Mein Konfispruch PDF - Gustav-Adolf-Werk eV
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Dr. Kerstin Schimmel, Jahrgang 1963, geboren<br />
in Lübeck, ist Studienleiterin für den Bereich<br />
Kultur an der Evangelischen Akademie<br />
Meißen.<br />
Verbrannte Straßenkinder in Bolivien<br />
Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein<br />
Unglück, denn du bist bei mir.<br />
Psalm 23, Vers 4<br />
Ein geerbter Konfirmationsspruch, Familientradition; von Großvätern an Väter und<br />
Söhne weitergegeben und dann an den Enkel, Bernd, einen Klassenkameraden von<br />
mir, vor dreißig Jahren. Was haben wir ihn bedauert und vor allem - verspottet.<br />
Wochenlang haben wir das mit dem »finsteren Tal« mit möglichst gruseliger<br />
Stimme gemurmelt, wenn er an uns vorbeiging, ihm aufgelauert, um dann<br />
überraschend hervorzuspringen und zu rufen »ich bin bei dir«. Wir alle, auch Bernd,<br />
fanden das lustig. Wir hatten ja keine Ahnung. Was wussten wir damals schon von<br />
tiefen Tälern: Keine Scheidungskinder in der Klasse, keine arbeitslosen Eltern, keine<br />
Verluste in Familie und Freundeskreis, keine eigene schwere Krankheit, noch nicht<br />
einmal der erste Liebeskummer. <strong>Mein</strong> Bild von Bernd ist schon lange verblasst, sein<br />
Konfirmationsspruch jedoch hat mein Leben begleitet. Einige Jahre später, während<br />
meines letzten Schuljahres, habe ich bei der Johanniter-Unfall-Hilfe eine Ausbildung<br />
zur Schwesternhelferin gemacht und im Krankenhauspraktikum eine ältere Frau<br />
kennengelernt: Krebs im Endstadium. Wir haben uns angefreundet und ich durfte sie<br />
die letzten Monate begleiten. Jedes Mal, wenn ich sie nach einem Besuch wieder<br />
verlassen musste, hat sie zum Abschied den 23. Psalm gesprochen, jedes Mal. Ich<br />
war damals 18 und dieses Ritual machte mich verlegen, weil die anderen Patienten<br />
und deren Besucher dann oft so komisch zu uns herübersahen; es machte mich<br />
traurig, weil es mich Tag für Tag an das begonnene Sterben eines liebgewordenen<br />
Menschen erinnerte - und es machte mich wütend: Wo, bitte, war Gott denn, in<br />
diesem »finsteren Tal«? Als Gertrud starb, hielt mich nur mein Respekt vor Büchern<br />
im Allgemeinen und diesem im Besonderen davon ab, die entsprechende Seite<br />
aus meiner Bibel zu reißen. Nach dem Studium habe ich mir einen großen Traum<br />
erfüllt und bin nach Bolivien gegangen, um dort in einem Straßenkinderprojekt<br />
mitzuarbeiten. Damals war der Ansatz, nicht für, sondern mit den Kindern und<br />
Jugendlichen zu planen, recht neu. Für die praktische Arbeit hieß dies, in der ersten<br />
Zeit mit ihnen auf der Straße zu leben, um ihren wahren Alltag kennenzulernen.<br />
<strong>Mein</strong>e erste Begegnung mit ihnen war grauenhaft: Ein bolivianischer<br />
Theologiestudent, der das Projekt mit begründet hatte, wollte mich der Kindergruppe<br />
vorstellen, mit der ich die nächsten Wochen verbringen sollte. Noch bevor wir ihren<br />
Schlafplatz in einem ausgetrockneten Flussbett einsehen konnten, kam mir ein<br />
Geruch in die Nase, der mir neu war und widerlich. Den Anblick, der sich uns bot, als<br />
wir am Ufer standen, werde ich niemals vergessen: Die Kinder waren alle tot,<br />
verbrannt. Es sollten während meiner Zeit in Bolivien lange nicht die letzten<br />
ermordeten Kinder sein. Sie im Schlaf mit Benzin zu übergießen und anzuzünden,<br />
war nur eine von vielen Methoden, das Straßenkinderproblem zu
lösen. In den ersten Monaten hatte ich keine Hoffnung, es könne<br />
in all der Armut und Gewalt auch Auswege geben. Nach knapp<br />
einem Jahr aber konnten wir ein kleines Haus einweihen, das die<br />
Kinder instand gesetzt hatten, wir konnten Pläne für eine<br />
»Schule auf der Straße« schmieden und die ersten Juristen und<br />
Juristinnen willkommen heißen, die sich ehrenamtlich um die<br />
Belange der Kinder kümmern wollten. Der Inaugurationsspruch für<br />
unsere kleine »Casita« lautete übrigens:<br />
»Aunque pase por quebradas muy oscuras, no terno ningun<br />
mal, porque tu estas conmigo« (Salmo 23, 4 - Psalm 23, 4)<br />
So ist der Konfirmationsspruch eines anderen - durch Lachen, Weinen, Streiten und<br />
Hoffen hindurch - mein Spruch fürs Leben geworden.