit das wichtigste Thema. Mindestlohn bedeutet für uns<br />

von vornherein ein sicheres Einkommen. Bei uns ist es so, dass Mitarbeiter noch 300<br />

bis 320 Stunden im Monat schaffen. Sie schaffen also täglich 12 bis 16 Stunden. Sie<br />

verstoßen gegen Gesetze vom Allerfeinsten. Das ist einfach nicht in Ordnung.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

471<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Ich muss jetzt wieder Angst um meinen Job haben, weil wir keinen Mindestlohn von<br />

10 Euro haben. Ich habe einen Lohn von 12 Euro und paar Zerklemmten; ich ver<strong>di</strong>ene<br />

also gut. Aber <strong>di</strong>e Leute hier auf dem Kongress in Leipzig – auch <strong>di</strong>e gehören zu<br />

meiner Firma – ver<strong>di</strong>enen nicht annähernd 8,50 Euro. Wir sollten also bei 10 Euro<br />

bleiben, damit wir mindestens 8,50 bekommen. Hier bekommen <strong>di</strong>e Leute noch<br />

6 Euro oder 7 Euro; in Hessen bekommen sie 7,50 Euro Mindestlohn. Das kann nicht<br />

in unserem Interesse sein. Es kann auch nicht sein, dass wir zum Sozialamt gehen<br />

müssen oder uns Geld woanders herholen müssen. Und ein Zweitjob – das geht einfach<br />

nicht. Jeder will doch ganz normal und vernünftig leben.<br />

Hätten wir <strong>di</strong>esen Mindestlohn schon überall bei uns in Deutschland, dann würde es<br />

den Stress nicht geben, dass ich jetzt Angst haben muss, dass eine andere Firma mit<br />

7,50 reinkommt. – Ich bedanke mich. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke Sabine. Jetzt haben wir weitere Wortmeldungen. Ich rufe <strong>di</strong>e Kollegin Christel<br />

Christofsky mit der Delegiertennummer 907 auf. Es bereitet sich vor der Kollege<br />

Helmut Born mit der Delegiertennummer 315. Christel, du hast das Wort.<br />

Christel Christofsky, 907<br />

Kolleginnen und Kollegen, ich will nicht viele Worte machen. Aber ich meine, dass<br />

wir uns nicht nach dem untersten Niveau richten können. Wir können doch keine<br />

Löhne anstreben, <strong>di</strong>e Kolleginnen und Kollegen dazu verdonnern, zum Amt zu gehen<br />

und ihr Geld aufstocken zu lassen.<br />

Frank, Du hast eben gesagt, Du könntest damit leben, dass ein Mindestlohn von 10<br />

Euro gefordert wird. Ich möchte dazu sagen: Der Antrag besagt nichts anderes, als<br />

dass 10 Euro als Ziel angestrebt werden sollen. Wenn wir <strong>di</strong>esen Satz in den A 050<br />

einbringen, dann ist doch eigentlich alles in Ordnung, nämlich so, wie Du das eben<br />

in Deinem Beitrag gesagt hast. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Christel. Jetzt hat der Kollege Helmut Born mit der Delegiertennummer 315<br />

das Wort.<br />

Helmut Born, 315<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es hierüber eine Debatte geben würde, war,<br />

denke ich, vorauszusehen. Ich meine, wir sollten jetzt nicht unsere einzeltarifvertrag-


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

472<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

lichen Regelungen mit der Forderung nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn<br />

durcheinanderbringen. (Beifall)<br />

Wir wissen, dass zum Beispiel Frisörinnen und Frisöre extrem schlecht ver<strong>di</strong>enen. Wir<br />

wissen auch, welche Ursachen das hat. Wir wissen weiterhin, dass es im Handel Unterschiede<br />

je nach Tarifbezirken gibt. Aber es gibt im Handel auch Tarifbezirke, <strong>di</strong>e<br />

einen Mindestlohn von 9,08 Euro haben. Das heißt, dass dort der Mindestlohn heute<br />

schon höher als <strong>di</strong>e 8,50 Euro ist. Bei den Post<strong>di</strong>ensten gibt es den Mindestlohn von<br />

9,80 Euro. Da lässt sich sicherlich noch das eine oder andere Beispiel hinzufügen.<br />

Es ist ein bisschen komisch bei der Empfehlung der Antragskommission: Alle Anträge<br />

für 10 Euro und 12 Euro sind zur Annahme als Arbeitsmaterial empfohlen. Aber <strong>di</strong>eser<br />

Änderungsantrag ist der Einzige, der zur Ablehnung empfohlen ist. Da, finde ich,<br />

könnte es ein bisschen mehr Kreativität geben, gerade nach der Stellungnahme vom<br />

Sprecher der Antragskommission. Beispielsweise könnte man ihre Änderungen mit<br />

unserem Antrag verbinden. Wir wissen alle, dass momentan <strong>di</strong>e Forderung 8,50 Euro<br />

lautet. Aber wir möchten zum Beispiel, dass unser Vorsitzender oder der Bundesvorstand<br />

beim DGB darauf hinwirkt, dass wir als nächsten Schritt 10 Euro Mindestlohn<br />

fordern. Das ist genau das, was wir wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen.<br />

(Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Helmut. – Jetzt gibt es weitere Wortmeldungen. Zunächst einen Geschäftsordnungsantrag.<br />

Bitte, geh ans Mikro, sonst können wir Dich nicht verstehen.<br />

Marco Schilke, 299<br />

Ich beantrage Schluss der Debatte.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Gegenrede von hier vorne.<br />

Stefan Wittstock, 418<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich möchte mich nachdrücklich dagegen aussprechen.<br />

(Beifall) Der Mindestlohn und unsere Mindestlohnforderung, das ist eines der<br />

zentralen Themen, <strong>di</strong>e uns in den letzten Jahren beschäftigt haben und <strong>di</strong>e uns in<br />

den nächsten Jahren bewegen werden. (Beifall) Wir sind hier das höchste Gremium<br />

von ver.<strong>di</strong>, und unsere Aufgabe ist es, uns hier zu positionieren, wie sich Frank zu<br />

verhalten hat und wie der Gewerkschaftsrat <strong>di</strong>e nächsten vier Jahre mit <strong>di</strong>eser Min-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

473<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

destlohnforderung umgehen muss. Da müssen wir es doch schaffen, <strong>di</strong>ese Diskussion<br />

auch ausufernd und in der nötigen Tiefe und in den nötigen Details auszuhalten.<br />

(Beifall)<br />

Wenn man hört, wie betroffen Kolleginnen und Kollegen von <strong>di</strong>eser Forderung in<br />

ihrem Betrieb sind, finde ich es undemokratisch, wenn wir <strong>di</strong>ese Debatte vorzeitig<br />

abwürgen. Daher bitte ich Euch, <strong>di</strong>e Rednerliste offen zu lassen und auf gar keinen<br />

Fall <strong>di</strong>e Debatte künstlich zu beenden. – Danke. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Wir stimmen jetzt ab über den Geschäftsordnungsantrag auf Ende der Debatte. Wer<br />

dem Antrag folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! –<br />

Das ist <strong>di</strong>e deutliche Mehrheit. Enthaltungen? – Damit ist der Geschäftsordnungsantrag<br />

abgelehnt.<br />

Wir fahren fort in der Redeliste. Wir haben eine Reihe weiterer Wortmeldungen. Es<br />

spricht jetzt zu uns <strong>di</strong>e Kollegin Gerlinde Strasdeit mit der Delegiertennummer 41. Es<br />

bereitet sich vor der Kollege Alfred Köhler mit der Delegiertennummer 889.<br />

Gerlinde Strasdeit, 41<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich komme aus dem Landesbezirk Baden-<br />

Württemberg. Ich habe mich zu dem Antrag A 050-1 gemeldet. Wenn der abgelehnt<br />

wird, wird ja über <strong>di</strong>e Höhe der Mindestlohnforderung überhaupt nicht mehr<br />

<strong>di</strong>skutiert.<br />

Wir in Baden-Württemberg und auch viele andere wollen, dass bei <strong>di</strong>esem Mindestlohn<br />

<strong>di</strong>e Zahl 10 davor steht, und nicht 8,50.<br />

Zu Frank: Ich habe schon 2010 in Tübingen am 1. Mai an <strong>di</strong>e Mindestlohnpuppe <strong>di</strong>e<br />

Zahl 10 drangemacht und nicht 7,50 oder 8,50. Wir konnten uns in Tübingen damit<br />

nicht sehen lassen. Wir haben aber kein Ausschlussverfahren beim DGB gekriegt. Ich<br />

will nur sagen: Deshalb ist <strong>di</strong>e Diskussion so wichtig. Wenn <strong>di</strong>ese Diskussion geführt<br />

wird, wäre es schlecht, denn wir wissen ja alle, bei einem Mindestlohn von 8,50<br />

müssen <strong>di</strong>e Beschäftigen 63 Jahre lang arbeiten, um 700 Euro Rente zu bekommen.<br />

Frank, Du hast gestern in Deiner Rede auch Rechenbeispiele gebracht. Unsere baden-württembergische<br />

Landesbezirksleiterin, <strong>di</strong>e Leni Breymaier, wird gar nicht müde,<br />

ebenfalls gegen <strong>di</strong>ese Sauerei anzureden und anzukämpfen. Es gibt Material von<br />

der Abteilung Sozialpolitik und Wipo. Das sind super Materialien, mit denen man<br />

arbeiten kann.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

474<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Außerdem weiß ich, dass heute der Welt-Alzheimer-Tag ist; habe ich heute Morgen<br />

gehört. (Heiterkeit) 10 Euro Mindestlohn sind eine Prävention gegen Alzheimer;<br />

denn Depressionen sind demenzfördernd, und – wir kennen unser Durchschnittsalter<br />

– das wollen wir nicht. Wenn man tagtäglich Sorgen hat, wie man über <strong>di</strong>e Runden<br />

kommt, sind 8,50 Euro nicht gesundheitsförderlich. (Beifall)<br />

Ich habe schon am Montag gesagt: Ich bin Personalrätin am Tübinger Uni-Klinikum.<br />

Das hat 8.500 Beschäftigte. Bei uns wurde eine Tochterfirma, eine Service GmbH,<br />

ausgegründet, <strong>di</strong>e in der Logistik unter 8 Euro, genau 7,10 Euro, bezahlt. Durch unsere<br />

stän<strong>di</strong>ge Nörgelei auch in der Öffentlichkeit haben sie eine Zulage – Ihr wisst<br />

aber, was Zulage bedeutet – von 1,50 Euro draufgelegt. Im Reinigungsbereich wird<br />

der BAU-Tarif bezahlt, also Bau-Agrar-Umwelt. Das Küchenpersonal ist an den Tarif<br />

der NGG angelehnt.<br />

In Tübingen sind <strong>di</strong>e Lebenshaltungskosten hoch und liegen auf dem Niveau von<br />

München und Freiburg. Ich sage das ausdrücklich: In einem öffentlichen Krankenhaus<br />

im Land Baden-Württemberg werden Niedriglöhne bezahlt, von denen <strong>di</strong>e Kolleginnen<br />

und Kollegen nicht leben können. Viele Beschäftigte müssen beim Jobcenter<br />

aufstocken. Die Beschäftigten haben nach 45 Arbeitsjahren keinen Rentenanspruch<br />

über Hartz-IV-Niveau. Die Service GmbH lässt sich faktisch über Aufstockung<br />

subventionieren. Ihr wisst, circa 11 Milliarden Euro werden als Kombilohn an Unternehmer<br />

gezahlt.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, <strong>di</strong>e OECD hat ja eine Orientierung ausgegeben,<br />

dass mindestens 60 Prozent des Durchschnittslohns als Lohn bezahlt werden. Das<br />

wären dann etwa 12 oder 13 Euro. Also, wem <strong>di</strong>e 10 Euro nicht passen, wir können<br />

auch über 13 Euro reden. (Beifall) Eine weitere Einkommensverarmung und Armutsrenten<br />

sind nur mit einem gesetzlichen Mindestlohn zu stoppen.<br />

Ich will noch sagen: Eine aktuelle Stu<strong>di</strong>e des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung<br />

sagt, dass in den letzten zehn Jahren <strong>di</strong>e realen Nettogehälter durchschnittlich<br />

um 2,5 Prozent und bei den Geringver<strong>di</strong>enden sogar um bis zu 22 Prozent gesunken<br />

sind.<br />

Köchinnen, Bettenfahrer, Putz<strong>di</strong>enste machen in einem Klinikum lebensnotwen<strong>di</strong>ge<br />

Arbeiten. Sie dürfen nicht weiter mit Lohndumping drangsaliert werden. Deshalb<br />

brauchen wir einen gesetzlichen Mindestlohn in existenzsichernder Höhe von 10 Euro<br />

und nicht 8,50 Euro, und auch nicht dynamisiert, sondern <strong>di</strong>e Zahl 10.<br />

Deshalb stimmt der Empfehlung der Antragskommission nicht zu. – Danke schön.<br />

(Beifall)


Mittwoch, 21. September 2011<br />

475<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Gerlinde. – Es spricht jetzt zu uns der Kollege Alfred Köhler mit der Delegiertennummer<br />

889. Es bereitet sich vor der Kollege Constantin Greve mit der Delegiertennummer<br />

226.<br />

Wir haben jetzt weitere circa zehn Wortmeldungen. Ich sage das deshalb, weil wir<br />

ursprünglich geplant hatten, um 12.30 <strong>di</strong>e Mittagspause zu machen. Ich meine, wir<br />

sollten dem Caterer das Signal geben, dass wir noch etwas Zeit brauchen. Ich finde,<br />

<strong>di</strong>e Debatte ist so wichtig, dass wir jetzt nicht einfach in <strong>di</strong>e Mittagspause gehen<br />

können. (Beifall) Ich bitte deshalb darum, dem Caterer das Signal zu geben, dass sie<br />

noch ein bisschen warten müssen. Den Punkt sollten wir abschließen. (Beifall)<br />

Jetzt hat der Kollege Alfred Köhler das Wort.<br />

Alfred Köhler, 889<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, hallo. Ich komme aus München. Was in München<br />

10 Euro Mindestlohn bedeuten, muss ich hier, glaube ich, nicht näher darlegen,<br />

wenn man allein von den Mietpreisen redet. Nichtsdestotrotz glaube ich, dass es<br />

zum Einstieg in <strong>di</strong>ese Sache der richtige Weg ist, den Frank hier skizziert hat. (Beifall)<br />

Von daher kann ich es kurz machen.<br />

Eine Bitte hätte ich aber noch an Euch da vorne, wer auch immer zustän<strong>di</strong>g ist. Mir<br />

ist bei der Kollegin, <strong>di</strong>e für Securitas gesprochen hat, aufgefallen: Am Anfang des<br />

Kongresses ist nachgefragt worden, ob alle, <strong>di</strong>e hier für uns arbeiten, 8,50 Euro<br />

Mindestlohn bekommen. Nach der Aussage der Kollegin ist das bei Securitas nicht<br />

der Fall; so habe ich das zumindest verstanden. Deshalb bitte ich, das zu prüfen, ob<br />

<strong>di</strong>e Mitarbeiter der Bewachungsfirma hier <strong>di</strong>esen Lohn erhalten. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Alfred. Ich glaube, dass bereits Gerd Herzberg in seinem Eingangsstatement<br />

sehr ausführlich auf <strong>di</strong>ese Frage eingegangen ist. Er hat gesagt, dass <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>träge,<br />

<strong>di</strong>e hier geschlossen werden, sicherstellen, dass <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e hier arbeiten – so habe<br />

ich das verstanden –, für <strong>di</strong>e Dauer <strong>di</strong>eses Kongresses vertraglich mindestens <strong>di</strong>ese<br />

8,50 Euro kriegen. Darauf hat Gerd ausdrücklich hingewiesen. Deshalb glaube<br />

ich, dass man das auch nicht mehr überprüfen muss. – Er nickt. Genauso war es also.<br />

Dann kommt jetzt der Kollege Constantin Greve mit der Delegiertennummer 226 an<br />

<strong>di</strong>e Reihe. Es bereitet sich vor der Kollege Uli Weinzierl.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

476<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Constantin Greve, 226<br />

Schönen guten Morgen oder Mittag! Ich möchte zum Thema Mindestlohn sprechen.<br />

Mir kommt es in der Debatte – und ich kann <strong>di</strong>e Debatte gut verstehen – so vor, als<br />

würde der Mindestlohn schneller kommen, je höher wir <strong>di</strong>e Forderung nach dem<br />

Betrag treiben. (Beifall) Ich glaube, da irren wir; denn es hilft uns nichts, wenn wir<br />

mit immer neuen Zahlen immer höher gehen. Wir haben viele Argumente gehört,<br />

<strong>di</strong>e dafür sprechen, dass der Mindestlohn höher sein muss. Die sind auch alle richtig.<br />

Aber eines blendet <strong>di</strong>e Debatte an der Stelle aus, und das hat Frank vorhin auch angerissen.<br />

Wenn wir uns jetzt gegenseitig in den Einzelgewerkschaften überbieten in<br />

der Frage der Höhe des Mindestlohns, dann werden wir den nie bekommen, nie!<br />

(Beifall) Wir sollten uns deshalb überlegen, was uns wichtiger ist. Ist es uns wichtig,<br />

eine möglichst hohe Forderung zu haben, <strong>di</strong>e wir nie erreichen werden, nie, noch<br />

nicht mal das Instrument? Oder wollen wir vielleicht nicht erst mal das Instrument<br />

haben?<br />

Ich möchte noch einen weiteren Hinweis geben, denn der wird in der Debatte ein<br />

Stück weit ausgeblendet, auch bei der Frage, ob 10 Euro, 12 Euro oder 13 Euro. Ich<br />

habe in dem Antrag A 055 etwas gefunden. Es geht mir jetzt nicht darum, den Antrag<br />

zu beraten, sondern nur darum, dass man das nachlesen kann. Da ist eine Beispielrechnung<br />

für <strong>di</strong>e Rentenentwicklung aufgemacht. Also auch bei 10 Euro Mindestlohn<br />

– und das hat hier noch nicht stattgefunden – bleibt völlig außer Betracht,<br />

dass dazwischen im Zweifel noch 40 Beitragsjahre liegen. Jetzt möchte ich gerne mal<br />

wissen: Wie viel sind denn eigentlich 710 Euro in 40 Jahren noch wert?<br />

Da ist doch schon klar, dass weder <strong>di</strong>e 8,50 Euro noch <strong>di</strong>e 10 Euro das Ende sein<br />

können.<br />

Da ist ja auch in der Initiative der Weg verankert, wie es weitergehen kann. Deshalb<br />

möchte ich Euch ganz herzlich bitten: Lasst uns meinetwegen <strong>di</strong>e Debatte weiterführen,<br />

<strong>di</strong>e finde ich in Ordnung. Aber lasst uns am Ende eine geschlossene Position<br />

einnehmen: 8,50 Euro Mindestlohn, vereint in den Gewerkschaften, um das Ziel<br />

auch durchzusetzen. – Herzlichen Dank. (Lebhafter Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Constantin. – Es spricht jetzt zu uns der Kollege Uli Weinzierl mit der Delegiertennummer<br />

416. Es bereitet sich vor <strong>di</strong>e Vorsitzende des Gewerkschaftsrats, Monika<br />

Brandl.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

477<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Uli Weinzierl, 416<br />

Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir sind uns alle einig, dass es wünschenswert<br />

wäre, wenn wir möglichst schnell <strong>di</strong>e 10 Euro durchgesetzt hätten. Wir unterscheiden<br />

uns vielleicht noch in der Frage des Weges, wie wir <strong>di</strong>eses Ziel erreichen können.<br />

Deshalb mache ich ganz kurz einen konkreten Vorschlag, wie wir auch hier zu einem<br />

Ergebnis kommen könnten. Dieser Vorschlag richtet sich an <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

mit der bitte, ihn zu übernehmen.<br />

Nehmen wir doch einfach <strong>di</strong>e Formulierung, <strong>di</strong>e Frank eben aus der „Frankfurter Allgemeinen‚<br />

von heute zitiert hat. Dort heißt es: beginnend mit 8,50 Euro und dann<br />

ziemlich flott ansteigend auf 10 Euro in der Stunde. Das wäre doch ein Beschluss.<br />

(Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Uli. – Jetzt hat <strong>di</strong>e Kollegin Monika Brandl, Vorsitzende des Gewerkschaftsrats,<br />

mit der Teilnehmernummer 15 das Wort. Es bereitet sich vor der Kollege Ralf<br />

Fenske, Mitglied des Gewerkschaftsrats, mit der Delegiertennummer 752.<br />

Monika Brandl, Vorsitzende des Gewerkschaftsrats<br />

Hallo, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich möchte mich nicht für den Antrag A 051<br />

aussprechen, sondern für <strong>di</strong>e Annahme des Antrags A 050. Ich finde, der ist ein<br />

Stück weitergehender. Darin heißt es: einen Mindestlohn von derzeit 8,50 Euro und<br />

eine jährliche Überprüfung. Ich denke, das ist weitergehender. Damit sind wir dann<br />

offen, und wir können dafür kämpfen, dass wir so schnell wie möglich auch höher<br />

kommen als 8,50 Euro. Dafür werbe ich bei Euch, und ich hoffe, dass der Antrag<br />

A 050 eine richtig satte Mehrheit kriegt. – Herzlichen Dank. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Monika. – Jetzt hat das Wort der Kollege Ralf Fenske mit der Delegiertennummer<br />

752. Es bereitet sich vor <strong>di</strong>e Kollegin Regina Richter mit der Delegiertennummer<br />

987.<br />

Ralf Fenske, Gewerkschaftsrat<br />

Ich will mich mal dem Problem in Antrag A 050 von einer anderen Seite zuwenden.<br />

Ich glaube, es ist unstrittig, dass jeder hier im Raum 8,50 Euro als zu wenig betrachtet.<br />

Aber den Antrag A 050-1 kann ich so nicht annehmen. Wenn man sich <strong>di</strong>e For-


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

478<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

mulierung genau anschaut, dann ist da ein Ziel formuliert. Bei der Weltmeisterschaft<br />

hat zum Beispiel Usain Bolt ein Ziel, nämlich <strong>di</strong>e 200 Meter als Schnellster zu erreichen.<br />

Und wenn er <strong>di</strong>e erreicht hat, ist er fertig. Hier ist ein Ziel von 10 Euro formuliert,<br />

und wenn wir <strong>di</strong>e 10 Euro erreicht haben, ist das Ziel erfüllt. Das reicht mir aber<br />

nicht. Ich will 12 Euro, 13 Euro oder 14 Euro in einem Ablauf. Deswegen kann der<br />

Antrag in <strong>di</strong>eser Formulierung so nicht angenommen werden. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Ralf. – Jetzt spricht zu uns <strong>di</strong>e Kollegin Regina Richter mit der Delegiertennummer<br />

987. Es bereitet sich vor der Kollege Friedel Giesen-Weirich mit der Delegiertennummer<br />

331. – Regina, Du hast das Wort.<br />

Regina Richter, 987<br />

Ich komme aus dem Bezirk Leipzig-Nordsachsen und bin Betriebsratsvorsitzende bei<br />

der Friseur Astoria GmbH.<br />

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen! Ich möchte zu dem ursprünglichen Antrag A 050<br />

sprechen. Aber da es in der Diskussion so durcheinandergegangen ist, muss ich jetzt<br />

zu dem Antrag A 050-1 sprechen; denn <strong>di</strong>ese Höhe für den Mindestlohn können wir<br />

als Friseure absolut nicht mittragen. Ich werde Euch jetzt mal zeigen, wie es bei uns<br />

in der Branche aussieht und was in all den Jahren, in denen wir <strong>di</strong>e Mindestlohn-<br />

Aktion 7,50 Euro fahren, für uns passiert ist.<br />

Ich komme also aus dem Bereich des Friseurhandwerks, in dem ein gesetzlicher Mindestlohn<br />

dringend erforderlich ist. Dies möchte ich Euch aus der Sicht der Friseurbranche<br />

kurz begründen.<br />

In der Friseurbranche wurden gerade mal in drei Bundesländern Tarifabschlüsse über<br />

7,50 Euro abgeschlossen. Das sind viel zu wenige Abschlüsse für viele tausend Beschäftigte<br />

in der Branche. Ich möchte betonen, dass wir in unserem Beruf <strong>di</strong>e größten<br />

Ausbildungszahlen haben. Bundesweit haben wir bis vor Kurzem noch 74.000<br />

Lehrlinge in drei Lehrjahren ausgebildet. Das ist doch eine starke Größenordnung,<br />

und da kommt ein großes Potenzial von jungen Leuten auf unseren Arbeitsmarkt.<br />

Um einen Tarifvertrag für <strong>di</strong>ese Branche zu verhandeln und abzuschließen, braucht<br />

man neben der ver.<strong>di</strong>-Mitgliedschaft, <strong>di</strong>e zugegebenermaßen sehr zersplittert ist,<br />

einen handlungsfähigen Innungsverband oder Zentralverband für das Friseurhandwerk<br />

als Tarifpartner. In den neuen Bundesländern haben wir zum Beispiel <strong>di</strong>e Situation,<br />

dass <strong>di</strong>e Innungsverbände entsprechend schwach organisiert sind, sie haben<br />

einen Organisationsgrad von weit unter 50 Prozent, oder es gibt gar keine Innungs-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

479<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

verbände mehr. Wenn es trotzdem gelänge, Tarifverträge abzuschließen, könnten<br />

<strong>di</strong>ese aber nicht für allgemeinverbindlich erklärt werden.<br />

Aber bereits jetzt gibt es Billigketten, <strong>di</strong>e ihre Dienstleistungen noch unter marktüblichen<br />

Preisen anbieten und bei denen <strong>di</strong>e Beschäftigten noch schlechter bezahlt<br />

werden als zum Beispiel ich. Die bereits abgeschlossenen Branchenmindestlöhne<br />

führten bisher auch noch nicht dazu, dass sich <strong>di</strong>e Einnahmen im Friseurhandwerk<br />

erhöhten, wenn mehr Kunden unsere Dienstleistungen regelmäßig in Anspruch<br />

nehmen könnten.<br />

Ich selbst arbeite seit 45 Jahren im Beruf. Bevor ich Euch meine persönliche Lebenserfahrung<br />

schildere, möchte ich Folgendes einfügen: Ich stamme aus der ehemaligen<br />

DDR, und wir in der DDR hatten nur ganz wenige Privatgeschäfte. Die größte Form<br />

bei uns waren <strong>di</strong>e PGHs. 1991 haben wir uns dann zu einer GmbH umgewandelt. In<br />

den ersten 20 Jahren meiner beruflichen Laufbahn hatte meine Tätigkeit einen höheren<br />

Stellenwert in der Gesellschaft, und ich fand mehr Anerkennung. Das bedeutete<br />

für mich auch, dass ich mit dem Lohn, den ich damals ver<strong>di</strong>ente, auch besser auskommen<br />

konnte. Noch bis 1996 erhielten wir in unserem Friseurbetrieb mehr Lohn,<br />

als der Tarifvertrag vorsah.<br />

Aber <strong>di</strong>e Konkurrenz – auch von Billigketten – wuchs, und ich stehe jetzt bei einem<br />

Stundenlohn von 5,16 Euro. Ich arbeite in Teilzeit. Das heißt für mich 318 Euro netto<br />

am Monatsende. Diese 5,16 Euro sind <strong>di</strong>e höchste <strong>Ver</strong>gütungsgruppe aus dem für<br />

allgemein verbindlich erklärten Tarifvertrag Sachsens aus dem Jahre 20<strong>04</strong>.<br />

Ich möchte hier betonen: Es ist der einzige allgemein verbindliche, den es überhaupt<br />

noch in den neuen Bundesländern gibt. Die anderen arbeiten für noch viel, viel weniger.<br />

Er beginnt bei dem Ausgelernten bei 3,82 Euro. Bei einer 37-Stunden-Woche<br />

sind das 605 Euro. Nach einem Jahr sind es 4,69 Euro. Das heißt 755 Euro bei 37<br />

Stunden, und es endet bei 6,15 Euro. Das sind bei 37 Stunden 830 Euro Monatslohn.<br />

Ich weiß, dass viele meiner Kollegen zum Amt gehen und aufstocken müssen. Das ist<br />

schlimm genug. Um <strong>di</strong>e Löhne auch ohne gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro<br />

zahlen zu können und eine Steigerung in den Salons hinzubekommen, damit wir<br />

mehr Umsätze haben – wir haben uns als Betriebsrat jetzt damit beschäftigt, wie wir<br />

einen Haustarifvertrag abschließen können –, haben wir es berechnet. Mein Arbeitgeber<br />

zahlt jetzt schon einen Lohn, der über den 5,16 Euro liegt. Um wenigstens in<br />

der letzten Entgeltgruppe auf <strong>di</strong>e 7,50 Euro zu kommen, müssten wir eine enorme<br />

Umsatzsteigerung haben, um <strong>di</strong>e Lohnkosten von 400.000 Euro zu zahlen. Das ist<br />

nicht machbar.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

480<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Wir haben zurzeit einen Jahresgewinn – und das ist auch erst seit zwei oder drei Jahren<br />

wieder so – von 46.000 Euro vor Steuern. Dann könnt Ihr es Euch ausrechnen:<br />

Wenn es so kommt, wie Ihr es jetzt gerne wollt, also zu den 10 Euro, dann haben<br />

wir überhaupt keine Chance.<br />

Das bedeutet für ganz viele junge Leute, dass sie nach der Lehre nicht übernommen<br />

werden, und es heißt für viele kleine Unternehmen das Aus. Die verschwinden vom<br />

Markt. Und für unsere Mitglieder – es ist mühsam genug, <strong>di</strong>ese zu gewinnen – stellt<br />

sich dann <strong>di</strong>e Frage, was sie dann noch in ver.<strong>di</strong> sollen. Wenn <strong>di</strong>ese Sache so hochgetrieben<br />

wird, dann kann ich das nicht mittragen.<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Regina, kommst Du bitte zum Schluss.<br />

Regina Richter, 987<br />

Ja, ich mache gleich Schluss. – Den Mindestlohn von 8,50 Euro wollen wir mittragen,<br />

aber <strong>di</strong>e 10 Euro können wir nicht mittragen. Das heißt für uns das Aus. – Ich bedanke<br />

mich. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke schön. – Bevor als Nächstes Friedel Giesen-Weirich drankommt, muss ich auf<br />

eine Problematik hinweisen. Wir haben jetzt noch jede Menge Wortbeiträge, ungefähr<br />

zehn. Das heißt, wir schaffen es auf gar keinen Fall, <strong>di</strong>ese Debatte noch vor dem<br />

Mittagessen zu beenden. Das Essen ist bereits aufgetragen, und kalt essen will es<br />

keiner. Wir haben einen Gast, den Professor Bullinger, als Referenten eingeladen.<br />

Das heißt, wahrscheinlich müssen wir <strong>di</strong>e Debatte an dem Punkt unterbrechen. Das<br />

ist dann so. Dafür ist sie zu bedeutsam. Wir müssen den Teil mit Professor Bullinger<br />

heute Nachmittag machen. Denn der Gast hat auch Zeitfenster. Er sitzt hier ja nicht<br />

nur rum und wartet. Den haben wir zu <strong>di</strong>esem Tagesordnungspunkt eingeladen. Er<br />

soll nach der Mittagspause zu uns sprechen. Euch muss nur klar sein, dass es nicht<br />

darum geht, <strong>di</strong>ese Debatte jetzt irgendwie abzuwürgen. Wir haben das Problem: Auf<br />

der einen Seite sollen über zehn noch reden können, und auf der anderen Seite<br />

müssen wir den eingeladenen Gästen <strong>di</strong>e Möglichkeit geben, zu reden. Vor dem<br />

Mittagessen kriegen wir es sowieso nicht hin. Deswegen werden wir nach dem Beitrag<br />

von Friedel beraten, ob wir dann in <strong>di</strong>e Mittagspause gehen, um den weiteren<br />

Ablauf zu organisieren. Ihr habt dann in der Pause Gelegenheit, Euch zu verstän<strong>di</strong>gen,<br />

und vielleicht gibt es auch der Antragskommission Luft, um zu überlegen, ob<br />

sie andere Vorschläge macht oder dabei bleiben will. Ich glaube, das ist eine gute


Mittwoch, 21. September 2011<br />

481<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Lösung, bevor wir jetzt auf Krampf einen nach dem anderen hier durchlaufen lassen.<br />

(Beifall)<br />

Ich entnehme Eurem Applaus, dass Ihr damit einverstanden seid, dass vor der Mittagspause<br />

der Kollege Friedel Giesen-Weirich mit der Delegiertennummer 337 das<br />

Wort hat und dass wir dann in <strong>di</strong>e Mittagspause gehen. Vorher habe ich aber noch<br />

einige Mitteilungen zu machen.<br />

Friedel Giesen-Weirich, 337<br />

Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Ich versuche, es auf den Punkt zu bringen, um<br />

<strong>di</strong>e Zeit nicht weiter zu strapazieren, und das Schöne ist: Wenn ich als Letzter vor der<br />

Mittagspause rede, dann habt Ihr Zeit, das sacken zu lassen und Euch Gedanken darüber<br />

zu machen, wie wir weiter damit verfahren.<br />

Ich glaube und bin fest davon überzeugt, dass wir in <strong>di</strong>esem Kongress gut beraten<br />

sind, zwischen dem, was wir gesellschafts- und sozialpolitisch fordern und wollen,<br />

und dem, was wir tarifpolitisch wollen, unterscheiden. Es macht Sinn, das zu unterscheiden.<br />

(<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Ich will an der Stelle nur einen Punkt deutlich machen: Wir sind vor Jahrzehnten dafür<br />

gestartet, dass wir uns staatlich nicht reinregieren lassen wollen, was Tarifautonomie<br />

betrifft, und wir haben uns stän<strong>di</strong>g gegen staatlich vorgegebene Lohnleitlinien<br />

gestemmt. Deswegen denke ich, dass man hier bei der Frage Mindestlohn sehr<br />

vorsichtig <strong>di</strong>skutieren muss. Ich würde der Antragskommission – vielleicht ist <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

wieder im Saal – empfehlen – und das macht aus meiner Sicht am<br />

wenigsten kaputt –, den Antrag A 050-1 ebenso wie <strong>di</strong>e folgenden Anträge im Paket<br />

als Material anzunehmen. Ich glaube, dann haben wir <strong>di</strong>e Sache schön rund gekriegt.<br />

– Danke schön. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Noch ein Hinweis der Antragskommission, bevor wir in <strong>di</strong>e Mittagspause gehen und<br />

nachdem ich meine Hinweise gegeben habe. Marion.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Kollege, wir sind hier, und da unten sitzen <strong>di</strong>e anderen von der Antragskommission.<br />

Alle mal winken! Wir sind also hier. (Heiterkeit)<br />

Ich wollte noch einen Hinweis geben. Wir würden <strong>di</strong>e Annahme als Arbeitsmaterial<br />

zur Weiterleitung an den Bundesvorstand gerne vorschlagen und mit dem Ziel „10


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

482<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Euro‚ auch kreativ umgehen. Die Schwierigkeit ist nur, dass es ein Änderungsantrag<br />

zu einem bestehenden Antrag ist, und dann müssten wir auch den A 050 mit <strong>di</strong>eser<br />

Empfehlung versehen. Wir möchten auch sehen, ob es vielleicht noch eine Zwischenlösung<br />

gibt. Wir arbeiten also mit der gebotenen Kreativität. – Danke. (Beifall)<br />

Bernt Kamin-Seggewies, Kongressleitung<br />

Danke, Marion, für <strong>di</strong>esen wichtigen Hinweis. – Zum Abschluss möchte ich vor der<br />

Mittagspause noch darauf hinweisen, dass <strong>di</strong>e Ringe, <strong>di</strong>e gestern gefunden worden<br />

sind, immer noch am Info-Counter abzuholen sind. (Heiterkeit)<br />

Ich möchte mitteilen, dass Martina Hartung, <strong>di</strong>e zur Spende aufgerufen hatte, ausflippt<br />

und sich für <strong>di</strong>e großartige Unterstützung bedankt. Denn zwischenzeitlich sind<br />

1.500 Euro zusammengekommen. (Lebhafter Beifall)<br />

Und jetzt wird, bevor wir uns in <strong>di</strong>e Mittagspause verabschieden, ein Film – der heißt<br />

„Der Schönfärber‚ – zum Thema des sogenannten Greenwashings von Firmen laufen.<br />

Damit soll auf eine Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussion am morgigen Donnerstag in der Glashalle<br />

hingewiesen werden. Dabei geht es um das Thema Nachhaltigkeit. – Ich höre gerade,<br />

dass es sich bei den Ringen um andere handelt. Anscheinend sind <strong>di</strong>e alten abgeholt<br />

und neue gefunden worden. (Heiterkeit) Danke für den Hinweis.<br />

Nehmt Euch noch <strong>di</strong>e Zeit, um den Film anzugucken.<br />

Ich unterbreche jetzt den Kongress bis 14.15 Uhr. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall – Film: „Billig<br />

hat seinen Preis – Rechte für Menschen – Regeln für Unternehmen‚)<br />

(Unterbrechung des Kongresses: 12.52 Uhr)<br />

•<br />

(Fortsetzung des Kongresses: 14.21 Uhr)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Wir haben uns heute Vormittag auch mit Anträgen<br />

zur Dienstleistungspolitik, zur Dienstleistungsarbeit befasst. Unsere ver.<strong>di</strong> organisiert<br />

und vertritt <strong>di</strong>e Interessen der Beschäftigten in den Dienstleistungsbranchen.<br />

Wir fordern gute Arbeit und wollen gute Arbeit durchsetzen. Darum ist es unser Ziel,<br />

dass auch <strong>di</strong>e Dienstleistungen gut und attraktiv für <strong>di</strong>e Menschen sind, <strong>di</strong>e sie in<br />

Anspruch nehmen.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Wie aber werden neue Dienstleistungen entwickelt? Welchen Beitrag dazu leistet <strong>di</strong>e<br />

Wissenschaft? Wie sehen Innovationen aus? – Dazu begrüßen wir einen Referenten,<br />

der sich wie kaum ein anderer für Innovationen in den Dienstleistungen engagiert,<br />

den Präsidenten der Fraunhofer-Gesellschaft, Herrn Professor Hans-Jörg Bullinger.<br />

Seien Sie uns herzlich willkommen! (Beifall)<br />

Vor seiner Tätigkeit als Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft war Herr Professor Bullinger<br />

von 1981 bis 2002 Leiter des von ihm mit gegründeten Fraunhofer-Instituts für<br />

Arbeitswissenschaft, Wirtschaft und Organisation, mit dem wir zusammenarbeiten<br />

unter anderem bei der Qualifizierung von Betriebsräten. Außerdem ist er seit 1982<br />

Professor für Arbeitswissenschaft und Technologiemanagement an der Universität<br />

Stuttgart.<br />

Herr Professor Bullinger, wir sind sehr gespannt auf Ihre Ausführungen. Sie haben<br />

das Wort. (Beifall)<br />

Professor Hans-Jörg Bullinger, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft<br />

Herr Vorsitzender, meine sehr geehrten Damen und Herren! Es ist für mich eine<br />

Freude und auch eine Ehre, vor so vielen Praktikern der Dienstleistungsbranche sprechen<br />

zu dürfen. Es ist nur etwas schwierig, in der beschränkten Zeit nun tatsächlich<br />

alle Probleme anzusprechen, <strong>di</strong>e in <strong>di</strong>esem Thema virulent sind. Sie werden also <strong>di</strong>e<br />

subjektive Auswahl etwas erdulden müssen.<br />

Als ich über den Themen saß, <strong>di</strong>e man verwenden könnte, erinnerte ich mich zum<br />

Schluss – ich habe auch einmal richtig gearbeitet, ich war auch einmal in der Wirtschaft<br />

– an einen guten Spruch, den es auch damals schon gab. Der hieß: „Wer’s<br />

kann, soll’s tun – wer’s nicht kann, soll’s lehren.‚ (Heiterkeit) Damit habe ich mich<br />

dann getröstet und habe gedacht: Vor so vielen Praktikerinnen und Praktikern der<br />

Dienstleistungswirtschaft ist es vielleicht auch einmal interessant zu hören, wo wir<br />

denn glauben, dass es in <strong>di</strong>esem Feld hingeht, und warum wir glauben – das wissen<br />

Sie aus anderen Quellen auch –, dass das von einer so großen Bedeutung für unsere<br />

Gesellschaft und für unsere Wirtschaft ist.<br />

„Gesellschaft und Wertschöpfung im Wandel‚, „Dienstleistungsinnovation im Zentrum<br />

gesellschaftlicher Bedarfsfelder‚, „Fokus ‚Gesundheit‘ – Wertschöpfung neu<br />

gedacht‚, „Fokus ‚Stadt der Zukunft‘ – Visionen für das Leben von morgen‚ und<br />

„Zukunft braucht Forschung, auch Dienstleistungsforschung‚ – das sind <strong>di</strong>e Themenbereiche,<br />

<strong>di</strong>e ich in der gerade erwähnten Subjektivität einmal angesprochen<br />

haben will, und ich würde einfach sagen, wir springen gleich einmal mitten hinein.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

484<br />

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Im Grunde genommen geht es natürlich in der Wirtschaft immer um <strong>di</strong>e Frage der<br />

Wertschöpfung. Da ist unser klassisches <strong>Ver</strong>ständnis, dass wir sagen: Wir produzieren<br />

irgendetwas, das verkaufen wir, da ziehen wir <strong>di</strong>e Vorleistungen ab, und das ist<br />

der geschöpfte Wert.<br />

Wo ist eigentlich <strong>di</strong>e Wertschöpfung bei Wikipe<strong>di</strong>a? An welchem Ort ist eigentlich<br />

der Betrieb Wikipe<strong>di</strong>a lokalisiert? Was sind eigentlich <strong>di</strong>e Leistungen, <strong>di</strong>e Wikipe<strong>di</strong>a<br />

absetzt, und wer erbringt <strong>di</strong>e Vorleistungen, <strong>di</strong>e man dort zu einer <strong>Ver</strong>rechnung<br />

bringen könnte?<br />

An <strong>di</strong>esem Beispiel sieht man schnell, dass wir mit unserem tra<strong>di</strong>erten <strong>Ver</strong>ständnis,<br />

wie wir umgehen mit Produkten – hier isoliert <strong>di</strong>e Sachgüter, auf der anderen Seite<br />

definiert <strong>di</strong>e Dienstleistungen, mit der praktischen Definition: <strong>di</strong>e können einem nicht<br />

auf den Fuß fallen, sind immateriell, keine physischen Produkte –, dass wir mit <strong>di</strong>esem<br />

getrennten Bild nicht sehr weit kommen werden.<br />

Wir haben in der Geschichte ja riesige Epochen erlebt, auf <strong>di</strong>e ich hier nicht alle eingehen<br />

möchte – in der Antike, in der Aufklärung, in der Moderne. Und was unsere<br />

Zeit gegenwärtig ausmacht, sind Netzwerke unterschiedlichster Art. Es sind Grenzwissenschaften,<br />

<strong>di</strong>e so in der <strong>Ver</strong>gangenheit nicht existiert haben für den Einsatz in<br />

der Wirtschaft, und es sind natürlich auch technologische Fragestellungen.<br />

Was geblieben ist, trotz aller Hilfsmittel, <strong>di</strong>e wir heute zur Innovation und zur Technik<br />

und zur Produktentwicklung haben, ist, dass am Ende des Tages Menschen <strong>di</strong>ese<br />

Produkte entwickeln, und deshalb sind deren Be<strong>di</strong>ngungen, unter denen sie das tun<br />

können, ausgesprochen wichtig.<br />

Ich denke, Zahlen <strong>di</strong>eser Art haben Sie verschiedentlich angeschaut. Das ist eine Stu<strong>di</strong>e<br />

vom Global Institute von McKinsey, wo man nur höher industrialisierte Länder –<br />

<strong>di</strong>e USA, <strong>di</strong>e EU 15, Japan – genommen hat, und wir haben einmal über den Zeitraum<br />

– den haben wir jetzt bewusst ausgewählt aus der Stu<strong>di</strong>e – 1990 bis vor der<br />

letzten größeren Krise 2006 untersucht, wie sich das verändert hat. Da sehen Sie,<br />

dass der Primärsektor stark zurückgegangen ist, dass auf der anderen Seite <strong>di</strong>e<br />

Dienstleistungen, sehr stark natürlich auch <strong>di</strong>e Finanz<strong>di</strong>enstleistungen, sehr stark gestiegen<br />

sind.<br />

Ich habe schon aufgenommen, dass Sie, Herr Bsirske, in Ihrem Eingangsstatement<br />

auch erwähnt haben, dass zwischenzeitlich über zwei Drittel aller Beschäftigten in<br />

Deutschland im Dienstleistungsbereich sind, es also gar keine Frage sein kann, dass<br />

von der Anzahl derer, <strong>di</strong>e Dienstleistungen machen – ich darf mal unterstellen, dass<br />

wir alle auch zu solchen Dienstleistungen gehören, auch unser Geschäft bei Fraunhofer<br />

würde ich als einen Dienstleistungsjob empfinden – , wir uns bei <strong>di</strong>eser Bedeu-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

tung natürlich auch mit der Gestaltung der Rahmenbe<strong>di</strong>ngungen beschäftigen müssen.<br />

Wenn wir <strong>di</strong>e letzte Wirtschaftskrise sehen, dann war einer der Punkte, warum man<br />

vermutet hat, dass wir schneller aus der Krise gekommen sind – neben dem Umstand,<br />

dass wir <strong>di</strong>e Chance hatten, Kurzarbeit zu machen, ein Modell, das andere<br />

Länder gar nicht kennen –, dass wir nicht aufgehört haben, unsere Entwicklungsarbeiten<br />

und unsere Innovationsbemühungen voranzutreiben, dass wir eine industrielle<br />

Basis hatten.<br />

Das ist ja eine Debatte, <strong>di</strong>e andere Länder anders entschieden haben. In meinem<br />

Chart sehen Sie <strong>di</strong>e USA und Spanien mit angeführt, wo man eine<br />

Deindustrialisierungspolitik betrieben und den Aufbau schnell wachsender Dienstleistungen<br />

vorangetrieben hat – ein Weg, über den wir uns vielleicht noch einmal unterhalten<br />

müssen, wo wir den Schwerpunkt legen.<br />

Bei der Deindustrialisierung werden industrielle Arbeitsplätze abgebaut. Man hat<br />

dann eine verhältnismäßig geringe Fachkräftekultur; denn wenn ich <strong>di</strong>e Arbeitsplätze<br />

abbaue, geht auch <strong>di</strong>e Qualifikation verloren. Was wir für Deutschland für den richtigeren<br />

Weg halten würden, ist das, was unter der Themenstellung „Industrielle<br />

Tertiarisierung‚ <strong>di</strong>skutiert wird, dass wir zwar möglicherweise auch ein Outsourcing<br />

machen, dass wir aber den Fokus auf <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>knüpfung von Dienstleistungen und<br />

intelligenter Sachgutproduktion legen – ich komme nachher mit ein paar Beispielen<br />

noch darauf zurück –, was natürlich eine ausgeprägte Fachkräftekultur erfordert.<br />

Wir müssen <strong>di</strong>e Dienstleistungen und <strong>di</strong>e Sachgüterproduktion nicht im Widerspruch<br />

sehen. Wenn man <strong>di</strong>e Zahl der Arbeitsplätze ansieht, dann hat <strong>di</strong>e in den letzten 20<br />

Jahren, was <strong>di</strong>e industriellen Produktionsarbeitsplätze anbetrifft, von über 44 Prozent<br />

auf 20 Prozent abgenommen, aus vielerlei Gründen, weil natürlich <strong>di</strong>e Dienstleistungen<br />

gewachsen sind, weil <strong>di</strong>e Automatisierung so vorangeschritten ist und was dazu<br />

gehört.<br />

Bei einer naiven Betrachtung würde man sagen, lasst uns doch das für uns ganz<br />

aufhören. Wir konzentrieren uns auf <strong>di</strong>e Dienstleistungen, schneiden uns gegenseitig<br />

<strong>di</strong>e Haare, liefern uns wechselseitig eine Pizza, und damit werden wir das Land schon<br />

retten. Das wird so nicht funktionieren können. Schon gar nicht bei den Erwartungshaltungen,<br />

<strong>di</strong>e wir alle an den Lebensstandard haben.<br />

Wir brauchen <strong>di</strong>e Wertschöpfung aus der Produktion und wir brauchen auch hochwertige<br />

Dienstleistungen. Natürlich brauchen wir Dienstleistungen über alle Qualifikationsstufen,<br />

aber ausreichend genügend hochwertige Dienstleistungen, um eben<br />

das finanzieren zu können, was wir uns vorstellen. Da glauben wir, dass <strong>di</strong>ese <strong>Ver</strong>-


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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Mittwoch, 21. September 2011<br />

bindung von Dienstleistung und auch Produktion eine riesige Chance für Deutschland<br />

ist.<br />

B. Edvardsson, einer der Forscher in Schweden, <strong>di</strong>e sich sehr um Dienstleistungen<br />

gekümmert haben, hat mit <strong>di</strong>esem Statement mal gesagt, was ich für sehr richtig<br />

halte: Im Grunde genommen können physische Produkte <strong>di</strong>e Plattform für entsprechende<br />

Services sein, um das voranzubekommen.<br />

Wenn wir uns mal solche Dienstleistungsinnovationen betrachten und das mal spiegeln<br />

an dem, wo wir gegenwärtig in der Forschung glauben, dass wir vorankommen<br />

müssten, dann ist vielleicht das Einfachste bei der Kürze der Zeit, wir nehmen mal<br />

das, was in der Forschungsunion als High-Tech-Strategie für <strong>di</strong>e Bundesrepublik formuliert<br />

wurde.<br />

Forschungsunion ist eine Gruppe, <strong>di</strong>e sich fast drittelparitätisch aus Menschen aus<br />

der Politik, der Wirtschaft und aus der Wissenschaft zusammensetzt. Dort hat man<br />

mal <strong>di</strong>ese zentralen Felder Kommunikationstechnik, Sicherheit, Mobilität, Gesundheit,<br />

Ernährung sowie Klima und Energie definiert als Felder, wo in den nächsten<br />

Jahren <strong>di</strong>e Forschungsmittel konzentriert werden müssen.<br />

Wenn Sie auf den rechten Teil <strong>di</strong>eses Charts blicken, finden Sie dort Beispiele, um<br />

was es dort geht. Da geht es meinetwegen um <strong>di</strong>e Mobilität, um Elektromobilität<br />

oder um CO 2-optimierte Mobilität. Es geht um Sicherheit im Bereich Datenverarbeitung,<br />

Sicherheit gegen Katastrophen und Terrorschutz oder im Klima, was man eine<br />

Nachhaltigkeitsstadt, in der Terminologie des Forschungsministeriums eine Morgenstadt<br />

nennt. Die Stadt von morgen, nachhaltig, Energie-effizient, mit deutlich minimiertem<br />

CO 2-<strong>Ver</strong>brauch, gemessen an heute.<br />

Das sind so <strong>di</strong>e Felder, wo <strong>di</strong>e Forschungspolitik voranschreiten wird. Sie können eigentlich<br />

jedes <strong>di</strong>eser Felder nehmen, dann wird sofort deutlich, dass wir mit Produkten<br />

allein das Problem nicht lösen. Nehmen Sie Klima und Energie. Ohne eine ausführliche<br />

Energieberatung beispielsweise wird <strong>di</strong>eser Umbau, den wir dort entsprechend<br />

vorhaben, überhaupt nicht funktionieren können.<br />

Wir werden Software-Systeme brauchen, um <strong>di</strong>e Grids zu steuern. Nehmen Sie das<br />

Thema Me<strong>di</strong>zin. Dort ist ganz offensichtlich, dass wir bei der soziodemografischen<br />

Entwicklung, <strong>di</strong>e wir in <strong>di</strong>esem Land haben, natürlich vermehrt Services brauchen.<br />

Das wird zunehmen. Und so können Sie alle <strong>di</strong>ese Bereiche durchgehen. Ich glaube,<br />

dass wir Dienstleistungen überlegen im Kontext von Produkten, wird sich lohnen.<br />

Wir haben bei Fraunhofer ein Beispiel. Wir haben es ein Stück weit auch leidvoll erfahren<br />

am eigenen Leib. Sie wissen möglicherweise, dass wir bei Fraunhofer in Er-


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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

langen den MP3-Standard erfunden haben. Gott sei Dank halten wir immer noch<br />

alle Lizenzrechte für <strong>di</strong>esen Standard, was uns hilft. Aber das Aber kommt gleich<br />

nach.<br />

Das erste Aber ist, es ist uns zwei Jahre lang nicht gelungen, <strong>di</strong>e Technologie mit<br />

einem deutschen Unternehmen auf den Markt zu bringen, weil wir keines gefunden<br />

haben, das bereit war, das Risiko aus damaliger Sicht, das im deutschen Markt einzuführen,<br />

zu übernehmen.<br />

Das zweite Aber ist, wir haben zwar <strong>di</strong>e Technik erfunden – mit wir meine ich jetzt<br />

Deutschland, nicht nur Fraunhofer -, wir haben auch Geschäfte gemacht, aber das<br />

große Geschäft haben <strong>di</strong>e Amerikaner gemacht. Wir haben eine 150-jährige Tra<strong>di</strong>tion<br />

im Herstellen von Telefonen in Deutschland, und wir haben <strong>di</strong>e letzte Mobiltelefon-Fabrik<br />

zugemacht in Deutschland, weil man das angeblich hier in Deutschland<br />

nicht mehr produzieren kann. Die Apple-Buben, <strong>di</strong>e noch nie ein Telefon gebaut haben,<br />

haben ein Telefon auf den Markt gebracht, und <strong>di</strong>e Leute haben auf der Straße<br />

übernachtet, um das Telefon zu kriegen.<br />

Wenn Sie mich fragen, ob das an der Technik liegt, dann muss ich ihnen eindeutig<br />

sagen, nein. Es hat sicher nicht <strong>di</strong>e beste Technik. Nun wird gesagt, Sie haben auch<br />

eines in der Hand. Die Antwort ist ganz einfach, warum ich das in der Hand habe,<br />

weil eben <strong>di</strong>e ganze App-Kultur, <strong>di</strong>e sich darum gebildet hat, <strong>di</strong>e ganzen Services,<br />

<strong>di</strong>e angeboten sind, dort so einfach zu integrieren sind, dass es für den Nutzer besser<br />

ist, dass man sagt, lieber nehme ich ein bisschen Einschränkung in der technischen<br />

Leistungsfähigkeit in Kauf, wenn ich dagegen einen höheren Gesamtnutzen<br />

habe aus Gerät plus Services plus Dienstleistungen, <strong>di</strong>e ad<strong>di</strong>tiv da hinzukommen.<br />

Wir haben in der <strong>Ver</strong>gangenheit in Deutschland unsere Innovation auf Produkte<br />

konzentriert. Wir haben Sachgüter verkauft und ein bisschen Dienstleistung. Wenn<br />

es sich nicht vermeiden ließ, haben wir das Fahrzeug repariert, um ein Beispiel zu<br />

nennen.<br />

Schon seit einiger Zeit haben wir gelernt, dass man zusätzlich zum Sachgut Dienstleistungen<br />

braucht. Ich erinnere mich noch. Wir hatten eines der ersten Projekte – da<br />

war ich damals noch in Stuttgart am Institut –, als wir mit Daimler für den Lkw-<br />

Bereich das Carsharing-Modell „CharterWay‚ entwickelt haben, bei dem nicht mehr<br />

der Lkw verkauft wurde, sondern der Service „Transportieren‚, der Finanzierung,<br />

<strong>Ver</strong>sicherung, Mitarbeiter-Ersatzkomponenten, wenn jemand krank wurde, also alles<br />

das beinhaltete, was dafür erforderlich war. Und plötzlich wurde am Markt nicht<br />

mehr nur das Fahrzeug verglichen, sondern der Gesamtnutzen, den der Kunde hat.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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Ich glaube, dass wir da fast auf ein Para<strong>di</strong>gma zulaufen. Ich zeige es Ihnen noch an<br />

einem anderen Beispiel, wo <strong>di</strong>e Fragestellung des Besitzes als Bewertungsgröße in<br />

der Ökonomie zurücktritt gegenüber dem Nutzen, den man aus einem Kauf erhält,<br />

und der wird in praktisch allen Fällen einen Service erhalten.<br />

Wir hatten also früher <strong>di</strong>e Sachgüter, dann kamen <strong>di</strong>e Dienstleistungen dazu. Heute<br />

kommen – unsere Mitarbeiter nennen das den Faktor X – auch ein Stück weit Emotionen<br />

dazu. Wenn Sie heute an einen Markenturnschuh denken und Sie schauen sich<br />

mal <strong>di</strong>e Herstellungskosten an, dann stehen <strong>di</strong>e meistens in keinem <strong>Ver</strong>hältnis zum<br />

Preis. Der Rest ist Markenpflege, <strong>di</strong>e da hineininvestiert wird.<br />

Wir brauchen also <strong>di</strong>e Innovation auf Sachgut, wir brauchen <strong>di</strong>e Innovation auf den<br />

Dienstleistungsinhalt, wir brauchen – jetzt kommt es aufs Produkt an – möglicherweise<br />

auch ein Innovationskonzept für <strong>di</strong>esen mehr emotionalen Bereich, und wir<br />

brauchen Innovation in Geschäftsmodellen.<br />

Deshalb habe ich Ihnen vorher das mit Wikipe<strong>di</strong>a gesagt. Für einen ordentlichen<br />

deutschen Professor müsste ich ja sagen, das ist überhaupt kein gescheites Geschäftsmodell.<br />

Man weiß nicht, wo <strong>di</strong>e Leute beschäftigt sind. Man weiß nicht, wo<br />

sie sitzen. Es bezahlt sie eigentlich niemand. Es gehört auch niemandem. Widerspricht<br />

so ziemlich all dem, was wir an Vorstellung von Arbeit und Arbeitsgestaltung<br />

haben. Mit <strong>di</strong>esen Diensten kommen wir nun zu den Sachgütern und verbessern <strong>di</strong>e.<br />

Ich war heute früh bei einer anderen Aktion bei Fraunhofer, da ging es unter anderem<br />

um den Autoschlüssel. Da wird jetzt ein Service überlegt: Wenn Sie im Parkhaus<br />

sind und mit nachlassender Gedächtniskraft – ich muss mich auch langsam damit<br />

beschäftigen – Ihr Auto nicht mehr finden, wird der Schlüssel mit einem Chip ausgestattet,<br />

sodass er sich <strong>di</strong>e GPS-Koor<strong>di</strong>naten merkt. Den Chip können Sie an Ihr<br />

iPhone halten, und dann führt Sie Ihr iPhone über <strong>di</strong>e Wegweisung zu Ihrem Auto.<br />

(Heiterkeit – Beifall)<br />

Nun kann man sagen, nun ja, wer braucht denn das? Das ist etwa <strong>di</strong>e gleiche<br />

Schwierigkeit, <strong>di</strong>e ich immer mit meinen schwäbischen Unternehmern habe. Wenn<br />

ich denen erkläre, dass der Markt für Klingeltöne in Handys, wo Leute Klingeltöne<br />

über das Internet kaufen, in Euro gerechnet fast genauso groß ist wie der Markt für<br />

den <strong>Ver</strong>kauf der Geräte, dann sagen mir meine Unternehmer, sie seien es nicht, <strong>di</strong>e<br />

<strong>di</strong>e Klingeltöne kaufen. Dann sage ich, das kann ja sein, aber außer euch muss es<br />

noch ein paar andere Kunden geben.<br />

Da darf man sich natürlich auch nicht durch eigenes <strong>Ver</strong>halten den Blick verstellen,<br />

dass sich dort ganz andere Bezüge auftun, <strong>di</strong>e natürlich auch andere Arbeitsorgani-


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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

sationsmodelle, andere Chancen – und natürlich, wenn wir nicht aufpassen, auch<br />

andere Probleme haben. Das vielleicht an <strong>di</strong>esem Beispiel.<br />

Ein großes Thema – um von <strong>di</strong>esem freu<strong>di</strong>gen Beispiel Apps und dem iPhone auf<br />

etwas zu kommen, wo man sicher wird aufpassen müssen – ist das, was im ganzen<br />

EDV-Bereich passiert, auch was dort im Bereich Sicherheit passiert. Da haben wir bei<br />

den Potenzialen bis jetzt sicher nur <strong>di</strong>e Spitze des Eisbergs gesehen.<br />

Wir haben bei Fraunhofer in München jetzt ein zweites Institut gegründet, das sich<br />

nur mit der Frage der Sicherheit im Netz beschäftigt. Schauen wir uns den ganzen<br />

Bereich Cloud Computing an. Das ist deshalb so „wolkig‚ formuliert, weil Sie wie<br />

aus einer Wolke <strong>di</strong>e Software herunterladen. Das Programm, das Sie bearbeiten, ist<br />

nicht mehr auf Ihrem Gerät oder auf Ihrem Server im Keller gespeichert, sondern das<br />

wird heruntergeladen. Sie benützen das Programm, und wenn Sie es nicht mehr<br />

brauchen, wird das Programm ins Netz zurückgestellt, und Sie zahlen für <strong>di</strong>ese Nutzung.<br />

Dass damit Datensicherheitskonzepte, dass damit Servicekonzepte verbunden sind,<br />

ist jedem sicherlich klar. Ich glaube, da muss man nicht viel Fantasie haben. Aber<br />

auch da wird wieder <strong>di</strong>eser Trend deutlich, den ich vorher versuchte zu sagen: Ich<br />

habe gar kein Interesse mehr, dass das Programm auf meinem Server im Keller läuft,<br />

sondern ich will nur das Programm nutzen; und das Konzept, das man mir anbietet,<br />

muss einen höheren Nutzen stiften. Dagegen stand bisher eigentlich immer das einzelne<br />

Produkt im Vordergrund des Angebots, das man uns gemacht hat.<br />

Sie haben es mitbekommen: Es gibt den relativ intensiven <strong>Ver</strong>such mit „car2go‚ bei<br />

den Smarts. Dazu muss ich sagen: Schon vor über 15 Jahren, als das Smart-Modell<br />

entwickelt wurde, gab es <strong>di</strong>ese Überlegung. Denn <strong>di</strong>e Ingenieure von Daimler waren<br />

clever: Sie haben den Smart und <strong>di</strong>e S-Klasse ausgemessen und festgestellt, dass<br />

zweieinhalb Smarts auf der Länge einer S-Klasse auf <strong>di</strong>e Straße gehen. Der Gedanke<br />

im Ursprungskonzept, das damals in Berlin entwickelt wurde – das war noch zur<br />

D-Mark-Zeit -, war: Wir werfen fünf Mark rein, dann fährst du das Auto und lässt es<br />

anschließend wieder stehen. Das Konzept ist nicht geflogen. Jetzt beginnt es zu fliegen.<br />

Warum beginnt es jetzt zu fliegen? In Ulm – da ist der Modellversuch gelaufen -,<br />

später einmal in jeder Stadt sehe ich mit Hilfe meines iPhones sofort, wo ein Fahrzeug<br />

steht. Es ist ja gut, wenn ich weiß, wie weit ich gehen muss, um an ein Fahrzeug<br />

zu kommen. Wenn ich an dem Fahrzeug bin, checke ich mich ein. Über <strong>di</strong>e<br />

GPS-Koor<strong>di</strong>naten kann abgerechnet werden. – Auch wenn ich aussteige, kann wieder<br />

über <strong>di</strong>e GPS-Koor<strong>di</strong>naten und <strong>di</strong>e Zeit abgerechnet werden. - Man schickt mir


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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über das Netz den Code, damit ich das Auto aufmachen und fahren kann. – Ich<br />

glaube, ich muss Ihnen das nicht zu Ende erklären.<br />

Erst mit solchen Kommunikationshilfsmittel haben wir jetzt endlich <strong>di</strong>e Chance, zu<br />

dem Produkt, zu dem Sachgut, das es schon lange gibt, ein Dienstleistungskonzept<br />

zu bauen – in unserer Sprache würden wir das ein hybrides Produkt nennen -, das<br />

aus dem Sachgut, dem Auto, und den Services besteht, <strong>di</strong>e dann zusammen dem<br />

Kunden einen höheren Nutzen stiften.<br />

Übrigens kam bei <strong>di</strong>eser Stu<strong>di</strong>e, <strong>di</strong>e man dort begleitend gemacht hat, heraus – das<br />

sage ich ein bisschen als Beleg für <strong>di</strong>e These, <strong>di</strong>e ich eben nannte, nämlich: Wir sehen<br />

den Übergang nicht bei allen Gütern, aber bei vielen Gütern, von der Besitz- zur<br />

Nutzenorientierung. Die jüngeren Menschen haben viel weniger Interesse am Besitz<br />

eines Fahrzeugs, als das in meiner Generation noch üblich war. Das hat <strong>di</strong>e Automobilhersteller<br />

ein bisschen erschreckt. Die Jüngeren wollen le<strong>di</strong>glich von A nach B<br />

kommen, sie sind an Mobilitätskonzepten interessiert, um sich in einer Gegend entsprechend<br />

zu bewegen.<br />

Also, solche Modelle werden zusätzlich kommen. Wir dürfen nicht aus dem Auge<br />

verlieren, dass wir viele auch einfache Dienstleistungen haben. Die habe ich jetzt<br />

aber nicht angesprochen – nicht, weil ich <strong>di</strong>e nicht wertschätzen würde, sondern<br />

weil ich einfach annahm: In dem Bereich sind Sie genügend zu Hause mit Blick auf<br />

<strong>di</strong>e Chancen und <strong>di</strong>e Potenziale.<br />

Ich wollte jetzt den Fokus auf Folgendes lenken: Da werden jede Menge von neuen<br />

Dienstleistungen zuwachsen, <strong>di</strong>e wir heute noch nicht kennen, um <strong>di</strong>e man sich aber<br />

ebenfalls kümmern muss. Da wird der Gesamtnutzen nicht zerfallen nach Zustän<strong>di</strong>gkeit<br />

Dienstleistung oder nach Zustän<strong>di</strong>gkeit Sachgut. Da werden wir Organisationsmodelle<br />

finden müssen, wie wir mit dem Ganzen umgehen.<br />

Ein solcher Themenbereich ist natürlich auch <strong>di</strong>e Gesundheit. Ich habe hier in einem<br />

Chart bis 2003 einmal <strong>di</strong>e Lebenserwartung dargestellt: im roten Bereich für <strong>di</strong>e<br />

Weiblein und im blauen Bereich für <strong>di</strong>e Männlein. Für Menschen, <strong>di</strong>e beispielsweise<br />

im Jahre 1900 geboren wurden, lag <strong>di</strong>e Lebenserwartung relativ niedrig, in 2003 lag<br />

sie schon bei 80 Jahren.<br />

Wenn heute, im Jahre 2011 – Sie sehen, da ist noch ein Risikozuschlag der <strong>Ver</strong>sicherungen<br />

enthalten –, ein weibliches Baby in Leipzig geboren wird, kalkulieren <strong>di</strong>e Lebensversicherungen<br />

mit dem Risikozuschlag eine Lebenserwartung von 105 Jahren.<br />

Bei den Männern ist das deutlich weniger. – Aber zumindest wir in Baden-<br />

Württemberg hoffen mit der neuen Landesregierung natürlich, dass das im nächsten


Mittwoch, 21. September 2011<br />

491<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Gleichstellungsgesetz geregelt wird. (Heiterkeit – Beifall) Bei <strong>di</strong>eser Lebenserwartung<br />

ist völlig klar, dass da jede Menge von Services und Dienstleistungen nachwachsen.<br />

Ich höre bei vielen auch halbpolitischen Debatten: Wir können doch nicht noch mehr<br />

für <strong>di</strong>e Gesundheit ausgeben. Können Sie mir eigentlich einmal sagen, warum wir<br />

das nicht können? (Beifall) – Für das höchste Gut, das wir überhaupt haben? –Es ist<br />

doch nur <strong>di</strong>e Frage, wie wir das verteilen. Bei <strong>di</strong>eser Daten- und Faktenlage, <strong>di</strong>e sich<br />

zum Beispiel aus der Soziodemografie und dem längeren Gesundbleiben ergibt – das<br />

ist ja ein schönes Ergebnis; auch wissenschaftliche Forschung ist da ein Thema – ist<br />

völlig klar, dass es neue Service- und Dienstleistungen ganz unterschiedlicher Art geben<br />

wird.<br />

Wir entwickeln jetzt – ich stehe ja gerade auf einem Teppichboden – einen Modellversuch<br />

mit den Kliniken in Kaiserslautern. Da haben wir Sensoren unter dem Teppich<br />

installiert. Wenn eine Person umfällt, sehen wir, ob er noch zappelt. (Heiterkeit)<br />

Aber selbst wenn er nicht mehr zappelt, sehen wir, welche Körperhaltung er einnimmt.<br />

Das sagt zwar mir nicht sehr viel, aber angeblich den Me<strong>di</strong>zinern etwas.<br />

Dann können wir über Onlinesysteme sofort sehen: Müssen wir den Notruf alarmieren,<br />

oder müssen wir das nicht machen?<br />

Also auch technische Hilfen unterschiedlichster Art - nicht nur Arzneimittelentwicklung<br />

und <strong>di</strong>rekt me<strong>di</strong>zinische Bereiche – und Services werden an Bedeutung gewinnen.<br />

Denn wenn man so alt wird, möchte man gesund bleiben und möglichst lange<br />

in den eigenen Räumlichkeiten leben. (Beifall)<br />

Da wird es also in unterschiedlichen Bereichen einen Zuwachs bei den Services geben.<br />

Wir sehen das in dem nächsten Chart auch an den nüchternen Zahlen. Da erkennen<br />

Sie, wie hoch <strong>di</strong>e Krankheitskosten sind. Es ist klar: Bei den heute Älteren ist<br />

der Anteil an den Krankheitskosten überproportional hoch im <strong>Ver</strong>gleich zu dem Anteil,<br />

den sie numerisch an der Gesamtbevölkerung ausmachen. Deshalb wird natürlich<br />

vor <strong>di</strong>esem Hintergrund ein Druck entstehen, <strong>di</strong>e Dienstleistungen effektiv zu<br />

machen und andere Finanzierungsmodelle zu entwickeln.<br />

Aber schauen Sie sich einmal an, woher unsere Krankenkassengrundmodelle kommen:<br />

Sie stammen fast von der Jahrhundertwende. Damals ist man noch mit 65 pensioniert<br />

worden und mit 67 brav gestorben. Da haben unsere Systeme noch gestimmt.<br />

Heute lässt sich jemand mit 80 eine neue Hüfte einsetzen und steht mit 82<br />

wieder am Lift. Das ist natürlich prima. Aber um zu erkennen, dass wir dort weitgehende<br />

<strong>Ver</strong>änderungen auch bei der Kostenverteilung brauchen, dafür muss man,<br />

glaube ich, kein sehr großer Prophet sein. Das ist eine Aufgabenstellung, an <strong>di</strong>e wir<br />

in nächster Zeit herangehen müssen. (Leichter Beifall)


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

492<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Nun zu den Services: ALS ist eine Krankheit - einige von Ihnen werden das wissen –,<br />

wo nervlich be<strong>di</strong>ngt auch Muskeleinschränkungen erfolgen. Ich habe <strong>di</strong>eses Beispiel<br />

genommen, weil es aus dem Projekt stammt. Ich habe Ihnen dazugeschrieben, was<br />

<strong>di</strong>e Gerätschaften kosten. Das Beatmungsgerät kostet 45.000 Euro, der Elektrorollstuhl<br />

18.000 Euro. Der Arzt bekommt 240 Euro für <strong>di</strong>e Beratung. Da könnten einem<br />

beinahe <strong>di</strong>e Tränen kommen.<br />

Mir geht es jetzt nicht darum, dass der Arzt viel mehr ver<strong>di</strong>enen muss. Aber können<br />

Sie sich vorstellen, dass wir durch eine bessere Beratung der Patienten vielleicht zu<br />

einem kostengünstigeren Einsatz der Geräte kämen? (Leichter Beifall) – Nur ein<br />

Schelm käme auf <strong>di</strong>ese Idee. Diese Beratungen und Dienstleistungen, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Ärzte in<br />

<strong>di</strong>esem Umfeld anbieten, können sie aber leider nicht abrechnen. Deshalb bietet sie<br />

natürlich auch niemand an.<br />

Wenn wir also sagen, wir haben zu hohe Kosten, wenn wir sagen, wir haben all <strong>di</strong>e<br />

Fakten im Kopf, <strong>di</strong>e dazu führen, dass wir älter werden, gesund bleiben und daheim<br />

bleiben wollen, dann wird man natürlich auch Services brauchen, <strong>di</strong>e – wie in dem<br />

Beispiel, das ich herausgegriffen habe – Beratungs- und Dienstleistungen anbieten<br />

und einen entsprechenden Stellenwert erlangen.<br />

Ich will das nicht zu sehr vertiefen. Aber <strong>di</strong>e, <strong>di</strong>e aus dem Gesundheitsbereich kommen,<br />

wissen, dass es dort das große Problem ist, dass <strong>di</strong>e Leistungen überhaupt<br />

nicht miteinander verbunden sind. Ich bin selber mal in der Automobilindustrie groß<br />

geworden. Wenn wir unsere Outroller in den Leistungen von Zulieferern und Hersteller<br />

so abstimmen würden wie das Gesundheitswesen, dann würde ich dringend abraten,<br />

nachher mit Ihrem Auto nach Hause zu fahren. (Heiterkeit und Beifall)<br />

Für <strong>di</strong>ese <strong>Ver</strong>netzung der einzelnen Handlungen, der einzelnen Ergebnisse werden<br />

wir natürlich Services brauchen, Datenflüsse, Informations- und Kommunikationssysteme,<br />

um das abzustimmen. Auch dort sind große Märkte der Services.<br />

Mein letztes Beispiel, das ich jetzt aus Gründen der Zeitbeschränkung gewählt habe;<br />

vielleicht auch ein bisschen, weil ich kürzlich mit Eurem großen Vorsitzenden bei einer<br />

kleinen Gruppe war, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Kanzlerin zur Energiewende einberufen hatte, ist <strong>di</strong>e<br />

Energiewende, um <strong>di</strong>e es da ging. Wenn Sie <strong>di</strong>eses Thema nehmen und sagen, wir<br />

machen eine Energiewende – na gut, im Wenden sind wir ja geübt -, (Heiterkeit), so<br />

wird <strong>di</strong>e Energiewende nicht so ganz einfach sein. Wir sagen, wir müssen Kabel von<br />

den Windmühlen an der Nordsee nach Bayern ziehen, damit dort das Licht nicht<br />

ausgeht. 4.500 km - 16.000 haben wir schon -, wir tun jetzt so, als ob <strong>di</strong>e 4.500 km<br />

das Ende <strong>di</strong>eser Kulturnation bedeuten würden. (Heiterkeit)


Mittwoch, 21. September 2011<br />

493<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Viel problematischer wird es mit all unseren dezentralen Einspeisungen in unseren<br />

Städten; denn das System müssen wir bei der Gelegenheit auch gleich umbauen.<br />

Wenn wir sagen, wir müssen eine Energiewende machen, dann müssen wir uns klar<br />

darüber werden, dass wir, wenn wir das wollen, das Land komplett umbauen, was<br />

<strong>di</strong>e Energieversorgung anbetrifft. Ich bin auch der Meinung, dass wir das machen<br />

sollen; ich will da nicht falsch verstanden werden. Ich bin mir nur nicht im Klaren, ob<br />

allen klar ist, was wir da miteinander <strong>di</strong>skutieren. Sie haben aus meiner Sprachfärbung<br />

gemerkt, dass ich nicht aus Sachsen komme. Da lässt dann Stuttgart 21 gründen,<br />

wenn man <strong>di</strong>eses Modell nicht richtig kommuniziert, wenn man nicht Bürgerbeteiligung<br />

vorsieht, was dazu gehört. (Beifall)<br />

Deshalb haben wir jetzt schon mal in <strong>di</strong>eser Forschungsunion, von der ich vorher<br />

sprach, ein Modell definiert, das wir Morgenstadt nannten; ich habe es schon erwähnt.<br />

Wenn man in ein paar Beispielkommunen den Umbau machen möchte, sind<br />

<strong>di</strong>e Bürger natürlich alle für saubere Energien, soweit man keine Windmühlen und<br />

Solarkraftwerke und Biokraftwerke in ihrer Umgebung einsetzt. (Heiterkeit und Beifall)<br />

Das wird wahrscheinlich nicht ganz funktionieren. Also muss man mit solchen<br />

Modellversuchen dorthin, wo <strong>di</strong>e Bürger betroffen sind, wo sie mitwirken können<br />

und betroffen sind, in ihrer Wohnung oder in ihrem Haus oder wo immer sie sind.<br />

Um in solchen Modellregionen CO 2-nachhaltige und energieeffiziente Stadtteile oder<br />

Städte zu bauen in der Hoffnung, dass es dann auch gelingt, <strong>di</strong>e Bürger mitzunehmen<br />

bei dem, was erforderlich ist, dass man ein paar Windparks bauen muss – <strong>di</strong>e<br />

kann man dann ja departieren -, dass man auch Biomassekraftwerke bauen muss<br />

oder was in <strong>di</strong>eser Fragestellung ansteht, da werden enorme Herausforderungen auf<br />

uns zukommen.<br />

Die Städte werden weltweit an Bedeutung gewinnen. Die OECD glaubt, dass bis<br />

zum Jahr 2020 zwei Drittel aller Menschen in Städten leben. Seit 2007 lebt mehr als<br />

<strong>di</strong>e Hälfte aller Menschen in sogenannten Megacities. Gut, <strong>di</strong>e Wahrscheinlichkeit,<br />

dass Leipzig zur Megacity wird, ist gleich niedrig wie bei Stuttgart. (Heiterkeit) Aber<br />

das heißt natürlich trotzdem eine hohe Betroffenheit. Gut, man könnte sagen, bei<br />

uns entstehen keine Megacities wie Mumbai oder Istanbul oder was auch immer;<br />

das ist zwar richtig, aber <strong>di</strong>e Produkte und Services, <strong>di</strong>e wir in Deutschland herstellen,<br />

müssen wir natürlich so konzipieren, dass sie in <strong>di</strong>esen Megacities verkauft werden<br />

können. Deshalb müssen wir über Technologien und Dienstleistungs-Know-how<br />

verfügen, wie man das dort entsprechend machen kann.<br />

Sie haben das Chart überflogen. Es ist klar, wenn sie so eine Stadt angehen, müssen<br />

Sie an alle <strong>di</strong>ese Fragestellungen herangehen. Da wird es natürlich in dem Kontext<br />

Morgenstadt, Stadt der Zukunft vor allem darum gehen, dass wir ökoeffiziente<br />

Dienstleistungen erbringen können; denn sonst können wir das Ziel der nachhaltigen<br />

CO 2-freien Stadt ja nicht erreichen. Da geht es um ganz neue Formen des <strong>Ver</strong>knüp-


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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Mittwoch, 21. September 2011<br />

fens von Wohnen und Arbeiten: kurze Wege, Lebensqualität, auch <strong>di</strong>eser Gesundheitsaspekt,<br />

von dem ich vorher gesprochen habe. Wir müssen Zukunftstechnologien<br />

einsetzen – das habe ich auch nur kursorisch an einem Beispiel erzählt – und<br />

das Arbeiten. Heute sagen wir, alle fahren zwischen 7.30 Uhr und 8.30 Uhr<br />

downtown Leipzig. Wenn man ins Bürogebäude kommt, stempelt man zuerst. Na<br />

gut, ich meine, ein bisschen Ordnung muss sein. Wenn man in einem Hochhaus gestempelt<br />

hat, weiß man – na gut, was weiß man dann? –, dass man in einem solchen<br />

Gebäude Luft verdrängt. Aber jeden weiteren Schluss würde ich für gewagt<br />

halten. (Beifall)<br />

Heute sagen wir: Arbeite zur festen Zeit am festen Ort, plus/minus Gleitzeit ist immer<br />

noch feste Zeit. Vielleicht sagen wir morgen: Arbeite wann und wo Du willst. Gut,<br />

bei Fraunhofer hatte ich den Eindruck, <strong>di</strong>e haben das missverstanden. Aber wenn Sie<br />

mal an moderne Technologien denken, wenn ich an meine Arbeit denke, ich könnte,<br />

wenn ich nachher fertig bin, auch an dem Tisch da drüber anfangen zu arbeiten. Ich<br />

denke, viele von Ihnen auch. Aber wir haben unsere Arbeitsorganisationsmodelle gar<br />

nicht nachgezogen.<br />

Das hat dann auch Konsequenzen für eine Stadtgestaltung. Heute sagen wir: Die<br />

Fabrik da draußen knallt und stinkt. Eine moderne Fabrik wird weder knallen noch<br />

stinken. Also holen wir <strong>di</strong>e wieder herein, dann haben wir es nicht so weit ins Geschäft.<br />

Da werden wirklich neue Modelle und Entwürfe gefragt sein.<br />

Eine Stadtentwicklung macht man nicht in zehn Jahren, <strong>di</strong>e macht man in 100 Jahren.<br />

Also braucht man eine klare Vision, wohin man will mit solchen <strong>Ver</strong>änderungskonzepten,<br />

um sich dort richtig auf den Weg zu machen und <strong>di</strong>ese Technologien zu<br />

nutzen. Dazu gehört das <strong>Ver</strong>kehrsmanagement. Wir brauchen ganz andere Mobilitätskonzepte.<br />

Wir brauchen Informationssysteme dazu. Wir brauchen Umschlagplätze<br />

für <strong>Ver</strong>kehrsträger. Das sind alles Hausaufgaben, wobei Green Services uns helfen<br />

werden. Die Kunden werden wir mit einbinden. Ich habe <strong>di</strong>eses Kunstwort Prosumer<br />

nicht erfunden. Was damit gemeint ist: Der Kunde ist gleichzeitig Produzent und<br />

<strong>Ver</strong>braucher, beispielsweise sobald er eine Solaranlage auf dem Dach hat. Wir gehen<br />

davon aus, dass in Zukunft jedes Haus ein kleines Kraftwerk ist, also mehr Energie<br />

erzeugt als es verbraucht.<br />

Solche Aspekte werden eine große Rolle spielen im Umbau <strong>di</strong>eser Städte. Ein Beispiel:<br />

<strong>di</strong>e energiesanierten Altbauten. Das ist eine Fragestellung, bei der jede Menge<br />

an Services in den nächsten Jahren anstehen. Ein neues Haus als kleines Kraftwerk,<br />

also nicht bloß als Nullenergie- sondern als Plusenergiehaus zu bauen, ist technisch<br />

kein Problem. Aber Sie müssen sich mal den Bestand ansehen, den wir haben. Da<br />

werden wir irgendwo entscheiden müssen, wie wir damit umgehen. Da können wir<br />

bis zu einem Drittel unseres Gesamtenergieverbrauchs sparen, wenn wir das richtig


Mittwoch, 21. September 2011<br />

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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

in <strong>di</strong>e Hand nehmen und entsprechend richtig vorantreiben. Dazu braucht man natürlich<br />

auch entsprechende Finanzierungsmodelle. Das wird nicht gehen ohne eine<br />

Enabler-, eine <strong>Ver</strong>mittlungsfunktion, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e öffentliche <strong>Ver</strong>waltung in dem Kontext<br />

wird einnehmen müssen. Wir werden <strong>di</strong>e Häuser nicht saniert kriegen – um ein<br />

simples Beispiel zu sagen -, wenn wir uns nicht irgendwas einfallen lassen, sei es ein<br />

Steuermodell oder <strong>di</strong>e Vorschriftenlage oder was auch immer. Das muss dann eben<br />

politisch aus<strong>di</strong>skutiert werden, was man dort will. Aber dort wird es ohne politische<br />

Lenkungsfunktion sicher nicht klappen.<br />

Das sind so <strong>di</strong>e Hausaufgaben, <strong>di</strong>e wir auch in unserer Forschungsarbeit sehen, von<br />

der Stadtplanung über <strong>di</strong>e Infrastruktur über das eigentliche Gebäude. Wir haben ja<br />

in Duisburg zwei Beispielgebäude mit über 7.000 Quadratmetern Fläche erstellt, mit<br />

80 Firmen, wo man mal an einem Beispiel zeigt, was man unter sicherheits- und<br />

energiepolitischen Gesichtspunkten an <strong>di</strong>esen Gebäuden alles machen kann, bis hin<br />

zur Energie und Umwelt.<br />

Diese Dienstleistungen werden auch einer wissenschaftlichen Fun<strong>di</strong>erung brauchen.<br />

Heute ist <strong>di</strong>ese wissenschaftliche Fun<strong>di</strong>erung sehr stark auf Erkenntnisorientierung<br />

gerichtet. Man versucht also zu verstehen, wie Dienstleistungen funktionieren – das<br />

ist auch wichtig -, sodass man Sachstandsklärung hat, dass man Folgenabschätzung<br />

betreiben kann. Aber das wird für den Praktiker – ich vermute deshalb für viele von<br />

Ihnen – nicht ausreichen. Wir müssen hin zur Nutzenorientierung. Das heißt, wir<br />

brauchen eine umsetzungsorientierte Wissenschaft, wo Methoden entwickelt werden<br />

und Gestaltungshilfen für <strong>di</strong>ese hybriden Produkte gegeben werden. Wenn ich<br />

heute zu einer Firma hier in der Umgebung gehen würde und den Unternehmer fragen<br />

würde, „Sagen Sie mal, haben Sie eine Entwicklungsabteilung für neue Produkte‚,<br />

dann würde der sagen: „Sie kommen sicher von der Universität. So blöde fragt<br />

sonst niemand.‚ (Heiterkeit) „Natürlich habe ich eine Entwicklungsabteilung. Wie<br />

soll ich denn überleben?‚<br />

Wenn Sie zu einem Dienstleister gehen und den fragen, „Du, sag einmal, gibt es bei<br />

Dir auch so etwas wie eine Entwicklungsabteilung, gibt es bei Dir auch eine Überlegung,<br />

wie Du Dir Wissen von außen zuliefern lässt, wie der Zulieferer bei dem, der<br />

<strong>di</strong>e Maschine oder das Auto baut?‚, dann sehen Sie sehr schnell, dass wir dort keine<br />

Modelle haben. Da fehlt es an Basiswissen, das wir entwickeln wollen und müssen.<br />

Deshalb brauchen wir eine bessere Dienstleistungsforschung mit einer starken inhaltlichen<br />

Fokussierung auf Forschungsinfrastrukturen. Insoweit müssen wir gegenwärtig<br />

noch ein bisschen mit dem Forschungsministerium reden. Zu <strong>di</strong>esem Thema ist im<br />

Moment leider eher eine Abneigung gegenüber der Dienstleistungswissenschaft<br />

festzustellen. Wir glauben, dass eine solche Dienstleistungsforschung auch ein Bau-


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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Mittwoch, 21. September 2011<br />

stein ist, um Gestaltungsleitbilder fokussieren zu können, eine konsequente Dienstleistungsorientierung<br />

zu forcieren.<br />

Diese vier, fünf Punkte, <strong>di</strong>e ich Ihnen auf der Folie zusammengefasst habe, stammen<br />

aus der gemeinsamen Stu<strong>di</strong>e, <strong>di</strong>e wir mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und ver.<strong>di</strong> gemacht<br />

haben. Dass Dienstleistungsarbeit gefördert werden kann, wird dort auch beschrieben.<br />

Die Dienstleistungsforschung muss aus dem befreit werden, was ich hier<br />

mal als „Restekategorie‚ beschrieben habe nach dem Motto. Wir machen da noch<br />

ein bisschen Dienstleistung.<br />

Das ist also nicht alles so ganz neu. Schon der römische Kaiser Marc Aurel hat mal<br />

gesagt, dass man nicht müde werden soll, den Nutzen zu suchen, indem man anderen<br />

Nutzen gewährt. Das haben Sie herausgehört. Ich glaube, dass wir mehr an Nutzenorientierung<br />

denken werden, aber <strong>di</strong>es im Kontext mit der fantastischen technischen<br />

Entwicklung hin zum Tra<strong>di</strong>tionellen. Das möchte ich zum Schluss noch mal<br />

sagen; denn auch das werden wir brauchen und pflegen müssen. Ich jedenfalls<br />

schätze <strong>di</strong>es sehr. Ich habe es nur nicht erwähnt, weil Sie das ja kennen. Sie wissen,<br />

dass dort auf breitem Feld Neues zuwachsen wird, um das wir uns rechtzeitig kümmern<br />

müssen. – Vielen Dank. (Starker Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Sehr geehrter Herr Professor Bullinger, vielen Dank für Ihre interessanten Ausführungen.<br />

– Das Wort hat unser Vorsitzender Frank Bsirske.<br />

Frank Bsirske, ver.<strong>di</strong>-Vorsitzender<br />

Auch ich wollte mich noch einmal bei Ihnen persönlich bedanken, Herr Professor<br />

Bullinger. Ich denke, das war eindrucksvoll, auch in <strong>di</strong>eser <strong>Ver</strong>bindung vom schwäbisch<br />

Bodenstän<strong>di</strong>gen, wenn ich das so sagen darf, mit der Fähigkeit, Komplexität zu<br />

reduzieren und Komplexität verständlich zu machen. Ganz herzlichen Dank. (Lebhafter<br />

Beifall)<br />

Wir freuen uns sehr, dass wir an <strong>di</strong>esem Punkt in <strong>di</strong>esem Themenfeld Dienstleistungspolitik,<br />

Dienstleistungsforschung mit der Fraunhofer-Gesellschaft zusammenarbeiten<br />

können und <strong>di</strong>es auch tun vom Betriebsräteseminar bis herüber zu gemeinsamem<br />

Nachdenken über Forschungsschwerpunkte und ihre Entwicklung. Wir wollen<br />

Dienstleistungspolitik als Dienstleistungsgewerkschaft auch umsetzen und vorantreiben.<br />

Das entspricht auch dem Schwerpunkt unserer Arbeit als Dienstleistungsgewerkschaft.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Dafür, dass Sie hier eine Einleitung in den Punkt Dienstleistungsbereich/Dienstleistungspolitik<br />

geboten haben – das war ja der ursprüngliche Zusammenhang; denn<br />

es sollte der Einstieg in den Antragsblock „Dienstleistungen‚ sein –, sage ich Ihnen<br />

herzlichen Dank. Wir haben jetzt noch einen Restanten und werden noch einmal auf<br />

<strong>di</strong>e Mindestlohn-Problematik zurückkommen müssen, sodass wir auf das Dienstleistungsthema<br />

erst später zu sprechen kommen werden. Aber ich denke, <strong>di</strong>e Brücke<br />

dazu haben Sie schon jetzt in hervorragender Weise geschlagen.<br />

Sie müssen jetzt weg, und ich würde Sie gerne nach draußen begleiten. Nochmals<br />

vielen Dank für Ihr Kommen. (Lebhafter Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, bevor wir in <strong>di</strong>e spannende Antragsberatung zurückkehren,<br />

ganz kurz einige Hinweise.<br />

Zunächst freuen wir uns, in unserer Mitte begrüßen zu können den Hauptgeschäftsführer<br />

des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen e.V, Herrn<br />

Gerhard Handke. Seien Sie uns willkommen. (Beifall)<br />

Für all <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e immer wieder reklamiert haben, <strong>di</strong>e Spendenbox sei noch nicht<br />

in ihrem Landesbezirk angekommen, möchte ich mitteilen: Die Spendenbox läuft<br />

jetzt noch einmal durch das komplette Plenum. Wir hoffen, dass sie dann tatsächlich<br />

auch jeden erreicht. Unabhängig davon kann am Stand der ver.<strong>di</strong>-Jugend gespendet<br />

werden.<br />

Ein allerletzter Hinweis, vielleicht auch noch in Ergänzung zu dem Vortrag, den wir<br />

gerade gehört haben: Es gibt in <strong>di</strong>esem Monat ein Schwerpunktheft der WSI-<br />

Mitteilungen der Hans-Böckler-Stiftung zum Thema Dienstleistungspolitik und<br />

Dienstleistungsarbeit. Exemplare liegen am Stand Gute Arbeit zur Mitnahme aus.<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, wir haben vor der Mittagspause <strong>di</strong>e wirklich spannende<br />

Debatte zu den Anträgen A 050 und A 050-1 aus dem Untersachgebiet<br />

„Mindestlohn‚ unterbrochen. Wir haben zum jetzigen Zeitpunkt aktuell noch 14<br />

Wortmeldungen zum Antrag A 050-1 und danach noch vier Wortmeldungen zum<br />

Antrag A 050.<br />

Wer aufmerksam auch mal den Blick von Herrn Bullinger nehmen konnte, hat gesehen,<br />

dass <strong>di</strong>e Plätze der Antragskommission etwas länger leer geblieben sind als <strong>di</strong>e<br />

Plätze aller anderen Delegierten in <strong>di</strong>esem Saal. Dies macht deutlich, dass <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

der Bitte, <strong>di</strong>e vor der Unterbrechung geäußert worden ist, sehr intensiv<br />

nachgekommen ist, sich mit einem möglichen Kompromiss bei <strong>di</strong>esem Konflikt


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

498<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

auseinanderzusetzen. Von daher erteilen wir jetzt zunächst der Antragskommission<br />

das Wort vor allem Weiteren.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Wir haben <strong>di</strong>e Mittagspause kreativ genutzt mit Euch und zahlreichen Anregungen<br />

von Euch. Wir sind in der Diskussion über den Antrag A 050-1. Um unsere Ergebnisse<br />

zu transportieren, nehme ich jetzt Bezug auf den Antrag A 050.<br />

Zu dem Antrag A 050 haben wir ja zwei Änderungen vorgesehen. Wir hatten gesagt,<br />

dass in Zeile 4 vor der Zahl „8,50 Euro‚ das Wort „zurzeit‚ eingefügt wird und<br />

das Wort „jedoch‚ gestrichen wird. Dann hatten wir gesagt: In Zeile 4 wird folgender<br />

Satz angehängt: „Eine jährliche Überprüfung der Höhe des Mindestlohns ist<br />

zwingend.‚<br />

Wir würden <strong>di</strong>esen Antrag jetzt noch weiter ändern, und zwar wie folgt: Im Anschluss<br />

an <strong>di</strong>ese jährliche Überprüfung würden wir den Satz einfügen: „Das gilt auch<br />

für den schnellen Anstieg auf zehn Euro.‚ Das wäre der Vorschlag. Damit wären <strong>di</strong>e<br />

zehn Euro als erste Zielgröße mit drin, und es muss auch eine Überprüfung erfolgen,<br />

wie der Mindestlohn steigt.<br />

Wenn Ihr dem folgen würdet, dann wäre das normale <strong>Ver</strong>fahren so, dass wir bei der<br />

Ablehnung des Antrags A 050-1 bleiben; den Antrag würden wir also weiter zur Ablehnung<br />

empfehlen, und dann würden wir in den A 050 <strong>di</strong>esen Satz zusätzlich einfügen.<br />

Ich lese ihn noch mal vor. Nach der zweiten Änderung käme ja <strong>di</strong>e dritte Änderung,<br />

und das würde das heißen: „Das gilt auch für den schnellen Anstieg auf<br />

zehn Euro.‚<br />

Das wäre also unser Vorschlag. Damit ist <strong>di</strong>e Diskussion eröffnet. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Ich habe gesehen: Zwei Arme winken. Wir haben<br />

also einen Geschäftsordnungsantrag an Mikrofon 4.<br />

Stefan Dietl, 63<br />

Es geht um Folgendes: Ich habe unten gerade eben mit den Leuten vom Catering<br />

geredet und heute in der Frühe schon mit unserem Busfahrer. Dabei habe ich festgestellt,<br />

dass der Busfahrer fünf Euro ver<strong>di</strong>ent, <strong>di</strong>e Caterer aus einer Leiharbeitsfirma<br />

kommen und unter sieben Euro ver<strong>di</strong>enen. Ich möchte den Geschäftsordnungsantrag<br />

stellen, morgen <strong>di</strong>e Tagesordnung zu ändern, um dann um neun Uhr in der


Mittwoch, 21. September 2011<br />

499<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Früh gleich vom Bundesvorstand zu erfahren, wie denn <strong>di</strong>ese Prüfung genau ablief,<br />

<strong>di</strong>e uns am ersten Tag erklärt wurde. Es geht also darum, noch mal zu prüfen, ob<br />

das stimmt, was <strong>di</strong>e Kollegin unten erzählt hat, um uns dann gleich morgen um<br />

neun Uhr Erklärungen dazu zu geben. Das wäre toll. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Liebe Kolleginnen! liebe Kollegen! Ich bin mir sehr unschlüssig, ob das eigentlich ein<br />

Geschäftsordnungsantrag war. Ich schlage dem Kongress vor: Wir kümmern uns darum,<br />

dass <strong>di</strong>ese Prüfung erfolgt und dass darüber so schnell wie möglich berichtet<br />

wird. Wir hoffen, dass dem Anliegen damit Rechnung getragen wird. (Beifall) – Ich<br />

interpretiere den Beifall als Zustimmung zu dem vorgeschlagenen <strong>Ver</strong>fahren und<br />

danke Euch.<br />

Ihr habt, liebe Kolleginnen und Kollegen, den Vorschlag der Antragskommission gehört.<br />

Es hat Beifall für <strong>di</strong>esen Vorschlag gegeben. Ich erlaube mir daher <strong>di</strong>e vorsichtige<br />

Frage an <strong>di</strong>e 14 plus 4 Kolleginnen und Kollegen, <strong>di</strong>e ihre Wortmeldung abgegeben<br />

haben, ob sie unter Umständen vor dem Hintergrund eines derartigen Kompromissvorschlags<br />

bereit wären, auf ihre Wortmeldung zu verzichten. Ansonsten eröffne<br />

ich dann <strong>di</strong>e weitere Debatte.<br />

Als Erstes erteile ich unserem Vorsitzenden Frank Bsirske das Wort.<br />

Frank Bsirske, ver.<strong>di</strong>-Vorsitzender<br />

Ich kann es ganz kurz machen, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich finde den Vorschlag<br />

sehr gut. Ich will aber auch sagen, wie ich ihn hier interpretiere und warum<br />

ich hier stehe.<br />

Für mich heißt das, dass wir in der Kommunikation nach außen bis auf Weiteres von<br />

8,50 Euro ausgehen und deutlich machen, dass wir, sobald der Mindestlohn eingeführt<br />

ist, das Ziel haben, uns in Richtung 10 Euro zu bewegen. Ich sage das, weil ich<br />

nicht möchte, dass <strong>di</strong>e einen auf der Basis <strong>di</strong>eses Beschlusses für 8,50 Euro und <strong>di</strong>e<br />

anderen unter ver.<strong>di</strong>-Logo für 10 Euro werben. So verstehe ich <strong>di</strong>esen Antrag, (Beifall)<br />

und so finde ich <strong>di</strong>e Lösung, <strong>di</strong>e Ihr vorschlagt, richtig gut – aber eben auch nur<br />

so.<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Für den Fortgang der Debatte erteile ich dann als Erstem Stefan Wittstock mit der<br />

Delegiertennummer 418 das Wort. Und es bereitet sich bitte – – (Stefan Wittstock:<br />

Ich ziehe zurück!) – Stefan zieht zurück. Ich danke Dir. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Dann hat


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

500<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

jetzt Michael Große-Hovest mit der Delegiertennummer 756 das Wort. (Michael<br />

Große-Hovest: Ich ziehe zurück!) – Er zieht auch zurück. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Dann<br />

hätte als Nächstes Lothar Gritschke mit der Delegiertennummer 921 das Wort. (Lothar<br />

Gritschke: Ich ziehe zurück!) – Er zieht auch zurück. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Dann<br />

hätte Elvira May-Lipp mit der Delegiertennummer 87 das Wort. (Elvira May-Lipp: Ich<br />

ziehe auch zurück!) – Sie zieht auch zurück. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Monika Zimmermann<br />

mit der Delegiertennummer 422. (Monika Zimmermann: Ich ziehe zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt<br />

Beifall) Jürgen Senge mit der Delegiertennummer 688. (Jürgen Senge: Ich ziehe<br />

auch zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Arnold Arpaci mit der Delegiertennummer 656.<br />

(Arnold Arpaci: Ich ziehe auch zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Gerlinde Strasdeit mit der<br />

Delegiertennummer 41. (Gerlinde Strasdeit: Ich ziehe auch zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Dann habe ich hier Joachim Storm mit der Delegiertennummer 690. (Joachim<br />

Storm: Zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Dirk Fleischer, Delegiertennummer 181. (Dirk Fleischer:<br />

Zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Roswitha Ehinger, Delegiertennummer 8. (Roswitha<br />

Ehinger: Ich ziehe auch zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Dietmar Teubert, Delegiertennummer<br />

262. (Dietmar Teubert: Zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Marlies Müller, Delegiertennummer<br />

629. (Marlies Müller: Zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Hans-Peter Kilian,<br />

Delegiertennummer 977. (Hans-Peter Kilian: Ich ziehe zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Beate Voigt, Delegiertennummer 141. (Beate Voigt: Ich ziehe zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt<br />

Beifall) Helmut Born, Delegiertennummer 315.<br />

Helmut Born, 315<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich ziehe meine Wortmeldung jetzt nicht zurück,<br />

aber sie ist ganz kurz. Erstens empfehlen wir Euch, jetzt dem A 050 zuzustimmen,<br />

und zweitens ziehen wir unseren Änderungsantrag zurück. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Damit haben sich alle Wortmeldungen zu A 050-1, der mittlerweile zurückgezogen<br />

worden ist, erle<strong>di</strong>gt.<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist schön, so hilfreiche Kolleginnen, <strong>di</strong>e auch<br />

aufpassen, an seiner Seite zu haben. Ihr könnt Euch entsinnen, dass heute Morgen<br />

zu <strong>di</strong>esem Änderungsantrag eine Kollegin und ein Kollege gemeinsam dort vorne am<br />

Mikrofon standen. Die Frage, <strong>di</strong>e ich jetzt stellen muss, ist, ob beide <strong>di</strong>esen Änderungsantrag<br />

zurückziehen. Sie haben ihn gemeinsam gestellt. (Heiterkeit) (Zuruf: Wir<br />

ziehen zurück!) – Vielen Dank. Damit ist es auch fürs Protokoll sauber. (<strong>Ver</strong>einzelt<br />

Beifall)


Mittwoch, 21. September 2011<br />

501<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Mir liegen jetzt vier Wortmeldungen zum Ursprungsantrag A 050 vor. Als Erstes<br />

spricht Elisabeth Adam mit der Delegiertennummer 53, und in der Zwischenzeit bereitet<br />

sich Klaus Hebert-Okon, Delegiertennummer 339, vor.<br />

Elisabeth Adam, 53<br />

Auch auf <strong>di</strong>e Gefahr hin, dass Ihr mich alle prügelt, habe ich mich aktuell nach der<br />

Änderung der Antragskommission zu <strong>di</strong>esem Antrag gemeldet. Ich bin nämlich der<br />

Meinung: So, wie der Antrag jetzt hier steht, ist es nicht der Antrag, den Frank interpretiert<br />

hat. Denn jetzt heißt es: Die jährliche Überprüfung gilt für den schnellen Anstieg<br />

auf 10 Euro. – Es heißt nicht, dass das Ziel ein schneller Anstieg auf <strong>di</strong>e 10 Euro<br />

ist. Deshalb müsste <strong>di</strong>eser Satz in einer etwas anderen Fassung vor <strong>di</strong>e Passage mit<br />

der jährlichen Überprüfung gestellt werden. Es müsste heißen: … mit zurzeit einer<br />

Höhe von 8,50 Euro, mit dem Ziel einer schnellen Anpassung auf 10 Euro. (<strong>Ver</strong>einzelt<br />

Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank, Elisabeth. – Das Wort hat jetzt Klaus Hebert-Okon, Delegiertennummer<br />

393, und es bereitet sich bitte Reinhard Nold, Delegiertennummer 246, vor.<br />

Klaus Ernst Hebert-Okon, 339<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich mache es auch kurz. Ich bin mit dem Kompromiss<br />

zufrieden, möchte aber eine Ergänzung machen. Wir würden dann den Zusatz<br />

hinsichtlich der Überprüfung in Richtung 10 Euro beschließen; so würde ich das verstehen.<br />

Daher würde ich dazu auffordern, Frank – und so selbstbewusst sollten wir<br />

sein –, dass auch der DGB gebeten wird, seine Forderung in <strong>di</strong>ese Richtung zu formulieren.<br />

– Danke. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Das Wort hat nunmehr Reinhard Nold, Delegiertennummer 246, und es bereitet sich<br />

bitte Gerlinde Strasdeit, Delegiertennummer 41, vor.<br />

Reinhard Nold, 246<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mein Name ist Reinhard Nold, und ich komme aus<br />

dem Bezirk Hannover, Leine, Weser. Durch den Ortsverein, für den ich hier stehe,<br />

fließt weder <strong>di</strong>e Weser noch <strong>di</strong>e Leine, aber es gibt einen Berliner Bahnhof, nach<br />

dem unser Ort benannt ist. Das ist Lehrte. Dort haben wir auch Bergbau, und des-


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

502<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

wegen grüße ich Euch hier mit einem kräftigen Bergbaugruß. – Oh, jetzt fällt er mir<br />

nicht mehr ein. Jetzt helft mir mal. (Zurufe: Glück auf!) – Ja: Glück auf!<br />

In <strong>di</strong>esem Zusammenhang mein herzlicher Dank an Frank, dass Du mit dem DGB<br />

und den Einzelgewerkschaften Schulterschluss suchst. Das liegt mir sehr am Herzen.<br />

Das finde ich gut. Das sollte viel öfter passieren, und das auch hier im Zusammenhang<br />

mit dem Mindestlohn.<br />

Wir haben seit 2006 im Ortsverein und überall für den Mindestlohn gekämpft, haben<br />

Unterschriften gesammelt, haben alles gemacht. Ich sage einmal ziemlich deutlich:<br />

Jeder, der selbst Unterschriften gesammelt hat, weiß, dass es kaum jemanden<br />

gab, der nicht unterschrieben hat; das waren nur ganz wenige. Das bedeutet einen<br />

sehr großen Zuspruch für einen Mindestlohn.<br />

Wir wissen auch alle, dass der Mindestlohn notwen<strong>di</strong>g ist. Wir wissen auch, dass wir<br />

in ver.<strong>di</strong> Tarifverträge haben, <strong>di</strong>e bei 7,50 Euro liegen, und dass es sehr schwer sein<br />

wird, 8,50 Euro in <strong>di</strong>e Tarifverträge hineinzubekommen. Wir wissen, dass wir mit<br />

7,50 Euro schon viele Jahre hinterher hinken, wenn wir <strong>di</strong>e Preissteigerung sehen.<br />

Deswegen möchte ich hier noch einmal kurz etwas anderes beantragen und sage<br />

hier ganz einfach, damit wir nicht immer vor dem Problem stehen und uns fragen,<br />

wann wir den Mindestlohn wieder erhöhen müssen. Ich beantrage, den in Zeile 4<br />

angehängten Zusatz wie folgt zu ändern: „Die Anpassung hat, ausgehend von<br />

8,50 Euro, um <strong>di</strong>e durchschnittliche tarifliche Steigerung zu erfolgen.‚ Liebe Kollegen,<br />

dann sind wir den ganzen Kram los und müssen uns nicht jedes Mal fragen,<br />

wann wir wieder erhöhen müssen. – Danke. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Kollege, wir hätten <strong>di</strong>e Bitte, dass Du Deinen Vorschlag noch einmal langsam wiederholst,<br />

damit wir <strong>di</strong>e Möglichkeit haben, ihn mitzuschreiben.<br />

Reinhard Nold, 246<br />

Unter dem, was dort schon steht mit der jährlichen Prüfung und Anpassung, sollte<br />

noch untergebracht werden: „Die Anpassung hat, ausgehend von 8,50 Euro pro<br />

Stunde, um <strong>di</strong>e durchschnittliche tarifliche Steigerung zu erfolgen.‚<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Kollege, es wird <strong>di</strong>e Bitte an mich herangetragen, ob Du das, was Du gerade vorgelesen<br />

hast, bitte einfach hier vorne abgeben kannst. Das Abschreiben ist offensicht-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

503<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

lich einfacher als das Mitschreiben. Die Zwischenzeit nutzen wir aber für <strong>di</strong>e letzten<br />

beiden Wortmeldungen, <strong>di</strong>e uns vorliegen. Gerlinde Strasdeit mit der Delegiertennummer<br />

41 hat das Wort.<br />

Gerlinde Strasdeit, 41<br />

Ich denke, <strong>di</strong>e Kollegin – ich weiß leider ihren Namen nicht – sieht es richtig. Wir in<br />

Baden-Württemberg hätten gern <strong>di</strong>e Formulierung, dass wir mit schnellen Schritten<br />

einen Anstieg von 8,50 Euro auf 10 Euro erreichen wollen, also eine solche Formulierung,<br />

<strong>di</strong>e dann redaktionell passt. Und dann noch: „Die jährliche Überprüfung der<br />

Höhe des Mindestlohns ist zwingend.‚ (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Das wäre uns wichtig. Ich<br />

denke, das ist auch inhaltlich etwas anders. Vielleicht war es aber auch so gemeint<br />

von der Antragskommission.<br />

Ich möchte darauf hinweisen, dass in dem Antrag A 060 der Bundesfachbereichskonferenz<br />

8 ja auch mit angeregt wird: „ver.<strong>di</strong> setzt sich innerhalb des DGB dafür<br />

ein, dass der nächste DGB-Bundeskongress einen gesetzlichen Mindestlohn von<br />

mindestens 10 Euro pro Stunde beschließt.‚ Es wäre noch schöner, wenn das auch<br />

noch mit benannt würde. – Danke.<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank. – Das Wort hat nunmehr Regina Richter mit der Delegiertennummer<br />

987.<br />

Regina Richter, 987<br />

Ich möchte nur noch kurz ergänzend zu dem, was ich vorhin vorgetragen habe, sagen,<br />

dass ich, egal in welcher Funktion, ob in meinem sozialen Dialog in Brüssel oder<br />

in meiner Funktion in der Handwerkskammer zu Leipzig, mich stän<strong>di</strong>g stark gemacht<br />

habe und mache für einen gesetzlichen Mindestlohn. Für mich war bis jetzt immer<br />

<strong>di</strong>e Höhe nicht das Entscheidende, entscheidend war für mich nur, dass er kommt. In<br />

meiner Branche haben wir sonst überhaupt keine Möglichkeit, von <strong>di</strong>esen Hungerlöhnen<br />

wegzukommen.<br />

Ich möchte noch ergänzen, dass bei 8,50 Euro – so haben wir uns das ausgerechnet<br />

– unsere Kollegen zukünftig nicht mehr aufstocken müssen, sondern le<strong>di</strong>glich Bezuschussungen<br />

für Wohngeld und solche Sachen holen müssen und damit <strong>di</strong>eses stän<strong>di</strong>ge<br />

Beantragen für <strong>di</strong>e Kollegen wegfällt. – Das war’s. Ich bedanke mich. (Beifall)


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

5<strong>04</strong><br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank. – Mein Blick geht jetzt in Richtung Antragskommission. – Es gibt noch<br />

eine Wortmeldung. Das Wort erhält deshalb Jürgen Hohmann mit der Delegiertennummer<br />

231. Die Wortmeldung ist gerade erst bei mir angekommen.<br />

Jürgen Hohmann, 231<br />

Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, durch <strong>di</strong>e verlängerte spontane Diskussion<br />

wird eine <strong>Ver</strong>besserung der Qualität <strong>di</strong>eses Antrags nicht mehr erreicht. (Beifall)<br />

Ich möchte zu Reinhard Nold sagen: Wenn <strong>di</strong>e durchschnittliche tarifliche Erhöhung<br />

in <strong>di</strong>esem Jahr vielleicht bei 3 Prozent liegt, wie viele Jahre werden wir brauchen, um<br />

den Mindestlohn von 8,50 Euro auf 10 Euro anzuheben? (Beifall) Zehn Jahre? Ich<br />

müsste es jetzt genau berechnen, aber ich glaube, es wären sehr viele Jahre.<br />

Ich bitte also, <strong>di</strong>esen Antrag von Reinhard Nold abzulehnen, weil er nicht sach<strong>di</strong>enlich<br />

ist.<br />

Zweitens. Es war, glaube ich, <strong>di</strong>e Kollegin aus Baden-Württemberg, <strong>di</strong>e gesagt hat,<br />

es sollte noch aufgenommen werden „zum DGB-Bundeskongress‚. Ich halte es<br />

überhaupt nicht für sach<strong>di</strong>enlich, das auf dem jetzigen Kongress mit in den Beschluss<br />

aufzunehmen. Wir haben eine Vorbereitung zum DGB-Bundeskongress, wo<br />

wir Anträge stellen können und wo wir als ver.<strong>di</strong> zu dem Zeitpunkt uns auch positionieren<br />

werden. Bis dahin sind es noch zwei oder drei Jahre. Ich glaube, das müssen<br />

wir nicht zwingend heute beschließen, sondern wir haben genügend Zeit, in allen<br />

Gliederungen der Organisation uns darauf vorzubereiten. (Beifall)<br />

Somit bitte ich, auch <strong>di</strong>esen Antrag abzulehnen und das Thema dann in eine sachgerechte<br />

Diskussion zur Vorbereitung des DGB-Bundeskongresses mit einzubringen. –<br />

Danke schön. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, es läppert sich. Es ist noch eine Wortmeldung hereingekommen<br />

(<strong>Ver</strong>einzelte Pfiffe) von Björn Wolf, Delegiertennummer 993. (Zurufe:<br />

Zur Geschäftsordnung!) – Also ein GO-Antrag. Danke für <strong>di</strong>e Hinweise.<br />

Sonja Franke, 460<br />

Ich stelle jetzt den Antrag, <strong>di</strong>e Rednerliste endgültig zu schließen. (Beifall)


Mittwoch, 21. September 2011<br />

505<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank, Kollegin. – Wird Gegenrede gewünscht? – Das ist nicht der Fall. Wir<br />

hatten Euch aber mitgeteilt, dass wir auch ohne formelle Gegenrede über GO-<br />

Anträge abstimmen lassen werden. Wer dem Antrag folgen möchte, den bitte ich<br />

daher um das Kartenzeichen. – Gegenprobe! – Wenige Nein-Stimmen. Enthaltungen?<br />

– Einige Enthaltungen. Damit ist der GO-Antrag mit deutlicher Mehrheit angenommen.<br />

Die Rednerliste ist geschlossen.<br />

Björn, Du hast das Wort.<br />

Björn Wolf, 993<br />

Am <strong>Ver</strong>lauf der Diskussion nach dem neuerlichen Änderungsvorschlag der Antragskommission<br />

kann man sehen, wie kompliziert und schwierig es ist mit zwei Beträgen<br />

in einem Beschluss für den Leitantrag. Ich wollte nur sagen, dass ich mit der neuerlichen<br />

Änderung nach der Pause jetzt eine Komplexität auf uns zukommen sehe, <strong>di</strong>e<br />

wir nicht gehändelt kriegen, und deswegen würde ich Euch bitten, dass Ihr dem ursprünglichen<br />

Antrag, so wie er vor der Pause formuliert worden war, zustimmt.<br />

(Schwacher Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank. – Die Debatte zu <strong>di</strong>esem Antrag ist damit geschlossen. Die Antragskommission<br />

hat signalisiert, dass sie eine kurze Auszeit von circa fünf Minuten<br />

braucht. Deshalb unterbrechen wir für fünf Minuten.<br />

Ich nutze <strong>di</strong>e Zeit aber, um Euch einige Hinweise zu geben. Bereits angekün<strong>di</strong>gt war<br />

ja, dass wir relativ pünktlich um 16 Uhr herum hier oben <strong>di</strong>e Bühne räumen müssen,<br />

damit für <strong>di</strong>e Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussion, <strong>di</strong>e sich anschließen wird, umgebaut werden kann.<br />

Wir wollen dennoch versuchen, zumindest <strong>di</strong>eses Untersachgebiet Mindestlohn zunächst<br />

auch noch abschließend zu behandeln, um einen sauberen Schnitt bei der<br />

Unterbrechung des Kongresses bis zum morgigen Tag hinzubekommen.<br />

Zunächst mal: Diese Talkrunde, <strong>di</strong>e um 16.30 Uhr hier starten wird, steht unter dem<br />

Motto „Sozial gerechter Fortschritt durch starke Dienstleistungen‚. Das ist unser<br />

Programm. Aus dem Deutschen Bundestag konnten wir folgende Abgeordnete für<br />

<strong>di</strong>ese Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussion gewinnen: Dr. Frank-Walter Steinmeier, Vorsitzender der<br />

SPD-Bundestagsfraktion, (vereinzelt Beifall) Beate Müller-Gemmeke, Sprecherin für<br />

Arbeitnehmerrechte und GewerkschaftsGrün der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die<br />

Grünen, Dr. Gregor Gysi, Vorsitzender der Bundestagsfraktion Die Linke, (Bravo-Rufe<br />

- Beifall) und Peter Weiß, Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe der CDU/CSU-<br />

Bundestagsfraktion.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

506<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Vielleicht wundert sich keiner, dass von der FDP niemand zugesagt hat. (Heiterkeit –<br />

Beifall)<br />

In <strong>di</strong>eser Diskussionsrunde werden Themenschwerpunkte sein <strong>di</strong>e Dienstleistungspolitik,<br />

unsichere Beschäftigung und das Kirchenarbeitsrecht. Ich denke, das wird richtig<br />

spannend. Geleitet wird <strong>di</strong>e Diskussion von Christiane Wirtz, Redaktionsleiterin<br />

beim Deutschlandfunk, <strong>di</strong>e wir heute Morgen schon einmal erleben konnten, und<br />

Jan Lerch, Journalist und Fernsehmoderator.<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Der heutige Tag endet ja durchaus auch in einem<br />

Highlight, obwohl <strong>di</strong>e Debatte gerade ja schon ein inhaltliches Highlight dargestellt<br />

hat, nämlich mit unserem ver.<strong>di</strong>-Fest. Ihr habt Anreisehinweise auf Euren Plätzen gefunden.<br />

Dennoch ein paar ergänzende Hinweise dazu:<br />

Der ver.<strong>di</strong>-Abend im Volkspalast Leipzig auf dem Gebiet der Alten Messe beginnt um<br />

19.30 Uhr. Die Hin- und Rückfahrt erfolgt über öffentliche <strong>Ver</strong>kehrsmittel. Alle Hotels,<br />

bis auf <strong>di</strong>e Hotels, <strong>di</strong>e etwas außerhalb liegen und deshalb einen Shuttle-Service<br />

erhalten, sowie auch der Volkspalast sind von hier aus mit der Linie 16 der Straßenbahn<br />

zu erreichen.<br />

Übersichten mit Details der <strong>Ver</strong>bindungen könnt Ihr hier am Info-Counter erhalten.<br />

Einlass für <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>anstaltung ist ab 19 Uhr.<br />

Zunächst ein Hinweis, der sich doch noch mal um <strong>di</strong>e verteilten Anfahrtshinweise<br />

rankt. Dort ist wohl ausgewiesen – ich habe es selber noch gar nicht gelesen –, dass<br />

man Richtung Norden gehen soll, wenn man aus der Straßenbahn ausgestiegen ist.<br />

Nun haben wir es versäumt, Euch vor der Anreise mitzuteilen, jeder von Euch möge<br />

doch bitte einen Kompass mitbringen. (Heiterkeit) Daher der Tipp: Nach dem <strong>Ver</strong>lassen<br />

der Straßenbahn in Fahrtrichtung weitergehen. Jetzt wisst Ihr dann auch heute<br />

Abend, da ist Norden.<br />

Bitte beachtet: Für den Einlass zur <strong>Ver</strong>anstaltung ist es erforderlich, dass Ihr entweder<br />

den Sichtausweis für <strong>di</strong>esen Kongress oder aber zumindest <strong>di</strong>e Einladung für den<br />

heutigen Abend dabei habt und vorweisen könnt. Wobei mein persönlicher Tipp in<br />

dem Zusammenhang wäre, nehmt <strong>di</strong>esen Sichtausweis mit. Denn wenn Ihr mit der<br />

Einladungskarte und ohne Sichtausweis in der Straßenbahn kontrolliert werdet, habt<br />

Ihr schlechte Karten. (Beifall)<br />

Mir wird gerade noch ein weiterer Hinweis eingereicht. Kolleginnen und Kollegen<br />

sammeln Unterschriften für <strong>di</strong>e Solidaritätserklärung <strong>di</strong>eses Kongresses an <strong>di</strong>e strei-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

507<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

kenden Charité Facility Management Berlin. Bitte <strong>di</strong>e unterschriebenen Formulare bei<br />

der Wortmeldestelle abgeben.<br />

Jetzt geht mein Blick in Richtung Antragskommission. Eine Minute. Das heißt, ein<br />

Ende der Unterbrechung ist in Sicht. – Bei uns dauern Minuten manchmal auch nur<br />

zehn Sekunden.<br />

Ich erteile das Wort der Antragskommission.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Die Antragskommission hat sich beraten über <strong>di</strong>e Änderungswünsche und Ergänzungen,<br />

um eine Empfehlung dafür abgeben zu können. Wir haben uns entschieden,<br />

folgendes <strong>Ver</strong>fahren zu wählen: Die drei Anträge, <strong>di</strong>e hier mündlich vorgetragen<br />

worden sind, stelle ich jetzt noch mal Stück für Stück vor und sage dazu immer<br />

<strong>di</strong>e Empfehlung der Antragskommission.<br />

Da war zunächst von der Kollegin Elisabeth Adam <strong>di</strong>e Formulierung, 8,50 Euro mit<br />

dem Ziel einer schnellen Erhöhung auf 10 Euro, nach vorne zu ziehen und danach<br />

dann erst <strong>di</strong>e jährliche Überprüfung einzuführen. Die Antragskommission hat sich<br />

entschieden, <strong>di</strong>ese Änderung nicht anzunehmen.<br />

Im zweiten Fall weiß ich leider nicht mehr, wer den Antrag gestellt hat. Da ging es<br />

um <strong>di</strong>e Kopplung an den DGB-Kongress. (Zuruf: Zurückgezogen) Entschul<strong>di</strong>gung,<br />

der ist zurückgezogen. Danke, schön dass Ihr mitdenkt.<br />

Als Nächstes kommt der Antrag des Kollegen Reinhard Nold. Da ging es darum, <strong>di</strong>e<br />

Anpassung hat auszugehen von 8,50 Euro <strong>di</strong>e Stunde, und darauf hat <strong>di</strong>e durchschnittliche<br />

tarifliche Steigerung zu erfolgen. Da hat <strong>di</strong>e Antragskommission ebenfalls<br />

gesagt, das werden wir nicht zur Annahme empfehlen.<br />

Das bedeutet, <strong>di</strong>e Antragskommission empfiehlt den geänderten A 050 so, wie ich<br />

ihn jetzt noch mal vorlese: „Die Initiative für einen gesetzlichen Mindestlohn wird<br />

weiterhin fortgesetzt mit einer Höhe von zurzeit 8,50 Euro. Eine jährliche Überprüfung<br />

der Höhe des Mindestlohnes ist zwingend. Das gilt auch für den schnellen Anstieg<br />

auf 10 Euro. Alle Gliederungen von ver.<strong>di</strong> werden beauftragt, dafür zu sorgen,<br />

regionale Mindestlohn-Bündnisse entweder zu aktivieren oder neu zu gründen.‚<br />

Unsere Empfehlung bleibt also Annahme mit den vorgenommenen Änderungen.<br />

(Beifall)


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

508<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank an <strong>di</strong>e Antragskommission. Ich hoffe, dass jede Delegierte, jeder Delegierte<br />

<strong>di</strong>es jetzt – es wurde ja doch sehr pointiert und auch in der genügenden Langsamkeit<br />

vorgetragen – hat verinnerlichen können, sodass wir jetzt zur Abstimmung<br />

über <strong>di</strong>e Empfehlung der Antragskommission kommen können. Das würde bedeuten,<br />

Annahme mit den vorgetragenen Änderungen.<br />

Wer dem folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Danke schön. Gegenprobe!<br />

– Wenige Nein-Stimmen. Enthaltungen? – Ich sehe eine Enthaltung. (Zuruf:<br />

Wenige Enthaltungen) <strong>Ver</strong>stän<strong>di</strong>gen wir uns dann auf wenige Enthaltungen. Es<br />

ist manchmal etwas schwierig zu erkennen von hier oben. Dennoch ist mit überwältigender<br />

Mehrheit der Empfehlung der Antragskommission hier gefolgt worden.<br />

Herzlichen Dank. (Beifall)<br />

Ich rufe als Nächstes wegen einer geänderten Empfehlung den Antrag A 055 auf<br />

und erteile der Antragskommission das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Wir haben <strong>di</strong>e Empfehlung so geändert, dass das ebenfalls Arbeitsmaterial zur Weiterleitung<br />

an den Bundesvorstand ist. Wir freuen uns, wenn Ihr weiter mitmacht.<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Danke. Uns liegen hierzu keine Wortmeldungen vor. Wer der geänderten Empfehlung<br />

der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. -<br />

Gegenprobe! – Ich kann keine Nein-Stimmen erkennen. Enthaltungen? – Das scheint<br />

einstimmig gewesen zu sein.<br />

Ich rufe dann den Antrag A 057 auf. Auch hier gibt es eine geänderte Empfehlung.<br />

Die Antragskommission hat das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Auch hier haben wir <strong>di</strong>e Empfehlung dahin gehend geändert: Arbeitsmaterial zur<br />

Weiterleitung an den Bundesvorstand.<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Auch hierzu liegt keine Wortmeldung vor. Wer der geänderten Empfehlung folgen<br />

möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Danke. Gegenprobe! – Keine Nein-<br />

Stimmen. Enthaltungen? – Auch nicht zu erkennen. Also ebenfalls einstimmig.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

509<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Ich rufe dann den Antrag A 068 auf, Durchsetzung eines flächendeckenden Mindestlohns.<br />

Hierzu liegt uns eine Wortmeldung vor. Aber vorher hat <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

das Wort. Es bereitet sich bitte Petra Boek mit der Teilnehmernummer 818<br />

vor.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Wir bräuchten nach dem Redebeitrag noch eine Auszeit zur eingehenderen Beratung,<br />

weil sich etwas in den Sachverhalten ergeben hat. Wir bitten da um <strong>Ver</strong>ständnis.<br />

– Danke.<br />

Petra Boek, 818<br />

Danke, Klaus. Du bist einer der Wenigen, der in der Lage ist, meinen Nachnamen<br />

sofort richtig auszusprechen. Ich heiße Petra Boek, Delegiertennummer 818, ver.<strong>di</strong><br />

Hessen.<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! ver.<strong>di</strong> fordert seit Jahren <strong>di</strong>e Einführung eines flächendeckenden<br />

gesetzlichen Mindestlohns. Wir haben das eben <strong>di</strong>skutiert. Wir sind<br />

fest entschlossen, <strong>di</strong>esen auch durchzusetzen. Wir haben das noch nicht geschafft –<br />

nicht zuletzt auch deshalb nicht, weil seit der letzten Bundestagswahl <strong>di</strong>e Hungerlohnparteien<br />

<strong>di</strong>e Regierungen in Deutschland stellen. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Bis wir in Deutschland einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn haben,<br />

haben wir ein Problem, nämlich dass Unternehmen Hungerlöhne zahlen und dadurch<br />

hohe Gewinne einfahren, während den arbeitenden Menschen <strong>di</strong>e Würde<br />

dadurch genommen wird, dass sie sich ihre Löhne vom Amt aufstocken lassen müssen.<br />

Das legt den Sozialkassen und letztlich uns allen hohe Kosten auf.<br />

Dem Ganzen wird dann dadurch <strong>di</strong>e Krone aufgesetzt, dass <strong>di</strong>ese Unternehmen<br />

ganz legal <strong>di</strong>e subventionierten Löhne von der Steuer absetzen können. Genau da<br />

setzt der Antrag A 068 an. Dieser besagt nämlich – vereinfacht ausgedrückt -: Hungerlöhne<br />

dürfen keine Betriebsausgaben sein. Da wir derzeit noch keinen gesetzlichen<br />

Mindestlohn in Deutschland haben, sondern nach wie vor für dessen Einführung<br />

kämpfen, da Unternehmen also erfolgreich auf das Geschäftsmodell Dumpinglohn<br />

setzen, sollte wenigstens durch eine geänderte Steuergesetzgebung dafür gesorgt<br />

werden, dass Hungerlöhne nicht weiter als Betriebsausgaben von der Steuer<br />

absetzbar sind. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Daher ist <strong>di</strong>eser Antrag nicht abzulehnen, sondern er sollte Material zum Antrag<br />

B 001, „Für sichere Arbeit und den gesetzlichen Mindestlohn‚, werden, damit der


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

510<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Gedanke, der dahintersteht, in <strong>di</strong>e Mindestlohndebatte mit einfließen kann. Denn<br />

auch hier gilt: Gerecht geht anders. Ich bitte <strong>di</strong>e Antragskommission, ihre Empfehlung<br />

entsprechend abzuändern. - Vielen Dank. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank. Die Antragskommission hat signalisiert, dass sie eine kurze Auszeit von<br />

wahrscheinlich drei Minuten braucht.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Kolleginnen und Kollegen, wir haben das jetzt noch einmal geklärt. Zu dem Sachverhalt,<br />

der hier beschrieben ist, gibt es unterschiedliche Meinungen. Deshalb würden<br />

wir unsere Empfehlung ändern. Um eine eingehende Prüfung der Machbarkeit,<br />

in welche Richtung es gehen könnte, und der Umsetzung zu ermöglichen, ändert <strong>di</strong>e<br />

Antragskommission ihre Empfehlung in „Material an den Bundesvorstand‚, der das<br />

dann übernehmen soll – Danke. (Leichter Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank. Da uns keine weitere Wortmeldung vorliegt, wiederhole ich: Die Empfehlung<br />

der Antragskommission wird geändert in „Annahme – Weiterleitung als Material<br />

an den Bundesvorstand‚. Wer <strong>di</strong>eser geänderten Empfehlung folgen möchte,<br />

den bitte ich um das Kartenzeichen. – Danke. Gegenstimmen! – Sind nicht erkennbar.<br />

– Enthaltungen? – Ebenfalls nicht erkennbar. Einstimmig. (Beifall)<br />

Ich rufe dann <strong>di</strong>e Anträge A 069 und A 069-1 auf. Zum Änderungsantrag A 69-1 <strong>di</strong>e<br />

Antragskommission.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Die Antragskommission empfiehlt <strong>di</strong>e Annahme des Änderungsantrags des Kollegen<br />

von Paczensky.<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank. Eine Wortmeldung liegt nicht vor. Wer der Empfehlung der Antragskommission<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Danke schön.<br />

Gegenstimmen! – Das ist nicht der Fall. Enthaltungen? – Sind auch nicht erkennbar.<br />

Das war einstimmig.<br />

Damit rufe ich den Ursprungsantrag A 069 auf. Das würde bedeuten: Annahme als<br />

Arbeitsmaterial in der durch den Änderungsantrag geänderten Fassung. Wer dem so


Mittwoch, 21. September 2011<br />

511<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Danke. Gegenstimmen! – Sind<br />

nicht erkennbar. Enthaltungen? – Sind ebenfalls nicht erkennbar. Auch das war einstimmig.<br />

Ich rufe nunmehr auf den Antrag A 171, Her mit dem Mindestlohn. Hierzu liegt uns<br />

eine Wortmeldung vor von Thomas Liermann mit der Delegiertennummer 362. Zunächst<br />

hat <strong>di</strong>e Antragskommission das Wort. – Ich sehe einen Geschäftsordnungsantrag.<br />

Thomas Liermann, 362<br />

Ich möchte den Geschäftsordnungsantrag stellen, <strong>di</strong>esen Antrag mit in den Block<br />

politischer Streik einzusortieren. Ich glaube, dass es uns nicht gut tut, in den letzten<br />

zehn Minuten noch einmal das Fass aufzumachen. Die Überschrift heißt zwar „Her<br />

mit dem Mindestlohn‚, aber worum es da eigentlich geht, ist der politische Streik.<br />

Das ist der Inhalt, der da gefordert wird. Ich empfehle, dass wir das auf morgen früh<br />

verschieben und nicht jetzt mit in den Mindestlohnblock einbeziehen. Sonst machen<br />

wir noch einmal das Fass auf. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, insbesondere lieber Thomas, ob wir das Fass neu<br />

aufmachen würden, weiß ich nicht. Dieser Kongress, wir alle gemeinsam haben zu<br />

<strong>di</strong>esem Fass, wie Du es bezeichnest, am heutigen Tag, glaube ich, eine hervorragende<br />

Diskussion geführt, eine sehr intensive Diskussion, <strong>di</strong>e von viel <strong>Ver</strong>stand, aber<br />

auch viel Herz geprägt war. (Beifall) Ich glaube, dass <strong>di</strong>eser Kongress am Ende einen<br />

vernünftigen und für alle tragbaren Kompromiss gefunden hat. Von daher weiß ich<br />

nicht, ob es erforderlich wäre, <strong>di</strong>eses Fass neu aufzumachen.<br />

Unabhängig davon hast Du einen Geschäftsordnungsantrag gestellt. Ich betrachte<br />

mich im Moment mal als Delegierter mit Gegenrede. – Kollegin, ich habe gesehen,<br />

dass es einen weiteren Geschäftsordnungsantrag gibt. (Zuruf: Das gehört dazu!) –<br />

Das geht insofern nicht, als ich im Moment in der formellen Gegenrede zu einem<br />

gestellten Geschäftsordnungsantrag bin. Du kannst dann danach, wenn wir über<br />

den abgestimmt haben, durchaus einen weiteren Geschäftsordnungsantrag stellen.<br />

Insbesondere bei Geschäftsordnungsanträgen bleiben wir schon – ich bitte um<br />

Nachsicht – ziemlich in den vorgeschriebenen Formalien. (Beifall)<br />

Bei jedem Geschäftsordnungsantrag gibt es einen Antragsteller oder eine Antragstellerin.<br />

Dann gibt es eine Gegenrede, und dann wird abgestimmt. Jetzt würde ich<br />

gerne meine Gegenrede zu Ende bringen.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

512<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Ich glaube darüber hinaus, dass <strong>di</strong>e Zuordnung der Anträge mit den versandten Unterlagen<br />

so frühzeitig erfolgt ist, dass man rechtzeitig und auch noch zu Beginn <strong>di</strong>eses<br />

Kongresses <strong>di</strong>e Möglichkeit gehabt hätte, zu sagen: Bei der Tagesordnung sind<br />

unter Umständen Anträge im verkehrten Sachgebiet gelandet. (Beifall) Auch deswegen<br />

rede ich gegen <strong>di</strong>esen Geschäftsordnungsantrag.<br />

Nichtsdestrotrotz stellen wir ihn jetzt zur Abstimmung. Der Geschäftsordnungsantrag<br />

besagt, den Antrag A 071 „Her mit dem Mindestlohn‚ aus dem Untersachgebiet<br />

Mindestlohn herauszunehmen und in das Untersachgebiet politischer Streik –<br />

wenn das bei mir richtig angekommen ist – zu verlagern. Wer <strong>di</strong>esem Geschäftsordnungsantrag<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Vielen Dank. Gegenprobe!<br />

– Vielen Dank. Gibt es Enthaltungen? – Ansonsten ist der Geschäftsordnungsantrag<br />

mit deutlicher Mehrheit abgelehnt worden.<br />

Jetzt gibt es offensichtlich den nächsten Geschäftsordnungsantrag. – Jetzt nicht<br />

mehr; herzlichen Dank.<br />

Zum Antrag „Her mit dem Mindestlohn‚, A 071, hat das Wort <strong>di</strong>e Antragskommission.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Der Antrag A 070 ist ja davor. Da lautet <strong>di</strong>e Empfehlung Annahme als Arbeitsmaterial<br />

an den Bundesvorstand. Der Antrag A 070 ist jetzt zwar nicht aufgerufen, aber<br />

der ist nicht verschluckt oder weg, sondern der steckt mit in <strong>di</strong>esem Antrag A 071.<br />

Deswegen <strong>di</strong>ese Empfehlung. – Danke.<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Wir haben jetzt zunächst <strong>di</strong>e Wortmeldung von Thomas Liermann mit der Delegiertennummer<br />

362. Es bereitet sich bitte vor Stefan Dietl mit der Delegiertennummer<br />

63.<br />

Thomas Liermann, 362<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, vielleicht noch einmal ein Sachhinweis. Das Fass,<br />

das wir jetzt aufmachen, ist nicht <strong>di</strong>e Frage des Mindestlohns, sondern <strong>di</strong>e Frage des<br />

politischen Streiks. Das zur sachlichen Richtigstellung; das hast Du leider falsch dargestellt,<br />

Kollege.<br />

Ich fordere Euch auf, gegen <strong>di</strong>ese Antragsempfehlung zu stimmen und dem ursprünglichen<br />

Antrag zuzustimmen. Dabei geht es um <strong>di</strong>e Frage, wie wir einen Min-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

destlohn durchsetzen wollen. Wir haben ja in den letzten Jahren viele gute Argumente<br />

gesammelt und auch präsentiert und haben auch <strong>di</strong>e Lobbyarbeit, <strong>di</strong>e Öffentlichkeitsarbeit<br />

gemacht, wie wir versuchen, einen Mindestlohn zu bekommen. Die<br />

Frage ist aber: Wie bekommen wir ihn jetzt? Die Politik sagt einfach nein, obwohl <strong>di</strong>e<br />

absolute Mehrheit der Bevölkerung dafür ist. Ich denke, das wird auch Eure Erfahrung<br />

sein. Bei der absoluten Mehrheit aller Kolleginnen und Kollegen ist es sehr, sehr<br />

positiv besetzt.<br />

Also, wie bekommen wir den? Ich sage, es geht darum, klarzustellen, dass – auch<br />

wenn das schon mehrfach gesagt wurde, auch im Grundsatzreferat – wir Gegenmacht<br />

organisieren müssen. Gegenmacht organisieren bedeutet, auch einmal Zeichen<br />

zu setzen und eine Perspektive aufzuzeigen, <strong>di</strong>e viele Kolleginnen und Kollegen<br />

begeistern kann und wird.<br />

Die Frage ist nämlich – darum geht es bei <strong>di</strong>esem Antrag -, zu sagen: Wir sind auch<br />

bereit, wenn <strong>di</strong>e Politik einfach nein sagt, auch wenn alle Argumente der Welt auf<br />

Eurer Seite sind und wenn <strong>di</strong>e absolute Mehrheit der Bevölkerung auf Eurer Seite ist,<br />

aufzustehen und zur Not zu sagen, wir wollen dafür auch das letzte Mittel ergreifen,<br />

wir wollen dafür auch streiken, (Beifall) und zwar alle zusammen.<br />

In <strong>di</strong>esem Antrag steht auch, dass wir das zusammen, fachbereichsübergreifend und<br />

mit einem Antrag an den Deutschen Gewerkschaftsbund versuchen wollen. Das<br />

würde bedeuten, dass wir versuchen wollen, einen Tag hinzubekommen, an dem <strong>di</strong>e<br />

Kaufhäuser zu bleiben, an dem <strong>di</strong>e Straßenbahnen und Busse stehen bleiben, einen<br />

Tag, an dem wir gemeinsam kämpfen und an dem alle Räder still stehen für unsere<br />

berechtigte Forderung, für <strong>di</strong>e Durchsetzung des Mehrheitsinteresses der Bevölkerung.<br />

(Beifall)<br />

Es wird gesagt, <strong>di</strong>e Zeiten hätten sich geändert. Es ist nötig, sich mehr auf Konflikt<br />

hin zu orientieren. Ja, das stimmt. Da nehme ich hier das, was vom Vorstand gesagt<br />

worden ist, auch beim Wort und sage: Dann müssen wir auch <strong>di</strong>eses Kampffeld angehen,<br />

und dann dürfen wir uns nicht von vornherein solche Mittel aus der Hand<br />

legen, sondern dann müssen wir sofort handeln und sagen: Dies ist eines unserer<br />

Kampfmittel, und das müssen wir jetzt auch angehen. (Beifall)<br />

Ich sage noch ein Wort zu dem Thema. Ja, ich weiß, viele Kolleginnen und Kollegen<br />

haben dann im Kopf: „Na ja, Streik für einen solchen Mindestlohn, im Prinzip auch<br />

noch politisch? Bei mir im Betrieb haben viele mit ihrem Facharbeitergehalt damit<br />

nicht so viel zu tun. Wieso sollten dann <strong>di</strong>e dafür streiken?‚ Dazu möchte ich ein<br />

Wort verlieren:


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

514<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Wir dürfen nicht denken, dass <strong>di</strong>e Kolleginnen und Kollegen in den großen Betrieben,<br />

in denen wir gut organisiert sind, dort letztendlich wirklich so sehr isoliert sind.<br />

Denn <strong>di</strong>e Kollegin und der Kollege, <strong>di</strong>e ihr gutes Facharbeitergehalt bekommen, gehen<br />

auch zum Friseur und lassen sich dort von einer Kollegin <strong>di</strong>e Haare schneiden,<br />

<strong>di</strong>e dafür fünf Euro bekommt. Denkt doch nur nicht, dass sich das vor der nächsten<br />

Tarifverhandlung nicht doch auf <strong>di</strong>ese Kolleginnen und Kollegen auswirkt, nämlich<br />

auf ihr Bewusstsein, wofür sie bereit sind zu kämpfen, und wie sie bereit sind, zu<br />

kämpfen. Deswegen müssen wir dafür gemeinsam und gesamtgesellschaftlich<br />

kämpfen. Das ist das Entscheidende an dem Punkt. (Beifall)<br />

Ich könnte dazu jetzt noch einiges sagen. Wie gesagt, ich finde es schade, dass wir<br />

jetzt das Fass über eine solche Frage aufmachen, über politische Streiks zu <strong>di</strong>skutieren.<br />

Ich wäre dafür, dass man <strong>di</strong>e Abstimmung besser auf morgen verschiebt und<br />

nicht jetzt durchführt; denn ich denke, darüber kann man jetzt noch lange <strong>di</strong>skutieren.<br />

Das ist ja auch eine grundsätzliche Auseinandersetzung, in der es sehr viele Anträge<br />

gibt. Ich denke, Ihr habt jetzt verstanden, dass es durchaus Sinn macht, das<br />

jetzt nicht hier unter dem Thema „Mindestlohn‚ einzeln abzufrühstücken. – Vielen<br />

Dank. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Wir haben den nächsten Geschäftsordnungsantrag an Saalmikrofon 4.<br />

Walter Nees, 90<br />

Vielleicht ist der Geschäftsordnungsantrag mittlerweile überflüssig. Ich sage es trotzdem.<br />

Mein Vorschlag wäre, <strong>di</strong>esen Antrag zurückzustellen, weil wir ja in einer knappen<br />

Stunde <strong>di</strong>e Möglichkeit haben werden – beziehungsweise Frank hat <strong>di</strong>e Möglichkeit<br />

–, <strong>di</strong>e Politik eventuell auf eine Aussage festzunageln. Denn ich meine, wenn<br />

es im Moment so aussieht, dass <strong>di</strong>e Chancen gut sind, demnächst einen gesetzlichen<br />

Mindestlohn zu kriegen, dann wäre es jetzt vielleicht kontraproduktiv, einen politischen<br />

Streik zu organisieren. (Leichter Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Möchte jemand gegen den Geschäftsordnungsantrag sprechen? – Formelle Gegenrede.<br />

Ich stelle den Geschäftsordnungsantrag somit zur Abstimmung. Noch einmal<br />

zur Wiederholung: Es ist beantragt, den Antrag A 071 zurückzustellen. Wer dem<br />

folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Danke. Gegenprobe! – Danke.<br />

Gibt es Enthaltungen? – Bei wenigen Enthaltungen und mehreren Ja-Stimmen ist der<br />

GO-Antrag eindeutig abgelehnt worden.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

515<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Das Wort hat nunmehr der Delegierte Stefan Dietl mit der Delegiertennummer 63.<br />

Stefan Dietl, 63<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Kollege vor mir hat ja schon <strong>di</strong>e wichtigsten<br />

Aspekte genannt. Ich möchte zumindest noch einen Punkt in <strong>di</strong>e Diskussion einbringen.<br />

Wir dürfen eines nicht vergessen. Wir haben vorhin, als wir über Mindestlohn gesprochen<br />

haben, beschlossen, wieder eine Petition zu machen, wieder Unterschriften<br />

zu sammeln. Es ist ja nicht das erste Mal, dass wir so etwas gemacht haben. Ich habe<br />

schon oft genug in der Innenstadt gestanden, genauso wie Ihr alle wahrscheinlich<br />

auch, und habe Unterschriften gesammelt für den gesetzlichen Mindestlohn. Ich<br />

möchte Euch <strong>di</strong>e ehrliche Frage stellen. Glaubt Ihr, dass wir einen gesetzlichen Mindestlohn<br />

eher mit einer Unterschriftensammlung durchsetzen oder mit einem politischen<br />

Streik? (Beifall) Ich persönlich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass wir mit<br />

einer Unterschriftensammlung zu einem gesetzlichen Mindestlohn kommen werden.<br />

Ich weiß, wir haben uns auch noch andere Maßnahmen überlegt. Aber ich bin der<br />

Meinung, das wichtigste und stärkste Kampfmittel, das wir als Gewerkschaften, ist<br />

der Streik. Ich glaube, dass der Mindestlohn eine so wichtige Frage ist, dass wir <strong>di</strong>eses<br />

Kampfmittel auch einsetzen müssen. (Beifall)<br />

Ich meine, <strong>di</strong>eses Thema sollte vom Bundeskongress beschlossen werden und nicht<br />

an den Bundesvorstand weitergeleitet werden, und zwar deswegen, weil wir ein klares<br />

Signal <strong>di</strong>eses Kongresses brauchen. Von <strong>di</strong>esem Kongress sollte das Signal ausgehen,<br />

das Signal von allen Delegierten, <strong>di</strong>e hier sind, oder von allen Delegierten, <strong>di</strong>e<br />

dem zustimmen: Ja, wir brauchen <strong>di</strong>eses Kampfmittel zur Durchsetzung des gesetzlichen<br />

Mindestlohns und sind auch bereit, es anzuwenden. Das wäre ein deutliches<br />

Signal in <strong>di</strong>eses Land für alle Leute, <strong>di</strong>e unterhalb <strong>di</strong>eses Mindestlohns beschäftigt<br />

sind und <strong>di</strong>e unsere Unterstützung brauche. – Ende! (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank, Kollege. – Das Wort hat nun Frank Werneke, Mitglied des Bundesvorstands<br />

und mit der Teilnehmernummer 4.<br />

Frank Werneke, stellvertretender ver.<strong>di</strong>-Vorsitzender<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich finde nicht, dass <strong>di</strong>eser Antrag falsch zugeordnet<br />

worden ist. Vielmehr ist es richtig, ihn im Zusammenhang mit der Mindestlohn-<br />

Debatte aufzurufen und zu <strong>di</strong>skutieren. Wir <strong>di</strong>skutieren mit der Entscheidung über


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

516<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

<strong>di</strong>esen Antrag nicht <strong>di</strong>e Frage, ob wir uns als Organisation für oder gegen den politischen<br />

Streik entscheiden und unter welchen Be<strong>di</strong>ngungen wir das tun.<br />

All <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e vielleicht der Empfehlung der Antragskommission folgen, entscheiden<br />

sich deshalb nicht gegen den politischen Streik, sondern der Kern des Antrags,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen, ist <strong>di</strong>e Formulierung, dass wir als ver.<strong>di</strong> einen<br />

Antrag an den DGB-Bundesvorstand stellen sollen oder ihn in den DGB-<br />

Bundesvorstand einbringen, um dann über einen einheitlichen Streiktag der DGB-<br />

Gewerkschaften den Mindestlohn durchzusetzen. Das ist aus meiner Sicht der Punkt,<br />

über den es zu <strong>di</strong>skutieren und zu entscheiden gilt.<br />

Ich finde, wenn wir das annehmen würden, dann wäre das eine Selbstverpflichtungserklärung<br />

<strong>di</strong>eser Organisation, übrigens keine, <strong>di</strong>e man dann auf den DGB abschieben<br />

kann. Zunächst müssen wir uns fragen: Wenn der ver.<strong>di</strong>-Bundesvorstand zu<br />

einem Streiktag für den gesetzlichen Mindestlohn aufrufen würde, würden wir ihn<br />

dann auch realisiert bekommen?<br />

Nun komme ich aus einem Bereich, in dem wir zumindest in einigen kleinen Bereichen<br />

bestimmte Beobachtungen machen können. Reinhard hat ja gestern von den<br />

gallischen Dörfern oder den Walisern gesprochen. Es gibt im Fachbereich 8 Betriebe,<br />

bei denen wir auch für politische Ziele streiken können, und wir tun das auch. Von<br />

daher ist <strong>di</strong>e Diskussion im politischen Streik hier und da auch eine etwas abstrakte.<br />

Die Frage ist ja immer, ob wir in der Lage dazu sind? Ich sage, selbst aus <strong>di</strong>eser Perspektive<br />

heraus würde ich es mir nicht zutrauen, bundesweit mehr als drei, vier oder<br />

fünf Belegschaften zu einem solchen Streiktag zu mobilisieren.<br />

Schaut man ein bisschen breiter in <strong>di</strong>e Organisation, sieht es nicht viel anders aus.<br />

Deshalb wäre es nicht redlich, wenn wir uns in einer Beschlussfassung dazu verpflichten<br />

würden, <strong>di</strong>esen Streiktag zu beschließen. Denn das ist ja nicht irgendeine<br />

Überlegung, <strong>di</strong>e da gemacht werden soll, sondern das ist eine ganz konkrete Beschlussfassung.<br />

Ein letzter Gedanke. Ich teile auch nicht <strong>di</strong>e gerade im letzten Beitrag noch mal geäußerte<br />

skeptische Einschätzung, dass wir nicht auf einem guten Weg sind zur Erreichung<br />

unseres Zieles. Ich glaube, das Ziel der Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns<br />

liegt nicht in weiter Ferne. Es liegt deshalb nicht in weiter Ferne, liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen, weil wir in den letzten Jahren als ver.<strong>di</strong> zusammen mit den<br />

anderen Gewerkschaften und vielen Freunden aus der politischen Bewegung <strong>di</strong>e<br />

richtigen Kampagnen entwickelt haben und Erfolge erzielt haben. Wir haben Meinungsbildung<br />

in <strong>di</strong>eser Gesellschaft erreicht. Wir haben Positionen von Parteien bewegt,<br />

und da hilft jeder Infostand, da hilft jede Petition, da hilft jede Thematisierung<br />

in jeder Betriebs- und Personalversammlung, da hilft jedes Gespräch mit dem Bun-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

517<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

destagsabgeordneten. Ich will alle <strong>di</strong>ese Aktionen nicht kleinreden, weil es ganz<br />

wichtige Bausteine sind zur Durchsetzung unseres Ziels sind, von dem ich durchaus<br />

glaube, dass es in erreichbarer, vielleicht sogar greifbarer Nähe liegt. – Vielen Dank.<br />

(Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank, Frank. – Aktueller Stand ist: Im Moment liegen mir noch vier Wortmeldungen<br />

vor. Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, lasst mich bitte daran erinnern,<br />

dass wir Gäste eingeladen haben, <strong>di</strong>e hier über bestimmte Themen <strong>di</strong>skutieren sollen.<br />

Wir haben sie eingeladen. Wir selbst warten zwar schon lange auf den gesetzlichen<br />

Mindestlohn, aber wir sollten unsere Gäste nicht bis zum Sankt Nimmerleinstag<br />

warten lassen. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Das Wort hat zunächst Walter Brinkmann mit der Delegiertennummer 316, und es<br />

bereitet sich bitte Benjamin Wermuth vor.<br />

Walter Brinkmann, 316<br />

Ich möchte den ganz praktischen Vorschlag machen, dass <strong>di</strong>e Antragskommission<br />

ihre Empfehlung dahin gehend ändert, dass wir über den A 071 abstimmen.<br />

Den A 070 halte ich nicht für zweckmäßig, weil dort eine zeitliche Bindung enthalten<br />

ist, nämlich eine Begrenzung auf 2011. Das wäre aus meiner Sicht völlig unpraktikabel.<br />

Deswegen plä<strong>di</strong>ere ich für A 071 und dafür, dass wir aus dem Streiktag einen<br />

einheitlichen Aktionstag machen, und zwar verbindlich an einem Arbeitstag. Dann<br />

hat man regional <strong>di</strong>e Möglichkeit, entweder betriebliche Aktionen zu machen – das<br />

können auch politische Streikaktionen sein – oder vor Ort andere Aktionsformen zu<br />

wählen.<br />

Ich glaube, es ist doch entscheidend, dass wir unsere Kraft auf <strong>di</strong>e Straße bringen. Es<br />

geht doch nicht darum, ob es ein politischer Streiktag oder ein politischer Aktionstag<br />

sein muss. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank. – Es hat jetzt Benjamin Wermuth mit der Delegiertennummer 105 das<br />

Wort, und es bereitet sich bitte Friedel Giesen-Weirich vor. (Benjamin Wermuth: Ich<br />

ziehe zurück! – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall) – Benjamin hat zurückgezogen. Ich danke Dir.<br />

Dann hat Friedel Giesen-Weirich, Delegiertennummer 331, das Wort, und ihm folgt<br />

E<strong>di</strong>th Jendrian, Delegiertennummer 790.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

518<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Friedel Giesen-Weirich, 331<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich knüpfe noch einmal an den letzten Beitrag an.<br />

Wer sich den Antrag A 070 anguckt, stellt nicht nur fest, dass er <strong>di</strong>ese eine Zeile mit<br />

der Zeitschiene enthält, sondern auch, dass der übrige Text wortgleich ist. Es ist eins<br />

zu eins derselbe Antrag. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Daher ist es an der Ecke eigentlich<br />

wurscht, welcher Antrag als Empfehlung an den Bundesvorstand weitergeleitet wird,<br />

um derartige Aktionen vorzubereiten. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Danke, Friedel. – Das Wort hat jetzt E<strong>di</strong>th Jendrian, Delegiertennummer 790, und es<br />

bereitet sich bitte Jürgen Hohmann vor.<br />

E<strong>di</strong>th Jendrian, 790<br />

Ich möchte inhaltlich auch auf das Thema „politischer Streik‚ eingehen. Ich möchte<br />

als Erstes, dass <strong>di</strong>eser Antrag entsprechend der Empfehlung der Antragskommission<br />

behandelt wird.<br />

Ich persönlich komme aus der gewerkschaftlichen Jugendarbeit. Schon damals gab<br />

es Anträge zum politischen Streik. Diese waren damals vom Grundsatz her verpönt.<br />

Wir haben schon damals den Stellenwert des politischen Streiks beachtet. Wir können<br />

nicht wegen jeden Gesetzes, wegen jeden Krams sagen: Jetzt treten wir bundesweit<br />

in politischen Streik. – Das ist eine schwierige Nummer, und da haben wir<br />

auch unseren Kolleginnen und Kollegen gegenüber viel zu verantworten.<br />

Wir haben es damals vor dem Hintergrund folgenden Beispiels <strong>di</strong>skutiert: Wir sind in<br />

der Diskussion, dass wir kurz vor der Militär<strong>di</strong>ktatur stehen, oder ein neuer Adolf<br />

Hitler wartet am Horizont. – Dann gibt es überhaupt keine inhaltlichen Diskussionen.<br />

Dann haben wir <strong>di</strong>e Republik mit unseren Kolleginnen und Kollegen <strong>di</strong>cht zu machen.<br />

Ich bitte hier eindringlich darum, das Thema „politischer Streik‚ – und ich bin<br />

wirklich für politischen Streik – mit der nötigen Ernsthaftigkeit zu behandeln. Das<br />

zunächst zur grundsätzlichen Thematik; <strong>di</strong>e inhaltliche Debatte folgt noch.<br />

Dann möchte ich noch Folgendes zu dem Ansinnen sagen, möglichst zeitnah an einem<br />

Tag alle zu mobilisieren und aus den Betrieben rauszuholen. Ich komme von der<br />

Telekom. Ich bin dort freigestellte Betriebsrätin und Betriebsgruppenvorsitzende, verantwortlich<br />

für einen Teilbetrieb, in dem 1.200 bis 1.400 Menschen arbeiten, <strong>di</strong>e<br />

allesamt nicht <strong>di</strong>rekt vom Thema Mindestlohn betroffen sind. Selbst <strong>di</strong>e unterste<br />

Entgeltgruppe bekommt mit Sicherheit über 10 Euro. Ich finde, keine Konferenz<br />

kann einen Beschluss fassen, der sich <strong>di</strong>rekt auf mich und meine Funktion als Be-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

519<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

triebsgruppenvorsitzende auswirkt, (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) indem man mich zwingt, hier<br />

<strong>di</strong>e Hand dafür zu heben, dass ich meine Leute meinetwegen in zwei Monaten auf<br />

<strong>di</strong>e Straße kriege. Das kann man nicht machen.<br />

Wenn man so etwas machen will, dann muss man das auch vorbereiten. Dann muss<br />

eine Kampagne gefahren werden. Wir müssen <strong>di</strong>e Menschen sensibel machen. Das<br />

traue ich mir auch zu. Ich traue mir auch Mittagspausenaktionen und Ähnliches zu.<br />

Dass ich bei einer Betriebsversammlung eine erweiterte Mittagspause mache, habe<br />

ich zigmal probiert, und einmal bin ich mit den Leuten quer durch <strong>di</strong>e Innenstadt<br />

gegangen, und wir haben demonstriert. Nur, wenn ich <strong>di</strong>e für einen Tag aus dem<br />

Betrieb rausnehmen soll, für den ich verantwortlich bin, dann muss ich doch vorher<br />

wenigstens mit den <strong>Ver</strong>trauensleuten – und wir haben einen großen <strong>Ver</strong>trauensleutekörper<br />

– darüber <strong>di</strong>skutieren, wie <strong>di</strong>e das einschätzen und bewerten.<br />

Insofern können wir uns doch nicht einfach hierhin stellen und beschließen. (<strong>Ver</strong>einzelt<br />

Beifall) Ich meine, auch von Euch wird niemand mit seinen <strong>Ver</strong>trauensleuten<br />

über so einen Tag Ausstand gesprochen haben. Das geht überhaupt nicht. (Beifall)<br />

Daher bitte ich herzlich darum: Wenn wir noch einmal in <strong>di</strong>e Debatte um das Thema<br />

„politischer Streik‚ eintreten, dann sollten wir das mit der gebotenen Ernsthaftigkeit<br />

<strong>di</strong>skutieren. Das fände ich richtig.<br />

Zweitens. Wenn überhaupt, dann können wir eine Kampagne beschließen. Dann<br />

müssen wir in <strong>di</strong>e Betriebe gehen und gucken, was wir da gewährleisten oder nicht.<br />

So einfach ist kein Streik zu organisieren.<br />

Wir haben 2007 elf Wochen im Streik gestanden – ohne viel Streikerfahrung. Ich<br />

weiß also, was das für eine heiße Nummer ist. Und das Gleiche gilt für <strong>di</strong>e Vorbereitung<br />

eines einzigen Tages. Denn ein Streik, der schiefgeht – das weiß ich auch –<br />

wirft uns um Jahre zurück, was den nächsten Streik angeht. (Beifall) Das kann man<br />

nicht so einfach auf einer Konferenz beschließen. – Ich bedanke mich.<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank, E<strong>di</strong>th. – Das Wort hat Jürgen Hohmann mit der Delegiertennummer<br />

231. Ihm folgt Thomas Liermann, Delegiertennummer 362.<br />

Jürgen Hohmann, 231<br />

Kolleginnen und Kollegen! Ich bedanke mich ausdrücklich bei meiner Vorrednerin,<br />

(<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) <strong>di</strong>e hier eine Ernsthaftigkeit in <strong>di</strong>e Debatte forderte; das sollte uns<br />

zum Nachdenken bringen.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

520<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Ich komme aus einem Betrieb des öffentlichen Dienstes, nämlich aus der Stadtverwaltung<br />

Hannover. Ich behaupte: Wir sind zu jedem Thema aktionsfähig, und wenn<br />

<strong>di</strong>e Organisation dazu aufruft, werden wir zum Thema Mindestlohn auf <strong>di</strong>e Straße<br />

gehen. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Ich behaupte, dass das in den meisten Teilen der Organisation<br />

so nicht der Fall ist.<br />

Wir haben zum Thema „Rente mit 67‚ Beschlüsse gefasst, dass das in den Betrieben,<br />

außerhalb der Betriebe und in den Innenstädten zum Thema gemacht wird.<br />

Kolleginnen und Kollegen, wir haben dazu einen Zeitplan beschlossen, der vorgab,<br />

wann das passieren sollte. Seht noch einmal nach – vielleicht gibt es einen Pressespiegel<br />

–, an wie vielen Orten in <strong>di</strong>esem Land in <strong>di</strong>esem Oktober und in <strong>di</strong>esem November<br />

im Bereich der <strong>Ver</strong>einten Dienstleistungsgewerkschaft <strong>di</strong>ese Aktionen, <strong>di</strong>e<br />

wir uns alle in <strong>di</strong>e Hand versprochen haben, stattgefunden haben. Wir sind gegen<br />

<strong>di</strong>e Rente mit 67. Gucken wir einmal nach, in welchen Betrieben und in welchen Innenstädten<br />

<strong>di</strong>ese Aktionen stattgefunden haben. Wir haben das mit mehreren Tausend<br />

Leuten gemacht, und es hat hinterher große politische Auseinandersetzungen<br />

in der Stadt gegeben, weil <strong>di</strong>e Aktionen stattgefunden haben. Der Vorsitzende hat<br />

auf <strong>di</strong>eser Kundgebung in der Innenstadt geredet; das war auch gut so. Ich wüsste<br />

nicht, wo in unserem Organisationsbereich noch so eine Aktion stattgefunden hat.<br />

Wer dabei war und eine ähnliche Aktion gemacht hat, soll sich hier melden. (Einige<br />

Delegierte melden sich) – Eins, zwei, drei. Bis ich bei 1.000 bin, ist eine ganze Ecke<br />

hin. (Zuruf: Vier!)<br />

Also, ich möchte sagen: Es ist <strong>di</strong>e eine Sache, etwas mit heißem Herzen zu <strong>di</strong>skutieren,<br />

und ich weiß, dass wir alle ein heißes Herz haben. Die Geschichte in den Betrieben<br />

durchzusetzen und aktionsfähig zu sein, ist aber eine andere Sache. (<strong>Ver</strong>einzelt<br />

Beifall) Ich bitte, dass das als Ernüchterung in unseren Köpfen und insbesondere in<br />

den Köpfen der <strong>Ver</strong>antwortlichen ankommt.<br />

Deswegen spreche ich mich hier ganz klar gegen einen Streiktag aus. Wenn das in<br />

<strong>di</strong>e Hose geht, wird <strong>di</strong>eses politische Ziel auch beschä<strong>di</strong>gt werden. Wir haben durch<br />

unsere Aktionen zur Kampagne „Gerecht geht anders‚ im letzten Jahr große Erfolge<br />

erzielt, und zwar auch deshalb, weil <strong>di</strong>e Aktionen nicht an einem Tag stattgefunden<br />

haben, sondern weil vielfältige Aktionen im ganzen Land zu unterschiedlichen Zeiten<br />

stattgefunden haben, über Wochen und Monate, Kolleginnen und Kollegen. (Beifall)<br />

Diese Kampagne sollten wir fortsetzen. Wir müssen <strong>di</strong>ese Regierung abwählen, <strong>di</strong>e<br />

gegen einen Mindestlohn angetreten ist. (Beifall) Ich möchte auch in Erinnerung rufen,<br />

dass wir <strong>di</strong>ese Kampagne ja schon etwas länger machen. Trotzdem hat <strong>di</strong>ese<br />

neoliberale Regierung eine Mehrheit bekommen bei der letzten Bundestagswahl. Es<br />

hat also nicht gereicht. Wir wollten eine andere Regierung, <strong>di</strong>e einen Mindestlohn


Mittwoch, 21. September 2011<br />

521<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

durchsetzt. Unsere Aktionen haben nicht gereicht. Also bitte ich uns ganz herzlich,<br />

an der Ecke zu sehen, was sinnvoll ist. Nicht, dass wir das Gewehr laden, und der<br />

Schuss geht nach hinten los. (Beifall) Insofern bitte ich darum, dass <strong>di</strong>e Aktionen weitergeführt<br />

werden, wenn es sein muss, bis zum nächsten Wahltag. Dann werden wir<br />

sie aus der Regierung jagen. – Danke schön. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Danke, Jürgen. – Es spricht jetzt Thomas Liermann, Delegiertennummer 362.<br />

Thomas Liermann, 362<br />

Lieber Kollege, ich möchte gern an Deine Ausführungen anknüpfen und sehr im<br />

Kontrast zu Dir sagen: Ich möchte keine Gewerkschaftspolitik machen, <strong>di</strong>e sich nur<br />

auf <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>sprechen einzelner Parteien verlässt. Das ist nicht mein <strong>Ver</strong>ständnis von<br />

Gewerkschaftsarbeit. (Beifall) Das haben wir in der <strong>Ver</strong>gangenheit schon getan, und<br />

es hat sich gezeigt, dass das nicht immer funktioniert hat.<br />

Der Antrag ist ernst, aber <strong>di</strong>e Lage ist auch ernst. Ich verstehe schon, wenn hier gesagt<br />

wird, das können wir nicht übers Knie brechen. Das ist auch richtig so. Das<br />

stimmt auch. Es stimmt auch, dass ohne eine breit angelegte Kampagne so etwas<br />

überhaupt nicht realistisch ist. Das ist eine Voraussetzung, um so etwas real zu machen.<br />

Das ist eigentlich klar.<br />

Aber wenn man nicht beschließt, wohin man will, dann kommt man da auch nie<br />

hin. (Beifall) Deswegen muss man auch einmal anfangen und klar sagen: Da wollen<br />

wir hin, das ist Ziel, darüber wollen wir <strong>di</strong>skutieren, und da müssen wir am Ende landen.<br />

– Dieses Ziel muss man sich auch einmal setzen. Wenn man das nicht tut, geht<br />

man immer weiter und stellt irgendwann fest, dass man nie ankommt, weil man<br />

nicht gesagt hat, wohin man eigentlich will. Das ist für mich ganz entscheidend an<br />

<strong>di</strong>esem Punkt.<br />

Ich möchte noch etwas sehr Dramatisches zum Ernst der Lage sagen. Deutschland ist<br />

in Europa nichts anderes als ein Lohndrückerland. Das ist nun leider <strong>di</strong>e Wahrheit.<br />

Dazu möchte ich einfach sagen: Was soll ich eigentlich einem Kollegen aus Frankreich<br />

sagen? Der sagt mir dann: „Ja, wir haben einen Mindestlohn, Ihr nicht.‚ Und<br />

was sind wir dann letztlich eigentlich? Wir sind an dem Punkt nichts anderes als<br />

Lohndrücker, weil wir das nicht durchsetzen. Da kann sich eine Merkel hinstellen<br />

und zum Sarkozy sagen: „Habe ich geschafft, wir haben keinen Mindestlohn.‚ Und<br />

der Sarkozy sagt: „Ja, scheiße, habe ich noch nicht weg bekommen.‚ So wird das<br />

dann laufen. Da sage ich: Das müssen wir umdrehen. Wir müssen dafür sorgen, dass<br />

wir auch einen Mindestlohn haben.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

522<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Ich möchte Euch einmal darauf hinweisen, weshalb das so dramatisch ist durch <strong>di</strong>e<br />

Krise, <strong>di</strong>e wir haben. Was da in Griechenland abläuft, muss man sich einmal klarmachen.<br />

Und das wird nicht halt machen in Griechenland, sondern das kommt zurück.<br />

Ich habe einen jungen Kollegen, der ist Halbgrieche, der Vater wohnt in Griechenland,<br />

und der hat mir mal ein bisschen erzählt. Was man aus den Nachrichten bekommt,<br />

ist immer ein bisschen schwammig. Der hat mir erzählt, dass seinen Großeltern<br />

in Griechenland <strong>di</strong>e Rente von 650 auf 500 Euro gekürzt worden ist. Seinem<br />

Vater, der ist Assistenzarzt, haben sie das Jahresgehalt um 14.000 Euro gekürzt. Sie<br />

haben <strong>di</strong>e Steuern erhöht, sodass er insgesamt im Jahr 7.000 Euro mehr zahlen<br />

muss. Deshalb muss er umziehen, kann sich seine Wohnung nicht mehr leisten. Das<br />

ist ein Phänomen, das so dramatisch zurzeit in ganz Griechenland zu beobachten ist.<br />

Wenn dann Herr Schäuble im Bundestag sagt: „Wir geben das Geld nur nach Griechenland,<br />

wenn <strong>di</strong>e da noch mehr sparen, wenn <strong>di</strong>e auf noch mehr Lohn verzichten,<br />

wenn <strong>di</strong>e noch mehr privatisieren und verkaufen‚, dann denkt doch nicht, liebe Kolleginnen<br />

und Kollegen, dass das, wenn <strong>di</strong>e das dort durchbekommen, nicht in ein<br />

oder zwei Jahren auch bei uns landet.<br />

Ich sage Euch auch: Internationale Solidarität bedeutet nicht nur, irgendwelche<br />

Spendendosen herumzureichen oder ein paar warme Grußworte auf irgendwelchen<br />

Kongressen zu reden, sondern Solidarität heißt auch, den Kampf in seinem eigenen<br />

Land dafür zu führen, dass man eben nicht der Lohndrücker ist. Es heißt auch, dass<br />

man gemeinsam kämpft für einen besseren Lohn, für bessere Arbeits- und Lebensbe<strong>di</strong>ngungen,<br />

gemeinsam in ganz Europa, mit den Griechen an unserer Seite, gegen<br />

solche Sparpakete und gegen Lohnabbau. – Danke schön. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Das Wort hat jetzt Felix Rosegger mit der Delegiertennummer 33. (Zurufe) – Stopp,<br />

Kollege. Der nächste GO-Antrag.<br />

Christiane Pachulski, 798<br />

Ich stelle den Antrag zur Geschäftsordnung, <strong>di</strong>e Rednerliste jetzt zu schließen, weil<br />

<strong>di</strong>e Argumente ausgetauscht sind. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Möchte jemand gegen den GO-Antrag sprechen? – Das ist nicht der Fall. Ich lasse<br />

jetzt über den GO-Antrag abstimmen. Beantragt ist, <strong>di</strong>e Rednerliste zu schließen.<br />

Wer dem folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Gegenstimmen? –


Mittwoch, 21. September 2011<br />

523<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Enthaltungen? – Die Ja-Stimmen waren eindeutig in der Mehrheit. Damit ist <strong>di</strong>e<br />

Rednerliste geschlossen. – Kollege, Du hast das Wort.<br />

Felix Rosegger, 33<br />

Ich bin Delegierter für Baden-Württemberg. Aller<strong>di</strong>ngs möchte ich jetzt für <strong>di</strong>e Bundesjugend<br />

sprechen.<br />

Ich finde es wichtig, dass wir zwei für uns so markante Themen voneinander trennen<br />

und sie hier jetzt nicht verquicken, sodass man sie letztendlich nicht mehr auseinanderhalten<br />

kann. Aus unserer Sicht gehen wir völlig konform mit der Empfehlung der<br />

Antragskommission zu den Anträgen A 070 und A 071. – Ja, das war’s. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Danke, Kollege. Das war erfrischend kurz. – Die letzte Wortmeldung stammt von<br />

Gitta Süß-Slania, Delegiertennummer 42.<br />

Gitta Süß-Slania, 42<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, ich will es kurz machen. Ich habe mich deshalb<br />

gemeldet, weil ich mich als normale Delegierte trotzdem an einer Stelle ein wenig<br />

wehren will. Wenn hier der Eindruck entstehen sollte oder erweckt werden sollte, es<br />

sei alles unklar, dann finde ich, dass man dem widersprechen muss. Ich finde, in Sachen<br />

Mindestlohn haben wir ein ganz klares Ziel. Ich finde, in Sachen Mindestlohn<br />

haben wir eine wunderbare Kampagne und viele tolle Aktionen gemacht. Ich bin<br />

ganz arg dankbar, dass ab und zu das heiße Herz und trotzdem der realistische Blick<br />

im Betrieb zusammenkommen. Aus dem Grund bitte ich, der Empfehlung der Antragskommission<br />

zuzustimmen. – Danke. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Möchte <strong>di</strong>e Antragskommission noch einmal das Wort? – Bitte. (Zurufe!) – Es liegt<br />

hier noch eine Wortmeldung vor zum Antrag A 070. Den Antrag A 070 haben wir<br />

nicht aufgerufen, sondern wir haben den Antrag A 071 zur Beratung aufgerufen.<br />

Die Antragskommission hat das Wort.<br />

Sprecherin der Antragskommission<br />

Kolleginnen und Kollegen, das Entscheidende ist gerade noch einmal ganz pointiert,<br />

kurz und knapp gesagt worden, nämlich nicht zwei wichtige Themen miteinander zu


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

524<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

verquicken, sondern <strong>di</strong>e Diskussionen dort zu führen, wo sie Schwerpunkt sind. Aus<br />

dem Grund bleiben wir bei unserer Empfehlung. Die Diskussion über einen politischen<br />

Streik wird hier gar nicht in <strong>di</strong>eser Ausführlichkeit gefordert, sondern hier ist<br />

Mindestlohn gefordert. Das haben einige von Euch auch immer wieder betont. Die<br />

Diskussion über politischen Streik werden wir ganz ausführlich beim entsprechenden<br />

Untersachgebiet führen. Deshalb bleiben wir bei unserer Empfehlung. – Danke. (Beifall)<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Vielen Dank. Wir können damit beim aufgerufenen Antrag A 071 zur Abstimmung<br />

kommen. Wer der Erle<strong>di</strong>gung, wie von der Antragskommission empfohlen, folgen<br />

möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. – Danke schön. Gegenstimmen? –<br />

Danke. Enthaltungen. – Danke schön. Bei mehreren Gegenstimmen und wenigen<br />

Enthaltungen ist der Empfehlung der Antragskommission gefolgt worden.<br />

Wir können damit, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, im Untersachgebiet Mindestlohn<br />

nunmehr zur En-bloc-Abstimmung der Anträge kommen, <strong>di</strong>e nicht zur Beratung<br />

aufgerufen waren. Dies sind <strong>di</strong>e Anträge A 051 bis A 054, der Antrag A 056,<br />

<strong>di</strong>e Anträge A 058 bis A 067, <strong>di</strong>e Anträge A 070 und A 072. Wer ihnen wie empfohlen<br />

zustimmen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen. (Zwischenruf) Wir sind<br />

mitten im Abstimmungsprozess, Kolleginnen und Kollegen. – Bitte Saalmikro 5.<br />

Ein Delegierter<br />

Zum A 070, wie wir gerade noch gehört haben, liegt zum einen eine Wortmeldung<br />

vor. Zweitens möchte ich gerne noch infrage stellen, dass wir über den A 071 abgestimmt<br />

haben, der aber erle<strong>di</strong>gt wird durch den A 070. Das ist aus meiner Sicht nicht<br />

möglich.<br />

Eine Delegierte<br />

Zum A 070 wird <strong>di</strong>e Wortmeldung zurückgezogen.<br />

Klaus Böhme, Kongressleitung<br />

Wenn <strong>di</strong>e Wortmeldung, <strong>di</strong>e eigentlich ohnehin nicht vorlag, denn sie hätte ja bis<br />

zum Wortmeldeschluss eingereicht sein müssen zu <strong>di</strong>esem Antrag (Beifall), dennoch<br />

zusätzlich auch noch zurückgezogen wird, dann lassen wir sie einfach unter den<br />

Tisch fallen. (Heiterkeit – Beifall) Wir sind da ganz pragmatisch.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

525<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Ich wiederhole noch einmal <strong>di</strong>e Anträge, <strong>di</strong>e jetzt in der Blockabstimmung sind:<br />

A 051 bis A 054, A 056, A 058 bis A 067, A 070 und A 072. Wer bei <strong>di</strong>esen Anträgen<br />

den Empfehlungen der Antragskommission folgen möchte, den bitte ich um das<br />

Kartenzeichen. – Danke. Gegenstimmen? – Wenige Gegenstimmen. Enthaltungen?<br />

– <strong>Ver</strong>einzelte Enthaltungen. Mit großer Mehrheit so beschlossen.<br />

Wir haben damit das Sachgebiet Mindestlohn sehr intensiv gemeinsam <strong>di</strong>skutiert<br />

und auch für <strong>di</strong>e weitere Arbeit und <strong>di</strong>e Zukunft unserer Organisation gute Beschlüsse<br />

gefasst.<br />

Ich muss Euch noch darauf hinweisen, dass für das Sachgebiet N, Finanzen – Leistungen<br />

– Beitragsregelungen, mit den Anträgen N 001 bis N 074, für das Sachgebiet<br />

O, Personal, mit den Anträgen O 001 bis O <strong>04</strong>0, das Sachgebiet P, Informationsarbeit<br />

und Betriebsorganisation, mit den Anträgen P 001 bis P 030, sowie das Sachgebiet<br />

T, Branchen, Konzern- und Unternehmenspolitik, mit den Anträgen T 001 bis T<br />

030 der Wortmeldeschluss morgen um 12 Uhr ist. Bitte denkt an <strong>di</strong>esen Wortmeldeschluss.<br />

Ich muss an <strong>di</strong>eser Stelle noch einen weiteren Hinweis geben. Es ist eine Wortmeldung<br />

eingereicht worden von einem Delegierten, der zur Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussion mit den<br />

Parteivorsitzenden hier heute noch sprechen wollte. Da ist eine Diskussion nicht<br />

möglich. Wir haben den entsprechenden Punkt nicht aufgerufen im Vorfeld. Von<br />

daher bitte ich den Kollegen um <strong>Ver</strong>ständnis.<br />

Die Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussion wird um 17 Uhr beginnen. Alle, <strong>di</strong>e sich im Moment auf der<br />

Bühne befinden, müssen <strong>di</strong>ese Bühne bitte frei machen und sich Plätze im Plenum<br />

suchen. Morgen früh können wir alle unsere Plätze hier oben wieder einnehmen.<br />

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Das war ein sehr intensiver Tag. Ich glaube, dass<br />

wir insbesondere an einem Tag wie heute uns <strong>di</strong>ese gemeinsame Feier heute Abend<br />

ver<strong>di</strong>ent haben. Ich hoffe, dass wir alle zusammen einen tollen Abend erleben werden.<br />

Ich wünsche Euch viel Spaß dabei und unterbreche den Kongress bis morgen<br />

früh 9 Uhr.<br />

Ende des vierten Kongresstages: 16.36 Uhr


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Po<strong>di</strong>ums<strong>di</strong>skussion<br />

(Beginn des Parteientalks: 17.05 Uhr)<br />

526<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Jan Lerch, Moderator<br />

Wichtiges Thema, wichtige Debatte am Schluss <strong>di</strong>eses Tages, Ihres ver.<strong>di</strong>-<br />

Bundeskongresses: Sozial gerechter Fortschritt durch starke Dienstleistungen. Das ist<br />

unser Thema.<br />

Sie alle haben den Bundespräsidenten gehört. Er hat ja gesagt – ich fand das ganz<br />

lustig -, sie seien <strong>di</strong>e Gewerkschaft des Dienens. Sehr schön. Aber Sie haben als Gewerkschafter<br />

des Dienens auch einen Anspruch darauf, gut be<strong>di</strong>ent zu werden, beispielsweise<br />

von <strong>di</strong>esen Herren und <strong>di</strong>eser Dame hier. Denn <strong>di</strong>e sind in gewisser Weise<br />

Ihre Diener: Volksvertreter, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>enen müssen, auch Ihnen, und <strong>di</strong>e liefern – wir<br />

werden das abfragen. Sie arbeiten aller<strong>di</strong>ngs – das unterscheidet sie von dem einen<br />

oder anderen, der bei Ihnen Mitglied ist - natürlich knapp über dem Mindestlohn.<br />

Aber sei es drum! Wir wollen sie vorstellen.<br />

Christiane Wirtz, Moderatorin<br />

Ich beginne mit Frank-Walter Steinmeier, SPD-Fraktionsvorsitzender. Vielen Dank,<br />

dass Sie sich <strong>di</strong>e Zeit genommen haben, hierherzukommen. (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Ganz links außen – ich weiß nicht, ob er sich selber dorthin gestellt hat; aber auf alle<br />

Fälle steht er da – Gregor Gysi, der Fraktionschef der Linken. (Lebhafter Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Wenn wir jetzt so weitermachen: Ganz <strong>di</strong>cht bei Herrn Steinmeier steht Peter Weiß<br />

von der Union. Er ist Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe im Bundestag. Herzlich<br />

willkommen. (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Wir sind natürlich sehr unfreundlich und stellen <strong>di</strong>e Frau als Letzte vor. – Mann,<br />

Mann, Mann! – Sie hat sich aller<strong>di</strong>ngs auch als Letzte entschieden teilzunehmen - sie<br />

musste sich entscheiden, und wir sind dankbar dafür -: Beate Müller-Gemmeke ist


Mittwoch, 21. September 2011<br />

527<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

bei uns. Sie ist Sprecherin der Arbeitnehmer bei den Grünen und ist auch bei GewerkschaftsGrün<br />

engagiert. Sie sitzt im Bundestag. Herzlich willkommen. (Beifall)<br />

Sie haben es gesehen – vielleicht sollten wir das noch kurz sagen -: Eigentlich war<br />

Jürgen Trittin angekün<strong>di</strong>gt, weiterhin auch Heinrich Kolb von der FDP. Beide sind<br />

tatsächlich dringend verhindert. Zur FDP kann man jetzt einen Witz machen; das<br />

schenken wir uns aber. Heinrich Kolb ist verhindert, Jürgen Trittin auch. Wir sind Beate<br />

Müller-Gemmeke dankbar, dass sie eingesprungen ist. Die FDP konnte so kurzfristig<br />

keinen Ersatz beibringen (Heiterkeit – <strong>Ver</strong>einzelt Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Bevor wir in <strong>di</strong>e Diskussion einsteigen, wollen wir erst einmal erfahren, was Sie von<br />

den Herren und der Dame auf dem Po<strong>di</strong>um wissen wollen. Deshalb zeigen wir das<br />

jetzt in einem Film. (Filmeinspielung – Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Das Selbstbewusstsein ist hier in Leipzig auf dem Bundeskongress vorhanden. Wir<br />

haben <strong>di</strong>e richtigen Lösungen. Jetzt gilt es in der nächsten Stunde, <strong>di</strong>e vier hier oben<br />

zu überzeugen, dass das so ist. Dann wäre, glaube ich, der Auftrag erfüllt. Wir werden<br />

uns darum bemühen.<br />

Wir wollen über Dienstleistungen reden, Christiane Wirtz.<br />

Christiane Wirtz<br />

Genau. Beim Thema Dienstleistung fällt mir immer ein Freund ein, der lange Zeit<br />

schon in Deutschland lebt, aber in Italien geboren ist. Er sagt immer zu mir – mit der<br />

entsprechenden Gestik eines Italieners –: Christiane, wenn ich Besuch aus Italien habe,<br />

dann gehe ich mit dem nicht zum Brandenburger Tor oder in den Kölner Dom,<br />

sondern ich gehe mit dem in ein deutsches Krankenhaus, ich fahre mit der Deutschen<br />

Bahn, ich gucke mir <strong>di</strong>e Dienstleistungen in Deutschland an. Das funktioniert<br />

offenbar doch besser, als wir es oft wahrnehmen.<br />

Der Bundespräsident hat am Samstag ausdrücklich gelobt, wie gut Dienstleistungen<br />

in Deutschland funktionieren. Aber es gibt offenbar noch einige Aspekte, wo wir in<br />

Deutschland noch besser werden können. Daher zunächst einmal eine ganz praktische<br />

Frage an Sie, Herr Lerch: Was war <strong>di</strong>e letzte Dienstleistung, <strong>di</strong>e Sie in Anspruch<br />

genommen haben?


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

528<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Jan Lerch<br />

Das Taxi hierher. Ich habe mit dem Fahrer gesprochen: Er arbeitet regelmäßig, hat<br />

um 18 Uhr Schluss, hat aber auch um 7 Uhr angefangen. Das ist also für ihn ein<br />

ziemlich langer Arbeitstag und, glaube ich, nicht ganz ohne.<br />

Herr Steinmeier, wissen Sie, was Ihr Fahrer so ver<strong>di</strong>ent?<br />

Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD)<br />

Das weiß ich, ja. Aber ich glaube, er hält nicht viel davon, wenn ich Ihnen das hier<br />

verrate. (Heiterkeit)<br />

Jan Lerch<br />

Finden Sie das fair?<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Ich finde, er hat das ver<strong>di</strong>ent (Heiterkeit) – mindestens das. Ich weiß natürlich, dass<br />

<strong>di</strong>e Höhe des <strong>Ver</strong><strong>di</strong>enstes dadurch zustande kommt, dass <strong>di</strong>e Fahrer bei uns unheimlich<br />

viele Stunden machen. Da bleibt oft nichts anderes übrig, als sich unserem Tagesplan<br />

anzupassen. Wenn er jetzt selbst hier wäre, würde er Ihnen sagen, ob er mit<br />

dem Einkommen zufrieden ist oder nicht.<br />

Christiane Wirtz<br />

„Wir können doch nicht dauerhaft davon leben, dass wir uns gegenseitig <strong>di</strong>e Haare<br />

schneiden.‚ Das ist ein Zitat von Hans-Olaf Henkel. Herr Gysi, ich möchte Sie fragen:<br />

Wie viel Dienstleistung braucht Deutschland?<br />

Dr. Gregor Gysi (Die Linke)<br />

Mich gerade bei Haaren zu fragen, ist etwas unfair. (Heiterkeit – Beifall) Aber davon<br />

einmal abgesehen, würde ich zwei Thesen aufstellen: Der öffentliche Dienst ist in<br />

Deutschland stark abgebaut worden. Ich finde, <strong>di</strong>e Grenze ist schon überschritten.<br />

Mehr können wir uns auf gar keinen Fall leisten. (Lebhafter Beifall)<br />

Wenn wir das mit anderen Staaten vergleichen – ich habe das einmal international<br />

gemacht -, stellen wir fest: Wir haben inzwischen einen kleineren öffentlichen Dienst<br />

als Frankreich, als Großbritannien, als Skan<strong>di</strong>navien, als Finnland, selbst als <strong>di</strong>e USA.<br />

Das ist nicht hinnehmbar.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

529<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Das Zweite ist: Wir müssen, glaube ich, eine alte Losung ändern. Ich bin noch mit<br />

der Losung aufgewachsen: gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Ich glaube, wir müssen<br />

jetzt sagen: gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit. Das müssen wir endlich durchsetzen.<br />

Davon sind wir aber noch meilenweit entfernt. (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Was meinen Sie damit konkret: gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit?<br />

Gregor Gysi<br />

Darf ich Ihnen eine ganz kurze Geschichte erzählen?<br />

Jan Lerch<br />

Aber eine kurze, bitte.<br />

Gregor Gysi<br />

Ja, das ist schwierig. In der DDR gab es erst nur ältere Putzfrauen, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e öffentlichen<br />

Gebäude reinigten und <strong>di</strong>e sauschlecht bezahlt waren – wirklich sauschlecht.<br />

Sie starben natürlich irgendwann aus, und es gab keine neuen. Daraufhin gründeten<br />

<strong>di</strong>e den VEB-Putzteufel, kauften Westtechnik ein, und man ver<strong>di</strong>ente dort zwischen<br />

1.200 und 1.300 Mark, was für DDR-<strong>Ver</strong>hältnisse wirklich viel Geld war. Ich habe<br />

dort nie wieder eine Frau gesehen, nur Männer. (Heiterkeit – Beifall)<br />

Da ist mir eine Struktur klargeworden: Sobald du einen entsprechenden Lohn zahlst,<br />

wird etwas männlich, und sobald schlechter bezahlt wird, wird etwas weiblich. (Beifall<br />

- Pfiffe)<br />

Ich verstehe nicht, weshalb zum Beispiel eine Krankenschwester oder Pflegerin so<br />

schlecht bezahlt wird. Das ist eine solche Knochenarbeit; ich hielte sie nicht durch.<br />

Ich finde, dass das nicht schlechter bezahlt werden darf als ein Industriearbeiter. Das<br />

geht nicht. (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Über das Thema Mindestlohn und was damit zusammenhängt werden wir nachher<br />

in <strong>di</strong>eser Runde natürlich noch reden. Herr Steinmeier, Sie haben sich beispielsweise<br />

in Ihrem Wahlkampf sehr stark mit den Dienstleistungen beschäftigt und haben das<br />

Thema auch in den Deutschlandplan aufgenommen, hatten da große Pläne und haben<br />

da auch entscheidende Zuwächse an Jobs gesehen. Wie kann zum Beispiel eine


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

530<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Politik zur Stärkung der Dienstleistungen aussehen? Wie kann man da Politik machen,<br />

ohne dass wir jetzt über das Thema Geld reden, sondern wie kann man Strukturen<br />

fördern, in welcher Weise auch immer?<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Das, was ich damals im Deutschlandplan aufgeschrieben hatte, hatte ja eine Vorgeschichte.<br />

Dem ging voraus ein Streit mit unseren britischen Freunden über <strong>di</strong>e Wertschätzung<br />

einer Dienstleistungsgesellschaft und einer Produktionsgesellschaft. Wer<br />

das einigermaßen hellwach in den letzten Jahren verfolgt hat, wird gesehen haben,<br />

dass sich auch in der klassischen Wirtschaft viel verändert hat und dort Dienstleistungen<br />

eine viel größere Bedeutung erlangt haben.<br />

Was <strong>di</strong>e Wertschätzung im öffentlichen Bereich angeht, ist hier zu recht gesagt worden:<br />

Es ist auf der einen Seite eine Frage der Bezahlung. Ich hatte erst vor wenigen<br />

Wochen eine Debatte mit Altenpflegerinnen. Sie können denen hundertmal sagen,<br />

wir wertschätzen ihre Arbeit. Wenn das nicht irgendwie auf dem Lohnzettel zum<br />

Ausdruck kommt, dann glauben <strong>di</strong>e Ihnen das nicht. (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Ich will mal versuchen, deutlich zu machen, worum es mir bei <strong>di</strong>esem Punkt geht. Sie<br />

haben ja mit der Agendapolitik seinerzeit auch <strong>di</strong>e Strukturen im Dienstleistungsbereich<br />

angefasst. Sie haben da politisch eine neue Rahmengesetzgebung durchgesetzt,<br />

<strong>di</strong>e <strong>di</strong>e ganze Szenerie verändert hat. Manches davon ist zu weit gegangen; Sie<br />

wollen das ja an den Punkten nicht wiederholen. Aber wenn man das in der Weise<br />

verändert, kann man es ja möglicherweise auch wieder in Ordnung bringen. Was<br />

konkret wollen Sie, in <strong>di</strong>e Zukunft gedacht, an dem ändern, was gegenwärtig vorhanden<br />

ist? Ich rede jetzt nicht über Mindestlohn, sondern Sie haben ja mit der<br />

Agendapolitik auch noch viele andere Dinge verändert.<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Wenn Sie auf <strong>di</strong>e Agendapolitik verweisen, würde ich rückblickend sagen: Eines<br />

würde ich heute garantiert anders machen. Das, was es gegeben hat an Flexibilisierung<br />

der Arbeitszeit, muss notwen<strong>di</strong>gerweise verknüpft werden mit dem Mindestlohn.<br />

Das würde ich heute anders machen. Aber Frank Bsirske erinnert sich an <strong>di</strong>e<br />

Debatten, <strong>di</strong>e wir damals zwischen Politik und Gewerkschaften hatten. Wir haben<br />

damals in der Tat zusammengestanden und haben überlegt, wie wir eine <strong>Ver</strong>bindung<br />

mit dem Mindestlohn herstellen. Die Gewerkschaften, überwiegend <strong>di</strong>e Industriegewerkschaften,<br />

waren der Meinung, dass das ein Eingriff in deren Tarifhoheit sei,<br />

das sollte man zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht tun. Für <strong>di</strong>e Zukunft werden wir


Mittwoch, 21. September 2011<br />

531<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

neben dem Mindestlohn, über den wir nachher sprechen werden, vor allem dafür<br />

sorgen müssen, glaube ich, dass wir <strong>di</strong>e notwen<strong>di</strong>ge Zahl an qualifizierten Arbeitsplätzen<br />

und Arbeitskräften für <strong>di</strong>e Dienstleistungsbereiche haben. Wenn das stimmt,<br />

was ich lese – ich unterstelle, dass stimmt -, werden wir bis 2013 etwa 65.000 bis<br />

70.000 Erzieherinnen brauchen. Wir werden 25.000 Fachkräfte im Bereich der Altenbetreuung<br />

und der Krankenbetreuung brauchen. Das zeigt, dass wir <strong>di</strong>e öffentlichen<br />

Mittel, <strong>di</strong>e wir noch zur <strong>Ver</strong>fügung haben und <strong>di</strong>e nicht grenzenlos ausweitbar<br />

sind, wenn wir nicht in <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>schuldungsfalle laufen wollen, konzentrieren müssen -<br />

das ist der Vorschlag, den wir auch zuletzt öffentlich gemacht haben – auf den Bereich<br />

Bildung, und da konzentriert vor allem auf <strong>di</strong>e beruflichen Bereiche, für <strong>di</strong>e<br />

Menschen jetzt dringend gebraucht werden.<br />

Christiane Wirtz<br />

Frau Müller-Gemmeke, ich möchte versuchen, von dem Mindestlohn, also von dem<br />

Entgelt, einmal wegzukommen, weil wir darauf später noch zu sprechen kommen.<br />

Beate Müller-Gemmeke (Die Grünen)<br />

Das ist schwierig.<br />

Christiane Wirtz<br />

Das wird schwierig, aber ich denke, Sie werden der Aufgabe gewachsen sein. Was,<br />

glauben Sie, kann <strong>di</strong>e Politik noch tun außer besserer Bezahlung, bessere Strukturen<br />

zu schaffen, um gute Be<strong>di</strong>ngungen für Dienstleistungen zu schaffen?<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Ich möchte zunächst Jürgen Trittin entschul<strong>di</strong>gen. Er wollte eigentlich kommen, aber<br />

wir Grünen haben eine Aktuelle Stunde im Bundestag beantragt und haben <strong>di</strong>e auch<br />

bekommen. Da muss er reden. Das Motto der Aktuellen Stunde ist <strong>di</strong>e griechische<br />

Insolvenz, <strong>di</strong>e Haltung der Regierung dazu. Ob da <strong>di</strong>e Aussagen von Herrn Rösler<br />

gemeint sind, könnt Ihr Euch jetzt selber überlegen.<br />

Zu der Frage: Ich denke, es gibt viele Möglichkeiten. Beispielsweise könnte man damit<br />

anfangen, dass <strong>di</strong>e Kommunen richtig gut ausgestattet werden. (Beifall) Bei den<br />

Kommunen läuft vor allen Dingen <strong>di</strong>e öffentliche Daseinsvorsorge. Da geht es um<br />

Kinderbetreuung, um Bildung insgesamt, da geht es um Jugendhilfe, um alle sozialen<br />

Bereiche. Da ist es einfach wichtig, dass <strong>di</strong>e Kommunen gut ausgestattet sind;<br />

denn nur dann können sie auch im Bereich der Dienstleistungen unheimlich viel tun.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

532<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Das Zweite ist: Ich will mal Herrn Gysi aufnehmen. Ich glaube auch, dass das sehr viel<br />

damit zu tun hat, wenn es im Dienstleistungsbereich eher schlechtere Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen<br />

gibt, dass wir es dort überwiegend mit Frauen zu tun hat. Es ist ja auch so,<br />

dass vor allen Dingen Frauen in <strong>di</strong>esem Bereich arbeiten. Ich glaube, dass <strong>di</strong>e Politik<br />

wirklich auch mutiger werden muss, um etwas gegen <strong>di</strong>ese Entgeltungleichheit zwischen<br />

Frauen und Männern etwas zu tun und Lösungsvorschläge dafür machen<br />

muss, wie man <strong>di</strong>ese Ungleichheit bekämpfen kann. Ich möchte wirklich durchsetzen,<br />

dass Männer und Frauen das gleiche ver<strong>di</strong>enen. Dabei geht es vor allem darum,<br />

dass Arbeit nicht unterschiedlich bewertet wird. Es ist schon angesprochen worden:<br />

Das Pflegepersonal ist vor allen Dingen weiblich. Da wird soziale Kompetenz, förderliche<br />

Anstrengung nicht bewertet, und von daher wird niedriger bezahlt. Auf der<br />

anderen Seite wird Arbeit auf dem Bau, wo man Muskeln braucht, höher bewertet<br />

und auch höher bezahlt.<br />

Christiane Wirtz<br />

Was könnte das denn konkret sein, wenn wir von der Bezahlung mal weggehen?<br />

Wie könnte man <strong>di</strong>e Be<strong>di</strong>ngungen verbessern? Was könnte man jenseits des Geldes<br />

von der Politikseite anders machen?<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Wir brauchen ausreichend Lehrerstellen. Wir brauchen ausreichende Möglichkeiten,<br />

Kinderbetreuung anzubieten. Die Grünen haben da ja auch was vorgemacht: Durch<br />

<strong>di</strong>e erneuerbaren Energien sind 200.000 bis 300.000 Arbeitsplätze entstanden.<br />

Durch das Erneuerbare Energien-Gesetz hat man in eine Branche investiert, in der<br />

man ohnehin etwas machen musste wegen des Klimaschutzes. Dort wurden Rahmenbe<strong>di</strong>ngungen<br />

geschaffen, <strong>di</strong>e in <strong>di</strong>esem ganzen Dienstleistungsbereich schon<br />

etwas verändert haben.<br />

Man kann zum Beispiel genauso investieren in den Breitbandausbau im ländlichen<br />

Raum – da hat man im Dienstleistungsbereich auch etwas gemacht – oder zum Beispiel<br />

in den Mobilitätsbereich. Da braucht es einfach politischer Rahmenbe<strong>di</strong>ngungen,<br />

damit investiert wird.<br />

Jan Lerch<br />

Genau. Da gibt es wahrscheinlich aber auch relativ wenig Streit zwischen Ihnen, dass<br />

in <strong>di</strong>ese Bereiche hineingegangen wird. In dem Deutschland-Plan von Herrn Steinmeier<br />

war das ja auch sehr stark enthalten. Die Kanzlerin ist mittlerweile ja auch<br />

schwerstens grün unterwegs. (Heiterkeit)


Mittwoch, 21. September 2011<br />

533<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Herr Weiß, <strong>di</strong>e Frage ist das, was Frau Müller-Gemmeke gerade angesprochen hat. In<br />

den Kommunen geht es beispielsweise um Fallzahlen, da geht es um <strong>di</strong>e Standards,<br />

Betreuungsstandards et cetera. Wir reden von Schulen, <strong>di</strong>e verwahrlost sind, in <strong>di</strong>e<br />

man Sozialarbeiter schicken muss. Ich war gerade an einer Schule, an der es 70 Prozent<br />

Schwänzer gibt. Da ist ein einziger Sozialarbeiter, der das irgendwie in den Griff<br />

bekommen soll. Das ist völliger Wahnsinn, das geht nicht. Da muss also etwas getan<br />

werden. Sie sind wahrscheinlich noch einer von denjenigen, <strong>di</strong>e dann in Ihrer Fraktion<br />

<strong>di</strong>e Leute haben, <strong>di</strong>e sagen: „Wer soll das bezahlen?‚ Kann da ernsthaft umgesteuert<br />

werden? Ist man dazu bereit, ernsthaft umzusteuern, jenseits von Bankenrettung<br />

also auch da etwas zu machen?<br />

Peter Weiß (CDU)<br />

Wir haben ja eine, wie ich finde, sehr historische Entscheidung getroffen zu einer<br />

Sozialleistung, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Kommunen seit alters her tragen müssen und <strong>di</strong>e sie beinahe<br />

finanziell verzweifeln lässt. Das ist <strong>di</strong>e Grundsicherung im Alter. Künftig wird <strong>di</strong>ese<br />

Finanzierung der Bund übernehmen und damit <strong>di</strong>e Kommunen in den kommenden<br />

Jahren massiv entlasten.<br />

Jan Lerch<br />

Das war ein guter Tipp, nicht wahr?<br />

Peter Weiß<br />

Das war ein guter Tipp, richtig. (Heiterkeit – Beifall) Das wird jetzt in mehreren Stufen<br />

vollzogen. Dann werden <strong>di</strong>e Kommunen irgendein Stück Sicherheit haben, was<br />

ihre Finanzen in Zukunft anbelangt, weil sie von <strong>di</strong>esen stän<strong>di</strong>g steigenden Lasten<br />

der Grundsicherung künftig befreit sind.<br />

Das Zweite ist <strong>di</strong>eses: Ich glaube, wir haben jetzt zehn oder 15 Jahre hinter uns, in<br />

denen Deregulierung und Privatisierung von Dienstleistungen das Kredo der Politik<br />

und der Gesellschaft in Deutschland waren.<br />

Jan Lerch<br />

Ihrer Politik aber auch, nicht wahr?<br />

Peter Weiß<br />

Ich habe den Eindruck, das haben eigentlich alle betrieben. Ich war Fraktionsvorsitzender<br />

der CDU in einem Gemeinderat mit einem SPD-Oberbürgermeister. Da hatte


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

534<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

ich immer den Eindruck, dass der Oberbürgermeister der Oberprivatisierer ist und<br />

man den eher stutzen musste.<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Gysi, sehen Sie das auch so, dass es eine allgemein verbreitete Politik war, zu<br />

privatisieren?<br />

Gregor Gysi<br />

Der ganze Neoliberalismus war weit verbreitet. Ich kann mich erinnern, dass Frau<br />

Engelen-Kefer bei Frau Christiansen saß und ein paar Slogans aus früherer Zeit sagte.<br />

Sie wurde behandelt, als ob sie aus dem vorvorigen Jahrhundert übriggeblieben ist.<br />

Da tat sie mir richtig leid, muss ich sagen.<br />

Deshalb habe ich auch eine gänzlich andere Einstellung zur Agenda 2010. Ich fand<br />

es eine Katastrophe, dass wir in <strong>di</strong>esem Umfang prekäre Beschäftigung in Deutschland<br />

eingeführt haben. (Beifall) Damit schlagen wir uns ja <strong>di</strong>e ganze Zeit rum. Sehen<br />

Sie mal, da geht es um erzwungene Teilzeitarbeit. Es geht um stän<strong>di</strong>ge Befristungen.<br />

Wenn du immer nur einen befristeten <strong>Ver</strong>trag hast, ist <strong>di</strong>ejenige oder ist derjenige<br />

völlig unsicher. Man kriegt ja nicht mal mehr einen normalen Protest mit den Leuten<br />

hin, weil <strong>di</strong>e sagen: „Wenn mich der Personalchef sieht, kriege ich keinen neuen<br />

<strong>Ver</strong>trag mehr.‚ (Lebhafter Beifall)<br />

Was ich noch schlimmer finde, das muss ich wirklich sagen, das ist <strong>di</strong>e Leiharbeit. Die<br />

wird in einer Art und Weise organisiert, dass ich zugespitzt immer sage, das ist eine<br />

moderne Form der Sklaverei. (Lebhafter Beifall) Wir sagen ja: Leiharbeit weg! Aber<br />

ich sage: Nein, ich mache einen Kompromiss, wenn wir französisches Recht einführen.<br />

Also wenn <strong>di</strong>e Leiharbeiterin und der Leiharbeiter 110 Prozent dessen bekommen,<br />

was an Lohn ein dort Beschäftigter bekommt, dann ist das in Ordnung, dann<br />

wird das eine absolute Ausnahme im Krankheitsfall oder so sein. (Lebhafter Beifall)<br />

Lassen Sie mich noch eine letzte Gruppe nennen, <strong>di</strong>e Aufstockerinnen und<br />

Aufstocker. Da hat mir <strong>di</strong>e Kanzlerin mal gesagt, sie sei stolz darauf, dass der Staat<br />

da was zuzahlt. Ich sage Ihnen: Ich finde, es ist ein Skandal, dass jemand, der einen<br />

Vollzeitjob hat, anschließend zum Jobcenter geschickt wird und nicht einen Lohn<br />

bekommt, mit dem man in Würde leben kann. (Stürmischer Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Bevor wir gleich zu der Bezahlung kommen – das Aufstocken hat ja auch schon <strong>di</strong>rekt<br />

mit dem Mindestlohn zu tun –, würde ich gerne vorher noch einen anderen


Mittwoch, 21. September 2011<br />

535<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Punkt ansprechen. Minijobs sind ja ein großer Teil <strong>di</strong>eser prekären Beschäftigung.<br />

Die sind eingeführt worden – –<br />

Gregor Gysi<br />

1,50-Euro-Jobs, 400-Euro-Jobs und so weiter.<br />

Jan Lerch<br />

Wir kommen gleich noch zur Bezahlung. Gleich haben wir alle Zeit der Welt.<br />

Das ist ja etwas, was ver.<strong>di</strong> beispielsweise fordert, dass im Grunde Minijobs gestrichen<br />

werden. Herr Steinmeier, ist das etwas, von dem Sie sagen: Da gehen wir mit?<br />

Oder ist das etwas, von dem Sie sagen: Nein, nein, jetzt nicht gleich das Kind mit<br />

dem Bade ausschütten.<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Ich finde, <strong>di</strong>es ist das höchste Beschlussgremium der größten Dienstleistungsgewerkschaft<br />

in <strong>di</strong>esem Lande. Das hat mehr ver<strong>di</strong>ent, als dass hier vier Politiker stehen, <strong>di</strong>e<br />

Ihnen nach dem Munde reden. Deshalb werde ich mich nicht so verhalten, wie Gregor<br />

Gysi das eben getan hat, und muss dabei wahrscheinlich auch auf Applaus verzichten.<br />

Deshalb noch mal ein Wort zu Gregor Gysi und zu seiner leicht dahingeworfenen<br />

Kritik an einer Politik, <strong>di</strong>e innerhalb der SPD und innerhalb der Gesellschaft umstritten<br />

war, <strong>di</strong>e tiefe Furchen in Deutschland gezogen hat, ganz ohne Zweifel. Ich habe<br />

nur eine ganz kleine Bitte an das Publikum. Sind Sie wirklich der Meinung, dass es<br />

verantwortliche Politik gewesen wäre, wenn eine Bundesregierung im Jahre 2003<br />

oder 20<strong>04</strong> sich hingestellt und gesagt hätte: Scheiß was drauf, ob nun fünf Millionen<br />

Arbeitslose, 5,5 Millionen Arbeitslose oder sechs Millionen Arbeitslose. Liebe<br />

Kolleginnen und Kollegen, ganz ernsthaft, denn so oft treffen wir uns in <strong>di</strong>eser Zusammensetzung<br />

nicht. Seid Ihr wirklich der Meinung, dass man sich hätte hinstellen<br />

und ignorieren dürfen, dass da etwas stattfindet, ohne umzusteuern?<br />

Ich gehöre ja nicht zu denjenigen, <strong>di</strong>e sagen, man macht keine Fehler in einem solchen<br />

Umsteuerungsprozess. Ich will nur sagen: Hätten wir es nicht gemacht, wir wären<br />

in der Krise 2008 und 2009 handlungsunfähig gewesen. Mit anderen Worten: Es<br />

hätte keine Investitionsprogramme gegeben, keine Konjunkturprogramme 2008 und<br />

2009, wenn wir nicht ein paar Hausaufgaben miteinander vorher gemacht hätten.<br />

Damit, so finde ich, müssen wir uns gemeinsam auseinandersetzen, ich mit dem,<br />

was schiefgegangen ist, aber Ihr bitte auch mit den Alternativen, <strong>di</strong>e sonst stattgefunden<br />

hätten ohne staatliche Stellschrauben.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

536<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Jan Lerch<br />

Herr Steinmeier, wir können ja nicht zurück in das Jahr 2003 oder 20<strong>04</strong>. Ich glaube,<br />

es ist auch nicht sinnvoll, dass wir <strong>di</strong>e Diskussion sozusagen noch mal komplett neu<br />

führen. Ich glaube, sie ist hinlänglich geführt worden. Deswegen <strong>di</strong>e Frage: Wenn,<br />

was ja vielleicht passieren kann, Rot-Grün mal wieder dran käme – es soll ja eine<br />

Möglichkeit dazu geben –, was würde dann konkret geändert werden? Das ist das,<br />

was mich jetzt interessiert. Ich denke beispielsweise an das, wonach ich gerade gefragt<br />

habe, an <strong>di</strong>e Minijobs. Ist das etwas, von dem Sie sagen, nein, das ist ein Konzept,<br />

das wir so beibehalten, oder sagen Sie, nein, das wird ausgenutzt, das ist ein<br />

Mittel, über das vielfach auch Schwarzarbeit läuft, das geht so nicht weiter, das muss<br />

verändert werden?<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Es ist völlig klar, was Gregor Gysi vorhin gesagt hat: In der Leiharbeit müssen wir das,<br />

was dort passiert ist – –<br />

Jan Lerch<br />

Minijobs, Herr Steinmeier, bitte sehr.<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Ja. In der Leiharbeit müssen wir dringend beseitigen, was dort eingerissen ist. Es<br />

geht nicht, dass Stammbelegschaften durch Leiharbeit deshalb ersetzt werden, weil<br />

<strong>di</strong>ese billiger ist. Equal Pay steht deshalb auf der Tagesordnung. Wir haben darum<br />

über <strong>di</strong>e Jahreswende im <strong>Ver</strong>mittlungsausschuss gekämpft. Das war mit der gegenwärtigen<br />

Bundesregierung nicht zu machen.<br />

Was Minijobs angeht, schaut in <strong>di</strong>e Statistiken. Ihr wisst das auch. Es sind zu drei<br />

Viertel Menschen, überwiegend Frauen aller<strong>di</strong>ngs, für <strong>di</strong>e das <strong>di</strong>e zweite Beschäftigung<br />

innerhalb der Familie ist, oft niedrig bezahlt zu unwür<strong>di</strong>gen Be<strong>di</strong>ngungen (Pfiffe).<br />

Deshalb müssen wir das regeln. Meine Antwort darauf ist: Lasst uns nicht wieder<br />

in den Zustand zurückfallen, in dem wir das, was sich dort entwickelt hat, wieder in<br />

<strong>di</strong>e Schwarzarbeit verdrängen. Das ist keine Entwicklung, <strong>di</strong>e wir gemeinsam miteinander<br />

haben wollen. Wir haben jetzt etwa 1,6 Milliarden Einnahmen auch aus den<br />

Minijobs in den Sozialversicherungen. Wir müssen <strong>di</strong>e Praxis beenden, dass sie eingesetzt<br />

werden nach den Bedürfnissen, nach den Tages- und Stundenbedürfnissen<br />

insbesondere im Einzelhandel. Deshalb müssen wir das über <strong>di</strong>e Wochenarbeitszeit<br />

regulieren.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

537<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Aber verlangt mir bitte nicht das Votum ab, dass wir Minijobs für alle Zeit und für <strong>di</strong>e<br />

Zukunft beseitigen. Wahrscheinlich wird das keine Bundesregierung, egal wie sie<br />

zusammengesetzt ist, in Zukunft tun. Ich will es jedenfalls deshalb auch nicht versprechen.<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Weiß, im Gegensatz zu Herrn Steinmeier hätten Sie im Moment <strong>di</strong>e Möglichkeit,<br />

Minijobs abzuschaffen. Tun Sie es oder tun Sie es nicht?<br />

Peter Weiß<br />

Das Problem beim Minijob ist, dass er bei vielen Leuten – bis hin zu Studenten – sehr<br />

beliebt ist. (Buh-Rufe)<br />

Christiane Wirtz<br />

Das sehen hier offenbar viele anders.<br />

Peter Weiß<br />

Aber ich glaube, das sehen <strong>di</strong>e Kolleginnen und Kollegen auch so, und sie kennen<br />

genügend Leute, bei denen er beliebt ist. (Buh-Rufe)<br />

Das Problem, das ich sehe, ist folgendes: Ich möchte eigentlich kein Beschäftigungsverhältnis<br />

in Deutschland haben – ob Minijob oder Maxijob –, in dem keine Ansprüche<br />

aus der Sozialversicherung erwachsen. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Das ist für mich der<br />

entscheidende Punkt.<br />

Wir werden übrigens in <strong>di</strong>eser Woche im Parlament einen Gesetzentwurf einbringen,<br />

mit dem wir regeln, dass Stu<strong>di</strong>erende an dualen Hochschulen, also <strong>di</strong>ejenigen, <strong>di</strong>e<br />

eine Berufsausbildung machen und stu<strong>di</strong>eren, künftig zwingend in allen Sozialversicherungen<br />

sozialversichert sein müssen. Ich finde, mit <strong>di</strong>esem Gesetz geben wir ein<br />

deutliches Zeichen: Es kann in Deutschland keine Beschäftigungsverhältnisse geben,<br />

in denen keine Ansprüche aus der Sozialversicherung erwachsen. (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Gibt es da Dissens, Frau Müller-Gemmeke?


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

538<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Ja. Auch wir Grünen meinen, dass es so mit den Minijobs nicht weitergehen kann.<br />

Im Einzelhandel sind zwei Millionen Arbeitsplätze. Davon sind ein Drittel Minijobs,<br />

und das betrifft vor allem Frauen.<br />

Wir sagen auch, dass <strong>di</strong>e Minijobs reformiert werden müssen. Es darf nur noch sozialversicherungspflichtige<br />

Beschäftigungen geben. (<strong>Ver</strong>einzelt Beifall) Und natürlich<br />

bedeutet das auch, dass es gleiche Löhne und gleiche Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen geben<br />

muss. Wie wir das ausgestalten – natürlich sind <strong>di</strong>e Sozialversicherungsbeiträge eine<br />

hohe Last –, besprechen wir gerade. Wir <strong>di</strong>skutieren gerade in der Fraktion, ob man<br />

in dem Bereich eine degressive Form einbringt, damit es nicht zu belastend ist. Aber<br />

es ist klar: Es muss reformiert werden, und das gilt vor allem, weil wir – damit beschäftigt<br />

sich gerade auch <strong>di</strong>e Regierung – immer mehr in <strong>di</strong>e Altersarmut rutschen.<br />

Das Problem wird immer größer. Hier und jetzt müssen wir <strong>Ver</strong>änderungen vornehmen,<br />

damit <strong>di</strong>eser Zustand in Zukunft anders aussieht.<br />

Christiane Wirtz<br />

Frau Müller-Gemmeke, Sie sagten gerade, besonders viele Frauen machen <strong>di</strong>ese<br />

Minijobs. Eingangs haben Sie gesagt, das hat viel mit den unterschiedlichen Niveaus<br />

der Bezahlung zu tun. Gibt es nicht vielleicht auch viele andere Maßnahmen, <strong>di</strong>e<br />

man verbessern müsste, damit Frauen im Alltag länger und mehr arbeiten könnten?<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Natürlich. Dreh- und Angelpunkt ist <strong>di</strong>e Kinderbetreuung. Es muss natürlich <strong>di</strong>e<br />

Möglichkeit geben – egal, ob man in Berlin oder im ländlichen Raum in Baden-<br />

Württemberg wohnt –, dass Frauen eine passende und gute Kinderbetreuung bekommen,<br />

um mehr arbeiten zu können. Das ist der Dreh- und Angelpunkt.<br />

Christiane Wirtz<br />

Wie konkret kann man das schaffen?<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Da bin ich wieder bei den Kommunen. Die müssen gut ausgestattet sein. Es gibt<br />

auch den Streit, weil <strong>di</strong>e Kommunen sagen, dass sie bei der Kinderbetreuung, <strong>di</strong>e<br />

jetzt ausgebaut werden muss, alleingelassen werden. Wir schlagen vor, dass Bund,<br />

Land und Kommunen jeweils ein Drittel finanzieren, damit <strong>di</strong>e Kommunen das packen<br />

können. Das ist eine Voraussetzung. Der Wille ist bei den Kommunen natürlich<br />

da, dass <strong>di</strong>e Kinderbetreuung ausgebaut wird. Aber es kostet natürlich auch Geld.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

539<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Ich denke, es ist ein Dreh- und Angelpunkt, weil wir auf <strong>di</strong>e gut qualifizierten Frauen<br />

nicht verzichten können. Die sind schließlich da und würden gerne arbeiten.<br />

Jan Lerch<br />

Ich möchte eine kleine Frage in <strong>di</strong>e Runde stellen. Wir reden ja über <strong>di</strong>esen Niedriglohnsektor,<br />

und <strong>di</strong>e Idee dahinter, ihn auszuweiten, war damals: Ja, da bringen wir<br />

<strong>di</strong>e Menschen in Arbeit, und dann kommen sie langsam in Normalarbeitsverhältnisse.<br />

(Gregor Gysi: Dazu würde ich gerne etwas sagen!)<br />

Es gibt eine Untersuchung des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit, wie<br />

viele es nach fünf Jahren schaffen, aus einem sozusagen prekären in ein Normalarbeitsverhältnis<br />

überzuwechseln. Ich würde gerne in <strong>di</strong>e Runde fragen: Wie viele<br />

schaffen es: Jeder Dritte? Jeder Fünfte? Jeder Achte? – Herr Steinmeier, was meinen<br />

Sie?<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Jeder Achte. Ich habe <strong>di</strong>e Statistik gelesen, und das ist entschieden zu wenig. Das<br />

werden wir auch über das Arbeitsmarktrecht allein nicht lösen. Wir werden es langfristig<br />

nur lösen, wenn wir dafür sorgen, dass sich der Staat nicht künstlich verarmt,<br />

und wenn wir <strong>di</strong>e Finanzmittel, <strong>di</strong>e zur <strong>Ver</strong>fügung stehen, dafür nutzen, vor allen<br />

Dingen junge Leute zu qualifizieren, um in besser bezahlte Berufe zu gehen. Das,<br />

was im Augenblick in <strong>di</strong>eser Regierung stattfindet, Herr Weiß, geht in <strong>di</strong>e völlig falsche<br />

Richtung. Aus meiner Sicht war das, was am Anfang passiert ist – ich meine <strong>di</strong>e<br />

Mehrwertsteuersenkung für <strong>di</strong>e Hoteliers –, sozusagen ein Symbol. Es war ein schädliches<br />

Symbol, aber es war noch nicht das Entscheidende.<br />

Wenn Sie jetzt in <strong>di</strong>eser Situation, in der wir über <strong>di</strong>e Schuldenfalle in ganz Europa<br />

reden, sagen: „Wir senken jetzt auch noch <strong>di</strong>e Steuern‚, dann ist das der Schritt in<br />

<strong>di</strong>e völlig falsche Richtung. Dann entziehen wir <strong>di</strong>e Finanzmittel den Bereichen, <strong>di</strong>e<br />

wir dringend brauchen, nämlich <strong>di</strong>e Dienstleistungssektoren und den Bildungsbereich.<br />

Das ist falsch. (Beifall)<br />

Ich glaube, man muss in einer solchen Situation den Mut haben, nicht nur zu sagen,<br />

was man in der <strong>Ver</strong>gangenheit falsch gemacht hat. Vielmehr muss man sich auch<br />

trauen, zu sagen – das will aber niemand hören –, dass der Staat seine Einnahmen<br />

verbessern muss, sprich Steuern erhöhen muss. Aber wenn wir in einer solchen Situation<br />

zwei Prioritäten haben, nämlich erstens <strong>di</strong>e Neuverschuldung zurückzuführen<br />

und zweitens <strong>di</strong>e Ausgaben für Bildung zu erhöhen, dann darf man den Spitzensteuersatz<br />

nicht tabuisieren – jedenfalls nicht dann, wenn man <strong>di</strong>e Bilder aus London<br />

und anderswo hier nicht sehen will. (Beifall)


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Gysi, Sie melden sich schon eine ganze Weile zu Wort.<br />

540<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Gregor Gysi<br />

Ja, und zwar zur Arbeitslosigkeit. Herr Steinmeier hat meine Ausführungen bewertet.<br />

Das lasse ich umgekehrt bleiben. Aber zum Inhalt will ich etwas sagen.<br />

Sie haben gesagt, Sie standen vor der Sorge der größer werdenden Arbeitslosigkeit.<br />

Was ist seit zehn Jahren passiert? – Wir haben 1,8 Millionen Vollzeitjobs verloren in<br />

den letzten zehn Jahren, (Beifall) und dass <strong>di</strong>e Statistik besser aussieht, hängt eben<br />

mit den Minijobs und der prekären Beschäftigung zusammen. Das kann doch nicht<br />

<strong>di</strong>e Lösung unserer Probleme sein. (Beifall)<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Gregor, das ist doch unter Deinem Niveau. Du weißt, dass das nicht <strong>di</strong>e Folge der<br />

Arbeitsmarktgesetzgebung ist, sondern der <strong>Ver</strong>änderung der Struktur der Volkswirtschaft<br />

geschuldet ist. Das ist doch völlig klar. (Zurufe)<br />

Gregor Gysi<br />

Wir könnten uns in der Politik ganz anders in Richtung Vollzeitbeschäftigung orientieren,<br />

als wir es gegenwärtig tun. Die ganzen gesetzlichen <strong>Ver</strong>änderungen – <strong>di</strong>eses<br />

Erlauben von Befristungen fast ohne Sachbegründung; <strong>di</strong>e Sachbegründung ist erleichtert<br />

worden – und vieles andere mehr laden doch zu Missbrauch ein, und genau<br />

das haben wir erlebt. Es ist doch nicht schlimm, zu sagen: Es war falsch, und wir<br />

würden es korrigieren. (Beifall) – Das müssen wir doch wenigstens hinbekommen.<br />

Deshalb ärgert es mich immer, wenn man mit der Arbeitslosenstatistik kommt.<br />

Es ist aller<strong>di</strong>ngs so, dass nur ein kleiner Teil eine unbefristete Vollzeitbeschäftigung<br />

findet. Ich habe doch nichts gegen Teilzeit, wenn sich <strong>di</strong>e Betreffende oder der Betreffende<br />

das wünscht. Aber viele werden zur Teilzeit gezwungen, obwohl sie es<br />

nicht wünschen. Sie bekommen aber kein anderes Angebot. (Beifall) Das sind doch<br />

unsere Probleme.<br />

Zu Steuern will ich nur einen Satz sagen. Es ist richtig, dass wir jetzt Steuern erhöhen<br />

müssen, aber wir müssen auch Steuern senken. Man muss beides machen. Aller-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

541<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

<strong>di</strong>ngs müssen wir mehr erhöhen als senken; das ist wahr. Denn – und da haben Sie<br />

völlig recht – der Slogan „Arm, ärmer, Kommune‚ ist nicht weiter hinnehmbar.<br />

Jan Lerch<br />

Steuersenkungspartei PDS, Linke, Linkspartei – Gregor Gysi.<br />

Gregor Gysi<br />

„Auch‚ habe ich gesagt. Ich habe auch von Steuererhöhungen gesprochen. Nicht<br />

dass ich hier missverstanden werde.<br />

Christiane Wirtz<br />

Wir haben in der ersten Runde versucht, zunächst einmal nicht auf <strong>di</strong>e Entlohnung<br />

von guter Arbeit zu gucken. Aber Sie alle brennen darauf, etwas zu sagen; das haben<br />

wir eben schon gesehen. Wir würden gleich <strong>di</strong>e Delegierten im nächsten Film zu<br />

Wort kommen lassen. (Film)<br />

Das waren Delegiertenstimmen zum Thema Mindestlohn. Auch Praktikanten sollen<br />

einen Mindestlohn bekommen. In den Me<strong>di</strong>en beispielsweise bekommen viele Praktikanten<br />

überhaupt keinen Lohn. Insofern wäre ich sehr dafür, dass man darüber<br />

auch einmal redet. Aber wir wollen insbesondere über den allgemeinen gesetzlichen<br />

Mindestlohn reden.<br />

Das ist eine Forderung, <strong>di</strong>e bis zu 80 Prozent in <strong>di</strong>eser Gesellschaft unterstützen. Seit<br />

vielen Jahren ist das so, und trotzdem ist es immer noch nicht Realität.<br />

Herr Steinmeier, brauchen Sie wirklich <strong>di</strong>e Hilfe von Frau von der Leyen, um das doch<br />

noch hinzukriegen? Wann soll es endlich so weit sein?<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Mit der Hilfe des Wählers wäre es einfacher als mit der Hilfe von Frau von der Leyen.<br />

(Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Aber ich habe den Eindruck, dass sich <strong>di</strong>e SPD bei dem Thema in letzter Zeit recht<br />

ruhig verhalten hat. Gregor Gysi, ist das ein Thema?


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

542<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Jetzt lassen Sie mich erst einmal einen inhaltlichen Satz dazu sagen - -<br />

Jan Lerch<br />

Sie können sofort darauf reagieren. Es geht hin und her. Sie kommen sofort wieder<br />

dran.<br />

Gregor Gysi<br />

Ich habe Sie nicht verstanden.<br />

Jan Lerch<br />

Ich habe gefragt: Ist das, wenn es eine 80-Prozent-Mehrheit in der Bevölkerung gibt<br />

für einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn, der aber, an welchen Dingen auch<br />

immer, immer wieder scheitert und einfach nicht kommen will, dann der Punkt, wo<br />

Sie als Linke sagen: „Vielleicht müssen wir jetzt einfach mal politisch streiken, es<br />

reicht‚?<br />

Gregor Gysi<br />

Auf jeden Fall bin ich der Meinung, wenn <strong>di</strong>e Italienerinnen und Italiener zu einem<br />

Generalstreik berechtigt sind, dass es nicht hinnehmbar ist, dass wir nicht dazu berechtigt<br />

sind. (Beifall) Es kann um verschiedene Fragen gehen. Es kann auch eine<br />

Rentenkürzung für zwei Jahre sein oder was auch immer. Die Gewerkschaften müssten<br />

sich ja verstän<strong>di</strong>gen. Allein das ist schon ein schwieriger Vorgang. Aber irgendwann,<br />

finde ich, muss das zulässig sein. Und das ist in Deutschland ausgeschlossen,<br />

weil wir den Streik ja nur zur Durchsetzung bestimmter Tarifvertragsbe<strong>di</strong>ngungen<br />

haben. Das, finde ich, ist zu eng. Frankreich erlaubt mehr, Italien erlaubt mehr, und<br />

deshalb sollten wir auch mehr erlauben.<br />

Jan Lerch<br />

Noch einmal konkret, bevor dann Frank-Walter Steinmeier dran ist. Noch einmal<br />

konkret: Mindestlohn durchsetzen, eventuell auch über ein solches Mittel? Können<br />

Sie sich das vorstellen?<br />

Gregor Gysi<br />

Ja klar, könnte ich mir das vorstellen. (Beifall) Aber ich würde sagen: Es geht um das<br />

Prinzip, nicht um <strong>di</strong>e Höhe. Sonst wird es etwas wirre.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

543<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Jan Lerch<br />

Herr Steinmeier, Thema Mindestlohn. Brauchen Sie jetzt Hilfe von Frau von der Leyen?<br />

Fällt Ihnen noch etwas ein, wie man das nun endlich einmal in <strong>di</strong>e Realität umsetzt?<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Ich finde, wir haben Ihnen über den Jahreswechsel sogar gezeigt, dass das auch aus<br />

der Opposition heraus geht, aber natürlich nicht mit dem Erfolg, den wir uns wünschen.<br />

Bei den 8,50 Euro Mindeststundenlohn vergessen wir ja immer, darüber zu<br />

reden, dass wir in allererster Linie erst einmal vernünftige Tariflöhne wollen, (Beifall)<br />

darüber hinaus dann Mindestlöhne in der eben genannten Höhe.<br />

Wir haben nicht nur eine gesellschaftliche Mehrheit, sondern ich sehe voraus, dass<br />

wir uns auch in der Politik mit der Forderung nach Mindestlohn durchsetzen. Das ist<br />

schwer. Für drei Berufsbereiche ging das in den <strong>Ver</strong>handlungen des <strong>Ver</strong>mittlungsausschusses<br />

im Dezember und Januar. Das ist aus unserer Sicht ein Schritt nach vorne,<br />

aber es ist nicht genug. Der gesetzliche Mindestlohn muss kommen, und er wird<br />

kommen. (Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Weiß, Sie melden sich schon eine ganze Weile zu Wort, wollen auch darauf<br />

eingehen.<br />

Peter Weiß<br />

Jetzt sind wir schon beim zweiten Thema.<br />

Christiane Wirtz<br />

Wir haben nicht so viel Zeit. Deshalb wollen wir versuchen, möglichst oft durchzugehen.<br />

Peter Weiß<br />

Ich muss aber noch etwas sagen. Natürlich ist jetzt nicht <strong>di</strong>e Zeit für Steuersenkungen.<br />

Das ist vollkommen richtig. Aber es gibt einen Punkt, und der ist für <strong>di</strong>e Arbeitnehmerinnen<br />

und Arbeitnehmer gerade da, wo wenig ver<strong>di</strong>ent wird oder wo mittelmäßig<br />

ver<strong>di</strong>ent wird, wichtig, nämlich dass man nicht mit jeder Lohnerhöhung


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

544<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

automatisch durch <strong>di</strong>e Steuerprogression im Wesentlichen das, was man als Lohnerhöhung<br />

bekommt, weggefressen bekommt. Deswegen muss man alle Jahre den Tarif<br />

korrigieren. Das gehört, glaube ich, auch zu einer vernünftigen Steuerpolitik.<br />

Zweitens. Wenn Herr Gysi schon <strong>Ver</strong>gleiche zu anderen Ländern anstellt: Ich finde,<br />

<strong>di</strong>e deutschen Gewerkschaften können stolz sein auf das, was sie in Deutschland an<br />

Mitbestimmungsregelungen durchgesetzt haben und was sie an Tarifverträgen<br />

durchgesetzt haben. Ich möchte nicht in eines der Länder auswandern, <strong>di</strong>e Herr Gysi<br />

hier genannt hat; denn dort ist längst nicht das erreicht worden, was deutsche Gewerkschaften<br />

haben erreichen können.<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Weiß, vielleicht auch noch einmal zurück zum Mindestlohn.<br />

Peter Weiß<br />

Ich sage auch etwas zum Mindestlohn. Ich persönlich setze mich dafür ein und hoffe,<br />

dass <strong>di</strong>e CDU auf ihrem nächsten Bundesparteitag, der übrigens hier in <strong>di</strong>eser<br />

Halle stattfinden wird – von daher ist es eine gute Vorübung, hier den ver.<strong>di</strong>-<br />

Kongress zu machen –,es hinbekommt, dass auch <strong>di</strong>e Union sich für einen allgemeinen<br />

Mindestlohn ausspricht. (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Aber nicht bei 4,99 Euro, oder? (Heiterkeit) – Ich frage ja nur. (Beifall)<br />

Peter Weiß<br />

Ich halte <strong>di</strong>e Frage für ziemlich daneben, muss ich Ihnen ehrlich sagen, weil es ja<br />

praktische Beispiele gibt. Wir haben zusammen mit den Sozialdemokraten in der<br />

Großen Koalition das Tor aufgemacht für branchenbezogene Mindestlöhne in weiteren<br />

Branchen. Die liegen alle über 4 Euro. Davon reden wir überhaupt nicht. Sie liegen<br />

beim Doppelten.<br />

Der entscheidende Punkt wird aber der sein, und das sage ich als Bundestagsabgeordneter<br />

ganz bewusst: Der Deutsche Bundestag ist der falsche Ort, um einen<br />

Mindestlohn festzulegen. (Widerspruch – Einzelne Pfiffe) Doch. Das Parlament ist der<br />

falsche Ort dafür. Wenn wir das im Deutschen Bundestag festlegen würden, wäre<br />

einer auf Dauer beschä<strong>di</strong>gt, und das wären <strong>di</strong>e Gewerkschaften. (Lachen – Zurufe)<br />

Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen, warum soll denn jemand in <strong>di</strong>e Gewerkschaft


Mittwoch, 21. September 2011<br />

545<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

eintreten, wenn Euer Geschäft, das, was Aufgabe der Gewerkschaften ist, der Bundestag<br />

erle<strong>di</strong>gt? (Zurufe – Pfiffe)<br />

Jan Lerch<br />

Herr Weiß, jetzt wird aber doch relativ deutlich, dass der Weg hin zum Mindestlohn<br />

über <strong>di</strong>e Union doch noch ziemlich steinig werden könnte.<br />

Peter Weiß<br />

Nein.<br />

Jan Lerch<br />

Im Arbeitgeberlager – das werden Sie ja jetzt gleich hier wahrscheinlich ansprechen –<br />

gibt es ja doch noch den einen oder anderen, der das nun partout überhaupt nicht<br />

möchte. Der Weg dürfte länger dauern. Also wahrscheinlich nicht länger als bis<br />

2013. (Beifall)<br />

Peter Weiß<br />

Ich finde, wenn <strong>di</strong>e Gewerkschaften stark bleiben und stärker werden wollen, dann<br />

müssen sie das Konzept des Handelns beim Mindestlohn in der Hand halten. Deswegen<br />

möchte ich eine Lösung haben, dass entweder im gemeinsamen Tarifausschuss<br />

oder vielleicht in einem erweiterten gemeinsamen Tarifausschuss, also in einer<br />

Art Low Pay Commission, wie es sie in Großbritannien gibt, der Mindestlohn verhandelt<br />

wird von den Tarifpartnern.<br />

Entschul<strong>di</strong>gung, das, was wir bei den branchenbezogenen Mindestlöhnen, bei den<br />

zehn, <strong>di</strong>e wir mittlerweile in Deutschland haben, erreicht haben, sieht doch in Wahrheit<br />

gar nicht so schlecht aus. Deswegen ist meine Auffassung: Der Bundestag ist<br />

der ungeeignete Ort. Es muss ein zwischen den Tarifpartnern verhandelter Mindestlohn<br />

sein, den wir als Regierung oder Parlament anschließend für allgemeinverbindlich<br />

erklären. Das ist, finde ich, auch <strong>di</strong>e Position, mit der <strong>di</strong>e Gewerkschaften stärker<br />

werden können. Wenn sie <strong>di</strong>e Tarifpolitik an den Bundestag delegieren, werden <strong>di</strong>e<br />

Gewerkschaften schwächer werden.<br />

Ich glaube, dass wir ein solches Konzept - -<br />

Gregor Gysi<br />

Ich glaube, es gibt hier ein Missverständnis.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Jan Lerch<br />

Bitte jetzt mal <strong>di</strong>skutieren, <strong>di</strong>e Herren.<br />

546<br />

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Peter Weiß<br />

Ich glaube, dass es für ein solches Konzept eine Mehrheit in Deutschland geben<br />

kann.<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Jetzt rede ich mal. Ich glaube, ich habe am wenigsten sagen können.<br />

Jan Lerch<br />

Jetzt geht das Wort zunächst an Herrn Steinmeier und dann an Herrn Gysi.<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Nur weil drei Männer hier sind, muss <strong>di</strong>e Frau jetzt nicht weniger reden. (Beifall)<br />

Ich möchte Herrn Weiß an einem Punkt ein bisschen in Schutz nehmen und ihn an<br />

einem anderen Punkt etwas angreifen. Ich glaube, der größte Hemmschuh in <strong>di</strong>eser<br />

Regierung ist natürlich <strong>di</strong>e FDP. Das muss man auch mal so benennen. (Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Nur <strong>di</strong>e ist jetzt leider nicht da.<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Ich denke, <strong>di</strong>e CDU ist durchaus offen dafür.<br />

Wo ich aber Kritik übe, und darüber <strong>di</strong>skutieren wir teilweise momentan auch in unseren<br />

Debatten, auch im Ausschuss für Arbeit und Soziales: Das Hauptproblem ist<br />

doch, dass immer weniger Menschen, gerade einmal ein wenig mehr als <strong>di</strong>e Hälfte,<br />

von tariflichen Regelungen noch geschützt sind. Das heißt, in vielen Bereichen funktioniert<br />

<strong>di</strong>e Tarifautonomie gar nicht mehr. Man muss also stützen, politisch stützen.<br />

Wir schlagen wirklich mehr branchenspezifische Mindestlöhne vor. Öffnen Sie doch<br />

endlich das Arbeitnehmerentsendegesetz für alle Branchen, sodass <strong>di</strong>e Branchen sel-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

547<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

ber entscheiden können, ob sie Mindestlöhne haben wollen oder nicht. Außerdem<br />

muss man <strong>di</strong>e Schwellen verändern, weil überhaupt keine Tarifverträge mehr für allgemeinverbindlich<br />

erklärt werden können. Das wäre ein Schritt, um gegen Tarifflucht<br />

vorzugehen und <strong>di</strong>e Gewerkschaft wieder zu stärken.<br />

Eines ärgert mich immer wieder. Sie reden immer von Tarifautonomie und so weiter.<br />

Dann stärken Sie doch <strong>di</strong>e Gewerkschaften. Treffen Sie Maßnahmen, damit <strong>di</strong>e Tarifflucht,<br />

<strong>di</strong>e OT-Mitgliedschaften und so weiter, endlich ein Ende haben. Und das geht<br />

nur über für allgemeinverbindlich erklärte Tariflöhne. (Beifall)<br />

Gregor Gysi<br />

Darf ich ein Missverständnis aufklären. Peter Weiß war doch gar nicht dagegen, dass<br />

der Bundestag den gesetzlichen Mindestlohn einführt. Er hat nur gesagt, <strong>di</strong>e konkrete<br />

Höhe solle in anderen Gremien verhandelt werden. Ich glaube, hier gab es ein<br />

Missverständnis.<br />

Peter Weiß<br />

Genau.<br />

Gregor Gysi<br />

Ich wollte Ihnen ausnahmsweise mal beistehen.<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Das sind gute Allianzen.<br />

Peter Weiß<br />

Liebe Kolleginnen und Kollegen, der entscheidende Punkt ist doch der und richtig<br />

ist: Allgemeinverbindlichkeitserklärungen stärken <strong>di</strong>e Tarifpartner, weil ihre Ergebnisse<br />

für alle gültig werden. Wir haben mittlerweile in zehn Branchen Mindestlohnregelungen,<br />

<strong>di</strong>e für allgemeinverbindlich erklärt worden sind, wo also tarifliche Lösungen<br />

für allgemeinverbindlich erklärt worden sind.<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Der Mindestlohn für <strong>di</strong>e Post fehlt, der für <strong>di</strong>e Weiterbildung auch. (Beifall)


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Jan Lerch<br />

Herr Weiß, ich möchte noch etwas einwerfen.<br />

548<br />

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Peter Weiß<br />

In der Zeit der rot-grünen Koalition ist ein einziger Mindestlohn für allgemeinverbindlich<br />

erklärt worden, unter einer schwarzen Kanzlerin sind neun für allgemeinverbindlich<br />

erklärt worden. (Zuruf) – Entschul<strong>di</strong>gung, das sind aber <strong>di</strong>e Fakten.<br />

Jan Lerch<br />

Herr Weiß, ich möchte noch ein anderes Argument einführen. Es gibt etwas, was Sie<br />

möglicherweise unterschätzen an <strong>di</strong>esem allgemeinen Mindestlohn, den irgendwie<br />

jeder kennt. In Großbritannien gibt es den, und der wird auch bei ungeregelter Arbeit<br />

wie zum Beispiel Babysitting gezahlt, einfach weil das so eine gesellschaftliche<br />

Norm geworden ist. Darunter wird einfach nicht gezahlt. (Beifall)<br />

Peter Weiß<br />

Warum wollen Sie mir das erklären?<br />

Jan Lerch<br />

Ich will Ihnen erklären: 9,78 für Maurer, 7,52 für Pflegekräfte, whatever, whatever,<br />

das ist ziemlich heterogen. Das ist nicht etwas, wo alle wissen, das ist klar, 8,50, das<br />

ist es. Das kann keiner mehr durchschauen. Dann hat auch <strong>di</strong>e möglicherweise<br />

schwarz beschäftigte Putzfrau zu Hause, möglicherweise der Babysitter, whatever,<br />

nichts davon. Insofern glaube ich, ich plä<strong>di</strong>ere einfach mal dafür, wäre das möglicherweise<br />

etwas, wo <strong>di</strong>eser allgemeine Mindestlohn, den jeder kennt, in der Gesellschaft<br />

etwas verändert.<br />

Peter Weiß<br />

Davon bin ich ja auch überzeugt. Ich wiederhole es noch einmal: Ich bin neben den<br />

branchenbezogenen Mindestlöhnen, <strong>di</strong>e wir haben und wo wir erfolgreich waren –<br />

ich wiederhole es, von denen neun von zehn unter einer schwarzen Kanzlerin und<br />

Kanzler eingeführt worden sind, das müssen auch <strong>di</strong>e Leute, <strong>di</strong>e eine politisch andere<br />

Auffassung haben, zur Kenntnis nehmen – für einen allgemeinverbindlichen Mindestlohn<br />

in Deutschland, weil wir das nicht in allen Bereichen und Branchen erreichen<br />

werden.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

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ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Ich habe nur etwas dazu gesagt, wie der Weg sein muss, um <strong>di</strong>esen Mindestlohn<br />

festzulegen. Und da muss man einen Weg wählen, an dem <strong>di</strong>e Gewerkschaften beteiligt<br />

sind und eine starke Rolle spielen. Darauf ist es mir angekommen.<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Steinmeier, es drängt Sie, darauf einzugehen.<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Ich kann nur noch einmal daran erinnern. Es ist viel Kreativität von der Union aufgewendet<br />

worden, um gegen <strong>di</strong>e Mindestlöhne zu streiten. Es gibt 22 Länder in Europa,<br />

<strong>di</strong>e mit Mindestlöhnen leben und bei denen <strong>di</strong>e Arbeitnehmer in den Niedriglohn-Bereichen<br />

jedenfalls besser leben als bei den <strong>Ver</strong>hältnissen, wie sie bei uns im<br />

Bewachungsgewerbe und anderswo vorhanden sind.<br />

Ich freue mich darüber, dass meine Prognose, dass wir zu Mindestlöhnen kommen<br />

werden, auf dem Weg ist, und ich prophezeie, innerhalb der nächsten Jahre wird<br />

sich das durchsetzen, weil auch <strong>di</strong>e Union den Widerstand gegen <strong>di</strong>ese 80 Prozent<br />

Überzeugung im deutschen Volk nicht dauerhaft durchhalten wird. (Beifall)<br />

Ich freue mich darüber, dass es hier mindestens in Teilen auch Einverständnis über<br />

den richtigen Weg gibt, nämlich das Entsendegesetz zu öffnen für andere Branchen.<br />

Ich hätte mir gewünscht …<br />

Christiane Wirtz<br />

Kopfschütteln bei allen anderen? Habe ich das richtig gesehen?<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Ich hätte mir gewünscht, dass wir in <strong>di</strong>eser Position da Unterstützung erfahren hätten<br />

während der <strong>Ver</strong>handlungen um den Regelsatz Hartz IV im Sommer und im<br />

<strong>Ver</strong>mittlungsausschuss. Da war nämlich <strong>di</strong>e Regierungspartei ganz anderer Auffassung.<br />

Keineswegs ist sie <strong>di</strong>esen Weg mitgegangen und, in aller Freundschaft, <strong>di</strong>e<br />

Grünen leider auch nicht bis zu Ende, weil sie frühzeitig aus dem <strong>Ver</strong>mittlungsausschuss<br />

ausgestiegen sind. Wir waren <strong>di</strong>e Einzigen …<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Ja, ja, ja.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

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Mittwoch, 21. September 2011<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Wir waren <strong>di</strong>e Einzigen, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>esen Weg zu Ende gegangen sind. Deshalb war es ja<br />

nicht ganz freiwillig – wenn ich das sagen darf, Herr Weiß -, dass <strong>di</strong>e Parteien der<br />

Bundesregierung den Weg in Mindestlöhne mitgegangen sind, sondern wir haben<br />

sie gezwungen dahin, weil wir ansonsten den Kompromiss nicht mitgetragen hätten.<br />

Jan Lerch<br />

Ganz kurz Herr Gysi.<br />

Gregor Gysi<br />

Ich muss Sie korrigieren. Das war nicht der <strong>Ver</strong>mittlungsausschuss, sondern das war<br />

eine interne Runde. Wäre es der <strong>Ver</strong>mittlungsausschuss gewesen, wären wir ja dabei<br />

gewesen.<br />

Aber davon mal abgesehen, will ich eine Sache sagen, und jetzt mache ich mich<br />

auch unbeliebt bei den Gewerkschaften. Mich stört wirklich, dass immer wieder ein<br />

geringerer Mindestlohn Ost als West vereinbart wird. Das geht nicht mehr. (Bravo-<br />

Rufe – Beifall) Ich will das klipp und klar sagen: Das geht nicht mehr!<br />

Deshalb bin ich natürlich auch für einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn.<br />

Der muss auch angemessen sein und der muss Armut verhindern, der muss<br />

Aufstockung und Aufstocker zumindest bei Vollzeitbeschäftigung verhindern, und so<br />

weiter. Das ist mir wirklich wichtig.<br />

Ich habe es am Beispiel von Großbritannien stu<strong>di</strong>ert. Auch <strong>di</strong>e Festlegung, <strong>di</strong>e dort<br />

jedes Jahr ist. Alle haben mir immer gesagt, <strong>di</strong>e Arbeitslosigkeit nähme zu. Die hat in<br />

Großbritannien dadurch nicht zugenommen. Anfangs gab es Hilfen, und jetzt haben<br />

sie sich daran gewöhnt.<br />

Weltweit sind es 100 Staaten mit einem gesetzlichem Mindestlohn. Wir sollten doch<br />

hier in Deutschland nicht so tun, als wir schlauer wären als 100 andere Staaten und<br />

ihn endlich einführen. (Leichter Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Ich bin so froh gewesen, dass Sie gerade sozusagen <strong>di</strong>e Überleitung gemacht haben,<br />

Gregor Gysi, zu unserem nächsten Thema. Equal Pay, gleiche Bezahlung, das gilt für<br />

Ost und West, das gilt aber sozusagen auch für Leiharbeiter und <strong>di</strong>e sogenannten<br />

Stammbelegschaften. Wir haben das Thema vorhin schon kurz gestreift. Da ist ja


Mittwoch, 21. September 2011<br />

551<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

auch sehr, sehr viel passiert unter Rot-Grün. Da ist sozusagen alles aufgemacht worden,<br />

sogar Schlecker konnte da durch <strong>di</strong>e ganzen Scheunentore durchlaufen, <strong>di</strong>e da<br />

geöffnet wurden.<br />

Die Frage ist: Was wird davon sozusagen wieder zurückgenommen? Welche Schlupflöcher<br />

werden wieder zugemacht? Wie wird das, wo sich alle mehr oder weniger<br />

einig sind, dass es da jetzt einen Wildwuchs gibt, wie wird das tatsächlich konkret<br />

wieder begrenzt?<br />

Ich fange mal an mit <strong>di</strong>esem Equal Pay. Die Krankenschwester, <strong>di</strong>e eingesetzt wird<br />

irgendwie und innerhalb von drei Tagen genauso viel leistet wie <strong>di</strong>e Krankenschwester,<br />

<strong>di</strong>e ohnehin schon da war, oder der Busfahrer, der den Bus genauso gut fährt.<br />

Frank-Walter Steinmeier. Equal Pay ab dem ersten Tag, ab dem zehnten Tag?<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Um es ganz klar zu sagen: Das ist eine komplette Fehlentwicklung, <strong>di</strong>e dort stattfindet.<br />

Insofern falsch und es muss eingedämmt werden. Es kann nicht sein, dass<br />

Stammbelegschaften durch riesige Größenordnungen von Leiharbeitnehmern ersetzt<br />

werden. Es gibt nur einen Weg, das einzudämmen, und das haben uns andere Europäer<br />

auch vorgemacht, nämlich Equal Pay, das dafür sorgt, dass Leiharbeitnehmer<br />

nicht attraktiver sind als Stammbelegschaften, und deshalb ist Equal Pay aus meiner<br />

Sicht der einzig richtige Weg.<br />

Jan Lerch<br />

Ab dem ersten Tag?<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Weiß, wie sehen Sie das?<br />

Peter Weiß<br />

Ich glaube, dass es wirklich an der Zeit ist, wieder Ordnung auf dem Arbeitsmarkt zu<br />

schaffen. (Lachen) – Ja, wir machen das ja auch. (Widerspruch) Entschul<strong>di</strong>gung. In<br />

welcher Zeit sind <strong>di</strong>e ersten Korrekturen an dem, was wir aus der rot-grünen Zeit<br />

geerbt haben, beschlossen worden? Wann? (Zurufe) – Okay. Jeder beantwortet es<br />

für sich.<br />

Deswegen bin ich froh, dass wir jetzt eine Lohnuntergrenze für <strong>di</strong>e Zeitarbeit allgemeinverbindlich<br />

in Deutschland bekommen. Herr Steinmeier hat zu Recht darauf


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

552<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

hingewiesen, dass das Thema der <strong>Ver</strong>handlungen mit den Sozialdemokraten über<br />

das Sozialgesetzbuch II war, weil natürlich der Koalitionspartner FDP sich an der Stelle<br />

unwahrscheinlich schwertut.<br />

Wir haben übrigens in <strong>di</strong>eser <strong>Ver</strong>einbarung auch verabredet, dass wir zwei weitere<br />

branchenbezogene Mindestlöhne möglich machen wollen. Auch <strong>di</strong>e kommen. Wir<br />

haben uns leider nicht bei dem Thema Equal Pay geeinigt. Das bedauere ich. Ich<br />

muss aber sagen, es hat einen Zeitpunkt gegeben, da hätte man eine vernünftige<br />

Lösung verabreden können. Da hat aber <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>handlungsführerin der SPD plötzlich<br />

ihre Strategie geändert.<br />

Deswegen sind wir wie folgt verblieben: Wir hören von den Tarifpartnern, dass sie<br />

bereit sind, in <strong>di</strong>esem Herbst über eine Regelung zu Equal Pay tariflich zu verhandeln.<br />

Wenn das geschieht, dann würden wir <strong>di</strong>e rechtlichen Voraussetzungen dafür schaffen,<br />

eine solche Lösung für allgemeinverbindlich zu erklären, weil ich der Überzeugung<br />

bin, es ist richtig, dass nach einer gewissen Einarbeitungszeit tatsächlich Equal<br />

Pay gezahlt wird.<br />

Christiane Wirtz<br />

Vom ersten Tag an?<br />

Jan Lerch<br />

Nein. Einarbeitungszeit heißt wie viel bei Ihnen? Was ist da Ihre persönliche Meinung?<br />

Peter Weiß<br />

Ich glaube, dass wir in den <strong>Ver</strong>handlungen drei Monate hätten durchsetzen können.<br />

(Lachen) Wenn wir drei Monate geschafft hätten, wäre das ein Riesenerfolg gewesen<br />

unter den Be<strong>di</strong>ngungen, unter denen wir stehen. (Unruhe)<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Steinmeier muss korrigieren.<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Damit das nicht falsch im Raum hängen bleibt. Ich ahne, was Sie meinen mit einer<br />

veränderten Strategie der <strong>Ver</strong>handlungsführerin der SPD. Frau Schwesig hat mit Ihren<br />

Leuten darüber geredet, ob eine Einarbeitungszeit von sechs Monaten akzepta-


Mittwoch, 21. September 2011<br />

553<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

bel ist. Da haben Sie gesagt, ist es nicht. Der nächste Schritt war, dass Ihr Koalitionspartner<br />

gesagt hat, sechs Monate sind in der Tat nicht akzeptabel. Wir wollen neun<br />

Monate und am liebsten zwölf Monate Einarbeitungszeit. Da haben wir in der Tat<br />

gesagt, da können wir uns nicht verstän<strong>di</strong>gen. Zu Recht. (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Ganz kurz will ich noch wissen – wir können das jetzt, glaube ich, nicht komplett<br />

nachvollziehen –, es sind ja sozusagen auch alle Schleusen aufgemacht worden, was<br />

<strong>di</strong>e Dauer von Zeitarbeit angeht und so weiter. Wollen Sie da auch Dinge zurücknehmen,<br />

oder sagen Sie nein, auch wenn wir wissen von der Untersuchung, <strong>di</strong>e wir<br />

vorhin angesprochen haben, <strong>di</strong>e Leute kommen aus <strong>di</strong>esem Zeitarbeitsbereich relativ<br />

selten in Normalarbeitsverhältnisse, auch wenn das nicht so funktioniert, wie viele<br />

gehofft haben, bleiben wir trotzdem dabei, Zeitarbeit kann unbefristet eingesetzt<br />

werden.<br />

Peter Weiß<br />

Wir haben das jetzt auch nicht geregelt, aber ich kann sagen, dass es unter den Kolleginnen<br />

und Kollegen, <strong>di</strong>e sich bei uns übrigens aus dem Mittelstand wie aus den<br />

Sozialausschüssen im Arbeitsausschuss befinden, <strong>di</strong>e Auffassung gibt, dass wir auch<br />

dazu eine Regelung treffen sollten, dass es eine zeitliche Befristung für Zeitarbeit<br />

geben muss. Das ist auch der europäischen Zeitarbeitsrichtlinie entsprechend und<br />

eigentlich von daher zwingend geboten.<br />

Jan Lerch<br />

Danke. Dann kommen wir zu einem dritten – –<br />

Gregor Gysi<br />

Es gibt noch einen dritten Vorschlag. Dass wir französisches Recht bei Leiharbeit einführen.<br />

Das hieße, dass <strong>di</strong>e Leiharbeiterin beziehungsweise der Leiharbeiter von Anfang<br />

an 110 Prozent des Lohnes bekommen. Dann wird es wirklich eine Ausnahme.<br />

(Beifall) Das ist in Frankreich so geregelt.<br />

Jan Lerch<br />

Der Vorschlag der Linken ist also: Noch etwas drauflegen, weil es sozusagen ein prekäres<br />

Arbeitsverhältnis ist.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

554<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Gregor Gysi<br />

Da gibt es aber auch zwei Begründungen: Erstens haben <strong>di</strong>e Leiharbeiterinnen und<br />

Leiharbeiter nicht immer einen Job, und sie müssen sich immer einarbeiten. Zum<br />

Zweiten soll es eben für das Unternehmen teurer sein, damit gesichert ist: Das passiert<br />

wirklich nur in Ausnahmesituationen. (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Wobei man, Herr Gysi, der Korrektheit halber sagen muss, dass natürlich, wenn <strong>di</strong>e<br />

Leiharbeitsfirma bezahlt werden muss, Equal Pay schon teurer für das Unternehmen<br />

wäre.<br />

Gregor Gysi<br />

Ja, klar.<br />

Jan Lerch<br />

Gleicher Lohn heißt das für das Unternehmen dann nicht.<br />

Wir kommen zum dritten Aspekt. Der ist ein bisschen anders, aber, wie ich glaube,<br />

auch spannend. Da geht es um <strong>di</strong>e Mitarbeiter in kirchlichen Einrichtungen. Sie wissen<br />

es und sind hier informiert: Da ist einiges anders als normalerweise.<br />

Wir haben hier auf dem Kongress einige gefragt, was sie sich wünschen, was sich da<br />

ändern soll. (Film – Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Weiß, bislang ist es – jedenfalls juristisch – umstritten, ob man als kirchlicher<br />

Mitarbeiter streiken darf. Das Landesarbeitsgericht Hamm hat Anfang des Jahres eine<br />

Entscheidung dazu getroffen, dass in dem Fall gestreikt werden durfte. Das Ganze<br />

wird jetzt vom Bundesarbeitsgericht, vermutlich auch irgendwann vom Bundesverfassungsgericht<br />

entschieden werden müssen.<br />

Nun steht schon in der Bibel: Liebe deinen nächsten wie <strong>di</strong>ch selbst. Was ist so verkehrt<br />

daran, für gerechte Arbeitsbe<strong>di</strong>ngungen zu streiten und auch zu streiken?<br />

Peter Weiß<br />

Dagegen ist gar nichts einzuwenden.


Mittwoch, 21. September 2011<br />

555<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Christiane Wirtz<br />

Es gab eine Kleine Anfrage. Die Bundesregierung hat in dem Fall gesagt: Es gibt keinen<br />

wirklichen Änderungsbedarf in <strong>di</strong>esen Punkten.<br />

Peter Weiß<br />

Die Bundesregierung sagt das, was in der <strong>Ver</strong>fassung steht. Mit der Weimarer<br />

Reichsverfassung – <strong>di</strong>ese Bestimmungen sind ja in das Grundgesetz übernommen<br />

worden – ist geregelt worden, dass <strong>di</strong>e Kirchen ihre eigenen Angelegenheiten selbst<br />

regeln können. Das war damals nicht ein Recht besonderer Art für <strong>di</strong>e Kirche, sondern<br />

war der Abschied vom Staatskirchenrecht, als der Staat in <strong>di</strong>e Kirche hineinregiert<br />

hat und zum Beispiel ein evangelischer Oberkirchenrat nur auf allerhöchste<br />

Anweisungen des jeweiligen Fürsten oder König etwas beschließen konnte. Die<br />

Weimarer Kirchenartikel waren also ein Stück Befreiung der Kirche und Trennung<br />

von Kirche und Staat. Davon kommt das Recht der Kirchen.<br />

Selbstverständlich können <strong>di</strong>e Kirchen zum Beispiel <strong>Ver</strong>handlungen mit den Gewerkschaften<br />

über Tarifverträge führen. Sie können auch das Streikrecht zulassen. Aber<br />

<strong>di</strong>e Kirchen in Deutschland haben sich mit dem sogenannten dritten Weg für ein<br />

anderes System entschieden, indem sie in paritätisch besetzten Kommissionen zum<br />

einen ihr Arbeitsvertragsrecht, in dem das Streiken untersagt ist, regeln und zum<br />

Zweiten <strong>di</strong>e Tarife regeln. Das muss man nicht für alle Zeiten so beibehalten.<br />

Diese Frage können wir aller<strong>di</strong>ngs nicht im Bundestag entscheiden, sondern <strong>di</strong>e muss<br />

in den kirchlichen Parlamenten entschieden werden. Da gehört sie hin. (Pfiffe) So ist<br />

es.<br />

Christiane Wirtz<br />

Das kann man partiell auch anders sehen, zumal das Landesarbeitsgericht in Hamm<br />

<strong>di</strong>e Rechtslage offenbar nicht ganz so eindeutig sieht, wie Sie das gerade beschrieben<br />

haben. Im Grundgesetz scheint es nicht zwingend festgeschrieben zu sein, dass<br />

es ein Streikverbot für kirchliche Mitarbeiter gibt.<br />

Peter Weiß<br />

Die Rechtsprechung in Deutschland durch <strong>di</strong>e obersten Gerichte, übrigens auch<br />

durch <strong>di</strong>e europäischen Gerichte, hat <strong>di</strong>eses Recht der Kirchen jeweils bestätigt.<br />

Deswegen kann ich jetzt dahinter keine Fragezeichen machen. Das ist eine Frage, <strong>di</strong>e<br />

aufgrund der <strong>Ver</strong>fassungslage zuerst in den Kirchen entschieden werden muss.


ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

556<br />

Mittwoch, 21. September 2011<br />

Ich habe in einem Gespräch mit ver.<strong>di</strong>-Kolleginnen und Kollegen gesagt: Da muss<br />

man auch einmal für <strong>di</strong>e Synode, für den Diözesanrat und solche Gremien kan<strong>di</strong><strong>di</strong>eren,<br />

um dort eine andere Politik einzuleiten. Das kann man ja machen. Da gibt es ja<br />

demokratische Wahlen. Es kommt da aller<strong>di</strong>ngs darauf an, wie viele Leute zum Wählen<br />

gehen.<br />

Das Zweite ist: Ich glaube, das Thema ist deswegen so virulent - auch auf <strong>di</strong>esem<br />

Kongress virulent -, weil wir leider erlebt haben und erleben, dass es im Bereich der<br />

Kirchen zunehmend Rosinenpickerei gibt. Das heißt, <strong>di</strong>e Regelungen, <strong>di</strong>e an und für<br />

sich von Kirchengremien beschlossen worden sind und <strong>di</strong>e zum Teil ganz ordentlich<br />

aussehen, werden von einzelnen kirchlichen Anstellungsträgern nicht eingehalten.<br />

Die sagen: Wir wollen zwar Kirche bleiben und wollen kein Streikrecht, aber wir halten<br />

uns nicht an <strong>di</strong>e kircheneigenen Regelungen.<br />

Dazu muss ich klar und deutlich sagen: Rosinenpickerei <strong>di</strong>eser Art – ich will Kirche<br />

sein, aber ich will mich nicht an <strong>di</strong>e Regeln halten – wird dazu führen, dass das kirchliche<br />

Arbeitsrecht gänzlich zusammenbricht.<br />

Christiane Wirtz<br />

Ist da nicht <strong>di</strong>e Politik gefordert, <strong>di</strong>esen Raum für Arbeitnehmer so sicher zu machen,<br />

dass <strong>di</strong>e Rosinenpickerei nicht mehr möglich ist? (Beifall) Das wäre ja eine Frage zum<br />

Streikrecht.<br />

Peter Weiß<br />

Es muss klar sein – ich finde, das ist heute auch schon klar -: Wenn ein kirchlicher<br />

Träger einen Teil seines Betriebes ausgründet und sich nicht mehr an das kirchliche<br />

Arbeitsrecht und vor allen Dingen nicht an <strong>di</strong>e tariflichen <strong>Ver</strong>gütungsregeln hält,<br />

dann ist <strong>di</strong>eser Bereich nicht mehr von dem besonderen Schutz erfasst, den <strong>di</strong>e Kirchen<br />

haben. Dann kann dort gestreikt werden, dann können dort auch Tarifverträge<br />

ausgehandelt werden.<br />

Diese Art von Rosinenpickerei wird zu Recht von ver.<strong>di</strong> angegriffen.<br />

Jan Lerch<br />

Frau Müller-Gemmeke, reicht Ihnen das als Vorschlag, dass sozusagen <strong>di</strong>e Gewerkschaften<br />

versuchen sollen, auf <strong>di</strong>e kirchlichen Gremien ein bisschen Druck auszuüben,<br />

und dann wird das schon was werden?


Mittwoch, 21. September 2011<br />

557<br />

ver.<strong>di</strong> Bundeskongress 2011<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Nein, da muss ich ihm vehement widersprechen. Vielleicht ganz kurz: Ich selber habe<br />

<strong>di</strong>ese Kleine Anfrage gestellt. Ich habe <strong>di</strong>e Bundesregierung nicht nur gefragt, ob sie<br />

mir <strong>di</strong>e gesetzlichen Grundlagen erklären kann, sondern ich habe sie auch nach der<br />

Einschätzung der vorliegenden Gerichtsentscheidungen gefragt. Ich habe sie gefragt,<br />

ob es unter <strong>di</strong>esen und jenen Be<strong>di</strong>ngungen noch zeitgemäß ist, an dem Sonderweg<br />

festzuhalten. Ich habe sie sozusagen nach ihrer Meinung gefragt, aber ich habe keine<br />

Antwort darauf bekommen.<br />

Für mich ist ganz klar: Wenn <strong>di</strong>e Kirchen <strong>di</strong>esen Sonderweg haben, müssen sie auch<br />

verantwortungsvoll handeln. Wenn sich dann herausstellt, dass <strong>di</strong>e betriebliche Praxis<br />

nicht mehr mit den christlichen Werten übereinstimmt, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Kirchen sonst immer<br />

vertreten, dann – jetzt kommt der Widerspruch – muss ich nicht darauf warten, dass<br />

<strong>di</strong>e Kirchen etwas verändern, und ich muss nicht <strong>di</strong>e Gewerkschaften vorschicken.<br />

Vielmehr ist dann <strong>di</strong>e Politik zum Schutze der Beschäftigten gefragt. Sie muss sich<br />

dann mit der Situation beschäftigen und schauen, was verändert werden muss, damit<br />

<strong>di</strong>ese Missstände, <strong>di</strong>e insbesondere natürlich bei der Diakonie vorherrschen, behoben<br />

werden.<br />

Es geht nicht nur um <strong>di</strong>e Löhne, sondern auch um <strong>di</strong>e Mitbestimmung, <strong>di</strong>e nicht<br />

gleich ist. Es geht um Kün<strong>di</strong>gungsgründe, also Loyalitätspflichten. Ich denke, wir, <strong>di</strong>e<br />

Politik, müssen darüber nachdenken, ob wir da nicht wirklich Unterscheidungen vornehmen<br />

sollten.<br />

Auf der einen Seite gibt es <strong>di</strong>e verfasste Kirche, wo <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>kün<strong>di</strong>gung im Mittelpunkt<br />

steht, und auf der anderen Seite gibt es <strong>di</strong>e ganzen gesellschaftlichen Aufgaben, <strong>di</strong>e<br />

mit Steuergeldern, Beitragsgeldern und so weiter finanziert werden. Hier sollte gleiches<br />

Recht für alle Beschäftigten gelten, auch in dem Bereich, der momentan unter<br />

den Sonderweg fällt. (Leichter Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Steinmeier, ich habe hier heute bei dem ver.<strong>di</strong>-Bundeskongress gelernt, dass<br />

selbst <strong>di</strong>e Beschäftigten im Vatikan Tarifverträge haben. Die Frage offen gestellt: Ist<br />

der dritte Weg noch zeitgemäß?<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Ich kenne mich in den Kirchen ein bisschen aus, in der evangelischen besser als in<br />

der katholischen, beim Diakonischen Werk besser als bei der Caritas. Das, worüber<br />

wir reden, ist nicht nur ein Streit zwischen Gewerkschaften und den Kirchen bezie-


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hungsweise den Sozialverbänden, sondern das ist auch ein Streit innerhalb der Kirchen.<br />

Wir müssen uns nicht vormachen, als ob nur wir darüber streiten.<br />

Ich glaube, im Bereich des Diakonischen Werks hat man einen Schritt getan, der <strong>di</strong>esen<br />

Streit sogar dynamisiert hat: Das war <strong>di</strong>e Entscheidung des Diakonischen Werks,<br />

dem Arbeitgeberverband beizutreten. Damit hat man signalisiert: Wir möchten im<br />

Grunde genommen auf der Arbeitgeberseite <strong>di</strong>e Vorteile einer Tarifvereinigung, ohne<br />

gleichzeitig <strong>di</strong>e Nachteile in Kauf zu nehmen.<br />

Aus Arbeitgebersicht ergibt sich dadurch natürlich der Nachteil, dass auch <strong>di</strong>e Arbeitnehmer<br />

sich innerhalb wie außerhalb des kirchlichen Bereichs organisieren. Dass<br />

das aus Arbeitgebersicht ein Fehler und ein Widerspruch ist, der nicht durchzuhalten<br />

ist, hat man offenbar auch innerhalb des Diakonischen Werkes gemerkt, und man<br />

hat langsam den Rückzug aus der Arbeitgebervereinigung angetreten.<br />

Wir stehen jetzt, glaube ich, vor Entscheidungen, bei denen man prognostizieren<br />

kann: Es wird im Bereich der kirchlichen Arbeitnehmer zu <strong>Ver</strong>änderung kommen,<br />

nicht nur wegen der Entscheidungen der beiden Landesarbeitsgerichte, sondern<br />

auch mit Blick auf eine Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, <strong>di</strong>e jetzt bevorsteht.<br />

Man kann da wahrscheinlich voraussagen, dass das bis zum Bundesverfassungsgericht<br />

durchgetrieben wird. Ich würde mich wundern, wenn es in den Entscheidungen<br />

einfach nur eine Bestätigung der gegenwärtigen Praxis gäbe. Das wird man nicht<br />

annehmen können. Ich glaube, so naiv ist keiner.<br />

Wie geht Politik damit um? Ich kann Ihnen sagen, was wir machen. Wir haben über<br />

<strong>di</strong>e Friedrich-Ebert-Stiftung <strong>di</strong>e Beteiligten eingeladen und haben sozusagen im Vorfeld<br />

der Entscheidungen, <strong>di</strong>e wir erwarten, einen Gesprächsprozess begonnen, in<br />

dem man versucht, Kirchen, Gewerkschaften, meine Partei einzubeziehen und zu<br />

überlegen, wie man <strong>di</strong>ese schwierigen <strong>Ver</strong>hältnisse in der Erwartung und der Hoffnung<br />

darauf, dass auch nachdenkliche Menschen bei der EKD daran interessiert sind,<br />

etwas neu zu regeln, was man noch beeinflussen kann, bevor man von den Gerichten<br />

alles aus der Hand genommen kriegt. Ich freue mich, dass Frank Bsirske bei <strong>di</strong>esen<br />

Gesprächen dabei ist.<br />

Jan Lerch<br />

Gregor Gysi, wenn wir sehen, dass es weit über eine Million Beschäftigte in <strong>di</strong>esem<br />

Bereich gibt, wenn es also längst nicht mehr nur darum geht, ob der Staat an der<br />

Entscheidung, ob irgendein Oberkirchenrat eingesetzt wird oder nicht, beteiligt werden<br />

soll, sondern wenn es letztlich ganz normale Wirtschaftsunternehmen geworden<br />

sind, ist es aus Ihrer Sicht eine eindeutige Sache, dass dann auch ganz normales Arbeitsrecht<br />

gelten muss?


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Gregor Gysi<br />

Wir haben ja einen entsprechenden Antrag im Bundestag eingebracht, in dem wir<br />

<strong>di</strong>e Gleichstellung verlangen. Man muss unterscheiden: Natürlich ist <strong>di</strong>e Kirche ein<br />

Interessenunternehmen, wie auch Parteien. Da gelten für bestimmte Dinge andere<br />

Maßstäbe. Wir können uns in <strong>di</strong>e Ernennung oder Nichternennung eines Bischofs<br />

nicht einmischen. Aber was überhaupt nicht zu akzeptieren ist, ist, dass Krankenschwestern,<br />

<strong>di</strong>e dort arbeiten, so sehr viel weniger ver<strong>di</strong>enen als Krankenschwestern,<br />

<strong>di</strong>e woanders arbeiten. Das geht auch den Staat an. (Beifall) Wir haben ja den Artikel<br />

1 und den Artikel 2 des Grundgesetzes, <strong>di</strong>e da bestimmte Anforderungen regeln.<br />

Aber was ich auch sagen muss: Es ist beim Diakonischen Werk der evangelischen<br />

Kirche noch viel schlimmer als bei Caritas. Das muss man wirklich sagen. Beim Diakonischen<br />

Werk der evangelischen Kirche werden Dumpinglöhne bezahlt. Das ist<br />

nicht hinnehmbar. Dass <strong>di</strong>e jetzt lauter Einzelarbeitsverträge machen, in denen immer<br />

der Streik ausgeschlossen wird – ich meine, es gibt doch Grenzen! Das darf sich<br />

ein Gesetzgeber nicht bieten lassen. (Beifall) Deshalb müssen wir hier eingreifen, und<br />

zwar so schnell wie möglich.<br />

Christiane Wirtz<br />

Herr Weiß, Herr Gysi hat es schon angesprochen – das habe ich auch heute auf dem<br />

ver.<strong>di</strong>-Bundeskongress gelernt -, dass es wohl tatsächlich in Bayern in Einrichtungen<br />

Arbeitsverträge gibt, in denen eine zusätzliche Klausel enthalten ist, <strong>di</strong>e das Streikrecht<br />

ausschließt, <strong>di</strong>e im Arbeitsvertrag unterschrieben werden muss. Das ist so, als<br />

wenn man einer Frau verbieten würde, schwanger zu werden.<br />

Gregor Gysi<br />

Nicht ganz so!<br />

Christiane Wirtz<br />

Arbeitsvertraglich ist das auch eine verbotene Frage. Ist da tatsächlich der Zeitpunkt<br />

gekommen, wo sich <strong>di</strong>e Politik um <strong>di</strong>eses Feld kümmern müsste?<br />

Peter Weiß<br />

In der Tat ist das aufgrund der Eigenstän<strong>di</strong>gkeit der Kirchen eine Frage des nicht<br />

Hineinregierens des Staates in <strong>di</strong>e Kirchen, <strong>di</strong>e in der Kirche selber geregelt werden<br />

muss. Ich darf daran erinnern: Es gibt ja zwei Kirchen, <strong>di</strong>e Tarifverträge mit den Ge-


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werkschaften verhandeln und nicht <strong>di</strong>esen dritten Weg anwenden. Das kann jede<br />

andere Kirche oder Diözese in Deutschland auch beschließen.<br />

Der wichtigste Punkt ist mir aber Folgender: Wir haben kürzlich mit den katholischen<br />

Bischöfen darüber geredet. Im Bereich der katholischen Kirche ist <strong>di</strong>e sogenannte<br />

Grundordnung ergänzt worden. Es ist klargestellt: Wer sich nicht an das Tarifwerk<br />

hält – <strong>di</strong>e AVR-Caritas ist in der Regel in der Bezahlung besser als der öffentliche<br />

Dienst; in der Regel – und wer sich nicht an <strong>di</strong>e Grundordnung hält, der ist automatisch<br />

nicht mehr dabei. Ich würde mir wünschen, es würde in der evangelischen Kirche<br />

– im Bereich der Diakonie ist es sehr viel schwieriger, eine solche Entscheidung<br />

zu treffen – eine ähnliche Entscheidung getroffen werden. Dann wäre das mit den<br />

Ausgründungen und der Bezahlung unter Tarif schlichtweg nicht mehr möglich. Das<br />

ist ein wichtiger Punkt. Darauf, meine ich, müssen wir auch politisch bestehen; denn<br />

es kann nicht sein, dass ich sage, ich bin Kirche, mich aber an das kirchliche Regelwerk<br />

gar nicht halte, ein Regelwerk, das in einer paritätischen Kommission von Mitarbeitern<br />

und von Dienstgebern verhandelt worden ist, und da ausscheiden kann.<br />

Das ist der entscheidende Punkt. Wenn ich Kirche sein will, muss ich mich auch an<br />

<strong>di</strong>e kirchlichen Regeln halten. In der Regel sind <strong>di</strong>e tariflichen Regelwerke von der<br />

Bezahlung her auch einigermaßen ordentlich ausgehandelt.<br />

Im Übrigen weiß jeder – guckt Euch <strong>di</strong>e Tarifverträge im Bereich der Privat-<br />

Gewerblichen an –, wenn ich nicht in der Kirche bin, heißt das ja nicht, dass ich automatisch<br />

einen besseren Tarif bekomme.<br />

Christiane Wirtz<br />

Soweit ich informiert bin, gibt es da sehr viele Ausnahmen. Vielleicht kann Frau Müller-Gemmeke<br />

noch etwas zur Bezahlung in den Kirchen sagen.<br />

Beate Müller-Gemmeke<br />

Die Caritas-Betriebe haben ja jetzt <strong>di</strong>e Möglichkeit, bis 2014 zu entscheiden, ob sie<br />

dazu gehören oder nicht. Im Übrigen, wenn sie nicht dazu gehören, sind sie trotzdem<br />

immer noch weiter caritative Einrichtungen; denn <strong>di</strong>e Caritas wird sie ja nicht<br />

rauswerfen. Man merkt schon, dass man hier in eine ganz verzwickte Situation<br />

kommt. Ich glaube, <strong>di</strong>e Kirchen können <strong>di</strong>eses Problem nicht lösen, auch wenn sie<br />

jetzt sagen, entscheiden, aber rauswerfen können sie sie nicht, den Namen und <strong>di</strong>e<br />

<strong>Ver</strong>bandszugehörigkeit können sie ihnen auch nicht wegnehmen. Von daher, denke<br />

ich, können nur wir das regeln.<br />

Vor allem, Herr Weiß, können wir doch nicht nur auf <strong>di</strong>e Caritas schauen, <strong>di</strong>e es natürlich<br />

ein bisschen einfacher hat, weil sie eine klare hierarchische Struktur hat, wäh-


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rend <strong>di</strong>e Diakonie kreuz und quer ist und keiner weiß, was der andere macht. Niemand<br />

weiß, wer hier was zu sagen hat. Das heißt, <strong>di</strong>e Politik kann doch nicht anfangen,<br />

Unterschiede zu machen, sondern wir müssen doch klar überlegen, wie wir mit<br />

allen, <strong>di</strong>e in kirchennahen Wirtschaftsbetrieben und Wohlfahrtsverbänden arbeiten,<br />

umgehen. Da müssen wir klare Regeln setzen. Ich denke, das Beste wäre wirklich,<br />

dass man sagt: Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Die wird auch vom Staat finanziert.<br />

Dann wird da auch das ganz normale Arbeitsrecht angewandt. Warum soll<br />

es Unterschiede geben? (Beifall)<br />

Jan Lerch<br />

Herr Steinmeier, mich würde noch interessieren: Sie haben ja gesagt, Sie sind da im<br />

Gespräch, versuchen auch, ein Gespräch zu initiieren. Haben Sie eine persönliche<br />

Meinung dazu, sollte es das Streikrecht für kirchliche Mitarbeiter geben? (Zurufe: Ja!)<br />

Frank-Walter Steinmeier<br />

Ich muss ehrlich sagen, ich habe darüber nicht nur nachgedacht, sondern schon eine<br />

Reihe von Gesprächen geführt. Es würde natürlich <strong>di</strong>e <strong>Ver</strong>hältnisse im ganzen Bereich<br />

der kirchlichen Arbeitnehmerschaft erheblich verändern. Ich rechne damit, dass<br />

es in den Urteilen, <strong>di</strong>e jetzt kommen, eine Öffnung gibt.<br />

Wir reden ja, wenn wir über das Streikrecht reden, im Kern gar nicht über das Streikrecht,<br />

sondern wir reden ja über das Streikrecht als das Mittel, über das dann auch<br />

<strong>di</strong>e Pflicht zur Führung von Tarifverhandlungen und zur Anpassung aller Arbeitnehmerrechte<br />

an das Arbeitnehmerrecht außerhalb der Kirchen geregelt wird. Diesen<br />

Weg müssen wir beschreiben.<br />

Was ich vorhin in meiner Stellungnahme zum Ausdruck gebracht habe: Es ließe sich<br />

natürlich leicht sagen, klar, wir wollen das Streikrecht, und damit erle<strong>di</strong>gt sich alles<br />

andere. Nur, es erle<strong>di</strong>gt sich eben nicht. Wir müssen das ausgestalten, wie das in<br />

Zukunft mit den Kirchen aussehen wird. Wir können uns nicht darauf verlassen, dass<br />

<strong>di</strong>e Rechtsprechung, dass das Bundesarbeitsgericht in seinem Urteil das im Detail<br />

vorschreibt. Deshalb halte ich es für klug, dass wir miteinander nicht nur über das<br />

Streikrecht reden, sondern darüber, wie sich in Zukunft <strong>di</strong>e Lohnfindung zwischen<br />

Gewerkschaften und Kirchen und <strong>di</strong>e Anpassung des Arbeitnehmerrechtes insgesamt<br />

entwickeln werden. Es ist, glaube ich, mehr als ein leichtfertiges Ja oder Nein,<br />

was da verlangt wird, sondern das ist eine wirkliche wichtige politische Gestaltungsaufgabe,<br />

der wir uns jedenfalls mit widmen, hoffentlich gemeinsam mit den Gewerkschaften.<br />

Ich sagte eben schon mal, ich freue mich, dass Frank Bsirske dabei ist.


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Jan Lerch<br />

Vielen Dank. Ich glaube, wir machen an <strong>di</strong>eser Stelle einfach Schluss. Das Statement<br />

von Frank-Walter Steinmeier gerade hat gezeigt, <strong>di</strong>e Dinge sind sehr komplex. Ich<br />

glaube aber, dass eine solche Diskussion einfach dazu beiträgt, dass Sie etwas von<br />

dem mitnehmen, was hier auf solchen Kongressen <strong>di</strong>skutiert wird. Sie haben <strong>di</strong>e Delegierten<br />

gehört. Die haben Ihnen deutlich gesagt, was sie gerne möchten bei allen<br />

möglichen Punkten. Wir haben versucht, <strong>di</strong>e eine oder andere konkrete Antwort zu<br />

bekommen, und wir haben sie, glaube ich, auch in dem einen oder anderen Punkt<br />

bekommen. Insofern machen wir an <strong>di</strong>eser Stelle Schluss.<br />

Ich sage – das ist ein offizielles Statement, das man abgeben muss -: Für heute ist<br />

der Kongress unterbrochen. (Beifall)<br />

Christiane Wirtz<br />

Mir bleibt noch, ganz kurz zu sagen: Ein organisatorischer Abend, der ver.<strong>di</strong>-Abend,<br />

folgt jetzt. Sie sind dazu alle herzlich eingeladen. Einlass ist ab 19 Uhr, ab 19.30 Uhr<br />

geht es dann los. Der Volkspalast ist der Ort des Geschehens.<br />

Jan Lerch<br />

Sie wissen Bescheid. Ich wünsche Rock’n Roll und gute Party! (Beifall)<br />

(Ende des Parteientalks: 18.20 Uhr)<br />

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