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Komplementarität von aussagepsychologischer und klinisch - Asanger

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<strong>Komplementarität</strong> <strong>von</strong> <strong>aussagepsychologischer</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>klinisch</strong>-psychologischer Methodik<br />

Zusammenfassung<br />

In der Begutachtungspraxis potenziell Traumatisierter<br />

ist eine aus wissenschaftlich-methodischer Perspektive<br />

unnötige Dichotomisierung <strong>von</strong> <strong>aussagepsychologischer</strong><br />

Methodik einerseits <strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologischer<br />

Methodik andererseits anzutreffen. In diesem<br />

Beitrag soll begründet dargestellt werden, weshalb<br />

eine Kombination beider genannten methodischen<br />

Zugänge einen Gewinn im Sinne einer Validitätssteigerung<br />

erbringen können. Neben dem ursprünglichen<br />

Feld der Aussagepsychologie, der strafrechtlichen<br />

Fragestellung an den Sachverständigen nach der<br />

Glaubhaftigkeit der Angaben eines Zeugen zu einer<br />

potenziell traumatisierenden Gewalttat, ist eine aussagepsychologische<br />

Diskussion auch im Bereich des Opferentschädigungsrechts<br />

sowie des Asylrechts oftmals<br />

geboten <strong>und</strong> methodisch auch sinnvoll. Umgekehrt<br />

vermag die Berücksichtigung der <strong>klinisch</strong>-psychologischen<br />

Perspektive auch in der strafrechtlichen Begutachtung<br />

einen ergänzenden Mehrwert zu leisten, um<br />

die Wahrscheinlichkeit einer validen Bewertung zu erhöhen.<br />

Der Beitrag hat sich zur Aufgabe gemacht, methodische<br />

Probleme in der aussagepsychologischen<br />

Begutachtung zu explizieren <strong>und</strong> konkrete Vorschläge<br />

einer konstruktiven Kombination mit <strong>klinisch</strong>-psychologischen<br />

Ansätzen zu unterbreiten. Insgesamt soll<br />

deutlich werden, welchen komplexen gerichtlichen<br />

<strong>und</strong> gutachterlichen Ansprüchen der potenziell Traumatisierte<br />

im Begutachtungsprozess ausgesetzt wird.<br />

Diese auch im begleitenden therapeutischen Kontext<br />

mitzubedenken erscheint angemessen.<br />

Schlüsselwörter<br />

Aussagepsychologie; Klinische Psychologie; Gutachten;<br />

Methodenkonvergenz; Validität; Strafrecht; Opferentschädigungsgesetz;<br />

Asylrecht<br />

Complementarity of forensic-psychological<br />

and clinical-psychological methodology<br />

Summary<br />

In psychological expert opinions of potentially traumatized<br />

persons you can often find – from a scientific-methodological<br />

point of view – an unnessecary<br />

splitting into basic tools of statement-psychology on<br />

the one hand and clinical psychology on the other<br />

hand. The purpose of this paper is to explain the<br />

great value of combining both methodical constructs<br />

in order to achieve a substantially increased validity.<br />

Markus Rottländer<br />

Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

In addition to the genuine assignment of the statement-psychology<br />

within forensic questions in penal<br />

procedures it is a fact that the investigation of the<br />

explored person´s credibility is often explicitly asked<br />

by the court and should be scientific-methodically<br />

reasonable also in expert opinions concerning the<br />

law of compensation of victims and even the asylum<br />

law. However, a supplemental clinical point of view in<br />

the forensic assessment within penal procedures is<br />

worth considering to enhance the probability of a valid<br />

judgement. In this article methodical issues in the<br />

analyzing process of the statements within the expert<br />

opinions shall be shown and specific proposals<br />

of a constructive connection with clinical-psychological<br />

objectives will be submitted. In all it is notable<br />

that the explored person is exposed to the complex<br />

demands of the court and the expert. Observing these<br />

aspects will be important even in the attending<br />

therapeutic context.<br />

Keywords<br />

statement-psychology; clinical psychology; expert<br />

opinions; convergence of methods; validity; penal<br />

law; victim compensation law; asylum law<br />

Einleitung – kurzer Überblick über das<br />

aussagepsychologische Vorgehen<br />

Ein psychologisches Glaubhaftigkeitsgutachten<br />

befasst sich mit der Frage, ob für eine<br />

Aussage zu einem oder mehreren bestimmten<br />

Ereignissen mit hinreichender Sicherheit<br />

angenommen werden kann, dass diese auf<br />

einem realen Erlebnishintergr<strong>und</strong> basieren<br />

oder nicht. Um die Frage der Glaubhaftigkeit<br />

einer Aussage beurteilen zu können, bedarf<br />

es der Analyse der Aussagefähigkeit (Aussagetüchtigkeit<br />

bzw. Aussagekompetenz), der<br />

Aussagequalität <strong>und</strong> der Aussagevalidität.<br />

Die Aussagefähigkeit befasst sich mit der<br />

Abklärung, ob die aussagende Person zum<br />

einen gr<strong>und</strong>sätzlich über die notwendigen<br />

kognitiven Gr<strong>und</strong>voraussetzungen verfügt,<br />

ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3 21<br />

Weiterbildung


Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung<br />

AUSSAGEPSYCHOLOGISCHE UND KLINISCH-PSYCHOLOGISCHE METHODIK<br />

die zur Erstattung einer verwertbaren Aussage<br />

notwendig sind. Zum anderen sind etwaige<br />

psychische Auffälligkeiten im Rahmen<br />

der Erörterung der Aussagefähigkeit dahingehend<br />

zu berücksichtigen, ob solche ggf.<br />

zu „Verzerrungen“ in den Angaben zur Sache<br />

führen könnten, wodurch ggf. eine Überprüfung<br />

der Glaubhaftigkeit der Angaben zum in<br />

Frage stehenden Geschehen erschwert bzw.<br />

verunmöglicht werden würde. Es wäre somit<br />

im zu untersuchenden Einzelfall zu diskutieren,<br />

ob ein etwaiges psychisches Beschwerdebild<br />

bzw. eine pathologische Persönlichkeitsstruktur<br />

sich auf die Verwertbarkeit der<br />

Aussage zur Sache auswirken könnte.<br />

In der merkmalsorientierten Aussageanalyse<br />

(Aussagequalität), welche <strong>von</strong> Undeutsch<br />

(1967) erstmalig systematisch untersucht<br />

<strong>und</strong> methodisch dargelegt worden ist, wird<br />

die inhaltliche Qualität der Aussage danach<br />

beurteilt, ob <strong>und</strong> inwieweit sie aussagepsychologisch<br />

relevante Merkmale, sog. Realkennzeichen<br />

einer erlebnisf<strong>und</strong>ierten Aussage<br />

aufweist.<br />

In einem Gutachten mit einer Fragestellung,<br />

welche sich auf die Glaubhaftigkeit vorgeblicher<br />

belastender Erfahrungen bezieht, muss<br />

zudem die Aussagevalidität, welche zum einen<br />

die Motivation des Zeugen für die Aussage<br />

bzw. die Anzeigenerstattung betrifft,<br />

erörtert werden. In diesem Kontext werden<br />

zum anderen auch die Entstehungs- <strong>und</strong><br />

Entwicklungsgeschichte der Aussage sowie<br />

ggf. fremd- <strong>und</strong>/oder autosuggestive Einflüsse<br />

thematisiert.<br />

Sämtliche Ebenen (Aussagefähigkeit, Aussagequalität<br />

<strong>und</strong> Aussagevalidität) der Glaubhaftigkeitsprüfung<br />

werden in einen hypothesengeleiteten<br />

diagnostischen Prozess<br />

integriert. Dabei wird bei der Begutachtung<br />

da<strong>von</strong> ausgegangen, dass der zu prüfende<br />

Sachverhalt (der Erlebnisbezug der Aussage)<br />

nicht gegeben ist (Nullhypothese). Dieses<br />

Negations-Prinzip ist nach Auffassung des<br />

BGH (BGH, Urteil vom 30.07.1999, AZ 1 StR<br />

618/98) die auf der Unschuldsvermutung<br />

des Beschuldigten beruhende gebotene Vorgehensweise.<br />

Dichotomisierung <strong>von</strong> <strong>aussagepsychologischer</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologischer<br />

Methodik – konstruktive Kombination<br />

zur Überwindung eines unnötigen<br />

Separatismus<br />

Während die Aussagepsychologie in ihrer<br />

Theorie <strong>und</strong> Anwendung sich primär auf das<br />

Rekurrieren auf allgemeine gedächtnispsychologische<br />

Gr<strong>und</strong>lagen konzentriert, wendet<br />

sich die (psychodynamisch aufgefasste)<br />

<strong>klinisch</strong>e Psychologie den pathodynamischen<br />

<strong>und</strong> symptomatologischen Besonderheiten<br />

des Einzelfalles zu.<br />

Es scheint in Theorie <strong>und</strong> praktischer Anwendung<br />

somit ein anderer Gegenstandsbereich<br />

vorzuliegen, was zumindest immer wieder<br />

suggeriert wird. In der aussagepsychologischen<br />

Methodik werden <strong>klinisch</strong>-psychologische<br />

Phänomene mitunter tendenziell als ein<br />

zu thematisierender Mangel der Aussagefähigkeit<br />

aufgefasst. Auch im Zuge der Aussagezuverlässigkeit<br />

wird der etwaige Sachverhalt<br />

einer ggf. wiedergef<strong>und</strong>enen Erinnerung<br />

schnell mit dem Verdacht behaftet, dass es<br />

sich um ein Phänomen des „false memory“<br />

handeln könnte. Somit wirken sich potenziell<br />

wiedergef<strong>und</strong>ene Erinnerungen fast generell<br />

validitätsmindernd aus, so dass eine Erlebnisf<strong>und</strong>ierung<br />

fast per se ausgeschlossen<br />

erscheint. Eine differenzierte Erörterung mit<br />

pathodynamischer Diskussion dieses Phänomens<br />

findet innerhalb der Aussagepsychologie<br />

selten statt.<br />

Demgegenüber verfällt ein <strong>klinisch</strong>-psychologisches<br />

Vorgehen recht häufig dem (invaliden)<br />

methodischen Zirkelschluss, aus einer<br />

vorliegenden Symptomatik per se auf stattgef<strong>und</strong>ene<br />

Realerfahrungen zu schließen.<br />

22 ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3


Bspw. wird aus – vermeintlich intrusiven –<br />

Alpträumen <strong>und</strong> korrespondierenden Ängsten<br />

häufig der Kerninhalt dieser Phänomene<br />

als Erinnerung <strong>von</strong> realen Ereignissen attestiert,<br />

ohne solche Ereignisse hinreichend auf<br />

eine Erlebnisf<strong>und</strong>ierung hin zu thematisieren.<br />

Streng genommen impliziert die Diagnose<br />

einer Posttraumatischen Belastungsstörung<br />

jedoch den objektiven Beleg eines traumatogenen<br />

Ereignisses (sog. A-Kriterium, SKID,<br />

Wittchen et al., 1997; Saß et al., 2003). Auch<br />

nach ICD-10 (Dilling et al., 2009) ist für die<br />

Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung<br />

(F43.1) das Vorliegen eines<br />

belastenden Ereignisses mit außergewöhnlicher<br />

Bedrohung oder katastrophenartigem<br />

Ausmaß notwendiger Bestandteil der Diagnose<br />

<strong>und</strong> mithin hinsichtlich der realen Erlebnisf<strong>und</strong>ierung<br />

zu objektivieren.<br />

Ist der therapeutisch Wirkende nicht primär<br />

auf eine solche Erhellung angewiesen, ob<br />

einer zu behandelnden Symptomatik eines<br />

Patienten reale Erfahrungen (Kränkungen,<br />

Traumatisierungen etc.) oder etwa ggf. neurotische<br />

Phantasien zugr<strong>und</strong>eliegen, ist für den<br />

psychologischen Gutachter je nach Fragestellung<br />

<strong>und</strong> Rechtsbereich dieser Unterschied<br />

jedoch eklatant <strong>und</strong> existentiell, um seine methodische<br />

Arbeit valide zu bewerkstelligen.<br />

Nicht nur im Bereich des Strafrechts im Zuge<br />

beauftragter <strong>aussagepsychologischer</strong> Begutachtungen<br />

ist die Untersuchung der Erlebnisf<strong>und</strong>ierung<br />

der Angaben zu einem in Frage<br />

stehenden belastenden (<strong>und</strong> strafrechtlich<br />

ggf. zu ahndenden) Ereignis <strong>von</strong> entscheidender<br />

Bedeutung. Auch im Bereich des Opferentschädigungsrechts<br />

(im Zuge des Opferentschädidungsgesetzes,<br />

OEG) sowie des<br />

Asylrechts ist in der Regel wesentlich, ob ein<br />

oder mehrere Ereignisse mit traumatogenem<br />

Potenzial mit hinreichender Wahrscheinlichkeit<br />

stattgef<strong>und</strong>en haben oder nicht.<br />

Hieraus folgt, dass bei der Gutachtenerstellung<br />

in den Rechtsbereichen des OEG sowie<br />

MARKUS ROTTLÄNDER Zertifiziert<br />

<strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

des Asylrechts (zumindest bei der Frage, ob<br />

zielstaatsbezogene Abschiebehindernisse<br />

vorliegen) die Glaubhaftigkeit der Angaben<br />

eines potenziell Betroffenen zu belastenden<br />

Vorfällen in der Biografie nicht nur diagnostisch<br />

relevant ist, sondern auch <strong>von</strong> Rechts<br />

wegen (u.a. zur Kausalitätsbewertung) bzw.<br />

zur Prognose (etwaige Re-Traumatisierung)<br />

im Gr<strong>und</strong>e genommen prinzipiell nicht ausgeblendet<br />

werden darf.<br />

Im Bereich des Strafrechts führt hingegen<br />

die Konzentration auf eine aussagepsychologische<br />

Perspektive im engeren Sinne zu<br />

einem unnötigen Verzicht auf eine validitätssteigernde<br />

Implementierung einer <strong>klinisch</strong>psychologischen<br />

Perspektive in das methodische<br />

Prozedere.<br />

Die Evidenz der „<strong>Komplementarität</strong>“ <strong>von</strong><br />

<strong>aussagepsychologischer</strong> <strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologischer<br />

Perspektive soll in diesem Beitrag<br />

deutlicher gemacht werden. In diesem<br />

Kontext erscheint eine strikte Trennung beider<br />

Methodiken, wie sie die gutachterliche<br />

Praxis dominiert, befremdlich. Anliegen dieses<br />

Beitrages ist es, die unnötig erscheinende<br />

Dichotomisierung beider methodischer<br />

Herangehensweisen theoretisch <strong>und</strong> dann<br />

auch in der tatsächlichen konkreten Begutachtung<br />

zu überwinden.<br />

Kritische Würdigung des „klassischen“<br />

aussagepsychologischen Prozedere –<br />

Pseudo-Quantifizierung <strong>und</strong> statistisches<br />

Vorbeireden am Einzelfall<br />

Die Qualitätskriterien (Undeutsch, 1967:<br />

„Realkriterien“, Steller & Köhnken, 1989:<br />

„Realkennzeichen“, Greuel, 1997: „Qualitätsmerkmale“)<br />

stellen operationalisierte Einzelkriterien<br />

der Aussagequalität dar. Die Aussagequalität<br />

soll eine Unterscheidung zwischen<br />

einer bewussten Falschaussage <strong>und</strong> einer<br />

erlebnisgestützten Aussage möglich machen.<br />

Dies geschieht durch einen Katalog <strong>von</strong><br />

ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10. JG. (2012) HEFT 3 23


Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung<br />

AUSSAGEPSYCHOLOGISCHE UND KLINISCH-PSYCHOLOGISCHE METHODIK<br />

Merkmalen bzw. Kriterien, welche in einem<br />

argumentativen Prozess am Einzelfall orientiert<br />

diskutiert werden. Integrativ soll dann<br />

eine Entscheidung herbeigeführt werden, ob<br />

eine intentionale Falschaussage wahrscheinlich<br />

ausgeschlossen werden kann.<br />

Unklar bleibt bis auf Weiteres, wie die Integration<br />

der Kriterien im Einzelfall erfolgt. Eine<br />

Standardisierung der Aggregation der Merkmalsausprägungen<br />

im Einzelfall ist nach der<br />

einschlägigen wissenschaftlichen Literatur <strong>und</strong><br />

dem Studium zahlreicher <strong>aussagepsychologischer</strong><br />

Gutachten durch den Verfasser dieses<br />

Beitrages nicht ersichtlich. Gelitz (2011) weist<br />

ebenfalls auf diese Schwäche der aggregierten<br />

merkmalsorientierten Inhaltsanalyse hin <strong>und</strong><br />

verweist u.a. auf eine Laborstudie <strong>von</strong> Steck et<br />

al. (2010), wonach in der Aggregation erfüllter<br />

Realkennzeichen ein signifikanter Unterschied<br />

zwischen Eigenerlebnissen <strong>und</strong> nacherzählten<br />

Erlebnissen nicht nachweisbar ist <strong>und</strong> auch der<br />

Unterschied zwischen wirklichen <strong>und</strong> erf<strong>und</strong>enen<br />

Erlebnissen nicht sehr überzeugend ist.<br />

Der Gutachter verfügt zudem über einen<br />

entscheidungsrelevanten Spielraum, ob ein<br />

Kriterium erfüllt ist oder nicht, sowie wie viele<br />

Kriterien oder welche Kriterien eine hinreichend<br />

hohe Aussagequalität rechtfertigen.<br />

Es werden subjektive Entscheidungen getroffen,<br />

weswegen eine argumentative Absicherung<br />

<strong>und</strong> eine transparente <strong>und</strong> nachvollziehbare<br />

Gewichtung unablässig ist. Genau<br />

dieses Prozedere wird jedoch äußerst selten<br />

hinreichend explizit dargelegt. Zwar werden<br />

in der Regel die einzelnen Qualitätsmerkmale<br />

anhand der zur Disposition stehenden<br />

Aussage einzeln <strong>und</strong> sukzessive geprüft. Die<br />

Aggregation bzw. Zusammenführung bleibt<br />

danach allerdings oft intransparent.<br />

Der konkrete Integrationsprozess der Kriterien<br />

bleibt auch deswegen häufig unklar, weil eine<br />

Quantifizierung bzw. Messbarmachung der<br />

Kriterien letztlich nicht möglich ist. Wohl aber<br />

ist eine qualitative Operationalisierung, die ei-<br />

nem hermeneutischen Vorgehen näher ist als<br />

dem Vorgehen in der experimentellen Psychologie,<br />

angemessen <strong>und</strong> auch praktikabel.<br />

Die erfolgende qualitative Gewichtung, die<br />

subjektiven Entscheidungen unterliegt, die<br />

auch anders getroffen werden könnten, muss<br />

im Sinne der wissenschaftlichen Qualitätsmerkmale<br />

Transparenz, Nachvollziehbarkeit<br />

<strong>und</strong> argumentative Interpretationsabsicherung<br />

(vgl. Mayring, 2002) erfolgen. Dabei ist<br />

auch die Nähe zum Gegenstand (d.h. die im<br />

Einzelfall zugr<strong>und</strong>eliegende Aussage) als wissenschaftliches<br />

Gütekriterium unabdingbar.<br />

Wissenschaftliche Studien, welche statistische<br />

Größen hervorbringen, sind beim<br />

gebotenen aussagepsychologischen Vorgehen<br />

letztlich wenig bzw. höchstens indirekt<br />

brauchbar. So geht eine etwaige Argumentation,<br />

dass x Prozent <strong>von</strong> Aussagenden einer<br />

bestimmten Kohorte simulierte Aussagen<br />

hervorbringen, sich in x Prozent der in einer<br />

Studie analysierten Aussagen ein bestimmtes<br />

Kriterium y-fach gezeigt hat oder dass<br />

bestimmte Amnesien in x Prozent der untersuchten<br />

Fälle vorgekommen sind, an der Fragestellung<br />

eines aussagepsychologischen<br />

Gutachtens vorbei, da immer der konkrete<br />

Einzelfall als Einzelfall zu untersuchen ist.<br />

Eine statistische Verteilung kann zwar eine<br />

Tendenz darlegen, im Einzelfall ist jedoch immer<br />

zu prüfen, ob die allgemeine bzw. statistische<br />

Tendenz auch im zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />

Fall vorliegt bzw. welche nachvollziehbaren<br />

Gründe für eine alternative Erklärungs-Hypothese<br />

in Frage kommen. In diesem Kontext<br />

bekommt der Terminus „Alternativhypothese“<br />

einen erkenntnismethodischen Sinn –<br />

als ggf. plausible, argumentativ nachvollziehbar<br />

zu machende Abweichung <strong>von</strong> einer wie<br />

auch immer gearteten „Norm“.<br />

Sowohl über die prinzipielle Sinnhaftigkeit,<br />

die Aussagequalität über einzelne Qualitätsmerkmale<br />

zu operationalisieren als auch über<br />

24 ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3


einen transparenten Kriterienkatalog besteht<br />

in der herrschenden Lehrmeinung sowie der<br />

aussagepsychologischen Praxis gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ein Konsens.<br />

Wie bereits skizziert wird hier die These vertreten,<br />

dass die maximal rudimentäre Berücksichtigung<br />

<strong>von</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologischen<br />

Phänomenen, die zuweilen über gedächtnispsychologische<br />

Phänomene der allgemeinen<br />

Psychologie deutlich hinausgehen,<br />

einen Mangel darstellt. Anders formuliert<br />

wird postuliert, dass das Heranziehen der<br />

<strong>klinisch</strong>-psychologischen Perspektive eine<br />

Bereicherung im aussagepsychologischen<br />

Vorgehen darstellen kann, <strong>und</strong> zwar durchaus<br />

auch im wissenschaftlichen Sinne einer<br />

höheren Validität <strong>und</strong> damit einer Reduktion<br />

der Irrtumswahrscheinlichkeit.<br />

Dissoziation der Gedächtnisleistung<br />

bei (potenziell) Traumatisierten –<br />

Amnesie vs. Hypermnesie<br />

In zahlreichen Begutachtungen <strong>und</strong> Untersuchungen<br />

<strong>von</strong> (objektivierbar) Traumatisierten<br />

hat sich immer wieder gezeigt, dass die<br />

traumatische Situation spezifisch, aber doch<br />

sehr unterschiedlich in der Erinnerung des<br />

einzelnen Betroffenen repräsentiert wird.<br />

Die Problematik bzw. Unzulässigkeit der<br />

Diagnosevergabe einer Posttraumatischen<br />

Belastungsstörung ohne ein objektivierbares<br />

Ereigniskriterium <strong>und</strong> die dazu notwendige<br />

aussagepsychologische Erörterung sei<br />

nochmals genannt. Aus einer Vielzahl <strong>von</strong><br />

Betroffenen <strong>von</strong> tatsächlicher Konfrontation<br />

mit Situation(en) mit traumatogenem Potenzial<br />

können die angesprochenen Spezifika<br />

(bspw. peritraumatische Dissoziationsmechanismen<br />

wie Derealisation <strong>und</strong> Depersonalisation<br />

sowie hypermnestische Details,<br />

welche im weiteren Verlauf intrusiv immer<br />

wieder unwillkürlich auftauchen) eruiert werden<br />

– durchaus im Sinne einer externen Validierung<br />

in Anlehnung an Plaum (2008).<br />

MARKUS ROTTLÄNDER Zertifiziert<br />

<strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

Im sog. BASK-Modell (Braun, 1988; vgl. auch<br />

Hinckeldey & Fischer, 2002) wird theoretisch<br />

zusammengefasst, was dem <strong>klinisch</strong>en Psychologen<br />

oftmals begegnet, nämlich die Repräsentation<br />

<strong>von</strong> Erinnerungen bzw. Erinnerungsfragmenten<br />

auf unterschiedlichen Ebenen<br />

(Verhalten, Affekt, Wahrnehmung, Kognition).<br />

Gerade in stark belastenden Situationen kommt<br />

es sehr häufig zu einer (peritraumatischen)<br />

Dissoziation dieser Ebenen <strong>und</strong> einer damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Kombination aus Amnesien (auf<br />

bestimmten Ebenen) einerseits <strong>und</strong> Hypermnesien<br />

(auf anderen Ebenen) andererseits<br />

(vgl. dazu auch van der Kolk & Fisler, 1995). Am<br />

Rande sei bemerkt, dass vollständige Amnesien<br />

im <strong>klinisch</strong>en Kontext auch anzutreffen sind.<br />

Bei vollständiger oder weitgreifender Amnesie<br />

für einen in Frage stehenden Sachverhalt ist jedoch<br />

eine aussagepsychologische Diskussion<br />

der Qualitätsmerkmale obsolet, da in einem<br />

solchen Falle nicht genügend Aussagematerial<br />

zur Verfügung steht.<br />

Relevant sind im hier fokussierten Kontext die<br />

Aussagen, welche hinreichend umfängliche<br />

<strong>und</strong> konkrete Aussagefragmente enthalten.<br />

Während für das inhaltsanalytische aussagepsychologische<br />

Vorgehen gerade die visuelle<br />

Wahrnehmungsebene des Verhaltens des<br />

potenziellen Täters <strong>von</strong> zentraler Bedeutung<br />

ist, wird den anderen Ebenen in der aussagepsychologischen<br />

Betrachtung häufig nur<br />

eine geringe Beachtung geschenkt. Andere<br />

Sinneswahrnehmungsmodalitäten (akustisch,<br />

olfaktorisch, gustatorisch, sensorisch) finden<br />

oftmals ebenso wenig Berücksichtigung wie<br />

die Erörterung geschilderter Affekte <strong>und</strong> eigener<br />

Kognitionen.<br />

Gelegentlich wird eine „traumatypische“ Gedächtnisleistung<br />

ausschließlich mit der einen<br />

genannten Seite, der Amnesie gleichgestellt.<br />

Die Bewertung, eine Amnesie spreche gerade<br />

für die Erlebensnähe, ist einseitig bis absurd,<br />

da sie die sinnvollen aussagepsychologischen<br />

Kriterien konterkariert <strong>und</strong> zudem die <strong>klinisch</strong>en<br />

Phänomene unzutreffend berücksich-<br />

ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10. JG. (2012) HEFT 3 25


Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung<br />

AUSSAGEPSYCHOLOGISCHE UND KLINISCH-PSYCHOLOGISCHE METHODIK<br />

tigt. Es ist gerade die Kombination aus amnestischen<br />

Lücken <strong>und</strong> hypermnestischen, d.h.<br />

im Gedächtnis überrepräsentierten, zuweilen<br />

fast perseverierend wiederholten Details, welche<br />

typisch für traumatische Erinnerungen<br />

ist. Die Forderung nach einer Schilderung <strong>von</strong><br />

hypermnestischen Details stellt mithin sogar<br />

gewissermaßen einen Mehrwert im Vergleich<br />

zu den „klassischen“ Qualitätsmerkmalen dar,<br />

welche sich eher an der allgemeinen (Gedächtnis-)Psychologie<br />

orientieren.<br />

Die „Modifikation“ des Kriteriums Konkretheit/Anschaulichkeit<br />

besteht somit in der<br />

genannten Kombination aus amnestischen<br />

Lücken <strong>und</strong> Hypermnesien <strong>und</strong> impliziert<br />

eine stärkere Berücksichtigung des Qualitätsmerkmals<br />

individuelle Durchzeichnung.<br />

Dabei sind Schilderungen <strong>von</strong> Affekten <strong>und</strong><br />

eigenen Kognitionen häufig weniger anschaulich<br />

als das Berichten visueller Wahrnehmungen.<br />

Beim ebenso in diesem Kontext zu nennenden<br />

Qualitätsmerkmal eigenpsychisches<br />

Erleben sind im Weiteren auch andere etwaige<br />

fallspezifische Besonderheiten zu berücksichtigen<br />

wie ggf. das Fehlen einer eigentlich<br />

zentralen traumatypischen Erschütterung<br />

des Selbst- <strong>und</strong> Weltverständnisses, da das<br />

potenzielle Opfer ein gewisses berichtetes<br />

Verhalten mangels alternativer Kenntnis subjektiv<br />

als „normal“ angesehen haben könnte<br />

(bspw. bei einem länger anhaltenden sexuellen<br />

Missbrauch in der Kindheit).<br />

Die Berücksichtigung <strong>klinisch</strong>er Phänomene<br />

in der aussagepsychologischen Begutachtung<br />

kann somit eine höhere Validität<br />

erbringen, was durchaus im Sinne einer<br />

Methodenkonvergenz aufzufassen ist. Es<br />

ist mithin eher <strong>von</strong> einer ergänzenden Perspektive<br />

durch die <strong>klinisch</strong>e Psychologie denn<br />

<strong>von</strong> Modifikationen des aussagepsychologischen<br />

Kriterienkataloges zu sprechen. Die<br />

Untersuchung der Erlebnisnähe eines <strong>von</strong><br />

einem Zeugen berichteten, aus <strong>aussagepsychologischer</strong><br />

Sicht in Frage stehenden Sachverhaltes<br />

gewinnt durch die Verknüpfung<br />

<strong>von</strong> <strong>aussagepsychologischer</strong> <strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>er<br />

Herangehensweise an Validität.<br />

Ähnlichkeit vs. Differenz zwischen<br />

Ereignis- <strong>und</strong> Beschwerdeschilderung<br />

Die <strong>klinisch</strong>e Psychologie sollte somit auch<br />

im Bereich der Aussagequalität berücksichtigt<br />

werden, nicht nur bei der Erörterung der<br />

Aussagekompetenz als tendenzieller Makel.<br />

So lässt sich bspw. in Begutachtungen, in<br />

denen vom Auftraggeber aussagepsychologische<br />

<strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologische Fragen<br />

gleichzeitig gestellt werden (Begutachtung<br />

etwaiger traumatisierter Flüchtlinge, OEG-<br />

Begutachtungen), oftmals erkennen, dass<br />

eine Ähnlichkeit zwischen zeitlich weiter<br />

zurückliegendem behaupteten ggf. belastenden<br />

Ereignis einerseits <strong>und</strong> affektiv stimmig<br />

geschilderten intrusionsähnlichen Zuständen<br />

andererseits bei gleichzeitiger gewisser<br />

Unterschiedlichkeit zwischen diesen beiden<br />

Bereichen (etwaiges Ereignis vs. Symptomebene)<br />

einen Hinweis auf den Erlebnisbezug<br />

gibt. Natürlich darf nicht <strong>von</strong> Symptomen per<br />

se auf ein etwaiges Stattgef<strong>und</strong>en-Haben eines<br />

ggf. belastenden Ereignisses geschlossen<br />

werden. Dennoch können authentisch<br />

berichtete Beschwerden wichtige Hinweise<br />

auf die Erlebnisf<strong>und</strong>ierung des ggf. in Frage<br />

stehenden Ereignisses liefern.<br />

Eine wissenschaftliche Validierung dieser<br />

Kombination (Ähnlichkeit in Kernelementen<br />

<strong>und</strong> gewisse Differenz in Details des Verarbeitungsprozesses)<br />

kann in der Forschung<br />

mitunter in solchen Fällen erfolgen, in denen<br />

das Ereigniskriterium objektiv feststeht <strong>und</strong><br />

der Begutachtete sein Erleben des Ereignisses<br />

<strong>und</strong> der Symptome schildert.<br />

Eine im aussagepsychologischen Prozess<br />

aufgestellte Alternativhypothese kann lauten,<br />

der Begutachtete simuliert sowohl das<br />

behauptete Ereignis als auch die geschilderten<br />

Symptome bzw. beides ist suggeriert.<br />

26 ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3


Bei hinreichend origineller <strong>und</strong> differenzierter<br />

Darstellung des Aussagenden kann die<br />

Berücksichtigung der <strong>klinisch</strong>en Perspektive<br />

Hinweise darauf erbringen, dass die Planungskapazität<br />

im Sinne einer bewussten<br />

Falschaussage überschritten sein könnte, so<br />

dass die Hypothese in der Folge – eines integrativen<br />

Vorgehens unter Berücksichtigung der<br />

genannten Gütekriterien – verworfen werden<br />

könnte (mit einer anzugebenden Wahrscheinlichkeit).<br />

Andererseits könnte eine zu große<br />

Ähnlichkeit zwischen behaupteten Beschwerden<br />

<strong>und</strong> behauptetem Ereignis (bspw. Träume<br />

<strong>und</strong> Erinnerungsbilder identisch mit Ereignis)<br />

auch für eine Gesamtsimulation sprechen, so<br />

dass die genannte Hypothese tendenziell aufrechtzuerhalten<br />

wäre.<br />

Ereignisschilderung <strong>und</strong> Pathodynamik<br />

sowie Psychopathologischer Bef<strong>und</strong> –<br />

validitätssteigernde Methodenkonvergenz<br />

Die Validität der Überprüfung anhand der anerkannten<br />

aussagepsychologischen Qualitätsmerkmale<br />

lässt sich des Weiteren durch eine<br />

Berücksichtigung <strong>von</strong> individuellem Verarbeitungsprozess<br />

<strong>und</strong> zu eruierender Pathodynamik<br />

(bspw. Umgang mit dem behaupteten<br />

belastenden Ereignis sowie daraus folgender<br />

psychischer Reaktionen) noch steigern. Es ist<br />

in diesem Kontext wiederum der Einzelfall differenziert<br />

zu erörtern. Allgemeinplätze wie ein<br />

ggf. belastendes Ereignis müsse immer zu einer<br />

so <strong>und</strong> so gearteten psychischen Störung<br />

führen oder das Vorliegen einer bestimmten<br />

Symptomatologie spräche mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

für das Stattgef<strong>und</strong>en-Haben<br />

<strong>von</strong> Erfahrungen im Bereich des fraglichen<br />

Ereignisses, sind zurückzuweisen. Die individuelle<br />

Pathodynamik ist differenziert zu<br />

würdigen <strong>und</strong> auf Kohärenz mit der Ereignisschilderung<br />

zu untersuchen. Eine ergebnisoffene<br />

Prüfung impliziert, dass der Bef<strong>und</strong> <strong>von</strong><br />

überwiegender Inkohärenz als Ergebnis nach<br />

umfassender Erörterung selbstverständlich<br />

ebenso möglich ist.<br />

MARKUS ROTTLÄNDER Zertifiziert<br />

<strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

Schließlich kann es hilfreich sein, Merkmale<br />

zu berücksichtigen, die im psychopathologischen<br />

Bef<strong>und</strong> ihren Niederschlag finden,<br />

<strong>und</strong> zwar wiederum nicht nur im Kontext<br />

der Aussagekompetenz, sondern auch bei<br />

der Diskussion der Aussagequalität. Als Beispiel<br />

sei ein in der Untersuchungssituation<br />

feststellbares starkes Vermeidungsverhalten<br />

des Begutachteten genannt, ggf. belastende<br />

Erfahrungsdetails zu berichten. Umgekehrt<br />

ist jedoch auch ein zügiges Berichten ohne<br />

viel Nachfragen bei gleichzeitiger Affektabwehr<br />

beim Berichten belastender Situationen<br />

nicht selten anzutreffen.<br />

Ein differenziertes methodisches Vorgehen<br />

ist bspw. auch auf das etwaige Phänomen<br />

des Stimmenhörens anzuwenden. Es ist zu<br />

prüfen, ob die Inhalte der ggf. psychotischproduktiven<br />

Stimmen-Inhalte bestimmte<br />

Aussageelemente erst hervorgebracht haben<br />

oder ob das Stimmenhören im Verlauf<br />

als eine schlüssige psychische Reaktion<br />

nach den berichteten belastenden Vorfällen<br />

aufgetaucht ist <strong>und</strong> damit pathodynamisch<br />

eine – sozialrechtlich gesprochen – Schädigungsfolge<br />

wäre. Die einzelnen beobachtbaren<br />

<strong>klinisch</strong>en Phänomene sind stets in den<br />

Einzelfallkontext zu stellen <strong>und</strong> differenziert<br />

zu erörtern. Für sich genommen sprechen<br />

sie nie für oder gegen die Erlebnisf<strong>und</strong>ierung<br />

der Aussage zum in Frage stehenden<br />

Sachverhalt.<br />

Für eine Kombination <strong>von</strong> <strong>aussagepsychologischer</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>er Perspektive sprechen<br />

sich bspw. auch König <strong>und</strong> Fegert (2009)<br />

aus, dies im Übrigen auch für die Aussagezuverlässigkeit.<br />

So wird der Mehrwert einer<br />

ausführlichen Kontextanalyse der Person <strong>und</strong><br />

seines Umfeldes bei der Aussageentstehung<br />

begründet dargelegt <strong>und</strong> Defizite bei einer<br />

ausschließlich aussagepsychologischen Diskussion<br />

der Aussagegenese beanstandet.<br />

Implizit wird eine Reduktion auf die Suche<br />

nach suggestiven Beeinflussungsfaktoren<br />

im Zuge der Diskussion der Aussagevalidität<br />

ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10. JG. (2012) HEFT 3 27


Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung<br />

AUSSAGEPSYCHOLOGISCHE UND KLINISCH-PSYCHOLOGISCHE METHODIK<br />

kritisiert. Zu Recht weisen die genannten Autoren<br />

weiter darauf hin, dass sowohl bei real<br />

f<strong>und</strong>iertem zugr<strong>und</strong>eliegenden Sachverhalt<br />

als auch bei einer Falschaussage Ambivalenzen<br />

bzgl. der Aussage, Loyalitätskonflikte,<br />

Schuld- <strong>und</strong> Schamgefühle vs. Wut- <strong>und</strong> Rachegefühle<br />

in Bezug auf die Aussageentstehung<br />

<strong>und</strong> auch die Aussageentwicklung eine<br />

wichtige Rolle spielen können – <strong>und</strong> bspw.<br />

zu Schwankungen <strong>und</strong> Inkonsistenzen bzw.<br />

mangelnder Konstanz der Aussage führen<br />

können. Die motivationale Komponente mit<br />

konkretem ggf. konflikthaftem Erleben des<br />

Aussagenden ist mithin in Hinsicht auf kontrastierende<br />

Hypothesen hin zu diskutieren.<br />

Bspw. diskriminiert das Vorliegen <strong>von</strong> Rachegefühlen<br />

nicht per se zwischen einer<br />

erlebnisf<strong>und</strong>ierten vs. einer bewusst simulierten<br />

Aussage, worauf auch Greuel (1998)<br />

hinweist. Zwar können Rachegefühle als ein<br />

mögliches Falschaussagemotiv fungieren,<br />

doch psychodynamisch sind Rachegefühle<br />

auch nach realen Traumatisierungen nicht<br />

selten <strong>und</strong> müssen keine simulierte oder<br />

aggravierte Aussage nach sich ziehen. Es<br />

sind mithin nicht nur das Vorliegen etwaiger<br />

Falschaussagemotive zu untersuchen,<br />

sondern auch die Psychodynamik <strong>und</strong> die<br />

systemische Einbettung der Motivlage zum<br />

Zeitpunkt der Erstaussage <strong>und</strong> etwaiger<br />

Wendepunkte in der Aussagegeschichte.<br />

Die angeregte Methodenkonvergenz entspricht<br />

zudem auch einem multimethodalen<br />

Vorgehen im Sinne des Gütekriteriums der Triangulation<br />

(Mayring, 2002). König <strong>und</strong> Fegert<br />

(2009) verweisen zu Recht darauf, dass bei<br />

der in den aussagepsychologischen Gutachten<br />

angewandten Testdiagnostik ganz überwiegend<br />

<strong>und</strong> einseitig Leistungsdiagnostik<br />

zur Anwendung komme. Dadurch kann aber<br />

höchstens die Zuverlässigkeit <strong>von</strong> etwaigen<br />

kognitiven Beeinträchtigungen im Zuge der<br />

Aussagekompetenz bzw. die Fähigkeit, ggf.<br />

komplexer zu simulieren, untersucht werden.<br />

Die Anwendung <strong>klinisch</strong>er Testdiagnostik,<br />

Persönlichkeitstests wie auch projektiver Verfahren<br />

kann im Sinne eines multimethodalen<br />

Vorgehens validitätssteigernd sein. Dies gilt<br />

auch, aber nicht nur, im Bereich der Diagnostik<br />

<strong>von</strong> Kindern, zumal andere Erkenntnisquellen<br />

angesichts einer gelegentlich <strong>und</strong><br />

je nach Entwicklungsstand nicht übermäßig<br />

differenzierten verbalen Artikulationsfähigkeit<br />

wichtige ergänzende Erkenntnisquellen<br />

sein können. Es sei nochmals erwähnt, dass<br />

ein einzelnes Verfahren im Prinzip nie ausreichend<br />

valide ist, um die zugr<strong>und</strong>eliegende<br />

Fragestellung hinreichend beantworten zu<br />

können, was einen Methodenpluralismus<br />

letztlich zwingend notwendig erscheinen<br />

lässt. Eine fachk<strong>und</strong>ige Anwendung der herangezogenen<br />

methodischen Diagnostika ist<br />

dabei vorausgesetzt – mit der hinreichenden<br />

notwendigen kritischen Haltung zur Erlebnisf<strong>und</strong>ierung<br />

des behaupteten belastenden<br />

Ereignisses, welche bei vielen primär therapeutisch<br />

tätigen Klinikern oftmals wenig<br />

bzw. kaum ausgeprägt ist.<br />

Mithin ist auch bei der Aussagekompetenz<br />

(Undeutsch, 1967: „Aussagetüchtigkeit“) ein<br />

umfassenderes, differenzierteres Vorgehen<br />

im Sinne einer prof<strong>und</strong>en, validen Entscheidungsdiagnostik<br />

sinnvoll. Dabei ist nicht nur<br />

zu thematisieren, ob eine etwaige psychische<br />

Störung die allgemeine Aussagekompetenz<br />

derart einschränkt, dass mit einer validen<br />

Aussage beim Begutachteten prinzipiell nicht<br />

gerechnet werden kann (bspw. durch mangelnde<br />

zuverlässige Wahrnehmungsfähigkeit,<br />

mangelnde Erinnerungsfähigkeit, mangelndes<br />

Sprach- bzw. Artikulationsverständnis,<br />

hohe prinzipielle Suggestibilität, mangelnde<br />

Fähigkeit zwischen Phantasie <strong>und</strong> Realität zu<br />

differenzieren; vgl. Greuel 1998).<br />

Es ist zudem im Sinne einer speziellen Aussagekompetenz<br />

zu prüfen, ob eine etwaige<br />

psychische Störung ggf. die berichtete Ereignisschilderung<br />

produktiv (autosuggestiv,<br />

psychotisch o.a.) hervorgebracht hat, eine<br />

spezifische Störung (bspw. Borderline-Stö-<br />

28 ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3


ung) des Begutachteten ggf. dazu beigetragen<br />

haben könnte, in die berichtete Situation<br />

„hineingeraten“ zu sein (bspw. unbewusstes<br />

„Aufsuchen“ eines Täters, „Übersehen“<br />

<strong>von</strong> Warnhinweisen u.a.m.) oder ob eine ggf.<br />

vorliegende psychische Störung eine zwar<br />

stimmige Folge des behaupteten Ereignisses<br />

sein könnte, die dann aber zu einer ggf.<br />

spezifischen krankheitsbedingten retrospektiven<br />

Wahrnehmung, welche in der Aussage<br />

manifest werden kann, geführt haben könnte<br />

(u.a. psychotische Verlaufsformen im traumatischen<br />

Verarbeitungsprozess).<br />

In diesem Kontext sei auf einen strafrechtlichen<br />

aussagepsychologischen Untersuchungsfall<br />

des Verfassers dieses Artikels<br />

hingewiesen, in der eine Erlebnisf<strong>und</strong>ierung<br />

durch ausführliche Entscheidungsdiagnostik<br />

mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit<br />

aufgewiesen werden konnte <strong>und</strong> die<br />

Nullhypothese zu verwerfen war. Einige Zeit<br />

später war die Begutachtete in einen psychotischen<br />

Verlaufsstil geraten, da es scheinbar<br />

wieder Täterkontakt gegeben hatte. Zum<br />

Aussagezeitpunkt der (mehrtägigen) Erstuntersuchung<br />

war sowohl die Aussagekompetenz<br />

hinreichend gegeben <strong>und</strong> eine Psychose<br />

nicht festzustellen. Das skizzierte Beispiel<br />

soll verdeutlichen, dass sich im Verlauf<br />

– durchaus als mittelbare Traumafolgestörung<br />

– ein psychischer Zustand entwickeln<br />

kann, der dann eine (erneute) Begutachtung<br />

angesichts einer unzureichenden Aussagekompetenz<br />

<strong>und</strong> auch Aussagevalidität erheblich<br />

erschwert oder sogar verunmöglicht, zu<br />

einem früheren Zeitpunkt jedoch sämtliche<br />

aufgestellten Alternativhypothesen (als Operationalisierung<br />

der Nullhypothese) verworfen<br />

werden konnten.<br />

Insgesamt ist festzustellen, dass der Kanon<br />

<strong>von</strong> Qualitätsmerkmalen im Kern seit dem<br />

BGH-Urteil <strong>von</strong> 1999 unumstößliche Gültigkeit<br />

hat. Wesentlich ist jedoch, dass zum einen<br />

Aussagevalidität <strong>und</strong> Aussagekompetenz hinreichend<br />

differenziert berücksichtigt werden<br />

MARKUS ROTTLÄNDER Zertifiziert<br />

<strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

<strong>und</strong> zum anderen die <strong>klinisch</strong>-psychologische<br />

Perspektive in allen drei methodischen Bereichen<br />

(Aussagekompetenz, Aussagequalität,<br />

Aussagevalidität) ergänzend <strong>und</strong> bereichernd<br />

Beachtung findet, um die Gesamtvalidität der<br />

im diagnostischen Prozess gewonnenen Erkenntnisse<br />

zu erhöhen.<br />

Nach Auffassung des Verfassers dieses Beitrages<br />

sind die drei methodischen Kerndimensionen<br />

gleichberechtigt <strong>und</strong> sollten zur<br />

Generierung <strong>und</strong> dann Überprüfung der Hypothesen<br />

allesamt berücksichtigt werden.<br />

Volbert (2009) äußert, die merkmalsorientierte<br />

Inhaltsanalyse sei bei vorzufindenden suggestiven<br />

Bedingungen bereits vor der Erstbek<strong>und</strong>ung<br />

letztlich überflüssig. Es kommt bei<br />

Volbert somit zu einer gewissen Hierarchie,<br />

die Suggestionshypothese erhält (methodische)<br />

Priorität vor der Untersuchung der<br />

Qualitätsmerkmale. Diese Hierarchie findet<br />

sich bei Greuel (1998, 2009) nicht. Die Aussagequalität<br />

wird (ohne Priorität) vor der Aussagezuverlässigkeit<br />

geprüft, die Integration aller<br />

drei Dimensionen ist wesentlich. Zu ergänzen<br />

wäre auch hier, dass die auf allen drei Ebenen<br />

integrativ zu berücksichtigenden <strong>klinisch</strong>-psychologischen<br />

Einzelfallphänomene erkenntnistheoretisch<br />

insgesamt einen erheblichen<br />

Mehrwert an Validität erbringen können.<br />

Kontrastierende Alternativhypothesen –<br />

methodische Konkurrenz ohne<br />

tendenziösen Zweifel<br />

Es soll in einem kurzen Exkurs die Problematik<br />

des Terminus „Nullhypothese“ thematisiert<br />

werden. Der Begriff suggeriert eine<br />

Entlehnung aus der statistisch-experimentellen<br />

Psychologie. Zugehörig wäre dann ein<br />

festzulegendes Signifikanzniveau, auf dem<br />

die Nullhypothese nach der Untersuchung<br />

entweder beizubehalten ist oder zugunsten<br />

der Alternativhypothese zu verwerfen ist. In<br />

der Aussagepsychologie wird nun aber weder<br />

ein Signifikanzniveau verwendet, zumal<br />

ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10. JG. (2012) HEFT 3 29


Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung<br />

AUSSAGEPSYCHOLOGISCHE UND KLINISCH-PSYCHOLOGISCHE METHODIK<br />

eine Quantifizierung nicht stattfindet (auch<br />

wenn der Terminus „mit an Sicherheit grenzender<br />

Wahrscheinlichkeit“ bzw. „ohne vernünftig<br />

bestehenden Zweifel“ ein solches Signifikanzniveau<br />

gewissermaßen impliziert).<br />

Noch sind die in der Aussagepsychologie<br />

aufzustellenden Alternativhypothesen als Alternative<br />

zur Nullhypothese zu verstehen (im<br />

Sinne eines konträren Gegensatzes), sondern<br />

gerade als deren Operationalisierung.<br />

In der Aussagepsychologie fungieren die<br />

Alternativhypothesen als konträre Alternative<br />

zur hypothetischen Wahrannahme bzw.<br />

Erlebnisf<strong>und</strong>ierung. Da methodisch aber gerade<br />

<strong>von</strong> der Unwahrhypothese (Falschaussage<br />

bzw. nicht zutreffende Erlebnisf<strong>und</strong>ierung)<br />

ausgegangen wird, kommt es zu dieser<br />

terminologischen „Schieflage“ <strong>und</strong> ein mangelndes<br />

Verständnis ist vorprogrammiert. So<br />

konzediert selbst Volbert (2009), dass die<br />

Benutzung des Begriffes „Nullhypothese“<br />

im aussagepsychologischen Zusammenhang<br />

wohl nicht als optimal zu bezeichnen sei <strong>und</strong><br />

es gerade nicht um ein statistisches Prüfverfahren<br />

gehe. Greuel (2009) äußert nicht nur,<br />

dass ein aussagepsychologisches Gutachten<br />

in hohem Maße qualifiziert <strong>und</strong> aussagekräftig<br />

sein könne, ohne dass der – „unglücklich<br />

gewählte“ – Begriff der Nullhypothese auch<br />

nur ein einziges Mal Erwähnung finde. Greuel<br />

plädiert auch dafür, auf die Verwendung des<br />

Begriffs der Nullhypothese zu verzichten, da<br />

dieser in hohem Maße zur Desorientierung<br />

aller Beteiligten beitrage <strong>und</strong> damit letztendlich<br />

zu einer vermeidbaren Belastung des gerichtlichen<br />

Verfahrens führe.<br />

Greuel (2009) kommt zu dem Schluss, dass<br />

die Metapher der Nullhypothese letztlich nur<br />

verdeutlichen sollte, dass in jeder Glaubhaftigkeitsprüfung<br />

die im Einzelfall sinnvollen,<br />

konkurrierenden Hypothesen aufgestellt <strong>und</strong><br />

durch geeignete psychodiagnostische Untersuchungsstrategien<br />

systematisch überprüft<br />

werden müssten. Es solle für das Erfordernis<br />

einer ergebnisoffenen Hypothesenprüfung<br />

im Sinne eines Ausschlussverfahrens sensibilisiert<br />

werden <strong>und</strong> gehe um die Überlegenheit<br />

konkurrierender Erklärungsmodelle.<br />

Genau dieses methodische Vorgehen – Generierung<br />

<strong>und</strong> Überprüfung konkurrierender<br />

Erklärungshypothesen – ist wissenschaftstheoretisch<br />

nach Auffassung des Verfassers<br />

dieses Beitrages zu favorisieren. In diesem<br />

Kontext sei auf die Methodik des hermeneutisch-dialektischenHypothesenexklusionismus<br />

(Fischer, 2000) hingewiesen. Demnach<br />

sind in der Proliferationsphase zahlreiche <strong>und</strong><br />

divergente Hypothesen zu bilden. Es geht um<br />

eine Sammlung möglichst vieler alternativer<br />

Erklärungshypothesen für eine beobachtbare<br />

Konstellation <strong>von</strong> Phänomenen, die den zu<br />

erkennenden Gegenstandsbereich annäherungsweise<br />

vollständig abdecken sollten. In<br />

der nächsten Phase soll der so gebildete Hypothesensatz<br />

durch die Exklusion nicht plausibler,<br />

inkonsistenter <strong>und</strong> nach einem hermeneutischen<br />

Validitätskriterium unhaltbarer<br />

Hypothesen reduziert werden. Hypothesen<br />

werden validiert durch eine Überprüfung der<br />

Übereinstimmung <strong>von</strong> Teilbeobachtung <strong>und</strong><br />

Ganzen. Um den Geltungsbereich der Hypothesen<br />

schlüssig zu widerlegen können<br />

statistische Daten genauso herangezogen<br />

werden wie Einzelfallbeobachtungen oder<br />

gesichert erscheinende psychologische Theorien.<br />

In einer abschließenden Phase folgt die<br />

dialektische Konstruktion der verbleibenden<br />

Interpretationshypothesen zu Meta-Hypothesen<br />

<strong>und</strong> übergreifenden Konzepten. Die<br />

Metahypothesen sollen Unstimmigkeiten<br />

bzw. vermeintliche Widersprüche erklärbar<br />

oder verstehbar machen, es geht um eine argumentative<br />

Validierung der Interpretationshypothesen.<br />

Folge sind Exklusion einerseits<br />

<strong>und</strong> (qualitative) Integration andererseits auf<br />

der Basis des Einzelfalles. Ziel ist es letztlich<br />

aufzuklären, welche Hypothese alle erhobenen<br />

Daten am besten zu erklären vermag, so<br />

dass die größte Kohärenz, Konsistenz <strong>und</strong><br />

damit Validität erreicht werden kann.<br />

30 ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3


Greuel (2001) zitiert den BGH, wonach es sich<br />

bei den zu generierenden Untersuchungshypothesen<br />

um rein gedankliche Prüfschritte<br />

handle, <strong>und</strong> spricht weiter da<strong>von</strong>, dass es<br />

völlig unerheblich sei, ob sich dies am experimentellen<br />

Methodenverständnis orientiere<br />

oder aber eher hermeneutische Zugänge<br />

gewählt werden würden. Ein methodischer<br />

Zugang, wie er <strong>von</strong> Greuel postuliert <strong>und</strong> im<br />

Konzept des hermeneutisch-dialektischen<br />

Hypothesenexklusionismus theoretisch ausgearbeitet<br />

worden ist, entspricht einem gnoseologischen<br />

wissenschaftlichen Verständnis,<br />

das auf Gewinnung <strong>von</strong> Erkenntnis ausgerichtet<br />

ist (vgl. Fischer, 2005; Plaum, 2008). Der<br />

wissenschaftliche Erkenntniszugang wird mithin<br />

nicht durch einen deontologischen Gr<strong>und</strong>satz<br />

wie das juristische Prinzip der Unschuldsvermutung<br />

evtl. tendenziös beeinflusst. Die<br />

juristische Bewertung eines aussagepsychologischen<br />

Gutachtens obliegt ohnehin immer<br />

dem Gericht. Die „Übersetzungsarbeit“<br />

zwischen psychologisch-wissenschaftlichen<br />

Erkenntnissen <strong>und</strong> der juristischen Terminologie<br />

für die rechtlich relevante Entscheidungsfindung<br />

stellt im jeweils zugr<strong>und</strong>eliegenden<br />

Einzelfall ggf. eine Herausforderung dar <strong>und</strong><br />

ist interaktiv zu bewältigen.<br />

Wissenschaftstheoretische erkenntnismethodische<br />

Gründe für das Ausgehen <strong>von</strong> der<br />

Unwahrannahme gibt es nicht. Die Argumentation<br />

<strong>von</strong> Volbert (2009), immer wenn<br />

man eine Wahrannahme unterstelle, müsse<br />

man sich darüber im Klaren sein, dass eine<br />

hypothesenkonsistente Interpretation der<br />

Evidenz zu erwarten sei, ist methodologisch<br />

<strong>und</strong> erkenntnislogisch als ebenso unzutreffend<br />

zu erachten, wie das im Zuge der Unschuldsvermutung<br />

methodisch gebotene<br />

Unterstellen der Unwahrannahme. Gerade<br />

im Falle des Generierens <strong>und</strong> Überprüfens<br />

<strong>von</strong> konkurrierenden „Alternativhypothesen“<br />

bleibt die wissenschaftlich geforderte Neutralität<br />

gewahrt <strong>und</strong> kann der Erkenntnisgewinn<br />

gesicherter <strong>und</strong> valider erfolgen als in<br />

einem tendenziellen Hypothesentesten.<br />

MARKUS ROTTLÄNDER<br />

Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Ergänzend sei die Bemerkung erlaubt, dass<br />

auch die polizeilichen Vernehmungen in der<br />

Praxis in der Regel <strong>von</strong> konkurrierenden Alternativhypothesen<br />

ausgehen (sollten), um<br />

die gebotene Unbefangenheit zu wahren.<br />

Sinnhaft wäre, dass alle Verfahrensbeteiligten<br />

– auch der fachpsychologische Gutachter –<br />

das beschriebene favorisierte Prinzip der<br />

neutralen Konkurrenz <strong>von</strong> Alternativhypothesen<br />

verfolgen würde. Dieses Prinzip wäre<br />

nicht zuletzt in familienrechtlichen Verfahren<br />

hilfreich. Volbert (2009) stellt zutreffend fest,<br />

dass im Familienrecht – wo der Schutz des<br />

Kindes oberste Priorität hat – die Passung<br />

der (<strong>von</strong> Volbert favorisierten) aussagepsychologischen<br />

Methodik mit den rechtlichen<br />

Vorgaben weniger gut ausfalle als im Strafrecht,<br />

<strong>und</strong> zieht den Schluss, dass sowohl der<br />

Schutz vor sexuellem Missbrauch als auch<br />

der Schutz vor einer deplatzierten familiengerichtlichen<br />

Intervention kindeswohldienlich<br />

sei <strong>und</strong> dass beide Risiken in Zweifelsfällen<br />

gegeneinander abgewogen werden müssten.<br />

Um eine solche Abwägung sachdienlich<br />

<strong>und</strong> fachgerecht vornehmen zu können, ist<br />

das hier postulierte Prinzip der methodischen<br />

Hypothesenkonkurrenz erste Wahl.<br />

Wahrheit als probabilistische Aussage –<br />

oder wieviel Restzweifel ist erlaubt?<br />

Es ergibt sich sicherlich eine Diskrepanz aus<br />

dem – im Strafrecht – juristisch geforderten<br />

Ausmaß an Wahrscheinlichkeit („ohne<br />

vernünftigen Zweifel“) <strong>und</strong> dem fachpsychologisch-methodischen<br />

Ausmaß an Wahrscheinlichkeit,<br />

das bei einer wissenschaftlichen<br />

aussagepsychologischen Untersuchung<br />

möglich ist bzw. gewährleistet werden kann.<br />

Während bei Volbert (2009) <strong>von</strong> „zwingender“<br />

bzw. „mit an Sicherheit oder hoher<br />

Wahrscheinlichkeit vorliegender“ Erlebnisbasierung<br />

ausgegangen wird, äußert Greuel<br />

(2009), wenn die Aussage auch „gleichermaßen<br />

wahrscheinlich“ durch andere Prozesse<br />

(bspw. Simulation oder Suggestion) erklärt<br />

ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10. JG. (2012) HEFT 3 31<br />

Weiterbildung


Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung<br />

AUSSAGEPSYCHOLOGISCHE UND KLINISCH-PSYCHOLOGISCHE METHODIK<br />

werden könne, dann könne die Möglichkeit<br />

einer erlebnisfernen Aussage logischerweise<br />

nicht mehr zurückgewiesen werden. Das<br />

in diesem Kontext geforderte Ausmaß an<br />

Wahrscheinlichkeit ist mithin ein durchaus<br />

differentes. Hier wird die wissenschaftlich<br />

begründete Haltung vertreten, dass der Primat<br />

der Gnoseologie zu gelten hat, so dass<br />

die Erklärungshypothese am Ende des diagnostischen<br />

Prozesses Bestand haben sollte,<br />

welche den höchsten Erklärungswert <strong>und</strong><br />

damit die höchste Validität hat – unabhängig<br />

<strong>von</strong> einem konkreten Wahrscheinlichkeitsausmaß.<br />

Ein solches kann dann wiederum<br />

in der juristisch-psychologischen Interaktion<br />

besprechbar gemacht werden, sollte aber<br />

nicht methodenleitend sein.<br />

Im Unterschied zu aussagepsychologischen<br />

Gutachten im Strafrecht geht es bei Begutachtungen,<br />

welche sich im Bereich des Opferentschädigungsgesetztes<br />

(OEG) verorten, zu<br />

einem erheblichen Teil um eine <strong>klinisch</strong>-psychologische<br />

<strong>und</strong> sozialrechtliche Fragestellung.<br />

So ist in der Regel zu prüfen, ob es zu<br />

einem tätlichen Angriff gegen das potenzielle<br />

Opfer gekommen ist <strong>und</strong> ob dieser ggf. in den<br />

Bereich des OEG fällt. Im Weiteren ist jedoch<br />

zu untersuchen, ob eine (psychische) Ges<strong>und</strong>heitsstörung<br />

festgestellt werden kann <strong>und</strong> ob<br />

sich ein etwaiger kausaler Zusammenhang<br />

zwischen dieser evtl. Ges<strong>und</strong>heitsstörung<br />

<strong>und</strong> dem tätlichen Angriff aufweisen lässt.<br />

Diese beiden Aspekte – psychische Ges<strong>und</strong>heitsstörung<br />

sowie Kausalitätsbewertung –<br />

fallen in den originären Fachbereich eines <strong>klinisch</strong>-psychologischen<br />

Gutachters.<br />

Nicht selten entfällt eine aussagepsychologische<br />

Untersuchung in einer OEG-Begutachtung,<br />

da der tätliche, OEG-relevante Angriff<br />

entweder objektiv feststeht oder vom Auftraggeber<br />

als stattgef<strong>und</strong>en vorausgesetzt wird,<br />

so dass nur eine Auseinandersetzung mit den<br />

beiden anderen Aspekten – Ges<strong>und</strong>heitsprüfung<br />

<strong>und</strong> Kausalität – erfolgen muss. Dennoch<br />

sind in einigen Fällen aussagepsychologische<br />

Erörterungen eines ggf. schädigenden OEGrelevanten<br />

Ereignisses <strong>von</strong>nöten. Spezielle<br />

Qualitätsmerkmale für den OEG-Bereich existieren<br />

nicht. Methodisch ist letztlich das gleiche<br />

Vorgehen wie auch in anderen aussagepsychologischen<br />

Fragestellungen indiziert.<br />

Allerdings herrscht nach langjährigen Erfahrungen<br />

des Verfassers dieses Beitrages im<br />

Bereich der OEG-Begutachtungen bei den<br />

Auftraggebern ein Dissenz darüber, ob explizit<br />

<strong>von</strong> einer Nullhypothese auszugehen<br />

ist oder nicht. Während dies <strong>von</strong> Verfahrensbeteiligten<br />

zuweilen gefordert wird, ist<br />

es in der Gutachtenpraxis im Bereich des<br />

OEG eher Usus, nicht wie im Strafrecht üblich<br />

<strong>von</strong> einer Nullhypothese auszugehen.<br />

Einige Auftraggeber weisen innerhalb des<br />

Verfahren auch explizit darauf hin, dass im<br />

OEG-Bereich nicht <strong>von</strong> einer Nullhypothese<br />

auszugehen ist. Implizit lässt sich diese<br />

Einschätzung zum einen damit begründen,<br />

dass im Unterschied zum Strafrecht eine<br />

juristisch-methodische Unschuldsvermutung<br />

im Prinzip im OEG-Bereich keine Relevanz<br />

hat, da ein potenzieller Täter durch ein OEG-<br />

Verfahren nicht verurteilt werden kann. Würden<br />

im OEG-Bereich die gleichen „harten“<br />

aussagepsychologischen Maßstäbe gelten<br />

wie im Strafrecht, so wäre es zumindest methodisch<br />

nicht abwegig zu argumentieren,<br />

dass eine aussagepsychologisch f<strong>und</strong>ierte<br />

Erschütterung der Nullhypothese im OEG-<br />

Verfahren auch strafrechtliche Implikationen<br />

hätte, was nicht der Fall ist. Auf der anderen<br />

Seite führt ein Freispruch des Beschuldigten<br />

in einem strafrechtlichen Verfahren nicht per<br />

se dazu, dass ein OEG-Antrag keinen Erfolg<br />

haben könnte. Dies impliziert, dass die Maßstäbe<br />

in OEG-Verfahren bzgl. der aussagepsychologischen<br />

Anforderungen offenbar andere<br />

sind als in strafrechtlichen Verfahren.<br />

Es gibt jedoch auch eine Begründung, welche<br />

explizit aus dem OEG selbst heraus oftmals<br />

einen anderen Maßstab als im Strafrecht nahelegt,<br />

<strong>und</strong> zwar hinsichtlich des Ausmaßes<br />

32 ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3


der geforderten Wahrscheinlichkeit bezogen<br />

auf die Ablehnung der Nullhypothese bzw.<br />

das Annehmen der Wahrhypothese. Über<br />

§ 6 Abs. 3 OEG ist die Anwendung des §<br />

15 des VwVfG-KOV möglich, wo es heißt:<br />

„Die Angaben des Antragstellers, die sich<br />

auf die mit der Schädigung im Zusammenhang<br />

stehenden Tatsachen beziehen, sind,<br />

wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht<br />

zu beschaffen oder ohne Verschulden des<br />

Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen<br />

verloren gegangen sind, in der Entscheidung<br />

zugr<strong>und</strong>e zu legen, soweit sie nach den Umständen<br />

des Falles glaubhaft erscheinen.“<br />

Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun<br />

überwiegender Wahrscheinlichkeit, d.h. der<br />

guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich<br />

so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse<br />

Zweifel bestehen bleiben dürfen. Mindestvoraussetzung<br />

ist gr<strong>und</strong>sätzlich, dass der Antragsteller<br />

überhaupt Angaben zum Geschehen<br />

an sich macht. (vgl. Kunz, Zellner et al.,<br />

2010). Während ursprünglich der OEG-relevante<br />

tätliche Angriff im Vollbeweis zu erbringen<br />

ist, unterliegt die Beweiserleichterung<br />

mit dem genannten Wahrscheinlichkeitsgrad<br />

der Glaubhaftmachung offensichtlich einem<br />

gewissen Spielraum, da der zitierte Paragraph<br />

laut Kunz, Zellner et al. (2010) nicht auf<br />

Fälle beschränkt ist, in denen das Fehlen <strong>von</strong><br />

Unterlagen zu besorgen sei, sondern auch<br />

für Fälle gelte, in denen keine Zeugen vorhanden<br />

seien. In einigen Fällen kann die Beweiserleichterung<br />

offenbar auch angewendet<br />

werden, wenn potenzielle Zeugen zwar<br />

vorhanden sind, aber <strong>von</strong> ihrem Zeugnisverweigerungsrecht<br />

Gebrauch machen bzw. der<br />

potenzielle Täter innerfamiliär ist.<br />

Es stellt sich nunmehr die Frage, ob es angesichts<br />

des Beweismaßstabes der Glaubhaftmachung,<br />

der <strong>von</strong> den drei möglichen im<br />

Sozialen Entschädigungsrecht (Vollbeweis –<br />

Wahrscheinlichkeit – Glaubhaftmachung) der<br />

mildeste ist, das methodische Prozedere mit<br />

dem expliziten Aufstellen einer Nullhypothe-<br />

MARKUS ROTTLÄNDER<br />

Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

se als Unwahrannahme überhaupt sinnvoll<br />

ist. Mitunter wird sogar da<strong>von</strong> ausgegangen,<br />

dass in Verfahren nach dem OEG kein aussagepsychologisches<br />

Gutachten über die<br />

Glaubhaftigkeit des Anspruchstellers einzuholen<br />

sei, da der strenge Beweis-Maßstab<br />

des Strafrechts in Form des Vollbeweises im<br />

Opferentschädigungsrecht gerade nicht gelte<br />

(LSG B-BR – L 13 VG 25/07).<br />

Die Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Terminus<br />

Nullhypothese, welche, wie begründet<br />

worden ist, schon im strafrechtlichen Kontext<br />

angebracht erscheinen, gelten wegen<br />

des milderen Beweismaßstabes, der in nicht<br />

wenigen Fällen Anwendung finden kann,<br />

insbesondere im Bereich des OEG. Andererseits<br />

sollten die aussagepsychologischen Kriterien<br />

sowie das methodische Vorgehen des<br />

Überprüfens <strong>von</strong> konkurrierenden Hypothesen<br />

auch bzw. gerade im Bereich der OEG-<br />

Begutachtungen Anwendung finden. Die geforderte<br />

überwiegende Wahrscheinlichkeit<br />

im Sinne der Glaubhaftmachung korrespondiert<br />

in diesem Sinne in eindrücklicher Weise<br />

mit dem bereits skizzierten methodischen<br />

Vorgehen des hermeneutisch-dialektischen<br />

Hypothesen-Exklusionismus. Am Rande sei<br />

angemerkt, dass in einer OEG-Begutachtung<br />

eine ggf. festzustellende (psychische) Ges<strong>und</strong>heitsstörung<br />

im Vollbeweis zu erbringen<br />

ist, während ein ursächlicher Zusammenhang<br />

mit überwiegender Wahrscheinlichkeit<br />

hinreichend ist.<br />

Gebotene <strong>und</strong> konstruktive Methodenkonvergenz<br />

in OEG- <strong>und</strong> Asylrechtsbegutachtungen<br />

Auch das bereits beschriebene zusätzliche<br />

Heranziehen der <strong>klinisch</strong>-psychologischen<br />

Perspektive zur Erhöhung der Validität drängt<br />

sich in OEG-Begutachtungen regelrecht auf.<br />

Zum einen ist die <strong>klinisch</strong>-psychologische Perspektive<br />

wegen der Überprüfung einer Ges<strong>und</strong>heitsstörung<br />

<strong>und</strong> der Kausalität ohnehin<br />

ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10. JG. (2012) HEFT 3 33<br />

Weiterbildung


Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung<br />

AUSSAGEPSYCHOLOGISCHE UND KLINISCH-PSYCHOLOGISCHE METHODIK<br />

geboten. Zum anderen kann die Glaubhaftigkeit<br />

eines behaupteten tätlichen Angriffs zusätzlich<br />

durch ein ausführliches Eruieren <strong>von</strong><br />

Pathodynamik, ggf. vorbestehenden psychischen<br />

Schädigungen <strong>und</strong> ausführlichem, biografischen<br />

Verlauf der Symptomatologie im<br />

Sinne der Methodenkonvergenz eine höhere<br />

Validität erlangen – ggf. auch mit dem Ergebnis,<br />

dass es sich um ein überwiegend nicht<br />

glaubhaftes Vorbringen als Folge <strong>von</strong> Simulation,<br />

Suggestion oder krankheitsbedingter<br />

Induktion handelt.<br />

Es zeigt sich, dass gerade im Bereich der<br />

OEG-Begutachtungen eine Verknüpfung <strong>von</strong><br />

<strong>aussagepsychologischer</strong> <strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologischer<br />

Methodik nicht nur (zuweilen<br />

explizit) beauftragt wird, sondern methodologisch<br />

unumgänglich ist. Fachkompetenz<br />

<strong>und</strong> praktische Erfahrungen in beiden psychologischen<br />

Bereichen sind mithin für den<br />

Gutachter im OEG-Bereich obligatorisch.<br />

Zudem sei angemerkt, dass eine weit verbreitete<br />

Skepsis an dieser – sich als notwendig<br />

zeigenden – methodischen Kombination<br />

auch im Bereich <strong>von</strong> Begutachtungen<br />

in asyl- <strong>und</strong> ausländerrechtlichen Verfahren<br />

vorzufinden ist. Exemplarisch seien hier Leonhardt<br />

(2004) <strong>und</strong> Gierlichs (2010) genannt.<br />

Eine strikte Trennung <strong>von</strong> <strong>aussagepsychologischer</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologischer Untersuchung<br />

entspricht auch nicht den beauftragten<br />

Fragestellungen vieler asylrechtlicher<br />

Gutachten, in denen explizit u.a. nach einer<br />

etwaigen psychischen Erkrankung <strong>und</strong> nach<br />

der Glaubhaftigkeit der ggf. schädigenden<br />

Vorfälle gefragt wird.<br />

Ein gewisses multimethodales Vorgehen zur Erhöhung<br />

der Validität findet sich ferner auch bei<br />

Fabra (2008), der in sozialrechtlichen Begutachtungen<br />

einen psychischen Querschnittsbef<strong>und</strong><br />

fordert <strong>und</strong> damit im Sinne der Methodenkonvergenz<br />

u.a. in der Untersuchung beobachtbare<br />

psychopathologische Phänomene mit den<br />

berichteten Inhalten auf Kohärenz zu überprü-<br />

fen als notwendig postuliert. Aus erkenntnistheoretischer<br />

Sicht lassen sich keine sinnvollen<br />

Einwände gegen eine Methodenkonvergenz<br />

– auch <strong>von</strong> Aussagepsychologie <strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>er<br />

Psychologie – ins Feld führen. Insbesondere in<br />

OEG-Begutachtungen ist ein solches Vorgehen<br />

erste Wahl, wenn denn die Glaubhaftigkeit eines<br />

OEG-relevanten tätlichen Angriffs zur Disposition<br />

steht.<br />

Theoretisch könnten solche Fälle auch in zwei<br />

getrennten Untersuchungen, einer aussagepsychologischen<br />

<strong>und</strong> einer <strong>klinisch</strong>-psychologischen<br />

Begutachtung, erfolgen. Dabei<br />

würden aber ggf. wichtige Zusammenhänge<br />

zwischen beiden Fachbereichen nicht in den<br />

Blick kommen, so dass die Untersuchung mit<br />

einem kombinierten methodischen Vorgehen<br />

im Sinne der Validität vorzuziehen ist – die<br />

nötige Fachkompetenz des Gutachters in beiden<br />

Bereichen vorausgesetzt. Hinzu kommt,<br />

dass mehrfache Untersuchungen bei mehreren<br />

Gutachtern zum einen für den Begutachteten<br />

eine in diesem Umfang vermeidbare<br />

größere Anstrengung bedeuten, zum anderen<br />

zu methodischen Fehlern führen können<br />

(bspw. Halo-Effekte, in gewisser Weise auch<br />

Primäreffekte, d.h. der Begutachtete ist angesichts<br />

der vorausgehenden aussagepsychologischen<br />

Untersuchung auf den ggf. schädigenden<br />

Vorfall sensibilisiert <strong>und</strong> fokussiert, so<br />

dass bei der <strong>klinisch</strong>-psychologischen Untersuchung<br />

die Beschwerdeschilderung einen<br />

übergroßen inhaltlichen <strong>und</strong> selbst attribuierten<br />

Zusammenhang zum ggf. schädigenden<br />

Ereignis aufweisen kann).<br />

Dominanz <strong>von</strong> Gerichtsvorgaben gegenüber<br />

entwicklungspsychologischen <strong>und</strong><br />

<strong>klinisch</strong> psychologischen Erkenntnissen<br />

Unabhängig <strong>von</strong> der Bewertung der Glaubhaftigkeit<br />

<strong>von</strong> Seiten des Auftraggebers oder<br />

des Gutachters ist es häufig nicht eindeutig,<br />

wie der Begriff des tätlichen Angriffs im konkreten<br />

Einzelfall gefüllt wird bzw. werden<br />

34 ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3


kann. Was somit als OEG-relevant eingeschätzt<br />

<strong>und</strong> vorgegeben wird, ist durchaus<br />

divergent (vgl. auch Kunz, Zellner et al., 2010).<br />

Weder eine feindliche Gesinnung noch die<br />

(unmittelbare) Gewaltlosigkeit eines sexuellen<br />

Übergriffs spricht gegen das Erfüllt-Sein<br />

des Kriteriums eines tätlichen Angriffes im<br />

Sinne des OEG (Kunz, Zellner et al., 2010).<br />

In der Praxis zeigt sich jedoch, dass Übergriffen<br />

<strong>von</strong> außenstehenden Personen auf<br />

Kinder <strong>und</strong> Jugendliche auch bei geringerer<br />

subjektiver Bedeutsamkeit für das Opfer im<br />

OEG oftmals ein höherer Stellenwert beigemessen<br />

wird als subtileren innerfamiliären<br />

sexuellen Übergriffen, die jedoch entwicklungspsychologisch<br />

<strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologisch<br />

eine nachhaltigere Wirkung haben<br />

<strong>und</strong> häufig Ges<strong>und</strong>heitsschädigungen nach<br />

sich ziehen. So wurde bspw. ein einmaliger<br />

Vorfall, in dem ein Jugendlicher den Penis<br />

eines Mitpatienten im Krankenhaus habe<br />

anfassen sollen, als OEG-relevant vorgegeben,<br />

die langjährige sexualisierte Gewalt <strong>von</strong><br />

Mutter <strong>und</strong> Vater (u.a. Seitens der Mutter<br />

sich exhibitionistisch bei der Reinigung des<br />

Intimbereichs „begaffen“ lassen; den Sohn<br />

in seiner Intimsphäre <strong>und</strong> in seiner sexuellen<br />

Entwicklung voyeuristisch genau beobachten;<br />

massiv enthemmter Umgang des<br />

Vaters mit dem Sohn u.a.m.) in Kombination<br />

mit heftiger körperlicher Gewalt (massives<br />

Geschlagen-Werden) vom Auftraggeber als<br />

nicht OEG-relevant eingestuft.<br />

Gerade in OEG-Begutachtungen zeigt sich immer<br />

wieder ein Konglomerat aus beziehungstraumatischen<br />

Erfahrungen, Untersozialisation,<br />

Übergriffen <strong>und</strong> anderen Belastungen,<br />

so dass eine Bewertung der Kausalität sich<br />

häufig ohnehin schwierig gestaltet. Kommen<br />

dann Vorgaben bzw. Unklarheiten hinzu, welche<br />

der vielzähligen Situationen <strong>und</strong> Ereigniskonstellationen<br />

OEG-Relevanz aufweisen,<br />

gestaltet sich die Einschätzung der Kausalität<br />

noch einmal komplizierter. Den Vorgaben <strong>und</strong><br />

Setzungen des Auftraggebers kann der Gut-<br />

MARKUS ROTTLÄNDER<br />

achter jedoch meist nur durch Ohnmachtsakzeptanz<br />

begegnen, ist er doch im Wesentlichen<br />

Hilfsgeselle des Gerichts, auch wenn<br />

die gerichtlichen Vorgaben nicht immer mit<br />

den eigenen wissenschaftlichen Überzeugungen<br />

des Gutachters korrespondieren.<br />

Implikationen für potenziell Traumatisierte<br />

<strong>und</strong> Therapeuten<br />

Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Nicht nur im konkreten strafrechtlichen Alltag<br />

sieht sich der potenziell traumatisierte<br />

Zeuge mit einem zuweilen belastenden Prozedere<br />

(ausführliche Angaben über ggf. stark<br />

belastende Erlebnisse bei ausgeprägtem<br />

Vermeidungsverhalten; Vorhaltungen durch<br />

Verteidigung des Angeklagten u.a.m.) konfrontiert.<br />

Auch im Bereich des OEG stellen<br />

Begutachtungen oftmals eine große Belastung<br />

für den potenziell Traumatisierten dar.<br />

Der Gutachter hat dabei die Gratwanderung<br />

zwischen Erfüllen des Gerichtsauftrages <strong>und</strong><br />

möglichem Verhindern eines manchmal drohenden<br />

Dekompensierens des Begutachteten<br />

zu meistern.<br />

Vielen OEG-Antragstellern scheint nicht bewusst,<br />

was in einer Begutachtung auf sie<br />

zukommt <strong>und</strong> wie ausführlich sie ggf. belastende<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Beschwerden<br />

schildern müssen, damit ihr Antrag eine realistische<br />

Aussicht auf Erfolg haben kann. Für<br />

den Behandler bzw. Berater eines potenziellen<br />

OEG-Antragstellers ist deshalb die Herausforderung<br />

zu bewerkstelligen, in seiner<br />

parteilichen Abstinenz dem Patienten unterstützend<br />

zur Seite zu stehen <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

auf die starke Belastung, welche ein OEG-<br />

Antrag mit nachfolgendem (sich oft über Jahre<br />

hinziehenden) Verfahren <strong>und</strong> wahrscheinlicher<br />

(oftmals mehrfacher) Begutachtung mit<br />

sich bringt, hinzuweisen. Die Gefahr eines<br />

Gegenübertragungsagierens, sich gegen<br />

das erfahrene Leid zur Wehr zu setzen <strong>und</strong><br />

Selbsteffektanz zurückerlangen zu wollen<br />

ist hier nicht selten anzutreffen, zumal eine<br />

ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10. JG. (2012) HEFT 3 35<br />

Weiterbildung


Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

Weiterbildung<br />

AUSSAGEPSYCHOLOGISCHE UND KLINISCH-PSYCHOLOGISCHE METHODIK<br />

Ohnmachtsakzeptanz als Kränkung <strong>von</strong> Patient<br />

<strong>und</strong> zuweilen auch Behandler erlebt wird.<br />

Wird über die strengen Anforderungen eines<br />

OEG-Verfahrens <strong>und</strong> entsprechender Begutachtung<br />

jedoch nicht hinreichend aufgeklärt,<br />

ergibt sich die Gefahr einer noch weitreichenderen<br />

Kränkung, nämlich – ggf. trotz realer<br />

Erlebnisf<strong>und</strong>ierung – den Anforderungen<br />

eines Gutachtens nicht standzuhalten <strong>und</strong><br />

einen etwaigen negativen Bescheid als Re-<br />

Traumatisierung zu erleben.<br />

Nicht selten ist zudem das Ergebnis nach<br />

OEG-Begutachtungen, dass ein potenziell<br />

traumatisierendes Ereignis zwar mit hinreichender<br />

Wahrscheinlichkeit als erlebnisf<strong>und</strong>iert<br />

eingestuft wird, vorhandene Beschwerden<br />

sich aber nicht wesentlich auf dieses<br />

Ereignis kausal zurückführen lassen. Im Klartext<br />

bedeutet eine Biografie mit vielfältigen<br />

Belastungen eine reduzierte Wahrscheinlichkeit,<br />

dass die aktuellen Beschwerden auf ein<br />

belastendes Ereignis, für dessen Entschädigung<br />

ein Antrag gestellt wird, zurückgeführt<br />

werden können. Für den Antragsteller ist ein<br />

negativer Bescheid auch deshalb häufig kränkend,<br />

da er sich in seinem tatsächlich vorhandenen<br />

psychischen Leiden nicht gewürdigt<br />

sieht <strong>und</strong> nicht differenzieren kann, dass in<br />

einem OEG-Gutachten nicht ein vorhandenes<br />

Leiden an sich, sondern nur Funktionsbeeinträchtigungen<br />

entschädigt werden, welche<br />

sich wesentlich ursächlich auf ein glaubhaftes<br />

zugr<strong>und</strong>eliegendes Ereignis beziehen. Diesen<br />

Aspekt sollte der gewissenhaft agierende Behandler<br />

im Auge behalten.<br />

Auch der potenziell traumatisierte Flüchtling<br />

erlebt sich den Anforderungen einer asylrechtlichen<br />

Begutachtung häufig hilflos ausgesetzt.<br />

In der Regel ist in solchen Begutachtungen,<br />

zumindest wenn es um die Diskussion <strong>von</strong><br />

zielstaatsbezogenen Abschiebehindernissen<br />

geht, nicht <strong>von</strong> Relevanz, wie stark ausgeprägt<br />

eine psychische Symptomatik beim Betroffenen<br />

ist, wie lange er bereits in Deutschland<br />

ist, wie gut er sich integriert hat, wie gut<br />

(oder schlecht) er die Sprache beherrscht, ob<br />

er eine Arbeitserlaubnis hat <strong>und</strong>/oder einer<br />

Arbeitstätigkeit nachgeht u.v.m., sondern einzig<br />

die Frage entscheidend, ob im Falle einer<br />

Rückführung in das Heimatland prognostisch<br />

eine lebensbedrohliche Verschlimmerung des<br />

Ges<strong>und</strong>heitszustandes des Begutachteten<br />

zu erwarten ist. Die Aufgabe einer asylrechtlichen<br />

Begutachtung ist es in der Regel nicht,<br />

Anerkennung für ein vorhandenes psychisches<br />

Leid zu attestieren, sondern immer das<br />

evtl. Leiden prognostisch auf eine drohende<br />

Abschiebung <strong>und</strong> eine Rückführung des Begutachteten<br />

in sein Heimatland hin zu thematisieren.<br />

Diese Einengung kann wiederum<br />

höchst kränkend für den Begutachteten sein.<br />

Erschwerend kommt hinzu, dass viele traumatisierte<br />

Flüchtlinge zu Beginn ihres Aufenthaltes<br />

in Deutschland ihre Traumatisierungen<br />

im Zuge des Vermeidungsverhaltens nicht<br />

berichten. Das Vermeidungsverhalten agieren<br />

oftmals auch Berater <strong>und</strong> Behandler mit, was<br />

einer Stabilisierung manchmal zuträglich erscheint,<br />

aber bei einer späteren Begutachtung<br />

im Zuge der Thematisierung der Aussagekonstanz<br />

zu Problemen führen kann. Viele nichtpsychologische<br />

Auftraggeber bewerten das<br />

Nicht-Berichten <strong>von</strong> Traumatisierungen zu Beginn<br />

des Aufenthaltes in Deutschland als eklatanten<br />

Widerspruch zum aktuellen Vorbringen<br />

<strong>von</strong> solchen traumatogenen Vorfällen Seitens<br />

des Begutachteten <strong>und</strong> damit als nicht erlebnisf<strong>und</strong>iert,<br />

wogegen der Gutachter manchmal<br />

argumentativ nur schwer ankommt.<br />

In den meisten Fällen ist in asylrechtlichen<br />

Begutachtungen im Zuge der Überprüfung<br />

des Stattgef<strong>und</strong>en-Habens <strong>von</strong> etwaigen<br />

Traumatisierungen im Heimatland die aussagepsychologische<br />

Perspektive zu berücksichtigen,<br />

anderenfalls kann – wie erörtert<br />

worden ist – insbesondere eine Posttraumatische<br />

Belastungsstörung nicht diagnostiziert<br />

werden. Da das B<strong>und</strong>esamt für Migration<br />

<strong>und</strong> Flüchtlinge als Verfahrensbeteiligter<br />

ebenso wie das Gericht als Auftraggeber<br />

36 ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3


häufig Ansätze <strong>von</strong> aussagepsychologischen<br />

Argumentationen ins Feld führt, ist es zusätzlich<br />

als hilfreich zu erachten, die aussagepsychologische<br />

Ebene als Gutachter im<br />

Asylrecht f<strong>und</strong>iert mitzuberücksichtigen.<br />

Die Stärke des psychologischen Gutachters<br />

bei asylrechtlichen Fragestellungen liegt<br />

gerade in der Verknüpfung <strong>von</strong> <strong>aussagepsychologischer</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologischer<br />

Methodik. Birck (2002) hat in diesem Kontext<br />

<strong>klinisch</strong>-psychologische Phänomene als<br />

probates <strong>und</strong> sinnvolles Hilfsmittel bei der<br />

Bewertung der Glaubhaftigkeit der Angaben<br />

systematisch dargestellt.<br />

Resümee<br />

Der vorliegende Beitrag hat es sich zur Aufgabe<br />

gemacht, argumentativ für eine <strong>Komplementarität</strong><br />

<strong>von</strong> <strong>aussagepsychologischer</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologischer Methodik zu<br />

werben. Dabei wurde aufgewiesen, dass<br />

eine Separierung <strong>und</strong> Dichotomisierung<br />

beider methodischen Zugänge unf<strong>und</strong>iert<br />

ist <strong>und</strong> auf einen Mehrwert im Sinne einer<br />

Validitätssteigerung verzichtet. Das Plädoyer<br />

für eine konstruktive Kombination kann<br />

nur dann in der gutachterlichen Praxis Niederschlag<br />

finden, wenn die Fachkompetenz<br />

bei den Gutachtern in beiden methodischen<br />

Fachbereichen umfänglich vorhanden ist <strong>und</strong><br />

die Berührungsängste im Zuge einer gegenseitigen<br />

(projektiven) Bekämpfung eigener<br />

Unzulänglichkeiten überw<strong>und</strong>en werden.<br />

Im Übrigen wäre eine Besinnung auf die<br />

psycho-logische Fachkompetenz dem im<br />

Bereich des Strafrechts, des OEG <strong>und</strong> des<br />

Asylrechts tätigen Gutachter auch deswegen<br />

sinnvoll, weil er sich damit wissenschaftlich<br />

besser zu positionieren in der Lage wäre<br />

<strong>und</strong> einen valideren Beitrag zur Erhellung<br />

komplexerer psycho-logischer Sachverhalte<br />

leisten könnte. Im Blick zu behalten ist nämlich<br />

auch zum einen, dass die gerichtlichen<br />

MARKUS ROTTLÄNDER<br />

Auftraggeber <strong>von</strong> Gutachten in den genannten<br />

Fachbereichen oftmals – auf dem Boden<br />

rational-logischer Argumentationen – über<br />

eine (zuweilen auch vermeintliche) aussagepsychologische<br />

Fachkompetenz verfügen<br />

<strong>und</strong> gerade die Ausführungen des psychologischen<br />

Gutachters zu schätzen vermögen,<br />

welche den eigenen Kompetenzbereich<br />

des Auftraggebers überschreiten. Dies ist<br />

bei <strong>klinisch</strong>-psychologischen Phänomenen<br />

in der Regel der Fall. Zum anderen verfallen<br />

therapeutisch tätige „Attestierer“ nicht selten<br />

in einen Primat der Symptomatologie<br />

(einhergehend mit zuweilen wenig transparenter<br />

Diagnostik) ohne hinreichend kritische<br />

Überprüfung einer realen Erlebnisf<strong>und</strong>ierung<br />

der symptomgenetischen Faktoren. Therapeuten<br />

sind letztlich primär „Anwälte“ ihrer<br />

Patienten <strong>und</strong> müssen sich nicht oder nicht<br />

so zügig <strong>und</strong> ausführlich begründet dem<br />

Entscheidungsdruck aussetzen, mit dem<br />

sich ein Gutachter konfrontiert sieht. Zudem<br />

kann eine Delegation <strong>von</strong> primär gutachterlichen<br />

Fragestellungen auch eine Entlastung<br />

für den Therapeuten <strong>und</strong> die therapeutische<br />

Arbeit bedeuten.<br />

Eine <strong>Komplementarität</strong> <strong>von</strong> <strong>aussagepsychologischer</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>klinisch</strong>-psychologischer Methodik<br />

ist mithin sowohl aus wissenschaftlicher<br />

Fachsicht als auch durch die originäre<br />

Kompetenz des psycho-logischen neutralen<br />

Gutachters im Sinne eines unabhängigen<br />

Sachverständigen zu favorisieren.<br />

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Zertifiziert <strong>von</strong> der Nordrheinischen Akademie für ärztliche Fort- <strong>und</strong><br />

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ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10. JG. (2012) HEFT 3 37<br />

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(2003). Diagnostische Kriterien DSM-IV-TR. Göttingen:<br />

Hogrefe.<br />

Steck, P. et al. (2010). Die psychometrische Qualität<br />

<strong>von</strong> Realkennzeichen. Universität Konstanz. Research<br />

Paper. [Online] http://opus.bsz-bw.de/fhhv/<br />

volltexte/2010/321/ [04.05.2012]<br />

Steller, M. & Köhnken, G. (1989). Criteria-based statement<br />

analysis. In C. Raskin (ed.), Psychological methods<br />

in criminal investigation and evidence (pp.<br />

217-245). New York: Springer.<br />

Undeutsch, U. (1967). Beurteilung der Glaubhaftigkeit<br />

<strong>von</strong> Aussagen. In Undeutsch, U. (Hrsg.), Handbuch<br />

der Psychologie, Band 11: Forensische Psychologie<br />

(S. 26-181). Göttingen: Hogrefe.<br />

van der Kolk, B. A. & Fisler, R. (1995). Dissociation<br />

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Overview and Exploratory Study. Journal of<br />

Traumatic Stress, 8 (4), 505-525.<br />

Volbert, R. (2009). Glaubhaftigkeitsbegutachtung:<br />

Wie man die aussagepsychologische Methodik<br />

verstehen <strong>und</strong> missverstehen kann. In: DgfPI<br />

(Hrsg.). Kindesmisshandlung <strong>und</strong> -vernachlässigung.<br />

Themenheft Glaubhaftigkeitsbegutachtung,<br />

2, 2009, 52-69.<br />

Vorstand der Sektion Rechtspsychologie (1999).<br />

BGH-Gutachten. Aussagepsychologie. Praxis der<br />

Rechtspsychologie, 9. Jahrgang (Heft 2, November<br />

1999). Bonn: Deutscher Psychologen Verlag.<br />

Wittchen, H.-U., Zaudig, M., & Fydrich, T. (1997).<br />

SKID-I. Strukturiertes Klinisches Interview für<br />

DSM-IV (SKID), Achse I: Psychische Störungen.<br />

Göttingen: Hogrefe.<br />

Dipl.-Psych.<br />

Markus Rottländer<br />

Psychologischer Psychotherapeut<br />

<strong>und</strong><br />

Leiter der Gutachtenstelle<br />

der TraumaTransformConsult<br />

Höninger Weg 115<br />

D-50969 Köln<br />

E-Mail:<br />

markus.rottlaender@gmx.de<br />

38 ZPPM Zeitschrift für Psychotraumatologie, Psychotherapiewissenschaft, Psychologische Medizin 10 JG. (2012) HEFT 3

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