Gut. - Hessisches Landestheater Marburg
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Antigone<br />
nach Sophokles (ca. 497/496 v. Chr. – ca. 406/405 v. Chr.)<br />
Premiere: 21. Januar 2012, Bühne<br />
Regie: André Rößler<br />
Nach Ödipus’ Tod herrscht Chaos in Theben. Seine Söhne Polyneikes<br />
und Eteokles – verfeindete Brüder im Streit um die Herrschaft –<br />
töten sich gegenseitig in der Schlacht. Ödipus’ Schwager Kreon<br />
übernimmt die Macht. Während er für Eteokles eine feierliche Beerdigung<br />
anordnet, lässt er die Leiche des Angreifers Polyneikes, der<br />
trotz Verbannung einen Eroberungsfeldzug wagte, vor der Stadt liegen<br />
und untersagt die Bestattung. Antigone, die Schwester der beiden,<br />
hält es für ihre Pflicht, den toten Bruder zu<br />
beerdigen, denn über den Willen des Königs und<br />
die Staatsraison stellt sie die Gebote der Götter.<br />
Haimon, Antigones Verlobter und der Sohn Kreons,<br />
bricht mit seinem Vater, da dieser Antigone<br />
streng bestraft. Ein Seher prophezeit den Tod Haimons.<br />
Kreon gerät in Zweifel. Doch als er, um die<br />
Katastrophe zu verhindern, Antigone schließlich<br />
freilassen will, ist es zu spät.<br />
Der Konflikt zwischen menschlichem und göttlichem<br />
Recht, Wille und Gesetz, Lebensbejahung<br />
und Freiheit zur Verneinung steht im Zentrum dieses<br />
Stoffes, der Dramatiker von Sophokles bis Anouilh oder Brecht<br />
immer wieder zu neuen Aneignungen inspiriert hat. Doch was geschieht,<br />
wenn wir die Kette jahrtausendealter Überlieferung kurzerhand<br />
abkürzen, sie austauschen, zum Beispiel gegen eine automatisierte<br />
Google-Übersetzung? Der Regisseur André Rößler wird in<br />
seiner <strong>Marburg</strong>er Inszenierung bei der Prüfung der antiken Sage auf<br />
ihr heutiges Sinnstiftungspotential ansetzen.<br />
Theater der Antike<br />
von Theo Girshausen<br />
Das griechische Theater ist ein Ort des Sichtbarmachens. Das Ganze<br />
des Sichtbaren sagt Aristoteles zum Wahrnehmungsraum, der sich<br />
hier öffnet. Dieser Raum ist sehr eigenartig und unterscheidet sich<br />
grundsätzlich von den beiden anderen Orten der Sichtbarkeit, die für<br />
die Griechen wichtig waren. Von der agorá, dem ›Markt‹, dem Zentrum<br />
der Polis, dem Öffentlichkeitsraum der Stadt einerseits, und<br />
den Orten der heiligen Schau, der rituellen Veranstaltungen andererseits.<br />
In der agorá, dem ständigen Versammlungsort der Bürger,<br />
liegt der Mittelpunkt dieser Gemeinschaft. Hier waren alle präsent. In<br />
den Personen, die man vor Augen hatte, im Streit der Stimmen, die<br />
man hören konnte, war die Gemeinschaft tatsächlich anwesend, in<br />
ihrer ganzen Wirklichkeit und Wahrheit. An den Orten der Heiligkeit<br />
hingegen, den zahlreichen Kultplätzen der Stadt, wird im rituellen<br />
Tun das Urgeschehen gegenwärtig und sichtbar. Hier werden der<br />
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Gemeinschaft ihre Anfänge und damit ihre Identität anschaulich. In<br />
jedem rituellen Vorgang kommt die Zeit der heiligen Anfänge zurück,<br />
so wie es war und immer ist. Beide Orte, die agorá und die Orte der<br />
Kulte, sind aufeinander bezogen. Das politische Handeln gründet in<br />
den Anfängen, die die Polis begründen. Der Ort des Handelns liegt<br />
dazwischen.<br />
Es gibt den legendenhaften Bericht über die Begegnung des Solon,<br />
des berühmten Athener Staatsmannes, mit dem<br />
sogenannten ›ersten Schauspieler‹, einem Mann<br />
namens Thespis. Dieser habe einst auf der agorá<br />
eine Aufführung geboten, und Solon habe ihn danach<br />
zur Rede gestellt und das, was er dort getan<br />
habe, scharf verurteilt. Was er dort in Gestalt<br />
einer nur dargestellten Figur mache, als das, was<br />
er als Thespis als Person sei und denke, sei unmoralisches<br />
Verhalten. Es sei Verstellung und damit<br />
schiere Lüge. Tut man das, dann ist man eben ein<br />
schlechter Kerl – ein Hypokrit.<br />
Was Solon stellvertretend für viele seiner Zeitgenossen<br />
irritiert, ist die Doppelung von Wirklichkeit und Möglichkeit<br />
als Grundstruktur und Grundspannung des Theaters. Was ihn provoziert<br />
ist die Zweideutigkeit des Ereignisses, die in seiner Scheinhaftigkeit<br />
liegt. Was im Schein des Theaters aber aufzuscheinen<br />
vermag, was in ihm und durch ihn sichtbar wird, das zeigt uns jede<br />
Tragödie: Unter den Eindeutigkeiten des Politischen, des Religiösen<br />
zeigt es die tiefe Zweideutigkeit des Wirklichen, die die Menschen,<br />
im Leben, zu zerreissen vermag.<br />
in: Ursprungszeiten des Theaters. Das Theater der Antike, Berlin 1999<br />
Regie<br />
André Rößler, wurde 2010 von<br />
der Zeitschrift »Theater Heute«<br />
als bester Nachwuchsregisseur<br />
nominiert. In der Spielzeit<br />
2010/2011 inszenierte er in<br />
<strong>Marburg</strong> »Die schmutzigen<br />
Hände«. Das Stück ist 2011 zu<br />
den »Hessischen Theatertagen«<br />
nach Kassel und nach Bensheim<br />
zur »Woche junger Schauspieler«<br />
eingeladen.<br />
Die Nibelungen<br />
von Friedrich Hebbel (1813–1863)<br />
Premiere: 25. Februar 2012, Black Box<br />
Regie: Matthias Faltz<br />
Was gehen uns die Nibelungen an? fragte Einar Schleef im Titel seines<br />
Bilderzyklus’ von 1987, und fügte hinzu: Die Helden haben ausgespielt.<br />
Den Gegenbeweis trat Schleef gleich selbst an: In den vier Ölgemälden<br />
seines Zyklus’ sehen wir gewalttätige Gestalten, die nur im Angriff<br />
ganz da sind – ein Panzer, ein Körper, eingeschworen bis zur Selbstvernichtung.<br />
Schleefs Bezug auf Deutschlands jüngste Geschichte ist unverkennbar.<br />
Sieht er so also aus, der deutsche Held?<br />
Die Nibelungensage verbindet die Geschichte von Siegfrieds Tod<br />
mit der des Untergangs des Hauses der Burgunder.<br />
Siegfried heiratet die burgundische Königstochter<br />
Kriemhild, muss jedoch als Gegenleistung<br />
dem burgundischen König Gunter die stolze<br />
Brünhild zur Braut gewinnen. Dies gelingt durch<br />
eine List und durch Siegfrieds magische Kräfte;<br />
ein Betrug, der zur Wurzel alles folgenden Unheils<br />
werden wird. Nach zehn Jahren lädt Gunter<br />
Siegfried und Kriemhild ein, ihn zu besuchen.<br />
Es kommt zu einem Streit zwischen den beiden<br />
Frauen, bei dem Brünhild öffentlich beleidigt wird. Damit tritt Hagen<br />
auf den Plan, der wichtigste Vasall Gunters. Er überredet den König,<br />
Siegfried zu töten, raubt dessen Schatz und versenkt ihn im Rhein.<br />
Kriemhild schwört Rache.<br />
Nach Jahren der Trauer heiratet Kriemhild den mächtigen Hunnenkönig<br />
Etzel. Sie lädt ihre Brüder ein, sie zur Aussöhnung am Hof Etzels<br />
zu besuchen; Gunter, Hagen und die anderen Burgunder folgen,<br />
wenn auch mit Misstrauen. Am Hof des Hunnenkönigs lässt Kriemhild<br />
die Falle zuschnappen. In einem gewaltigen Blutbad wird das<br />
Geschlecht der Burgunder ausgelöscht. Als schließlich nur Gunter<br />
und Hagen übrig bleiben, lässt Kriemhild den Bruder töten und enthauptet<br />
Hagen mit eigenen Händen. Entsetzt durch diese Gräueltat,<br />
schlägt Hildebrand, ein Gast Etzels, die Königin in Stücke. Etzel bleibt<br />
allein zurück: Die Blutrache ist vollbracht, die Rächende zusammen<br />
mit ihrer Familie und dem Objekt ihrer Rache ausgelöscht.<br />
Die Nibelungensage ist vielfach vereinnahmt worden; nicht zuletzt<br />
von denen, die in ihr den Ursprung des deutschen Volksgeistes sahen.<br />
In Hebbels Drama geht es nicht um Germanisch-Urgeschautes,<br />
sondern um menschliche Verstrickungen. Hebbels Figuren sind<br />
verloren zwischen verschiedenen Ordnungen des Sinns und der Moral,<br />
von denen keine mehr verbindlich zu sein scheint. Ihr Unglück<br />
ist selbstverschuldet und doch unausweichlich. Gerade in dieser<br />
menschlichen Tragödie, – und in der Art, in der Hebbel die wunderbaren<br />
Farben der Sage einzufangen sucht – liegt daher vielleicht mehr<br />
Aufschluss für uns Heutige, als wir erwarten.<br />
Von der Sage zum Epos<br />
von Joachim Heinzle<br />
So offenkundig wie der Sachverhalt, dass sich die Nibelungensage<br />
auf historische Wirklichkeit bezieht, ist die Tatsache, dass sie diese<br />
Wirklichkeit nicht faktengetreu wiedererzählt. Man hat dieses Umerzählen<br />
früher als einen Akt der Enthistorisierung und künstlerischen<br />
Emanzipation interpretiert. Die historischen Fakten wären demnach<br />
nur der Rohstoff gewesen, aus dem Dichter die<br />
Sage in Form von Heldengedichten gestaltet hätten.<br />
Heute versteht man es als einen Akt der For-<br />
mulierung historischer Erfahrung aufgrund von bereitstehenden<br />
Motivationsmustern, der darauf zielt, mit Hilfe<br />
vertrauter Modelle zu begreifen, was geschehen<br />
ist. Indem das Schreckliche erzählbar und wiedererzählbar<br />
gemacht wird, lässt es sich bewältigen.<br />
In diesem Sinne kann man die germanische Heldensage<br />
in ihrer blutigen Düsterheit als Produkt<br />
der Abarbeitung kollektiver Traumata verstehen. Wesentlich ist, dass<br />
es sich bei der heroischen Überlieferung um eine Form der kollektiven<br />
Erinnerung handelt, in der sich eine Gemeinschaft zu der Zeit<br />
in Beziehung setzt, in der sie sich formiert hat. Ihre Pflege dient der<br />
Selbstdefinition und Identitätsvergewisserung und hat, insofern sie den Weg<br />
zum rechten Handeln weist, auch eine normative Funktion: Die Helden<br />
sind zugleich Vorgänger und Vorbilder.<br />
Dass die Heldensage das Bedürfnis der Menschen stillte, ihr Herkommen<br />
zu erinnern und sich dadurch ihrer Identität zu vergewissern,<br />
bedeutet nicht, dass die Überlieferung an ein und dieselbe Trägerschaft<br />
gebunden war. Sonst hätte die germanische Heldensage mit<br />
dem Ende der alten Stammesverbände schon im frühen Mittelalter<br />
erlöschen müssen. Die Überlieferungen konnten von immer neuen<br />
Zurechnungssubjekten übernommen werden. So ist die Geschichte der<br />
Heldensagen eine Geschichte immer neuer Aneignungen, und zwar<br />
in dem strikten Sinn, dass das je und je Angeeignete als Vorzeitkunde<br />
für verbindlich und bedeutsam genommen wurde.<br />
Verbindlichkeit ist die Bedingung, unter der die mündliche Weitergabe<br />
von Erzählstoffen über lange Zeiträume möglich ist. In mündlichen<br />
Traditionen herrscht das Gesetz der strukturellen Amnesie. Es<br />
besagt, dass Traditions-Inhalte unweigerlich dem Vergessen anheimfallen,<br />
wenn sie keinen Bezug zur jeweiligen Gegenwart mehr<br />
haben. Solange die Inhalte verbindlich sind, werden sie tradiert – und<br />
umgekehrt: Solange sie tradiert werden, werden sie gebraucht.<br />
in: Das Nibelungenlied und seine Welt, Darmstadt, Primus Verlag 2003<br />
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