Dr. Wilhelm Hüffmeier, Potsdam, März 2009 - Gustav-Adolf-Werk eV
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<strong>Dr</strong>. <strong>Wilhelm</strong> <strong>Hüffmeier</strong>, <strong>Potsdam</strong>, <strong>März</strong> <strong>2009</strong><br />
Lutherische Kirchen gibt es in fast allen Ländern Südamerikas. Sie leben in der<br />
Diaspora. Nicht einmal 1 Million der über 330 Millionen Bewohner dieses Kontinents<br />
sind Lutheraner. Das <strong>Gustav</strong>-<strong>Adolf</strong>-<strong>Werk</strong> der EKD unterhält – abgesehen von<br />
Ecuador – zu diesen Kirchen partnerschaftliche Beziehungen. Im Oktober 2008<br />
haben der Präsident des GAW, <strong>Wilhelm</strong> <strong>Hüffmeier</strong>, der Generalsekretär, Hans<br />
Schmidt, sowie die Pressereferentin, Maaja Pauska, diese Kirchen besucht. Das<br />
GAW unterstützt dort zurzeit über 50 Kirchbau-, Ausbildungs-, Missions- und<br />
Sozialprojekte. <strong>Wilhelm</strong> <strong>Hüffmeier</strong> fasst seine Eindrücke im folgenden Beitrag<br />
zusammen.<br />
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Salz der Konfessionen? – Südamerikanisches Luthertum zwischen<br />
Katholizismus und Pfingstbewegung<br />
Unsichtbare Kirchen<br />
Am 8. Oktober sind wir in der Gemeinde „Cristo Salvador“ im Stadtteil San Juan de<br />
Miraflores von Lima. Es ist Feiertag. Seit 5 Uhr morgens backen Rosemaria La<br />
Negra und Dora Miranda in der winzigen Gemeindeküche papas rellenas (gefüllte<br />
Kartoffeln). Die werden – zur Auffüllung der Gemeindekasse – den ganzen Tag über<br />
verkauft. Während auch wir papas rellenas essen und Kaffee oder Tee trinken,<br />
erläutern uns Mitglieder der Gemeindeleitung ihre Situation. Aus ihrer<br />
„Wohnzimmerkirche“ hinter einer unscheinbaren Außenfassade mit dem Holzkreuz<br />
auf dem Dach soll ein Kirchgebäude mit Turm und Glocke werden. Alexandro<br />
Ramos, vor Ort aktiv in der Aidshilfe, begründet das Ziel: „Der Peruaner braucht<br />
sakrale Räume“. Ernesto Huayta Giron, von Beruf Chemieingenieur, ein ehemaliger<br />
Evangelist der katholischen Kirche, zu der über 90% der knapp 8 Millionen<br />
Einwohner Limas gehören, fügt hinzu: „Die meisten Gemeindeglieder sind in der<br />
katholischen Kirche getauft, lehnen aber deren Praxis z.B. gegenüber Geschiedenen<br />
und Wiederverheirateten oder deren Sexuallehre<br />
ab und werden von der lutherischen Art, die Bibel<br />
zu lesen und nach ihr zu leben, angezogen.“ Zur<br />
lutherischen Lebensweise gehört auch, dass<br />
Frauen „Priester“ werden können. Die Gemeinde<br />
„Cristo Salvador“ hat mit Ulrike Sallandt, im Jahr<br />
2005 in Bochum über peruanische<br />
Ulrike Sallandt
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Pfingstgemeinden promoviert, eine dynamische und sehr geschätzte Pastorin. Aber<br />
die katholische Prägung des Landes verlangt nach Kirchen, die unmittelbar als<br />
Gotteshäuser erkennbar und erlebbar sind.<br />
Dass damit das Innere wie das Äußere der Kirchen<br />
gemeint ist, beweist die im selben Barrio am Berg<br />
„Vida Nueva“ unterhalb einer gewaltigen<br />
Christusstatue gelegene lutherische Kirche, ein <strong>Werk</strong><br />
des Hermannsburger Missionars Klaus Carsten<br />
Möller. <strong>Dr</strong>innen erstrahlen Fenster und Altarraum in<br />
fast barockem Glanz, Sakralität pur, aber von außen<br />
sieht die Kirche aus wie das Wasserwerk der<br />
politischen Gemeinde: öde Betonfassade, keine<br />
Inschrift, keine Glocke, keine Lutherrose – nichts.<br />
Seit Pastor Möller nach Deutschland zurückgekehrt ist, fehlt der aus 20 Familien<br />
bestehenden Gemeinde zudem noch der Pfarrer. Das wird vielleicht besser, wenn<br />
die Gemeinde im nächsten Jahr der Lutherischen Kirche in Peru beitritt, sagt Ulrike<br />
Sallandt, die zurzeit die Gottesdienste in „Vida Nueva“ organisiert. Doch man muss<br />
skeptisch sein, denn die noch sehr junge, auf nordamerikanische und deutsche<br />
Missionare zurück gehende Peruanische Lutherisch-Evangelische Kirche (PLEK) ist<br />
eine Miniminorität. Im Hochland von Peru, berichtet Friedrich Hahler, ein anderer<br />
Hermannsburger, gibt es noch ca. 30 freie Gemeinden, die aus Kostengründen<br />
außerhalb der PLEK bleiben. Hahler ist es auch, der von Katholiken, die dem<br />
Luthertum zugetan sind, immer wieder zu hören bekommt: „Ihr seid zu klein. Euch<br />
sieht man nicht.“ „Ja“, fügt er hinzu: „Gesellschaftlich ist man hier nur wer als<br />
Katholik“.<br />
Das stimmt wohl. Aber im neu entstandenen Barrio<br />
„Sol de América“ in der nördlichen Peripherie der<br />
Inka- und Touristenstadt Cusco fehlt die<br />
gesellschaftliche und soziale Präsenz der<br />
katholischen Kirche. Dank des missionarischen<br />
Einsatzes von Pastorin Ofelia Dávila Llimpe entsteht<br />
dort das lutherische Gemeindezentrum „Talitha Kum“<br />
Cusco
Die GAW-Delegation und Gemeindeglieder stehen im<br />
künftigen Kirchraum<br />
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mit einem Kirchraum im 2. Stock, der<br />
zwischen den Häusern und Hütten aus Lehm<br />
und Gras durchaus weithin sichtbar sein<br />
wird. Ob in der Abendmesse der gewaltigen<br />
und überreich ausgestatteten Kirche „El<br />
Merced“ im Stadtzentrum von Cusco sonst<br />
mehr als die 50 oder 60 Gläubigen, die wir<br />
sahen, kommunizieren?<br />
In Bucaramanga, dem an den östlichen Kordilleren Kolumbiens gelegenen Kaffeeund<br />
Tabakzentrum mit über 350 Tausend Einwohnern, will Pastor Israel Martinez an<br />
der Stelle seiner „Garagenkirche“ „El Divino<br />
Redentor“ ebenfalls eine richtige Kirche<br />
bauen. „Viele Katholiken würden gerne zu uns<br />
kommen, sie unterstützen unsere Sozialarbeit,<br />
aber in einer Garage Gottesdienst feiern, das<br />
widerstrebt ihnen“, sagt er. Das klingt anders<br />
als in der Predigt des verstorbenen<br />
rheinischen Präses zur Wiedereinweihung des Garagenkirche<br />
Berliner Doms: „Das liebe Evangelium kriecht in jeder Hütte unter und hält sie warm.<br />
Die Evangelische Kirche braucht keine Dome.“ Für die Kirche mit dem<br />
Wellblechdach und dem Kreuz aus zwei krummen und schiefen Ästen im ärmsten<br />
Barrio von Girón bei Bucaramanga trifft das zu. Es gilt, was die Kinder nach der<br />
Begrüßung durch die Gemeindpräsidentin Senora Carmen uns singen: „Deus está<br />
presente“. Doch was als Anfang ausreicht, ist keineswegs auf Dauer hilfreich. Auch<br />
in Bucaramanga und Girón braucht das Luthertum mehr Sichtbarkeit. An zahlreichen<br />
Orten in Südamerika, z.B. in Allen, Argentinien, oder in Caranavi, Bolivien, in Vinha<br />
del Mar bei Valparaiso oder in Chiguayante, Chile, stellt sich das gleiche Problem.<br />
Mit Girón steht es freilich zurzeit noch anders. Der Barrio ist eine illegale Ansiedlung<br />
von dreimal – einmal von Paramilitärs, zweimal durch Überschwemmungen –<br />
vertriebenen Familien, denen nun der Bürgermeister mit Räumung droht. Er will aus<br />
der idyllisch gelegenen Anhöhe oberhalb eines Flusses Geld machen. Hier tut also<br />
an erster Stelle Gemeinwesenarbeit not. Gleich neben der „Notkirche“ der Lutheraner<br />
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befindet sich ein von amerikanischen Mennoniten unterhaltenes „Schülerrestaurant“<br />
mit dem hoffnungsträchtigen Namen „Semillas de Vida“. Dessen Küche versorgt die<br />
gebeutelten Familien, vor allem die Kinder des Barrio. Auch den ca. 10 jährigen<br />
Edvard, der seine beiden Unterschenkel nicht aufrichten kann und sich deshalb nur<br />
kriechend fortbewegt. Eine amerikanische Pastorin hatte vor einem Jahr Hilfe<br />
zugesagt, aber sich seither nicht mehr gemeldet.<br />
Das Salz – lutherische Theologie<br />
Die Zentrale der Ev.-lutherischen Kirche in<br />
Kolumbien (ELKO) befindet sich im<br />
Zentrum Bogotas an der Calle 75: ein<br />
vierstöckiges Gebäude mit der Wohnung<br />
von Bischof Sigifredo Daniel Buitrango<br />
Pachon unter dem Dach. Links neben<br />
Edvard<br />
dem Kirchenamt steht das enge und marode Studentenwohnheim, im Haus rechts<br />
hat die „Lutherische Schule für Theologie“ zwei kleine Räume. Dort organisiert<br />
Pfarrer John Hernandéz mit Honorardozenten der eigenen und anderer<br />
Konfessionen die Ausbildung von 6 Theologiestudierenden. Auch zu Jesuiten und<br />
Franziskanern, die das Universitätsleben in Bogotá bestimmen und ein vitales<br />
Interesse an lutherischer Theologie haben, pflegt er Kontakte.<br />
„Unsere Leute nach Buenos Aires oder São Leopoldo in die bekannten lutherischen<br />
Ausbildungsstätten zu schicken, ist zu teuer“, sagt Hernandéz. Aber eine gründliche<br />
Ausbildung der zukünftigen Pfarrerinnen und Pfarrer sei unverzichtbar. Dadurch<br />
unterschieden sie sich von den rhetorisch oft sehr versierten, aber theologisch eher<br />
unterbelichteten pfingstlerisch-charismatischen Predigern. Und für Katholiken ist die<br />
evangelische Theologie attraktiv, weil sie, konfrontiert mit der zunehmenden<br />
Säkularisierung der Gesellschaft, nach den Ursprüngen der Moderne fragen und<br />
dabei die Reformation in ihr Blickfeld geraten ist.<br />
In Porto Alegre, Brasilien, bestätigt sich der Eindruck von Bogotá. Im Gespräch mit<br />
dem Präsidenten der ca. 500 Tausend Mitglieder in 2300 Gemeinden zählenden<br />
„Igreja Evangelica-Pentecostal – O Brasil para Christo“ Ivan Nunes und seinem Sohn<br />
Olavo erzählt dieser, dass er, wiewohl selber schon Pastor, lutherische Theologie
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studiere. Ein Beweis dafür, dass die Pfingstkirchen, wenn sie historisch werden,<br />
ohne theologische Reflexion und Bildung nicht mehr auskommen. In der Kirche von<br />
Ivan Nunes steht gerade die Frage nach der Frauenordination zur Diskussion. Sie<br />
wird in der Pfingstbewegung mehrheitlich noch abgelehnt. Ivan Nunes befürwortet<br />
sie und sucht nach einschlägiger biblischer Begründung. Denn nur mit biblischer<br />
Argumentation seien die Pastoren und Gemeinden zu überzeugen.<br />
Die „Theologische Hochschule“ in São<br />
Leopoldo, Brasilien, und das „Instituto<br />
Superior Evangélico de Estudios<br />
Teológicos“ (ISEDET) in Buenos Aires,<br />
die Leuchttürme evangelischer Theologie<br />
und theologischer Forschung in Südamerika,<br />
wären dafür geeignete Orte. Abgesehen<br />
von evangelikalen Vorbehalten<br />
<strong>Dr</strong>. <strong>Hüffmeier</strong> im Gespräch<br />
durchläuft die in den letzten zehn Jahren<br />
stark ausgebaute „Theologische Hochschule“ in São Leopoldo freilich im Augenblick<br />
eine kritische Phase. Ohne kirchliche Finanzhilfe muss sie sich durch Studiengebühren<br />
und staatliche und ökumenische Stipendien finanzieren. Einige Professoren<br />
wollten die „Theologische Hochschule“ mit ihren Abteilungen für Musik, Diakonie und<br />
Religionspädagogik zur ersten „Evangelischen Universität“ in Brasilien fortentwickeln.<br />
Das führte zu einer Art crash. Alle Rücklagen waren 2007 verbraucht, 17 Professoren<br />
mussten entlassen werden. Der Verbleib der restlichen 20 Hochschullehrerund<br />
lehrerinnen konnte nur durch eine 25prozentige Kürzung ihrer Gehälter gesichert<br />
werden. Das aber hat zur Folge, dass sie nun für weniger Geld zum Teil die Arbeit<br />
von ausgeschiedenen Kollegen mit übernehmen müssen. Für die nötige Forschung<br />
bleibe da leider zu wenig Zeit und Kraft, erklärt der derzeitige Rektor Oneide Bobsin.<br />
Aber die Krise enthalte auch die Chance der Konzentration auf der Kerngeschäft:<br />
evangelische Theologie. An diese Devise hält sich ISEDET, das von in- und<br />
ausländischen Kirchen getragen wird.<br />
Lutherische Kirchen auf dem Weg zu Wiedervereinigung<br />
Szenenwechsel. Im Süden Chiles, in Puerto Montt und rund um den Llanquihue-See,<br />
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gelten die Lutheraner als Kirche der Deutschen. Stolz erzählen sie uns von der<br />
Bedeutung der Deutschen Schule in Puerto Montt. Am Llanquihue-See sind wir<br />
mittags im Deutschen Sportclub und abends in Frutillar im Deutschen Club zu Gast.<br />
Das ist zweifellos eine Besonderheit. Aber in Argentinien oder im südlichen Brasilien<br />
sieht es vielerorts recht ähnlich aus. Ganz anders ist es schon in Bolivien, dessen<br />
Luthertum geht wie das in Peru und Kolumbien vor allem auf Missionare aus<br />
Nordamerika zurück. Aber auch innerhalb Chiles können die Akzente unterschiedlich<br />
gesetzt sein. Die Gemeinden der Ev.-lutherischen Kirche (ELKC), Gemeinden also,<br />
die sich nach dem Sturz von Salvador Allende vor 25 Jahren um Bischof Helmut<br />
Frenz scharten, sind tiefer in die chilenische Wirklichkeit eingetaucht als die im<br />
Protest gegen Frenz gebildete andere Lutherische Kirche (LKC). Zur ELKC gehören<br />
Gemeinden in Coronel und Chiguayante bei Concepçion. Der Kindergarten der<br />
Martin-Luther-Gemeinde von Concepçion im Stadtteil San Pedro trägt nicht zufällig<br />
den Namen eines Gedichtes der chilenischen Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral<br />
„Piecitos“ („Kinderfüßchen“ – „Kleinod der Welt. / Wie können die Menschen<br />
vorbeigehn / und euch nicht sehn.“)<br />
Umso hoffnungsvoller stimmt es, von dem detaillierten Plan der Wiedervereinigung<br />
beider Kirchen bis zum Jahr 2014 zu hören. Hoch oben im „Giratório“, dem wie im<br />
Fernsehturm am Berliner Alexanderplatz sich langsam drehenden Restaurant im<br />
Zentrum von Santiago, erläutern Bischof Rolando Holtz (LKC) und Bischöfin Gloria<br />
Rojas Vargas (ELKC) mit anderen Gemeinde- und Kirchenvertretern die Schritte auf<br />
das große Ziel hin. Frenz, der wieder in Chile<br />
wohnt, hat gerade den Ehrendoktor der<br />
Universität von Santiago erhalten. Für die<br />
Mehrheit der Lutheraner in Chile ist der einst<br />
heftig kritisierte frühere Bischof kein Stein des<br />
Anstoßes mehr. Nach 25 Jahren bestimmt<br />
eine neue Generation den Kurs der getrennten<br />
Gloria Rojas Vargas und <strong>Dr</strong>. <strong>Wilhelm</strong> <strong>Hüffmeier</strong><br />
Kirchen. Ein Gewinn wäre die<br />
Wiedervereinigung zweifellos, intern und in der Öffentlichkeit. In Chile ist seit kurzem<br />
der 31. Oktober nationaler Feiertag. Damit ehrt das Land die evangelische<br />
Christenheit in seiner Mitte. Dazu zählen als stärkste und am schnellsten wachsende<br />
Kraft die Pfingstkirchen.
Die evang.- lutherische Gemeinde in Chiguayante<br />
in ihrer neuen Kirche, die GAW-Projekt war.<br />
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In Chiguayante gehört die Hälfte der<br />
Bevölkerung zu einer Pfingstgemeinde.<br />
Die Pfingstbewegung – eine evangelische<br />
Erneuerung?<br />
In Brasilien hat die Evangelische Kirche lutherischen Bekenntnisses (EKLBB)<br />
Sichtbarkeit, jedenfalls im Süden. Aber sie ist trotz des im Jahr 2000 begonnenen<br />
und im Oktober 2008 auf der Generalsynode in Estrela bekräftigten missionarischen<br />
Aktionsplans „Gottes Mission – unsere Leidenschaft“ keine wachsende Kirche. Ganz<br />
anders verhält es sich mit den Pfingstkirchen und –gemeinden. Nach der<br />
Volkszählung im Jahr 2000 gehörten um 25 Millionen zu einer der traditionellen oder<br />
neupfingstlerischen Kirchen. Das ist im Vergleich zu den Umfragen in den 80er<br />
Jahren eine Wachstumsrate von über 100%. Die Zahl der Pfingstkirchen ist freilich<br />
unübersehbar. In den neupfingstlerischen Kirchen, der aggressiven und<br />
medienstarken „Igreja Universal do Reino de Deus“ zumal, wird nach Oneide Bobsin<br />
die klassische pfingstlerische <strong>Dr</strong>eiheit von „Geisttaufe, Geistesgaben und<br />
Wiederkunft Christi“ durch die Trias von „Heilung, Exorzismus und irdischer<br />
Wohlstand“ abgelöst.<br />
Dieser stupende Erfolg der Pfingstler führte besonders in Brasilien in ungefähr 15<br />
lutherischen Gemeinden zu Verwerfungen und Abspaltungen geführt. In den<br />
Gemeinden „Nova Vida“ im Bairro „Arroio da Manteiga“ (Buttereck) von Scharlau und<br />
„Matias“ in Canoas, beide Rio Grande do Sul, haben charismatisch geprägte<br />
Gemeindepfarrer mit der Gemeindejugend und jungen Ehepaaren eigene<br />
Pfingstgemeinden gegründet. In „Arroio da Manteiga“ wurden dabei nach einer<br />
dubiosen Änderung der Gemeindesatzung fast alle Gebäude und Grundstücke der<br />
lutherischen Gemeinde mitgenommen. Die restlichen Gemeindeglieder feiern nun<br />
Gottesdienst in einem angemieteten Laden, und der verbliebene Vorsitzende des<br />
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lutherischen Gemeindekirchenrats, Nelci Engel, kämpft gerichtlich um die Rückgabe<br />
des Gemeindebesitzes.<br />
Eine solche Katastrophe konnte in Canoas zwar<br />
verhindert werden. Aber die neugebildete<br />
Pfingstgemeinde hat unter Leitung ihres<br />
ehemals lutherischen Pastors, Paulo Boehm,<br />
gleich neben der Kirche „Matias“ eine riesige<br />
leerstehende Lagerhalle angemietet, instandgesetzt<br />
und zu ihrer Kirche gemacht. Dort wird<br />
nun dienstags, donnerstags und sonntags mit angemietete Lagerhalle<br />
jeweils 600 Personen Gottesdienst gefeiert. Das Geheimnis dieses Erfolges liegt<br />
zweifellos in der enthusiasmierenden Rhetorik der Prediger, dem Einsatz von<br />
Folklore und Rhythmen aufnehmenden Musikbands und dem Engagement von<br />
Ehrenamtlichen, die Außenstehende motivieren und einladen.<br />
Sind das nicht alles Eigenschaften, die dem Luthertum bekannt sind, weil sie von ihm<br />
herkommen? Gottfried Brakemeier, der frühere Präsident der EKLBB und des LWB,<br />
hat die „Lutherische Identität“ gelegentlich auf fünf Elementarsachverhalte reduziert:<br />
Vorrang der Liebe Gottes, normative Geltung der Bibel, zugänglich allem Volk in<br />
seiner Sprache, Kirche der Laien, Feier der beiden Sakramente, Unterscheidung von<br />
Kirche und Staat. Die neue Pfingst-Gemeinde von Pastor Paulo Boehm in Canoas<br />
nennt sich „Igreja do mover“ und trägt den Untertitel „Movimento Evangélico de<br />
Renovação“ (Evangelische Bewegung der Erneuerung). Führen diese pentekostalen<br />
Kirchen den Titel zu Recht? Brakemeier gehört freilich auch zu den schärfsten<br />
Kritikern der neupfingstlerischen Kirchen mit der Trias von „Heilung, Exorzismus und<br />
Wohlstand“. Andere halten einen Dialog von Pfingstkirchen und Befreiungstheologie<br />
für zukunftsweisend. Jedenfalls dürfen die Lutheraner das Gespräch mit ökumenisch<br />
offenen Pfingstkirchen nicht der römisch-katholischen Kirche überlassen, die zudem<br />
noch in Pater Marcelo in São Paulo eine charismatische Kraft hat, die die Pfingstler<br />
mit ihren eigenen Waffen in die Schranken weist. Von der Pfingstbewegung lernen<br />
und sie theologisch herausfordern könnte die lutherische Antwort in Südamerika<br />
sein. .