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Reisetagebuch - NAPEX

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Im Juni 2008 war ich auf Einladung des Conservatorio de las Rosas (German Romero) drei Wochen in<br />

Mexico, drei Wochen voll von neuen Erfahrungen: musikalischen, sozialen, kulinarischen,<br />

geographischen...<br />

Auf allen solchen Aufenthalten habe ich immer ein <strong>Reisetagebuch</strong> geführt, so auch diesmal.<br />

REISETAGEBUCH MEXICO 08<br />

4.6.08<br />

Um 7 aufgestanden, kurz gefrühstückt und zum Hbf gefahren.<br />

Der LH-Zug fuhr mit Verspätung ab, ich hoffe, daß in Frankfurt kein Problem daraus<br />

erwächst.<br />

9:55 eingestiegen, Gepäck verstaut. Es kann los gehen...<br />

10:36 sind wir gestartet, jetzt seit 10 Minuten im Steigflug.<br />

Auf der Bahnfahrt von Köln nach FfM setzte sich eine junge LH-Stewardess neben mich, wir<br />

unterhielten uns sehr nett die ganze Zeit – sie ist aus Marokko, und so kamen wir auf die<br />

sozialen Umbrüche zu sprechen, die dort zur Zeit geschehen, der Einfluss des Königs, die<br />

Modernisierung...<br />

Und die Notwendigkeit, sich als Reisender an die Gepflogenheiten des jeweiligen Gastlandes<br />

anzupassen.<br />

Jetzt ist es 5:37 Ortszeit (12:37 zu Hause?), wir sind über Nord-Schottland geflogen und<br />

sind jetzt über der offenen See. Durch Wolkenlöcher sehe ich Eisblöcke im Meer<br />

schwimmen.<br />

9:00 Sind wieder über dem Festland in Labrador. Auch hier gibt es nur wenige<br />

Wolkenlöcher, aber man sieht das karge Land, Seen, Schnee.<br />

10:14 Wolkenlos seit einiger Zeit. Leer, alles leer, nur ganz vereinzelt und seit einer halben<br />

Stunde zunehmend sieht man menschliche Spuren zwischen den Seen: Straßen,<br />

schnurgerade, fast von Horizont zu Horizont.<br />

12:46 noch eine Dreiviertelstunde bis zur Landung. An Memphis, Little Rock etc. vorbei<br />

geflogen. Und immer wieder erstaunt über die gnadenlose Naivität, mit der die<br />

Einwanderungsbehörde der USA mit Ja oder Nein ankreuzen läßt, ob „hinter der geplanten<br />

Einreise in die USA die Absicht steht, sich an strafbaren oder unmoralischen Handlungen<br />

zu beteiligen”...<br />

3:10pm im „President's Club”, Gott sei Dank habe ich Zugang zur Lounge und kann mich<br />

ein wenig ausspannen.<br />

Wie immer, wenn ich nach Amerika komme, bin ich beeindruckt von der überwältigenden<br />

Freundlichkeit der Menschen hier. Man fragt nach einer Information, bekommt noch ein<br />

Strahlen dazu.<br />

Weiterflug ist um 5:40pm, ich habe also Zeit... und Hunger. Nur (auch das ist America) gibt<br />

es in diesem Flughafen nur Fast-Food zu essen. Kein Restaurant.


***<br />

Abflug in einer kleinen Maschine nach Morelia. Gegen 6:15pm überfliegen des Ufers zum<br />

Golf von Mexico – menschenleer alles, ein Lido wie ein Naturschutzgebiet, keine Menschen,<br />

keine Häuser, keine Straßen... 30 Minuten lang quasi parallel zur Küste und immer so leer,<br />

bis dann doch, recht plötzlich, die menschliche Zivilisation wieder einbricht: Straßen,<br />

Häuser, ein Flughafen...<br />

Um 7pm Auftauchen der Berge, zum Teil recht spektakulär, und Landung vor der Zeit in<br />

Morelia.<br />

Im Flughafengebäude (winzig!) eine Schwalbe... oder war es doch eine riesenhafte<br />

Fledermaus?<br />

German Romero erkannte mich gleich und brachte mich zum Hotel.<br />

Ein Prachtzimmer, eins der schönsten, mit Terassenzugang und Blick auf die Kathedrale,<br />

die gerade auf der anderen Straßenseite ist.<br />

Sehr mexikanisch (gut!) gegessen und zu Bett jetzt (ca 10:30pm)<br />

----------------------------------------------------<br />

5.6.08<br />

12:00. Angekommen. German würde mich um 8:20 für die Probe abholen. Ich stand also<br />

um 7:00 auf, um noch gemütlich frühstücken zu können.<br />

Vielleicht in 15 Minuten? Jetzt gibt es noch nichts...<br />

Auch um 8 hieß es wieder: vielleicht in 15 Minuten. Mit anderen Worten: Ich musste in die<br />

Probe ohne Frühstück. Probe ging aber gut. Danach dann Frühstück mit German.<br />

Dann ersten Spaziergang durch die Stadt. Sehr schön, sehr exotisch...<br />

Überall Verführung: das frische Obst... Ich traue mich aber (sicher die ersten 3-4 Tage)<br />

nicht. Es gilt, Montezumas Rache zu verhindern.<br />

Architektonisch ist es hier wirklich herrlich: überall Durchblicke auf Innenhöfe, Brunnen.<br />

An einem Balkongeländer sah ich beim Café am Konservatorium einen Ballen Orchideen<br />

befestigt.<br />

1:33pm Reale Dreistimmigkeit: Seit dem Vormittag ereifert sich ein offensichtlich<br />

kommunistischer Einpeitschredner draußen vor der Kathedrale über wahnwitzig laute<br />

Lautsprecher.<br />

Im Nebenzimmer eine Sopranistin, die offensichtlich für heute Abend übt (eben auch mal<br />

probeweise die Königin der Nacht).<br />

Und als dritte Stimme die Musik in meinem Kopf. Aber die ist sowieso noch mal<br />

mehrstimmig in sich...<br />

Freitag 6.6.08


Gestern Nachmittag im Büro der Hochschule am Computer nach neuen E-Mails gefischt<br />

und das Ende des Schreyahner Herbst vorgefunden: Das Ministerium in Hannover<br />

behauptet, ich hätte entgegen seiner Empfehlung keine neuen Spielorte ins Auge gefasst<br />

und es gebe zu wenig Publikum.<br />

Na wunderbar. Daß das Publikum wegblieb, weil von Jahr zu Jahr aufgrund des Druckes<br />

des Ministeriums der Schreyahner Herbst sich wandelte und ein wenig seine Identität verlor,<br />

scheint dort niemand verstehen zu wollen.<br />

Die ganze Arbeit also umsonst.<br />

Die Nachmittagsprobe lief recht gut, Konzert auch, viele begeisterte Kommentare<br />

bekommen.<br />

Nach dem Konzert noch gegessen - wieder traditionell mexikanisch, sehr gut.<br />

Jetzt gleich hinaus und drei Stunden lang Vortrag über meine Musik, im Rahmen des<br />

Festivals.<br />

7:25pm Vortrag ist gut gelaufen, auch gut besucht.<br />

Nachtrag zu den ersten Gesamteindrücken: Die Luftverschmutzung hier ist eminent und<br />

erinnert manchmal an die DDR, die Klänge der Stadt sind – polyphon: Draußen konkurriert<br />

gerade eine Blaskapelle mit einem Lautsprecher, einem Drehorgelspieler und den Glocken<br />

der Kathedrale.<br />

Und: Die Fußgängerampeln zeigen anstatt grün ein schnell laufendes Männchen. Super!<br />

Samstag 7.6.08<br />

Bis auf ein Konzert heute Abend der erste ganz freie Tag. Hab zwar Programm, aber auch<br />

ein wenig Horror vacui. Nach der letzten Zeit in Köln, wo ich in ständigem Kampf mit dem<br />

Sekundenzeiger lebte, eine ganz neue Erfahrung.<br />

Gäbe es brauchbare öffentliche Verkehrsmittel, würde ich vielleicht nach Mexico City oder<br />

an den Pazifik fahren. Aber so, alleine...<br />

Theoretisch könnte ich einen Mietwagen nehmen. Aber auch hier wieder: alleine?<br />

10:41 Hatte beim Frühstück die Idee, ein Austauschprojekt mit CRFMW (Liège) und CMMAS<br />

(wo ich gestern meinen Vortrag hielt) vorzuschlagen.<br />

Dabei fällt mir auf, dass dabei Liège im Vergleich sehr schlecht wegkäme: Man würde glatt<br />

das Studio in Liège insgeheim nach Mexiko verorten, mit seiner ärmlichen Ausstattung.<br />

Hingegen hier: supertolle HighTech Geräte von allerneuestem Stand, sehr luxuriös alles.<br />

Anstelle eines alten Projektors ein riesiger Flachbildschirm, alles vom Feinsten. Ich werde<br />

den Austausch aber vorschlagen.<br />

2:25pm Sehr langen Spaziergang gemacht: 1. zum Markt St. Juan: fantastisch die vielen<br />

Mangosorten, die Kräuter und Gewürze...<br />

Mitten zwischen den Fleischhauern (die waren wirklich am Hauen und Klopfen) ein uralter<br />

Opa, der dazu auf seiner Geige spielte – magischer Moment.


Erstaunlicherweise viel halbwegs frischen Fisch gab es, dabei auch Froschschenkel; das<br />

waren aber ganze Tiere, und eher Riesenkröten als Frösche. Dann zur Kapelle der Virgen de<br />

Guadaloupe, eine über und über in Gold und Silber gehaltene Kirche. Richtig inspizieren<br />

konnte ich sie aber nicht, da gerade eine (sehr elegante) Hochzeit im Gange war.<br />

Von dort zur Casa de las Artesanias, beeindruckendes Kunsthandwerk, hätte am Liebsten<br />

gleich zugegriffen... und werde es auch noch tun.<br />

Und zwischendrin bricht die Einsamkeit aus...<br />

7:20pm draußen tobt der Samstag Abend: Mehrere Blaskapellen auf dem Platz neben der<br />

Kathedrale, alles spielt durcheinander, 2 Kapellen kamen vorher direkt hintereinander das<br />

enge Sträßchen heruntermarschiert hier neben meiner Dachterrasse.<br />

Jetzt gehe ich aber doch bald hinaus, um das Durcheinander ein wenig zu genießen, bevor<br />

ich ins Konzert gehe (Steve Reich: Drumming).<br />

Sonntag 8.6.08, 2pm<br />

Konzert war recht schön... narkotisch, nach 20' hätte ich wie immer genug davon gehabt, es<br />

war aber eher 1 Stunde + 20'.<br />

Empfang danach, sehr nette Gespräche, aber irgendwie löste sich alles gegen 11:30pm auf,<br />

und alle gingen ins Wochenende.<br />

Und ich heute Morgen in die Kirche, brechend voll... und wie immer schön, egal wo auf der<br />

Welt im Prinzip zu verstehen und von den Andern drumherum aufgenommen zu werden.<br />

Erstaunlich, wenn 2-3000 Stimmen gemeinsam loslegen.


Lustig, wenn ich mir vorstelle, wie die 68-erGeneration bei uns die Revolutionslieder aus<br />

Lateinamerika als hohes Gut schätzte, dabei war das keine eigene Qualität: Der Gesang in<br />

der Kirche hat mehr Inbrunst. War damals aber nicht Teil des Radikal-Chique.<br />

Tja, Wochenende allein, wollte eigentlich zu dem Hotel außerhalb in den Hügeln (Villa<br />

Montaña), um dort schwimmen zu gehen. Aber heute ist, nach einer Regen- und<br />

Sturmnacht, das Wetter sehr bedeckt und eher kühl. Wird also nichts daraus.<br />

Von der Kirche bis eben saß ich also im Cafe Catedral, dachte nach und machte mir<br />

Notizen: Strategiepapier.<br />

7:45pm Spaziergang: ein Fehlschlag. Ich wollte einmal Umgebung der Altstadt ansehen,<br />

vielleicht sogar bis zu den Hügeln im Süden laufen (wo ich die Villa Montaña vermute), aber<br />

schon zwei Straßen hinter der Kathedrale gibt es keine „Kolonial-” (also für unsere Begriffe<br />

„Stadt-”) Architektur mehr, nur noch armselige einstöckige Häuschen. Die Armut wurde mit<br />

jedem Schritt offenbarer und ich marschierte trotzdem (mutig?) weiter. Bis mich einer aus<br />

einer herumlungernden Gruppe von Männern anmachte („Was gibt es hier zu gucken? Ist<br />

das vielleicht nicht schön hier?”). Das ließ mich dann doch einen geordneten Rückzug<br />

antreten.<br />

Per Zufall traf ich in der Stadt dann Silvain, der für mich gedolmetscht hatte am Freitag.<br />

Und der lud mich ein, heute Abend zu ihm zu kommen. Die wollen zwar Poker spielen, aber<br />

so sehe ich einmal, wie die Leute hier wohnen...<br />

Nix also mit zum erstenmal hier richtig gut essen gehen. Bin gespannt, auch auf die<br />

Umgebung. Silvain wohnt etwas außerhalb des Stadtkerns, aber östlich (nicht südlich, wo<br />

ich hingelaufen war).<br />

Montag 9.6.08<br />

Naja: Ein Poker-Spieler wird wohl nie aus mir werden. Wenigstens weiß ich jetzt, wie es geht<br />

(mehr oder weniger) und vor allem weiß ich jetzt, was es mit dem berühmten „Poker-Face”<br />

auf sich hat. Auf der Fahrt zu Silvain sah ich die Stadt dann doch noch einmal von einer<br />

anderen Seite. Sehr amerikanisch die Ringstraße, mit all den Hochglanz-Autohäusern etc.<br />

Die Wohnviertel dann außerhalb der Ringstraße einfachst und ziemlich laut.<br />

Ein Gewitter brach während der Hinfahrt aus, und Sonne gibt es auch heute nicht.<br />

12:55pm<br />

Montag heißt: Büro ist geöffnet und ich kann an den Computer.<br />

Habe nochmal die E-Mails, den Schreyahner Herbst betreffend, gelesen und schweren<br />

Herzens meine Demission eingereicht. Schade das alles... und ohne Telephonkontakt so<br />

unpersönlich per E-Mail aus Mexico.<br />

Also: Termine frei für Neues.<br />

Ich wurde vorhin gebeten, auch Dirigierunterricht zu geben. Und das Schlagzeugensemble,<br />

das am Samstag Reich's Drumming gespielt hat ist vielleicht an Andere Räume interessiert.<br />

Es wird diese Woche noch ein Treffen geben deswegen.


Dienstag, 10.6.08<br />

Oje, ich freu mich schon auf das Essen zu Hause. Hatte aus Neugierde Tamarinden<br />

gekauft.Die waren aber so sauer, daß ich den Rest des Tages Zahnweh hatte. Und als beim<br />

Abendessen auch noch eine superscharfe Sauce dazukam, wurde ich das Gefühl nicht los,<br />

man könne bei mir ohne weitere Schwierigkeit jeden Zahn einzeln ausdrehen.<br />

Ich hatte ein Steak bestellt und so viel: Bohnen, Guacamole und runde Pfannkuchen<br />

(Enchilladas?) dazubekommen, dass ich mir völlig mit Pampe aufgebläht vorkam. Ein<br />

Cognac wäre nicht schlecht gewesen, aber da brach gerade ein Gewitter mit sintflutartigem<br />

Regen los (der auch die ganze Nacht anhielt), und so flüchtete ich ins Hotel, ohne Cognac.<br />

Heute Morgen vor lauter Pampe im Bauch als Frühstück nur eine heiße Schokolade<br />

getrunken. Und mir dabei die Schuhe putzen lassen, zum ersten Mal hier, für 15 Pesos, also<br />

ca. 1.- Euro.<br />

2:07pm ok, Abenteuer: Ich bin zum einmal in eine Garküche gegangen zum Essen.<br />

Vielleicht hätte ich Tacos bestellen sollen, habe aber Eier mit Schinken bestellt. Die sind<br />

dann ja durchgebraten, da dürfte nichts passieren. Mineralwasser gibt es nicht, nur Coca-<br />

Cola. Und Gläser gibt es auch nicht: aus der Flasche trinken.<br />

Und da kommt auch schon das Essen, und nichtmal schlecht: Rührei mit Schinken, Reis<br />

mit Gemüse + die obligatorische Bohnenpampe. Schmeckt aber gut.<br />

7:55pm ... und Tortillas gab es „a volonté” dann auch noch dazu. Und alles zusammen<br />

kostete 30 Pesos, also ca. 2.- Euro. Unschlagbar.<br />

Dann via Büro (Computer) zum Kompositionsunterricht: Vier Studenten waren geplant. Es<br />

wurden dann sechs Studenten, und die wollen zum Teil wieder kommen. Und die Zeit<br />

überzogen habe ich auch noch: Von 16-19 war geplant, es wurde dann aber noch 7:30pm<br />

daraus, ohne Pause durch; zu interessante Gespräche dabei.<br />

Und jetzt regnet es wieder in Strömen und ich habe keinen Schirm.<br />

Muss es denn ohne Unterlass regnen, wenn ich in Mexiko bin, lieber Gott?<br />

10:50pm<br />

Trotz Regens losmarschiert zum Abendessen, diesmal etwas mondäner im Hotel Los<br />

Juaninos auf der Dachterrasse (bedeckt, natürlich).<br />

Ganz gut, das Essen; ambitioniert. Immerhin Ente gab's, mit sehr guter Sauce... wenn auch<br />

leider durchgebacken und reichlich trocken.<br />

Trotzdem gut, das als Gegenposition zu allem Anderen hier einmal zu essen: Mein teuerstes<br />

Essen bisher mit ca. 300 Pesos, also ca. 30.- US-$ oder 20.- €.<br />

Der Regen (hat mein Stoßgebet denn geholfen) hörte während des Essens auf. Vielleicht<br />

habe ich ja Glück morgen.<br />

Mittwoch, 11.6.08


Zum Frühstück Rodrigo Sigal getroffen, den Direktor von CMMAS. Haben uns bestens<br />

verstanden. Mit meiner Idee eines Austauschs hat bei ihm ganz offene Türen eingerannt.<br />

Übrigens hat er mir übersetzt, was ich gestern Abend für eine Suppe gegessen habe: Flor de<br />

Calabaza wusste ich schon, aber die zweite (grüne) Grundlage war: Kaktus, der Kaktus, von<br />

dem man die „Feigen” essen kann.<br />

Nach dem Frühstück kaufte ich mir erst einmal einen Regenschirm, um mich nicht jeden<br />

Tag ärgern zu müssen. Dann zum Conservatorium, meinen Pass abgeben (das soll helfen,<br />

um bezahlt zu werden. Die Sekretärin des Direktors war bei Silvains Poker-Party dabei,<br />

heißt Monika und spricht gut deutsch: ein Vorteil).<br />

Schließlich E-Mails... eine von Frau von Leliwa aus Düsseldorf, die wegen des Konzertes am<br />

10.12. die Alarmglocke läutet, da sich die Stadt bei ihr gemeldet hat und den Saal den<br />

ganzen Nachmittag requirieren will, denn die Jüdische Gemeinde mit Frau Merkel einen<br />

Feiertermin abhalten will.<br />

Ich habe Vorschläge zur Entschärfung gemacht und hoffe, so die Kuh vom Eis zu<br />

bekommen. Danach ins Hotel – und dann beschloss ich spontan, dem Regen zu trotzen und<br />

nach Patzcuaro zu fahren, ein Ausflug, den man an einem halben Tag schaffen kann: Der<br />

See, die Inseln, auch die Stadt sollen wunderschön sein.<br />

Zuerst also zum Bus-Terminal. Ich entschied mich für die Abenteuer-Version mit einem der<br />

kleinen Kombi-Busse, die überall in der Stadt herumfahren. Allerdings gab man mir an der<br />

Hotel-Rezeption falsche Informationen, sodaß ich mit dem Combi der Linie 2B (Café: die<br />

Farbe) in Richtung Osten fuhr, am San-Juan-Markt vorbei, dann in einem Schlenker um<br />

den Markt herum und zurück zu der Stelle, wo ich eingestiegen war: über eine halbe Stunde<br />

futsch. Das Bus-Terminal ist sehr weit draußen und erinnert an einen Flughafen mit seinen<br />

Terminals, den Sicherheitsbestimmungen.<br />

Die Busfahrt dann begann um 2:15 pm, kurz nach 4 waren wir in Patzcuaro, ich nahm ein<br />

Taxi zum Bootsanleger – wiederum außerhalb der Stadt, also zum zweiten Mal heute im<br />

Kreis gefahren.<br />

Der See ist wunderschön... und die Leute so nett: Das Boot nach Janitzio war gerade<br />

abgefahren, und so wurde es für mich und eine ebenfalls gerade noch angekommene Dame<br />

kurzerhand per Zuruf zurückbeordert. Toll!<br />

Gleich nach der Abfahrt begann eine Drei-Mann-Kapelle, Musik zu machen.<br />

Die Insel selber ist ein recht steiler Kegel, auf dessen Spitze eine riesenhafte Skulptur die<br />

ganze Gegend dominiert.<br />

Aussteigen, Aufsteigen: Innerhalb weniger Minuten einen geschätzten Höhenunterschied<br />

von vielleicht 120 Metern zu schaffen, ist nicht jedermanns Sache. Die anderen<br />

Bootsinsassen machten jedenfalls alle schlapp; mir kam meine Kölner Wohnsituation sehr<br />

zustatten. War oben dann zwar auch außer Atem, aber problemlos oben: tolle Sicht, trotz<br />

des unschönen Wetters.<br />

Alles übrigens überaus ärmlich, man fragt sich, wie das die Leute da aushalten – Internet<br />

und Mobiltelephon haben sie ja und sehen, wie’s woanders auf der Welt aussieht.<br />

Langsam zurück zum Boot und rechtzeitig nach Patzcuaro zurückgefahren, mit dem Taxi<br />

ins Zentrum, für einen Spaziergang.<br />

Sehr malerisch, sehr arm, sehr exotisch. Und die gesamte Stadt im Einheitsdesign: niedrige<br />

Häuser, der Sockel bis etwa in Brusthöhe in Ochsenblutrot, darüber weiß, die Ziegeldächer<br />

schön mit Holz gebaut. Und in der ganzen Stadt einheitlich in derselben Schrift die<br />

Angaben, um was für Läden es sich jeweils handelte.<br />

Am liebsten hätte ich eine Portion Weißfisch gegessen, die Spezialität hier: pescado blanco,<br />

frisch aus dem See.<br />

Aber ich fürchtete, den letzten Bus zurück nach Morelia zu verpassen, außerdem konnte ich<br />

auf die Schnelle kein Restaurant finden, das einladend genug ausgesehen hätte.


Hätte doch auf der Insel essen sollen: Dort gab's überall auf dem Weg frische Fischchen...<br />

nur: Was, wenn ich das letzte Boot zurück verpasst hätte?<br />

Zurück mit einem Speedy Gonzales von Busfahrer, der mich durch seine waghalsigen<br />

Fahrmanöver dazu brachte, einmal wirklich das Kreuzzeichen zu schlagen.<br />

Und bei der Einfahrt in Morelia schließlich bemerkt, wie groß diese Stadt ist: gigantisch.<br />

Nur die Altstadt, in der ich mich hier nur bewege: Die ist sehr begrenzt.<br />

Ein schöner Tag, der jetzt beim obliogatorischen Pampe-Essen mit einem Anfall (so scharf!!!!<br />

Größter Flüssigkeitsverlust durch die Augen und die Nase...) ausklingt. Ich bin froh über<br />

meine Spontanentscheidung, die Exkursion zu machen.<br />

Donnerstag 12.6.08, 12:15pm<br />

Noch ein Tag der spontanen Entscheidung, und auch dieser wurde zu einem denkwürdigen<br />

Tag.<br />

Bei Monika wieder meinen Paß abgeholt und ein Restaurant empfohlen bekommen, das<br />

sehr gut war und wo ich sicher noch öfter hingehen werde.<br />

Aber was sage ich, vorher gab es Wichtigeres: Ich saß im Café Europa für eine heiße<br />

Schokolade (als Frühstück) und ließ mir die Schuhe putzen (wobei mir die internationale<br />

Übereinkunft der Zeichen auffällt: zweimal kurz an den Fuß geklopft als Aufforderung, die<br />

Füße auf dem Gestell zu wechseln – wie im Friedrichsbad in Baden-Baden bei der Massage:<br />

Da bekommt man einen Klaps aufs Bein als Zeichen zum Umdrehen), als eine uralte (immer<br />

sind das alte Frauen, die etwas verkaufen wollen; nur die Stadtplan-Händler sind alte<br />

Männer. Kinder betteln nur, verkaufen nichts) Frau auftaucht und mir Wildorchideen<br />

anbot. Nun: Die sind geschützt und dürfen ganz sicher nicht eingesammelt und verkauft<br />

werden. Trotzdem. Sie waren am Blühen und sehen einfach wunderschön aus. Auf den<br />

ersten schnellen Blicksehen sie aus wie Cattleyen. Das kann aber nicht sein, die gibt es hier<br />

doch eher nicht? Muß zu Hause einmal nachschlagen...<br />

Um 1pm dann Klarinettenprobe mit Alfredo, der zunächst von senko und der dortigen<br />

Zweistimmigkeit überhaupt nix verstand. Ich glaube aber, er hat kapiert. Ein alter Hase<br />

(spielte vor '89 lange Zeit in der Staatsoper in Berlin und kann noch entsprechend Deutsch),<br />

der am Ende doch noch schön spielen wird.<br />

Um 3 dann Dirigierunterricht. Samuel – war nicht vorbereitet und hatte auch kein Stück<br />

dabei in einer Besetzung, die er je in Morelia dirigieren könnte. Da er nicht weit weg wohnt<br />

und seine Freundin dabei war und auch ein Auto hat, schickte ich ihn nach Hause, um ein<br />

kleiner besetztes Stück zu holen.<br />

Die Zwischenzeit überbrückte ich mit Elisabetta, die Chorleitung studiert und ein<br />

Chorstück von Debussy vorschlug (im Doppelsinn der Worte). Ich gab ihr einige Tipps und<br />

sie schien sehr glücklich darüber. Inzwischen kam Samuel zurück mit einer Partitur, an der<br />

es nichts oder fast nichts zu dirigieren gab. Ich diskutierte genau dies mit ihm, gab<br />

sämtliche Basistips zum Einrichten einer Partitur... und als dann immer noch oder nicht<br />

mehr (nichts nämlich) kam, entschied ich spontan, alle gemeinsam ins Café zu schleppen.<br />

Was auch geschah (das war die vorhin gelobte Spontanentscheidung). Und aus dem<br />

Gespräch im Café, das ca. 4:30pm begann, wurde eine Diskussion, die bis 10pm dauerte (in<br />

der letzten Restgruppe) und überaus fruchtbar war. Es ging um mexikanische Musik, was<br />

sie sei, warum sie nicht besser bekannt ist, ob mexikanische Komponisten nicht wie<br />

Japaner ihre nationale Identität musikalisch ausdrücken können etc.<br />

Da kamen höchst interessante Façetten zum Vorschein. Meiner Analyse, dass es eher<br />

soziale Gründe gebe für die Weigerung, sich auf die Klänge einzelner (Indio-?)<br />

„Communities“ einzulassen als musikalische, wurde Recht gegeben.<br />

Die Stadtmexikaner also schauen auf die Indios herab, gleichzeitig zu den Europäern<br />

hinauf...<br />

Außer hoch interessanten Gesprächen ergab der Nachmittag eine Verabredung mit<br />

Benjamin für morgen, Bücher über Michoacan etc. zu finden.<br />

Eine Verabredung für alle Anwesenden, nächsten Mittwoch mit Samuel nach Ichán zu<br />

fahren, wo er eine Indio-Blaskapelle dirigiert.<br />

Eine Einladung von Alonso, einen Hundekampf (!) zu besuchen...<br />

Und für eine halbe Stunde dazwischengeschoben (während die Andern weiterdiskutierten)<br />

ein Treffen mit Pedro, dem Schlagzeuglehrer, der nun von Andere Räume begeistert ist und<br />

das Stück mit seiner Truppe nächstes Jahr im Festival spielen will.


Freitag 13.6.08, 11:33pm<br />

Den Vormittag gewandert und Bücher + CDs über Michoacan gekauft, im San-Juan-Markt<br />

eine Tüte „Jamaïca“-Blüten mitgenommen, die jetzt das Hotelzimmer mit Duft füllen.<br />

Nachmittags Seminar dann wieder zu spät aufgehört und gerade noch Zeit gefunden, mich<br />

umzuziehen: Sinfonie-Konzert, der Dirigent ließ grüßen und mir eine Eintrittskarte<br />

überreichen und bot ein Treffen nächste Woche an.<br />

Da ging es nicht anders... sie haben sich viel Mühe gegeben und waren stellenweise<br />

durchaus erfolgreich damit. Nur: Wo haben die für das 2. Klavierkonzert von Rachmaninov<br />

diese stocksteife Solistin her?! Eine Katastrophe, das Stück metronomisch<br />

durchzuexerzieren – und es dabei noch nicht einmal technisch zu beherrschen. Ein Graus.<br />

Als ich dann später unter den Kolonnaden saß und versuchte, mein Kopfweh zu vertreiben,<br />

lief die Solistin an mir vorbei: steif und trotzig/trutzig wie ein hölzerner Karussellgaul,<br />

dessen Grazie ihr aber fehlt (eine Russin, Elena irgendwas...).<br />

Samstag 14.6.08, 8pm<br />

Nachtrag zu gestern (vor lauter Kopfweh vergessen): Auf meinen Spaziergängen traf ich<br />

wieder auf einen Orchideenverkäufer. Diesmal sprach ich ihn an. Den Namen wusste er<br />

nicht, aber eine Cattleya ist es definitiv nicht. Andere Bulben (Laelien?).<br />

Er bot sie mir an für 10 Pesos (ca. 6.-€!!!) und mein Spanisch ist gottlob inzwischen so weit,<br />

dass ich ihm erklären konnte, ich komme aus Deutschland, würde sie liebend gerne kaufen,<br />

aber der Transport sei unmöglich. Hat er verstanden.<br />

11:55 Heiße Schokolade als Frühstück getrunken, dabei kam Samuel, einer der<br />

Kompositionsschüler von hier mit seinem Töchterchen mit dem schönen Namen Eclipse<br />

vorbei. Fortsetzung der Gespräche, und am Ende fragte mich Samuel, ob er bei mir (in<br />

Maastricht) studieren könne?<br />

Spaziergang zur Casa de las Artesanías und mir selber einen Ruck gegeben, die Vase zu<br />

kaufen, die mir schon bei meinem ersten Besuch am besten gefallen hatte. Nun habe ich<br />

aber Gepäck ;-)<br />

3:36 Noch ein Spaziergang: Bei der Kapelle der Virgen de Guadaloupe am Ende des<br />

Aquaducts soll eine Präsentation sein von Bioprodukten, da bin ich also hin, habe<br />

herrlichen Pampelmusensaft getrunken, einen Mezcal (der die Englein singen lässt...) und<br />

dann war ich reif, etwas zu essen. Bin wieder in das Restaurant, das von der Mutter der<br />

Schlagzeugerin geführt wird, die ich kennengelernt hatte. Wieder sehr gut gegessen, zum<br />

Schluß kam Noria dazu und wir sprachen miteinander über ihren bevorstehenden<br />

Aufenthalt in Paris (sie fliegt am Dienstag ab und bleibt 1-2 Jahre).<br />

Wie man doch von außen den Spiegel vorgehalten bekommt: Sie will eine Wohnung suchen<br />

mit anderen „Latinos“ zusammen, da sie die Franzosen nicht so mag. Warum nicht? So<br />

formell, da muß man vorher zum Abendessen eingeladen werden, anstatt einfach<br />

hinzugehen. Na, da bin ich aber sehr französisch...


***<br />

Den Nachmittag sehr entspannt verbracht, lesend im Café, ab und zu dem Treiben auf dem<br />

Platz gegenüber zusehend.<br />

Um 20:30 dann ins Conservatorium zum Konzert oder eher: zu den Installationen der<br />

Schüler. Sehr schön, sehr familiäre Atmosphäre. Danach – gegen 22 Uhr – mit dem Taxi zur<br />

Party von Silvain, die von 5pm bis 5am ging... und um 10pm so ohrenbetäubend laut war,<br />

dass ich neben der Musik kaum ein Gespräch führen konnte. Sehr nette Leute waren da,<br />

ein deutsches Pärchen und ein Paar aus der Schweiz (er) und Ecuador (sie), dann ein<br />

gemischt italienisch/mexikanisches Paar: alle aus dem Physik/Mathematik-Bereich der<br />

Universität. Wie ich mich da mit Luca (war alleine da) aus Viareggio auf Italienisch bei<br />

diesem (un-)musikalischen Lärmpegel über Teilchenphysik und interdisziplinäre<br />

Wissenschaften unterhalten konnte, ist mir jetzt noch ein Rätsel.<br />

Sonntag 15.6.08, 19:50<br />

German hat mich heute mit dem Auto entführt, zuerst nach Tzintzuntzan, wo wir einen<br />

Friedhof besichtigten, archäologische Stätten (wo mir eine Schlange und eine Art Murmeltier<br />

begegneten) und ein Markt mit Kunsthandwerk.<br />

Von da nach Patzcuaro, etwas essen: in dem Restaurant des Hotels Posada de la Basilica<br />

mit herrlichem Blick auf das Städtchen und den See mit einigen der Inseln.<br />

Und von da noch nach Santa Clara del Cobre im Süden des Sees, ein Städtchen, das in<br />

jedem Laden Souvenirs aus Kupfer verkauft. Davon abgesehen wunderschön! Schöne,<br />

interessante Gespräche mit German.<br />

***<br />

Nebennoten: zum ersten Mal außer ein paar Bananen frisches Obst gegessen: Feigen (!!!)<br />

und Rambutan.<br />

Montag 16.6.08<br />

Früh morgens eine Probe für Broken Book, wie ich sie selbst meinem schlimmsten Feind<br />

nicht wünschen würde: Vc. fehlt (hat vergessen), Violine völlig unvorbereitet und ziemlich<br />

uninteressiert, Br. auch recht unvorbereitet, aber wenigstens musikalisch gut und in der<br />

Lage, umzusetzen, was ich sage.<br />

Danach in St Juan einen Saft getrunken (Papaya & Mango), dann die „Chorprüfung“<br />

mitgehört, zu der Elisabetta mich eingeladen hatte: eigentlich nur ein Unterricht – sehr<br />

guter Lehrer, er sagte Elisabetta übrigens das Gleiche wie ich.<br />

Dann zum CMMAS, Rodrigo Sigal treffen und auf dem Weg zum Hotel noch einen Saft<br />

(Grapefruit + Ananas) + Tacos zum Mittagessen.<br />

Gleich wieder zum Conservatorium, 3 Stunden Seminar + Unterricht.


Dienstag 17.6.<br />

Voller Tag: 1. Probe (mit Vcello diesmal, und erheblich besser)<br />

2. Flötenprobe (auch gut)<br />

3. kurzer Spaziergang, noch einen Palast besichtigt<br />

4. Xavier zum Mittagessen getroffen (Direktor des Conservatoriums; will,<br />

daß ich wieder komme)<br />

5. Verabredung mit dem Dirigenten des Orchesters. Kam aber nicht (hat<br />

er Angst vor mir?)<br />

6. Kompositionsunterricht<br />

7. Klavierprobe für up: gut<br />

Danach wieder einmal (obwohl durch die Klavierprobe eigentlich schon zu spät)<br />

Spontanentscheidung für einen Besuch in der Villa Montaña.<br />

Traumhaft schön oben auf dem Berg, genau gegenüber von meinem Hotel hier:<br />

spektakulärer Blick auf ganz Morelia.<br />

Da saß ich mutterseelen alleine draußen auf der Terrasse, genoß den Blick und das<br />

Abendessen, danach eine Zigarre... ein Glühwürmchen kam auch zu Besuch. Und<br />

irgendwann ging hinter dem Haus auch der (Voll-) Mond auf.<br />

Mittwoch 18.6.08<br />

Fahrt durch wechselhafte, manchmal liebliche, manchmal dramatische Landschaft in<br />

großer Höhe nach Ichán, dem Indio-Dorf mit der Blaskapelle.<br />

Da Morelia schon ca. 2000 m hoch liegt, schätze ich einige der hohen Berge unterwegs auf<br />

3000m hoch und mehr, sehe aber keine Baumgrenze. Abends nach der Rückkehr belehrt<br />

mich die Karte aber, daß es auf dem Weg tatsächlich mehrere Berge über 3000m gibt. Ich<br />

muß mich wieder kundig machen über den exakten Verlauf der Baumgrenze. Die Fahrt<br />

führt über Quiroga (am anderen Ende des Patzcuaro-Sees) und Zacapu bis Ichán kurz vor<br />

Zamora.<br />

Anfangs bin ich erstaunt: von „Indio-Dorf“ keine Spur, man sieht Parabol-Antennen, ein<br />

normales Dorf. Von irgendwo höre ich eine Blaskapelle spielen, dann aus einer anderen<br />

Richtung noch eine. Es sollten schließlich drei werden, und es gibt noch mehr.<br />

Wir treffen die Kapelle von Samuel in einem Privathaus, das mich in seiner ärmlichen<br />

Würde spontan berührt, und ich mache einige Photos: Gleich am Eingang steht hinter<br />

einem großen Kreuz das Bett – der Eingang ist das Schlafzimmer.<br />

Die Banda spielt auf dem Balkon (unsichtbar von der Straße aus).


Nach einiger Zeit ziehen wir alle um auf den zentralen Dorfplatz. Ich höre, dass es einen<br />

Verbund von elf Dörfern gibt von Purepachô-Indianern und frage mich, ob die Anzahl der<br />

Spieler auf dem Balkon (11) etwas damit zu tun haben könnte, da bekommt die Banda auch<br />

schon Zuwachs auf dem Dorfplatz. Ich werde in aller Form vorgestellt, und dann wird<br />

gespielt.<br />

Es sind tatsächlich Indios, und allmählich schärft sich meine Wahrnehmung für Details:<br />

Wunderschön angezogene Frauen, die Lasten durch das Dorf tragen, die Gesichtszüge sind<br />

anders als bei den „Mexikanern“. Ich lerne ein paar Brocken der Sprache: „ho“ für „si“,<br />

„nombe“ für „no“ und das schon in Patzcuaro gehörte „deus mayum“ für „gracias“. Nach der<br />

Musik sind wir zum Essen eingeladen bei Paco, dem Band-Leader.<br />

Wieder einfachste Verhältnisse im Haus, aber von einer stolzen Würde. Die Frauen kochen<br />

das Essen, sitzen aber nicht mit den Männern am Tisch. Das Essen: baumfrische Avocados<br />

(!), eine Suppe, Klöße in Maisblättern (zum Trinken gibt es Jamaïca-Wasser, das mir sehr<br />

gut schmeckt), überaus gut.<br />

Selbst als ich das Essen lobe und mich bei den Frauen bedanken will, wird mein Lob +<br />

Dank huldvoll vom Hausherrn angenommen und nicht an die Frauen weitergegeben.<br />

Schließlich gehe ich selbst in die Küche und statte meinen Dank persönlich ab.<br />

Jorge, der Schwager (?) von Paco, läd uns alle für eine kurze Fahrt in Nachbardörfer ein, wir<br />

machen Station in einer Bäckerei, in der ich sogar in den traditionellen Ofen sehen darf.<br />

Das Brot schmeckt himmlisch. Zuletzt Pacos Garten: ein Paradiesgarten mit uralt<br />

aussehendem Avocado-Baum, Orangen, Mango, Limetten...<br />

Und Vogelrufe...<br />

Sehr herzlicher Abschied.<br />

Am Abend dann Einladung bei Caterina und Pedro, den italienischen Wissenschaftlern (die<br />

ich bei Silvains Party kennengelernt hatte).<br />

Lange Gespräche über die mexikanische Identität, über soziale Prozesse in Mexiko.<br />

Man versteht sich (auch Luca aus Viareggio ist dabei), und Caterina wird mit einigen<br />

Freunden auch in das Konzert am Samstag kommen.<br />

Donnerstag 19.6. 12:15<br />

Morgens Probe (wird immer besser), dann Treffen mit German, der mir einige seiner Stücke<br />

zeigt. Um 12:30 Interview für das Radio (wird Samstag gesendet), und da muß ich jetzt hin...


14:35 Tja, altes Europa: kein Studio, keine Vorbereitungen... kein Moderator. Nur eine<br />

Mitarbeiterin der Verwaltung, die ein Gerät zückte, das kaum größer war als ein Lippenstift,<br />

und die begann, Fragen zu stellen.<br />

Das Gespräch wird auch im Internet sein. Welch ein Unterschied zu Ichán!<br />

Noch ein paar kleine Versatzstücke zu Ichán:<br />

– der sintflutartige Regenguß, der plötzlich losbrach<br />

– die Schönheit der Frauen und Mädchen<br />

– die Tatsache, daß niemand im Dorf anderer Arbeit nachgeht als das Musikspielen<br />

in der Kapelle (clanmäßig reguliert: jede (Groß-) Familie hat eine eigene Kapelle).<br />

Eine geschönte Form der Arbeitslosigkeit?<br />

– Frage an Jorge während der Fahrt zu den Dörfern: Empfindet er als Indio oder<br />

als Mexikaner? Antwort: Indio!!!<br />

21:40 Kompositionsunterricht mit Anfängern. Der erste hatte auch Talent. Danach:<br />

Fehlanzeige. Einer mit wirklichen (psychischen) Problemen, der mir sogar ein Blatt Papier<br />

hinschob zur Begutachtung, auf dem nur am unteren Rand ein paar schwarze Krakeln zu<br />

sehen waren.<br />

Unverschämt eigentlich. Bin doch nicht zu einem Rorschachtest hierher geflogen.<br />

Und plötzlich habe ich keine Lust mehr und will bloß noch so schnell wie möglich nach<br />

Hause.<br />

Kaum im Hotel angekommen, bricht direkt hier an der Kathedrale ein großes Feuerwerk<br />

los...<br />

Freitag 20.6.08, 13:39<br />

Am Morgen recht lohnende Probe, erst für Echo-Hüllen Danach, dann Broken Book. Wird ja<br />

vielleicht doch noch gut...<br />

Dann: packen (=Streß aus dem Konzerttag nehmen), Hotel bezahlen. Spaziergang zu San<br />

Juan für einen Mangosaft (wird mir fehlen in Deutschland). Jetzt noch mal zur Hochschule,<br />

um das Taxi organisiert zu bekommen für Sonntag (4 Uhr morgens zum Flughafen). Dann<br />

essen, dann Klarinettenprobe, noch 1-2 Kompositionsschüler, dann Abschluß des Seminars<br />

über deutsche Komponisten, dann Klavierprobe: ein reichlich voller Tag.<br />

18:57 Proben waren gut (obgleich die Aufführung von up vielleicht technisch nicht so<br />

perfekt sein wird, aber musikalisch sehr schön). Seminar ok: so ist Mexiko... Gleichzeitig<br />

fand ein Examen für die Kompositionsschüler statt, die deswegen natürlich nur einer lang<br />

nach dem andern eintrudeln können. Am Anfang waren nur die beiden Anfänger da, die ich<br />

zuvor noch unterrichtet hatte. Den entsprechenden Wutanfall habe ich weitgehend unter<br />

Kontrolle gebracht.


Samstag 21.6.08, 11:24<br />

... und jetzt weiß ich, warum ich so grantlig war: Das Mittagessen von gestern (immerhin im<br />

„Best Western“-Hotel – müsste eigentlich ok sein) hat mir den Magen ruiniert. Wenn ich nur<br />

an Mais und Bohnenbrei denke, wird mir schlecht.<br />

Jedenfalls bekam ich gestern Abend noch richtig Fieber, Schweißausbrüche... mein<br />

Abendessen bekam ich nur zur Hälfte herunter, und die ganze Nacht ging es mir ziemlich<br />

dreckig. Jetzt – (mit Ausnahme von Schmerzen im Unterleib und regelmäßigem Gang zu den<br />

Baños) geht es etwas besser. Jedenfalls fühle ich mich nicht mehr so schlapp.<br />

Obwohl: Mein Blutdruck ist im Keller. Großer Hunger, aber null Appetit.<br />

Und heute Abend Konzert, Abschiedsparty etc. und um vier morgen früh das Taxi.<br />

Kann ja heiter werden.<br />

Um 10 war ich auf einen Kaffee mit der Direktionssekretärin verabredet. Sie kam aber nicht:<br />

Mexiko? Ich glaube, ich bin reif für den Heimflug.<br />

Sonntag 22.6.08, 05:22<br />

Im Flughafen. GP und Konzert gingen ziemlich gut. Sehr dankbares Publikum.<br />

Nach dem Konzert noch sehr schönes Essen in einem Restaurant, das ich vorher (leider)<br />

nicht gefunden hatte. Pünktlich aufgewacht kurz vor vier.<br />

Im Flughafen eine unglaubliche Zeremonie: Mein großer Koffer ist 5kg zu schwer. Es gibt<br />

aber keine Möglichkeit, das Übergepäck zu bezahlen. Also wird aus meinem Koffer<br />

Stückchen für Stückchen herausgepuhlt und gewogen, bis 5kg zusammen sind – in meinem<br />

Kleidersack (und den muß ich jetzt bis Köln zusätzlich schleppen. Wie zum Hohn kommt<br />

jetzt gerade eine Lautsprecherdurchsage, man solle wenn möglich ohne Handgepäck reisen).<br />

Beim Durchleuchten des Handgepäcks schließlich wird ein Gegenstand gefunden, den ich<br />

als Zigarrenschneider glaube identifizieren zu können. Lange Suche, mein Handkoffer wird<br />

vollständig ausgepackt. Bis sich findet: mein Reiseset aus Kyoto, dieses hübsche<br />

Nähschächtelchen (aus dem Tawaraya), in dem ein winziges japanisches Scherchen ist.<br />

Noch nicht mal in den USA oder sonst wo auf der Welt hat das in den letzten zehn Jahren<br />

jemanden gestört. Jetzt ist das Scherchen weg.<br />

Gestern Nachmittag eine vergnügliche Einlage: ein Karikaturenzeichner auf dem Platz an<br />

der Kathedrale. Ich ließ ihn zum Jux eine Karikatur von mir anfertigen. Und es kam, wie es<br />

kommen musste: Er fragte nach meinem Beruf (oder: Was ich in Morelia mache), und nun<br />

habe ich eine Karikatur von mir als Dirigent.<br />

14:30 in Houston<br />

Die Geschichte im Flughafen von Morelia geht noch weiter: Irgendwann mussten wir alle<br />

aus dem Warteraum hinaus, eine Absperrung wurde errichtet und neue Checks<br />

durchgeführt. Mein sorgfältig gepackter Koffer war nach dem mehrmaligen Aus- und<br />

Einpacken völlig außer Ordnung, und der Sicherheitsfritze wollte ihn mit Gewalt schließen –<br />

wobei ich die Contenance verlor und ihn anherrschte, er solle meinen Koffer gefälligst nicht<br />

ruinieren. Und von da ab wurde ich mit Respekt behandelt.<br />

Angekommen in Houston eine Folge von Hiobsbotschaften:


1. LH-Counter öffnet erst in 2 Stunden. Irgend ein freundlicher Angestellter wies mir<br />

aber den Weg zum Marriott-Flughafenhotel, sodaß ich wenigstens etwas Frühstück<br />

zu mir nehmen konnte.<br />

2. Nach zwei Stunden erfahre ich:<br />

a) das wie ein unansehnlich/unwichtiges Reklamepapierchen von Continental<br />

aussehende Ding hätte ich aufheben müssen: Das war mein Gepäckabschnitt.<br />

Keine Hilfe von der Lufthansa. Ich musste in das andere Terminal zurück und eine<br />

hilfreiche Seele von Continental druckte mir eine neue Bordkarte aus.<br />

Damit zurück zur Lufthansa. Die konnte aber mit einer Bordkarte nichts anfangen.<br />

Diesmal aber war ich an eine nettere Kollegin geraten als beim ersten Mal, und die<br />

telefonierte mit dem Gepäckzentrum, um meinen Koffer zu identifizieren. Für all das<br />

braucht man natürlich Zeit, und die habe ich, da:<br />

b) mein Flug nach Frankfurt um fast vier (!) Stunden verschoben ist.<br />

Welch ein Glück, in der „President’s Club“-Lounge unterzukommen. Die ganze Zeit<br />

auf dem Flur!!!<br />

17:20 noch eine Stunde bis zum Einsteigen.<br />

Eine elend lange Warterei.<br />

Bin anscheinend der Einzige hier, der ein altmodisches „Buch“ liest. Praktisch alle – alle –<br />

haben ihre Notebooks dabei und erledigen E-Mails oder was auch immer.<br />

Jetzt verstehe ich auch den Mann beim Sicherheitscheck: „kein Note-Book?!“ war sein<br />

Kommentar...<br />

Nachtrag (schon auf dem Flug bzw im Flieger nach Berlin am 24.6., Abflug 7:00): 6:44<br />

***<br />

Abflug von Houston war dann doch noch später, kam in Köln am Hbf kurz nach 14 Uhr am<br />

23.6. an. Durch die Verspätung um schließlich 3 Stunden konnte ich natürlich nicht mehr<br />

alles so durchführen wie geplant, aber Karin half, das Wichtigste zu realisieren.<br />

Abends schönes Essen auf der Terrasse von Vintage, in der Abendsonne. Sehr schöner Tag,<br />

und nach vier Stunden Schlaf wieder raus, zum Flughafen...<br />

Was bleibt?: Eine neue Ecke der Welt für mich entdeckt. Und umgekehrt auch. Kommentar<br />

von Mario, dem Pianisten (der up spielte) über up down strange charm): „Ich habe schon<br />

viele neue Stücke von vielen Komponisten gespielt. Aber so etwas habe ich noch nie gesehen<br />

oder gehört. Eine Kathedrale, ein Planet, eine andere Welt als alle anderen Stücke. Ein<br />

absolutes Meisterwerk.“<br />

Gut so. Weiter.

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