Lassen sich Signifikanztests auf Vollerhebungen ... - SpringerLink
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O-10 Joachim Behnke<br />
scheinlich“ wäre, wenn die Theorie, <strong>auf</strong> die <strong>sich</strong> die Voraussage stützt, nicht zutreffen<br />
würde. 3 Dazu muss es allerdings auch eine Theorie geben, und diese Theorie sollte<br />
nicht nur zu wahren Implikationen über die Wirklichkeit, sondern auch zu relevanten<br />
Aussagen führen. „Wir wollen mehr als die bloße Wahrheit: Wir suchen nach interessanter<br />
Wahrheit – nach Wahrheit, an die schwer heranzukommen ist“ (Popper 1994:<br />
335).<br />
Die erfolgreiche Zurückweisung der Nullhypothese in unserem Beispiel wäre also<br />
banal und würde uns zu keinem neuen Wissen verhelfen. Was aber, wenn die Zurückweisung<br />
der Nullhypothese misslingen würde und wir <strong>auf</strong>grund des Tests nicht ausschließen<br />
könnten, dass die Unterschiede „zufällig“ zustande gekommen sind? Nach<br />
dem Testergebnis bleibt die Frage unbeantwortet, ob der Prozess der Datengenerierung<br />
zufällig abgel<strong>auf</strong>en sein könnte. In diesem Fall wissen wir <strong>auf</strong>grund unserer Kenntnis<br />
des Generierungsprozesses mehr als der Test, denn wir wissen ja trotzdem, dass der<br />
Prozess der Datengenerierung nicht zufällig war, sondern bewusst vollzogen wurde.<br />
Unsere Kenntnis des Wesens des Datengenerierungsprozesses liefert uns in unserem<br />
Beispiel also <strong>auf</strong> jeden Fall mindestens so viel Wissen wie der Signifikanztest, nämlich<br />
dann, wenn er zur Ablehnung der Nullhypothese führt, aber in gewissen Fällen auch<br />
mehr, nämlich dann, wenn die Nullhypothese durch den Test nicht abgelehnt wird.<br />
Wenn das Analyseziel der Vollerhebung dasselbe ist, das es wäre, wenn es <strong>sich</strong> statt<br />
der Vollerhebung um eine Stichprobe handeln würde, nämlich die adäquate Beschreibung<br />
der Struktur der Grundgesamtheit, dann ist ein Signifikanztest in diesem Zusammenhang<br />
irrelevant. Nur wenn <strong>sich</strong> das Analyseziel ändert, nämlich wenn wir nicht<br />
mehr an der Deskription allein interessiert sind, wobei wir bei Stichproben den Zufallscharakter<br />
der Auswahl berück<strong>sich</strong>tigen müssen, sondern am Zufallscharakter der Generierung<br />
von Daten, nur dann sollten wir einen Signifikanztest anwenden. Es ist dann<br />
allerdings von großer Bedeutung, diesen Wechsel des Analyseziels explizit zu machen.<br />
Wenn wir einen Signifikanztest bei einer Vollerhebung anwenden, dann sollten wir daher<br />
mit guten theoretischen Argumenten erklären können, warum wir hier ein anderes<br />
Ziel verfolgen als wir es verfolgen würden, wenn wir statt der Vollerhebung nur eine<br />
Stichprobe zur Verfügung gehabt hätten. Die Untersuchung, ob Parteien die Thematik<br />
ihrer Wahlanzeigen zufällig auswählen, scheint theoretisch wenig ergiebig zu sein. Die<br />
3 Der Begriff „unwahrscheinlich“ ist in Anführungszeichen gesetzt, weil es <strong>sich</strong> hier um eine bedingte<br />
Wahrscheinlichkeit handelt. Etwas, das unter der Bedingung, dass die Theorie nicht zutrifft,<br />
als äußerst unwahrscheinlich angesehen werden muss, ist unter der Annahme der Geltung<br />
der Theorie hingegen vermutlich sehr wahrscheinlich. Dies entspricht ungefähr dem Begriff der<br />
„logischen Wahrscheinlichkeit“, wie ihn Popper (1989: 83) in der „Logik der Forschung“ verwendet.<br />
Besser prüfbare Theorien sind „logisch unwahrscheinlicher“, das heißt, die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass sie den Prüfungen erfolgreich widerstehen, ist wesentlich geringer, wenn sie<br />
falsch sind. Deutlicher (allerdings leicht abweichend) äußert <strong>sich</strong> Popper an anderer Stelle, wo er<br />
bemerkt, dass Voraussagen einer neuen Theorie „im Lichte unseres früheren Wissens“ als<br />
„höchst unwahrscheinlich“ angesehen werden müssen (Popper 1994: 320). Der Begriff der<br />
Wahrscheinlichkeit bezieht <strong>sich</strong> bei Popper also <strong>auf</strong> die Überlebenswahrscheinlichkeit einer falschen<br />
Theorie und nicht etwa <strong>auf</strong> probabilistische Aussagen. Ganz im Gegenteil geht Popper<br />
praktisch ausschließlich von deterministischen Aussagen aus (zur Übertragbarkeit des falsifikationistischen<br />
Prinzips <strong>auf</strong> statistische Tests vgl. Gillies (2000: 145ff.), wobei allerdings zu beachten<br />
ist, dass bei statistischen Tests die Zielrichtung des Falsifikationsversuchs genau umgekehrt<br />
verläuft (vgl. Behnke/Behnke 2003: Kap. 9, 2004: Kap. 13)).