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Thomas Gutknecht<br />

Kann die Vernunft dem Glauben gerecht werden?<br />

Religionsphilosophische Thesen zum interreligiösen Dialog<br />

Ausschreibung: Wo liegen die letzten (grundlegenden) Differenzen <strong>im</strong> Vergleich von<br />

biblischem Denken, Islam und (fern-)östlicher Lebensform aus dem Geist des Buddhismus?<br />

Wie prägen diese Unterschiede religiösen Denkens die Gesellschaften in den jeweiligen Kulturkreisen?<br />

Ist der Weg, auf ein Weltethos zu bauen, um Frieden zu stiften, gangbar?<br />

Wie lassen sich große Religionsformationen, die jeweils die Herzmitte der heute um den Vorrang<br />

kämpfenden Kulturen darstellen, auf den Begriff bringen und sachkritisch beurteilen?<br />

Hat die Philosophie dafür Kriterien?<br />

Ist die Rolle, die man <strong>im</strong> kulturellen Westen der Vernunft und ihrem Urteil zubilligt, allgemeingültig<br />

anzusehen?<br />

Kann die Vernunft dem Glauben überhaupt gerecht werden?<br />

Der Abend stellt wichtige Fragen und entwickelt verantwortbare Gedanken zur Orientierung,<br />

wo es ums Ganze, um Heil und Sinn geht.<br />

(Das Manuskript ist nur zum „privaten Gebrauch“ gedacht und hat keine Veröffentlichungsreife, sondern war<br />

nur Grundlage für meinen <strong>Vortrag</strong> vom 27.6.2013 in Kirchhe<strong>im</strong>)<br />

„Indem ich von komplementären Gestalten des Geistes spreche, wende ich mich gegen zwei<br />

Positionen – einerseits gegen die bornierte, über sich selbst unaufgeklärte Aufklärung, die<br />

der Religion jeden vernünftigen Gehalt abstreitet, aber auch gegen Hegel, für den die Religion<br />

sehr wohl eine erinnerungswürdige Gestalt des Geistes darstellt, aber nur in der Art eines<br />

der Philosophie untergeordneten „vorstellenden Denkens“. Der Glaube behält für das Wissen<br />

etwas Opakes, das weder verleugnet noch bloß hingenommen werden darf. Darin spiegelt<br />

sich das Unabgeschlossene der Auseinandersetzung einer selbstkritischen und lernbereiten<br />

Vernunft mit der Gegenwart religiöser Überzeugungen. Diese Auseinandersetzung kann<br />

das Bewusstsein der postsäkularen Gesellschaft für das Unabgegoltene in den religiösen<br />

Menschheitsüberlieferungen schärfen. Die Säkularisierung hat weniger die Funktion eines<br />

Filters, der Traditionsgehalte ausscheidet, als die eines Transformators, der den Strom der<br />

Tradition umwandelt. Das Motiv meiner Beschäftigung mit dem Thema Glauben und Wissen<br />

ist der Wunsch, die moderne Vernunft gegen den Defaitismus, der in ihr selber brütet, zu<br />

mobilisieren. Mit dem Vernunftdefaitismus, der uns heute sowohl in der postmodernen Zuspitzung<br />

der „Dialektik der Aufklärung“ wie <strong>im</strong> wissenschaftsgläubigen Naturalismus begegnet,<br />

kann das nachmetaphysische Denken alleine fertig werden. Anders verhält es sich mit<br />

einer praktischen Vernunft, die ohne geschichtsphilosophischen Rückhalt an der motivierenden<br />

Kraft ihrer guten Gründe verzweifelt, weil die Tendenzen einer entgleisenden Modernisierung<br />

den Geboten ihrer Gerechtigkeitsmoral weniger entgegenkommen als entgegenarbeiten.<br />

Jürgen Habermas, Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen<br />

Habermas, hrsg. v. M. Reder / J. Schmidt, Frankfurt 2008, S.29f.<br />

1


Immer wieder hört man bei der Diskussion über das Verhältnis von Religion, Offenbarung<br />

und Glaube einerseits und Philosophie, Vernunft und Wissen andererseits, dass für unsere<br />

kulturelle Entwicklung ein Doppelerbe verantwortlich sei: das Erbe Jerusalems und das Erbe<br />

Athens. Die Quellströme würden ihren Ausgang nehmen von Golgota wie von der Akropolis.<br />

(Rom / Kapitol?)<br />

Bei der Entwicklung <strong>im</strong> kulturellen Westen hin zu säkularen Gesellschaften scheint die ausgewogene<br />

Zuordnung von Fides und Ratio aber aufgelöst. Die durchaus vom biblischen<br />

Schöpfungsverständnis ermöglichte moderne Wissenschaft hat in <strong>im</strong>mer neuen Reflexionsschüben<br />

Natur und Geschichte den empirischen Wissenschaften überantwortet und so der<br />

Philosophie nicht viel mehr übriggelassen als die Sorge darum, dass sich der Mensch sich als<br />

Subjekt nicht verliere. Die von Augustin bis Thomas hergestellte Synthese aus Glauben und<br />

Wissen jedenfalls ist schon mit Beginn der Neuzeit zerbrochen. Die moderne Philosophie<br />

verstand sich allein auf die kritische Aneignung des griechischen Erbes, hat sich aber weitgehend<br />

vom jüdisch-christlichen Heilswissen abgestoßen.<br />

So scheint die Herausbildung einer kritischen Vernunft als maßgeblicher Instanz bei der lebensweltlichen<br />

Orientierung zu den Errungenschaften des kulturellen Westens zu gehören.<br />

Und diese steht <strong>im</strong> Gegensatz zu einer Religiosität, die zur Privatsache geworden ist und öffentlich<br />

funktionslos.<br />

Man darf die Genealogie der Vernunft aber nicht ausschließlich als Erbe Athens bezeichnen.<br />

Denn schon <strong>im</strong> Traditionsstrom, den wir mit dem Erbe Jerusalems verbinden, gibt es eine<br />

kritische Reflexion und einen Rückgriff auf die Urteilskraft und das Argumentieren. In 1 Petr<br />

3,15 heißt es: „Seid jederzeit bereit, über den Grund eurer Hoffnung Rechenschaft zu geben“.<br />

Paulus schreibt <strong>im</strong> ersten Brief an die Thessaloniker (5,21): „Prüft alles, das Gute behaltet.“<br />

Wichtige Anstöße zur Kritik finden sich schon in der welt- und religionskritischen<br />

prophetischen D<strong>im</strong>ension der Glaubensgeschichte Israels. Die Darstellung Jesu als argumentierendem<br />

Rabbi findet sich z.B. schon in Mk 2,27f. oder zuletzt Joh, 19,11. Die Unterscheidung,<br />

auf die man mit der Rede vom Erbe Athens und Jerusalems zielt, relativiert sich ohnehin<br />

<strong>im</strong> Blick auf den gemeinsamen Ursprung von Philosophie und Religion aus der Weltbildrevolution<br />

der Achsenzeit (um die Mitte des ersten vorchristlichen Jahrtausends).<br />

Das metaphysische Denken bzw. die Philosophie ist <strong>im</strong> Laufe der abendländischen Geschichte<br />

mit dem Christentum eine Arbeitsteilung eingegangen, die es der bloßen Vernunft ermöglichte,<br />

sich aus der Heilsfrage herauszuhalten. Dennoch aber haben religiöse und metaphysische<br />

Weltbilder ähnliche Lernprozesse in Gang gesetzt haben, und es gehören beide Modi,<br />

Glauben und Wissen, mit ihren in Jerusalem und Athen basierten Überlieferungen zur Entstehungsgeschichte<br />

der säkularen Vernunft, in deren Medium man sich heute verständigt. In<br />

säkularen Gesellschaften aber besteht eine gewisse Unausgewogenheit in der Begründungspflicht:<br />

Religion soll sich vor der Vernunft ausweisen. Wieweit aber reicht die Vernunft angesichts<br />

der Offenbarung? Ein Beispiel bietet die <strong>im</strong>mer noch aktuelle Geschichte des Glau-<br />

2


ensvaters Abraham, der ganz und gar Einzelner vor Gott war <strong>im</strong> Bewusstsein, dass er<br />

menschlich gesehen Mörder ist, wenn er tut, was ihm befohlen ist. Ich kann jetzt nicht in die<br />

Auslegung und Auslegungsgeschichte einsteigen – die Geschichte soll nur das Problem anzeigen,<br />

ob man dann noch von Gottes Gottsein spricht, wenn man Gott nur sagen lassen<br />

darf, was unser moralisches Empfinden oder die praktische Vernunft zu billigen vermögen.<br />

Zumindest haben das kritische Denken der „natürlichen“ Vernunft, zu der jeder Mensch Zugang<br />

hat, und die Religiosität, die auf einen geschichtlichen Ursprung zurückgeht, einen unterschiedlichen<br />

Status. Vernünftiger Glaube sucht sein Verstehen. Aber lässt sich das der<br />

Offenbarung zu verdankende Geglaubte einhegen in die Grenzen der Vernunft. Darf allein<br />

für wahr gehalten werden, was einsichtig ist? Wie kritisch ist die Vernunft hier gegen sich<br />

selbst? Hat Kant nicht die Grenzen der Vernunft zu ziehen versucht, um dem Glauben Platz<br />

zu schaffen? Aber welchem? Und wie glaubwürdig sind die Geltungsansprüche der religiösen<br />

Überlieferung?<br />

Diese Problemstellung wird nun noch um einiges komplexer, wenn man die Frage nach den<br />

Möglichkeiten des interreligiösen Dialogs hinzun<strong>im</strong>mt. Der Dialog zwischen Vertretern verschiedener<br />

Religionsgemeinschaften und Glaubensrichtungen ist eingebettet in den interkulturellen<br />

Dialog. Dieser steht vor dem Problem, dass das Dialogverständnis der jeweils anderen<br />

Kultur ein je anderes sein kann. Man muss sich lösen von der Idee des fairen Dialogs der<br />

Kulturen und zuerst einmal von Kulturen des Dialogs ausgehen. Denn eine Kultur als dialogfähiger<br />

oder besonders dialogwillig auszuzeichnen, ist nur möglich, wenn man ein best<strong>im</strong>mtes<br />

Dialogverständnis voraussetzt. Zudem gibt nicht jede Kultur dem Dialog und dem Dialogischen<br />

denselben Stellenwert. Es gibt vielerorts die Vorstellung, dass der Dialog Zeichen der<br />

Schwäche sei oder dass ein Dialogprozess die Wahrheit der Überlieferung zersetze. Über<br />

Wahrheiten, heißt es, st<strong>im</strong>me man nicht ab. Über Meinungen diskutiert man, über Weisheiten<br />

sinnt man. Jenen gehört der Dialog, diesen der Monolog. Aristoteles meinte, wer die<br />

Eltern nicht ehre, dem hülfen keine Argumente, der verdiene vielmehr Schläge...<br />

So geht also der Weg vom Dialog der Kulturen zu unterschiedlichen Kulturen des Dialogs –<br />

und damit steht man wieder vor der Frage der Grundlage der Anerkennung des anderen als<br />

anderen. Für uns erscheint es die äußerste Möglichkeit, Fremdes so gut es eben geht, in seiner<br />

Fremdheit und als Fremdes in seiner Anderheit zu verstehen. Aber die Tendenz des<br />

Verstehenwollens geht doch selber schon dahin, es der eigenen Perspektive einzuordnen.<br />

Ein „Ich verstehe“ ist oft nur der Ausdruck eines Verrechnens ins Eigene.<br />

Ein kirchlicher sozialisierter Christ tut sich schwer, zu fassen, wie es ist, Buddhist zu sein.<br />

Aber ein religionsfrei aufgewachsener Mensch hat es nicht deshalb leichter, weil er nicht erst<br />

von den eigenen Prägungen Abstand nehmen lernen muss. Es mangelt ihm überdies vielleicht<br />

der Sinn für die Symbolwelt, den Ritus und den Kult. Aber wäre nicht vielleicht gerade<br />

eine Religiosität, die von einer Konkretisierung z.B. <strong>im</strong> Sozialen absieht, die wahre Religion?<br />

Was überhaupt ist Religion? Und wie unterscheidet sich „Religion haben“ von „religiös sein“,<br />

von spiritueller Praxis oder von einem Leben in Frömmigkeit?<br />

3


Bei einer Begegnung von zwei Menschen kann man sich folgendes Szenario vorstellen: Da<br />

sitzen zwei beieinander und reden miteinander. Nennen wir sie Peter und Paul und zählen<br />

wir die Figurationen nach, die dabei mit <strong>im</strong> Spiel sind. Da sind erst einmal der Peter, wie er<br />

dem Paul erscheinen will, und der Paul wie er dem Peter erscheinen will. Sodann der Peter,<br />

wie er dem Paul wirklich erscheint, Pauls Bild von Peter also, das <strong>im</strong> Allgemeinen keineswegs<br />

mit dem von Peter gewünschten übereinst<strong>im</strong>men wird, und vice versa. Dazu noch Peter, wie<br />

er sich selbst, und Paul, wie er sich selbst erscheint. Zu guter Letzt noch der leibliche Peter<br />

und der leibliche Paul. Zwei lebendige Personen und sechs gespenstische Scheingestalten,<br />

die sich in das Gespräch der beiden mischen. (Nach Martin Buber)<br />

So verhält es sich zwangsläufig auch be<strong>im</strong> Dialog der Religionen. Wer repräsentiert eine Religion<br />

mit welcher Vollmacht? Wer ist denn ein Christ, der <strong>im</strong> Dialog von Christentum und Islam<br />

das Christentum vertreten könnte? Und umgekehrt, wer der ideale Moslem? Wenigstens<br />

ein klein wenig weiterhelfen soll eine sachkritische Bemühung um wesentliche Gehalte<br />

von Religionen und deren bedingte Gestaltungen.<br />

Ich will einen Versuch machen, angesichts der sogenannten Weltreligionen auf einige<br />

Grundsätzliche Aspekte hinzuweisen und dabei auch die Position der kritischen Vernunft <strong>im</strong><br />

Blick behalten. Vorab müssen wir uns darüber <strong>im</strong> Klaren sein, dass eine nominelle Zugehörigkeit<br />

keine reale Verbundenheit mit der Sache bedeutet. Man kann sich Christ nennen, <strong>im</strong><br />

soziologischen oder juristischen Sinn schon allein kraft der Taufe, ohne in irgendeiner Weise<br />

die Lebensbewegung Jesu Christi mitzuvollziehen. Etwaige Lippenbekenntnisse setzen allerdings<br />

<strong>im</strong>merhin dies voraus, dass es so etwas gibt wie eine Identifikationsmöglichkeit. Ob<br />

man hinter dem eigenen Anspruch zurückbleibt oder ihn einzuholen vermag, ist ja zunächst<br />

ein persönliches Problem. (Bist du Christ – wenn ja, warum nicht?... Muss der Wegweiser<br />

den Weg gehen?)<br />

Um die komplexe Lage nicht allzu kompliziert erscheinen zu lassen, schlage ich vor, drei<br />

Ideenkreise zu unterscheiden, was das Verhältnis zum Unbedingten angeht bzw. das Denken<br />

des Unbedingten. Hier unterscheide ich das biblische Denken, den Islam und – exemplarisch<br />

für den Osten – den Buddhismus.<br />

Dabei geht es mir erst einmal um die Architektur, den Bauplan oder zumindest die Fundamente<br />

dreier Typen von Heilsangeboten, die strukturell unterschiedliche Phänomene darstellen:<br />

1. Die biblische „Religion“ der Gottesliebe<br />

2. Der strenge Monotheismus (Islam)<br />

3. Der Buddhismus in der Gestalt, wie er <strong>im</strong> Westen in Erscheinung tritt, nämlich als eine<br />

Spiritualität ohne personale Beziehung zum Unbedingten.<br />

In herkömmlicher Weise fasst man die sogenannten Offenbarungsreligionen oder<br />

abrahamitischen Religionen zusammen und differenziert dann in Judentum, Christentum,<br />

4


Islam. Ich möchte die aus christlicher Sicht gegebene Einheit von biblischem Gottesglauben<br />

in seiner Gänze vom Gottdenken <strong>im</strong> Islam unterscheiden.<br />

Dies führt sogleich zu einer grundlegenden Schwierigkeit <strong>im</strong> Verhältnis von Judentum und<br />

Christentum. Denn das Verhältnis ist nicht einfach reziprok. Bei der vorgeschlagenen Sicht<br />

müssen sich Juden gerade dann vereinnahmt sehen, wenn Christen, die damit eigentlich<br />

eine Brücke bauen wollen, die jüdischen Wurzeln des Christentums betonen. Christlicherseits<br />

mag es verbindend sein, zu betonen, dass Jesus doch Jude war. In jüdischen Augen ist<br />

es aber ein Ärgernis, die Geschichte so zu lesen, dass die Synagoge das Vorspiel zur Kirche<br />

darstellt. Für das Judentum ist das Christentum bestenfalls eine zu weltgeschichtlicher Bedeutung<br />

gekommene Sekte oder aber die „Erfindung“ des Paulus. Es ist für die ihre Glaubensgeschichte<br />

kein Problem, dass es die Christenheit gibt. Für das Christentum sieht die<br />

Sache anders aus. Warum gibt es noch – heilsgeschichtlich gewollt – die jüdische Religion,<br />

wenn sich das Judentum doch hätte aufheben lassen sollen ins Christliche? Wird eine Entsprechung<br />

von altem und neuem Bund vorausgesetzt, kann die Geschichte Gottes mit Israel<br />

zur Geschichte der Christen gerechnet werden. Das bedeutet aber Enteignung der Juden,<br />

was ihre Geschichte mit Gott betrifft. Auf dem Boden der Schrift ließe sich, so wie das schon<br />

binnenchristlich möglich ist, zwar mit den Rabbinen und jüdischen Theologen streiten, denn<br />

die ist beiden gemeinsam. Aber gerade das Verständnis der Schrift konstituiert ja die Differenz.<br />

Deshalb scheint mir die Idee des Religionsfriedens durch Dialog – etwa der Exegeten –<br />

völlig illusorisch und sachlich ein falscher Ansatz. Sollte sich zeigen, dass es ein gemeinsames<br />

Ethos gibt, ist auch damit nichts gewonnen. Wenn ich als Christ nicht tue, was ich in der Konsequenz<br />

meines Glaubens soll, werde ich es nicht deshalb tun, weil es in der Konsequenz<br />

auch einer anderen Glaubensauffassung liegt. Um recht zu handeln braucht man nicht das<br />

Bewusstsein, dass ein Gebot mit Geboten anderer Religionen übereinst<strong>im</strong>mt. Allenfalls fragt<br />

man sich vernünftigerweise, ob eine Max<strong>im</strong>e überhaupt verpflichtenden Charakter hat.<br />

Anders wiederum sieht es in der Auseinandersetzung beider biblischen Glaubensformationen<br />

mit dem Islam aus. Thomas von Aquin beanspruchte auch hier die Vernunft. Interessanterweise<br />

ist es so, dass der Islam viel vernünftiger ist bzw. weniger Zumutungen an den Intellekt<br />

stellt als das christliche Dogma, sei es vor allem das der Christuswirklichkeit und <strong>im</strong> Zusammenhang<br />

damit die Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes.<br />

Es kommt in der Theorie wie in der Praxis bei Mehrfachbeziehungen (in der Politik: multilateral)<br />

zu unterschiedlichen Koalitionen, wobei Themen zurücktreten werden, die in der direkten<br />

Beziehung (bilateral) Streitpunkte darstellen.<br />

Die Sache wird aber nun noch schwieriger dadurch, dass es ja Angehörige von Weltreligionen<br />

in allen Kulturkreisen gibt. Wie gesagt: die jeweilige Inkulturation einer Religionsform hat<br />

Rückwirkungen auf die geschichtliche Gestalt einer Religion, so wie eine Religion eine Kultur<br />

langfristig verändert. Nach dem Eintritt des Christentums in die Antike kann man von einer<br />

Inkubationszeit sprechen. Erst waren christliche Inhalte zu denken. Erst als mit der Zeit dabei<br />

5


eine christliche Denkform sich bildete, kam sozusagen eine Synthese zustande, die man eine<br />

christliche Kultur nennen durfte. Zu Verwerfungen hinsichtlich des Ideals führen aber auch<br />

Ungleichzeitigkeiten: Würden wir beispielsweise Zeugen eines Gesprächs zwischen einem<br />

vietnamesischen Christen und einem kanadischen Moslem, könnten wir sehen, wie kulturelle<br />

Identitäten die religiösen Identitäten in den Individuen selber nochmals brechen. Wir alle<br />

sind Kinder unserer Zeit. Aber nicht nur unserer Zeit, auch unserer Lebenswelten und unserer<br />

„Routen“, ja vielleicht Routinen… So ist ein Euro-Islam nicht der Islam Arabiens. Je näher<br />

man zusieht, umso schwieriger wird das allgemeine Verhandeln der Sache, denn trotz der<br />

kulturellen Traditionen gibt es zuwiderlaufende Ströme. So wird die aufgeklärte Frömmigkeit<br />

einer Musl<strong>im</strong>a an der Universität in Istanbul sich sehr unterscheiden vom Glauben einer<br />

Frau, die ihrem Mann von der türkischen Schwarzmeerküste nach Dortmund gefolgt ist und<br />

auch nach 30 Jahre ohne Deutsch gelernt zu haben bleiben wird. Sie und ihre Töchter leben<br />

wohl trotz derselben Religionszugehörigkeit auch religiös in unterschiedlichen Welten. Auch<br />

hat z.B. die Inbrunst der Frömmigkeit nichts mit dem Bildungsgrad zu tun.<br />

Trotz allem braucht es auch den Blick auf Grundzüge und Konturen, damit die Besonderheiten<br />

ihrerseits recht verortet werden können. Auch wenn es fast nur Ausnahmen geben sollte,<br />

sind Ausnahmen doch <strong>im</strong> bezogen auf die Regel, und sei es, dass die Ausnahmen die Regel<br />

sind.<br />

Wir werden <strong>im</strong>mer wieder auf die Frage des Idealtypischen stoßen, was aber schon deshalb<br />

schwierig ist, weil es ja um Phänomene geht, die <strong>im</strong> Wandel begriffen sind. Selbst wenn es so<br />

ist, dass es die Wahrheit gibt, so muss sie sich zu verschiedenen Zeit in den verschiedenen<br />

Horizonten der jeweiligen Epochen darstellen. Wer ist ein wahrer Christ? (Witz: Ein Jude will<br />

konvertieren. Seine christliche Freunde erfahren davon und er wird gefragt, ob er denn lieber<br />

evangelisch oder katholisch werden wolle. Seine Antwort: „Wenn schon, dann richtig!“ -<br />

Ich vermute, dass Sie in großer Mehrheit darauf tippen, dass er die römisch-katholische<br />

Form des Christseins <strong>im</strong> Auge hatte.) Wer ein idealer Moslem? Nietzsche behauptete, es<br />

habe nur einen Christen gegeben – und der starb am Kreuz. Von der Buddha-Natur wird gesagt,<br />

sie sei jedem Menschen innerlich. Wie tritt der innere Mensch in Erscheinung? Zu Beginn<br />

war die Rede von der Sonderentwicklung des Verhältnisses von Vernunft und Offenbarung,<br />

von Wissen und Glaube – gibt es Vergleichbares in anderen Religionen?<br />

Der zentrale Inhalt des biblischen Glaubens ist Gott selbst. Die Ausrichtung auf den einen<br />

unendlichen Gott macht den Menschen der Unendlichkeit fähig, und darin besteht seine<br />

Freiheit. Er ist nicht mehr irgendwelchen, stets eingeschränkten Mächten unterworfen, nicht<br />

unter sie »versklavt«. Gott offenbart sich dem Menschen dementsprechend als Befreier:<br />

»Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus dem Ägypterlande, dem Sklavenhause, herausgeführt<br />

hat. Du sollst keine anderen Götter haben als mich!« (Dt 5,6f.) Die Anbetung des einen Gottes<br />

befreit den Menschen von allen möglichen Götzen und Mächten der Welt. Seine Freiheit<br />

hängt damit an dieser Transzendenzfähigkeit. Aber nur wenn sein Transzendieren ein ent-<br />

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sprechendes »Woraufhin« hat, ist er dazu <strong>im</strong>stande. Nur das vollkommen Unendliche und in<br />

dieser Weise absolut Singuläre verleiht dem Menschen die Möglichkeit zu Freiheitsakten.<br />

Gott ist nicht Zweck für etwas anderes, sondern Zweck in sich selbst und um seiner selbst<br />

willen. Dieser Gott hat den Menschen – ich referiere <strong>im</strong>mer nur die biblische Auskunft - zu<br />

seinem »Bild« geschaffen hat (Gen 1,26), um ihm so seine Würde und Unantastbarkeit zu<br />

verleihen. Ausdrücklich wird das Tötungsverbot mit dieser Gottebenbildlichkeit begründet<br />

(Gen 9,6). Diese Unantastbarkeit ist aber auch realer Schutz, eben weil sie nicht nur von<br />

Menschen gemachtes Gesetz ist. Wer die Würde des Menschen antastet, hat nicht nur ein<br />

menschliches Gesetz und dessen Sanktionen gegen sich, sondern Gott selbst, den Unbedingten<br />

schlechthin, mit allen Folgen des Selbstwiderspruchs und der Selbstzerstörung. Man<br />

denke an Kain und Abel. Die Frage ist ja zuletzt nicht die, ob Kain ein Gebot übertritt. Kain<br />

wird zur Rechenschaft gerufen, und die Frage an ihn lautet: „Kain, wo ist dein Bruder?“ Da<br />

redet Kain sich heraus: „Was geht mich mein Bruder an? Bin ich denn der Hüter meines Bruders?<br />

Muss ich denn wissen, wo er ist? Was hab ich mit ihm zu schaffen?“ Genau das ist das<br />

Problem: würde Kain sich brüderlich kümmern, käme er erst gar nicht auf die Idee, den Brudermord<br />

zu begehen. Verantwortung ist dabei dreistellig zu denken: ich bin vor jemand für<br />

jemand (oder etwas) verantwortlich. Wäre die Verantwortung nur die für den Bruder vor<br />

dem Bruder, dann könnte man sich ja drücken. Der Verantwortung vor einem Menschen<br />

kann man sich durch dessen Tötung entledigen. Aber das Blut Abels schreit… zu Gott. Der<br />

Mord beseitigt deshalb nicht das Wovor der Verantwortung, weil dieses Wovor gar nicht<br />

beseitigt werden kann.<br />

Während sich das Judentum noch scheut, <strong>im</strong> Menschen mehr als das Ebenbild oder Abbild<br />

Gottes zu sehen, verdichtet sich der Gedanke, dass das Wort Gottes die menschliche Realität<br />

best<strong>im</strong>men soll, zu einer Wirklichkeit, in der das Wort Gottes die menschliche Natur ann<strong>im</strong>mt,<br />

um unter den Menschen da zu sein. Man muss sich <strong>im</strong>mer klar machen, dass das<br />

Wesen des Christentums nicht, wie viele meinen, irgendeine große Theorie, eine Weltanschauung,<br />

eine klug abgesichertes Gedankengebäude oder System ist. Christentum existiert<br />

zunächst so, dass es schlicht Person ist: Jesus der Christus. An der Stelle der allgemeinen<br />

Norm steht das geschichtliche Vorbild Jesus Christus. An der Moralauffassung seiner Zeit<br />

gemessen war er ein unmoralischer Mensch, ein Stein des Anstoßes…<br />

Daraus ergeben sich weittragende Probleme. Die Schwere der praktischen Zumutung, jene<br />

Freiheit aufzugeben, welche das Verhältnis zur Norm gewährt, und sich unter eine Person als<br />

letzte Gültigkeit zu stellen, kommt in der Gefahr des Ärgernisses zum Ausdruck; einer Gefahr,<br />

um die Christus selbst gewusst hat. Überall sonst heißt es: nicht auf die Person, sondern<br />

auf die Sache kommt es an. (Mohamed ist Prophet, Buddha lehrt das Wegsehen vom<br />

Individuellen, selbst in der Philosophie heißt es paradigmatisch bei Platon: Kümmert euch<br />

nicht um Sokrates, kümmert euch um die Wahrheit.) Wenn das Christentum die Religion der<br />

Liebe sein soll, dann kann das nur in dem Sinne zutreffen, dass es die Religion der sich auf<br />

Christus, durch Christus aber auf Gott sowohl wie auf den anderen Menschen richtenden<br />

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Liebe ist. Von ihr wird gesagt, sie bedeute für das christliche Dasein nicht nur einen best<strong>im</strong>mten<br />

Einzelakt, sondern »das erste und größte Gebot«, und an ihr »hänge das Gesetz<br />

und die Propheten« (Mt 22,38 ff). Sie ist also die sinnverwirklichende Haltung schlechthin.<br />

Alles Leben muss durch sie best<strong>im</strong>mt sein. Was bedeutet das aber?<br />

Halten wir fest: Christsein gründet sich auf die Liebesbeziehung zum personhaften Ausdruck<br />

der Liebe Gottes, also auf Christus selbst, auf eine Person. Die Grundlage des Islam ist ein<br />

Gesetz, der Koran. Der Inhalt des Islam, der <strong>im</strong> Koran verbürgt und mit ihm offenbart ist lautet<br />

ganz schlicht: „Es gibt keine Gottheit außer Gott.“ Das Bekenntnis der Musl<strong>im</strong>e ist ebenso<br />

klar: „Es gibt keine Gottheit außer Gott und Muhammad ist sein Prophet“.<br />

Die wichtigsten Attribute, die Gott zugeschrieben werden sind seine endlose Güte und Allbarmherzigkeit.<br />

Gott ist freigebig und von überfließender Güte, er will, dass sei, was ist. Dies<br />

fordert von jedem Menschen, der genügend nachdenkt, völlige Hingabe und Ergebung in<br />

Gottes Willen. Das genau bedeutet auch der Ausdruck „Islam“. Für den Weisen, der genügend<br />

nachdenkt, hat der Musl<strong>im</strong> größte Verehrung. Dessen Horizont oder Kreis der Wahrheit<br />

ist weit und groß genug, dass darin verschiedene Ansichten ruhen können.<br />

Schon Hegel urteilte, der Islam sei seinem Wesen nach eine Religion der einfachen Konzepte.<br />

Die Anbetung des Einen (der die letzte Quelle allen Lebens ist) sei das einzige authentische<br />

Ziel der menschlichen Existenz.<br />

Lautete der Missionsauftrag Jesu, alle Völker zu bekehren, ihnen aber ihre politische Ordnung<br />

zu lassen, so besteht das Ziel des Islam darin, alle Nichtmusl<strong>im</strong>e politisch zu unterwerfen,<br />

ihnen aber ihre Religion zu lassen, falls es Buchreligionen sind. Der Einheitsgedanke betrifft<br />

weitere Formen der Einheit und Vereinigung. Das ist es, was Hegel abstrakte Verehrung<br />

des Einen nennt – undialektisch, am Konkreten vorbeisehend. Die Pluralisierung wird kritisiert,<br />

Gewaltenteilung ist nicht vorgesehen. Politik <strong>im</strong> Sinn der griechischen Polis und noch<br />

mehr <strong>im</strong> Hinblick auf die relative Unabhängigkeit der säkularen Strukturen kann der Islam<br />

nicht nachvollziehen.<br />

Für uns gehört zum Erstaunlichsten die Gottergebenheit der Musl<strong>im</strong>e: „Wie du weißt, hat<br />

uns der Prophet - Gott möge ihn segnen - gesagt: >Gott spricht: Schmäht nicht das Schicksal,<br />

denn siehe - Ich bin das Schicksal.“ Kismet…<br />

Gemeinsamer Mittelpunkt ist der gemeinsame Bezug auf den Glauben Abrahams. Aus musl<strong>im</strong>ischer<br />

Sicht »nationalisierte« der Judaismus den Monotheismus, indem er ihn für ein Volk<br />

allein beanspruchte, während <strong>im</strong> Christentum die Person Jesu sozusagen die Gottheit überschattete,<br />

so wie die Sonne zeitweilig vom Mond überschattet wird; oder, um es anders auszudrücken,<br />

das Judentum stabilisierte diesen Monotheismus, indem er ihm ein Zuhause gab,<br />

ihn aber auch gleichzeitig völlig mit Beschlag belegte und eifersüchtig der Welt vorenthielt;<br />

das Christentum verbreitete die Wahrheit in der Welt, verdünnte sie jedoch; der Islam hat<br />

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nach seinem Selbstverständnis den Kreis geschlossen und die Reinheit des Glaubens Abrahams<br />

wieder hergestellt. Er spiegelt die göttliche Einheit <strong>im</strong> persönlichen und sozialen<br />

Gleichgewicht.<br />

Ibn Taymiyyah (+ 1328) behauptete, dass der Islam das mosaische Gesetz der Gerechtigkeit<br />

mit dem christlichen Gesetz der Gnade verbunden und einen Mittelweg zwischen der Strenge<br />

des Judentums und der Barmherzigkeit Jesu gefunden habe; er sagte, dass, während Moses<br />

die Majestät Gottes verkündet hatte und Jesus Seine Güte, Muhammad Seine Vollkommenheit<br />

verkündete. Behauptet wird, das Judentum sei die Religion der Prophetie, das<br />

Christentum die Religion einer Person und der Islam die Religion Gottes; Israel ist in der<br />

Hoffnung verwurzelt, das Christentum der Liebe verpflichtet, und der Islam auf die Transzendenz<br />

und Heiligkeit Gottes konzentriert. Während Juden den wahren Glauben auf ein<br />

einziges Volk beschränken und die Christen ihn auf eine einmalige Manifestation eingrenzen<br />

würden, verkündet der Islam, dass er in keiner Weise begrenzt oder besessen werden kann,<br />

auch nicht erschöpft durch irgendeine historische Manifestation. Im tiefsten Herzen des Islam<br />

liegt eine „fanatische Entschlossenheit“ (Hegel), keine menschlichen Normen - oder<br />

menschliche Gedankenkategorien - auf Gott zu übertragen, Ihn in irgendeine Definition einzugrenzen.<br />

Gleichermaßen können auch menschliche Neigungen oder Abneigungen keine<br />

Relevanz für die objektive Wahrheit haben, und der Gedanke, dass wir, Seine Geschöpfe,<br />

Gott nach unseren Interessen beurteilen könnten, ist für den Musl<strong>im</strong> eine ungeheuerliche<br />

Anmaßung.<br />

Es gibt deshalb für die Musl<strong>im</strong>e zwar eine Aufgabe der Vernunft <strong>im</strong> Rahmen der Interpretation<br />

der Anwendung des Islam, nicht aber gegenüber dem Koran geschweige denn gegenüber<br />

Allah. Gott zur Rechenschaft ziehen angesichts des Leids in der Welt ist für den Moslem<br />

Blasphemie. Der strenge Monotheismus mit der Vorstellung der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit<br />

Gottes lässt Raum für Mystik, nicht aber für Kritik und Pluralismus der Weltanschauungen.<br />

(Die Musl<strong>im</strong>e glauben auf die Selbstbezeugung Gottes in seinem Wort hin. Sie glauben, dass<br />

Gott ein einziger Gott ist, weil Gott dies <strong>im</strong> Koran sagt und weil der Koran für den Musl<strong>im</strong> das<br />

Wort Gottes ist. Selbst dann, wenn jemand den Koran nicht als ungeschaffenes, sondern als<br />

geschaffenes Wort Gottes einstufen würde, bliebe es doch wahr, dass die Haltung des islamischen<br />

Glaubens die eines jeden echten monotheistischen Glaubens ist: an Gott glauben<br />

auf sein Wort hin, das er – dem Menschen vernehmlich – in die Welt, auf die Propheten<br />

„herabgesandt“ (tanzîl) hat. Wesentlich für den Musl<strong>im</strong> ist der Gehorsam <strong>im</strong> Glauben, d. h.,<br />

die Übereinst<strong>im</strong>mung des Handelns des Menschen mit dem Willen Gottes. Dies ist genau alislam:<br />

der Akt der totalen Hingabe an den einen Gott und seinen geoffenbarten Willen. Das<br />

Wort Musl<strong>im</strong>, abgeleitet von derselben Wortwurzel „s l m“ wie „Islam“ – bezeichnet denjenigen,<br />

„der sich Gott völlig ergeben hat bzw. ergibt“.)<br />

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Der Islam ist eine Buchreligion <strong>im</strong> strengen Sinn des Wortes. Für den biblischen Glauben ist<br />

das Buch lediglich „Zeugnis“ – ihm kommt die Rolle zu, die <strong>im</strong> Islam Mohamed hat.<br />

Eine historisch-kritische Auseinandersetzung mit dem Koran, ähnlich der Bibelkritik, ist <strong>im</strong><br />

Islam undenkbar. Lediglich religionswissenschaftliche und orientalistische Studien von Nicht-<br />

Musl<strong>im</strong>en arbeiten daran. Karl-Heinz Ohlig fasst Ansätze in der Erforschung des Koran und<br />

der frühen Islamgeschichte zusammen und weist darauf hin , dass die musl<strong>im</strong>ische Theologie,<br />

aber auch die westliche Islamwissenschaft von unbefragten Thesen ausgingen, die wie<br />

gesicherte Wahrheiten <strong>im</strong>mer neu vorgetragen würden: Der Islam sei von einem Mann namens<br />

Muhammad (Mohammed) begründet; der Qu´ran (Koran) gehe in allen seinen Teilen<br />

auf Sprüche Muhammads zurück, die von Zuhörern niedergeschrieben und etwa 18 bis 24<br />

Jahre später (zwischen 650 und 656) unter dem Kalifen Osman (Othman) zum heutigen Koran<br />

zusammengestellt wurden; das Leben Muhammads sei in allen Einzelheiten bekannt,<br />

ebenso die nachfolgende musl<strong>im</strong>ische Expansion und die Konstituierung von islamischen<br />

Großreichen unter den vier „rechtgeleiteten Kalifen“ (632-661) und den Omaiyaden (661-<br />

750).<br />

Diese Aussagen sind vom Blick einer historisch-kritischen Betrachtung aber allesamt mehr als<br />

fraglich: Der Name Muhammad wird nur vier Mal <strong>im</strong> Koran erwähnt, wobei unklar bleibt, ob<br />

es sich um einen Personennamen oder, vergleichbar den Bezeichnungen Buddha oder Christus,<br />

um einen Würdenamen handelt. Erst in Schriften des 9. Jahrhunderts, also 200 Jahre<br />

nach dem angeblichen Auftreten eines mekkanischen Predigers, wird der Koran einem Mann<br />

mit diesem Namen zugeeignet; aus der gleichen Zeit stammen die historischen, in Wirklichkeit<br />

aber legendarischen Angaben zu den Abläufen seines Lebens. Die Handschriftenüberlieferung<br />

des Koran widerlegt seine frühe Fertigstellung unter dem Kalifen Osman, inhaltliche<br />

Überlegungen machen die Rückführung der Texte auf einen Prediger problematisch. Diese<br />

„von außen“ gestellten historisch-kritischen Fragen werden vertieft und mit Mitteln einer<br />

beeindruckenden philologischen Präzision weitergeführt durch ein <strong>im</strong> Jahr 2000 erschienenes<br />

Buch von Christoph Luxenberg (Pseudonym wegen Todesgefahr): Die syro-aramäische<br />

Lesart des Koran. Es ist ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache. Luxenberg vertritt<br />

die These, dass viele koranische Stellen nicht zutreffend und z.T. sogar gegen ihre Aussagen<br />

missgelesen und -verstanden wurden und werden, weil die Entstehung des Koran in einem<br />

syro-aramäischen Sprachumfeld – und somit auch <strong>im</strong> Kontext eines syro-aramäischen Christentums<br />

– nicht erkannt wurde. Die frühe Islamgeschichte, die bisher <strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Rückgriff auf<br />

islamische Literatur aus dem 9. Jahrhundert wiedergegeben wurde, weil es für die beiden<br />

ersten Jahrhunderte so gut wie keine Quellen gibt, wird neuerdings von numismatischer Seite<br />

neu betrachtet. Die sichersten Zeugnisse vor allem für die ersten hundert Jahre sind datierbare<br />

Münzprägungen und einige Inschriften. Diese zeigen, dass die frühen arabischen<br />

Expansionen und Reiche, zumindest <strong>im</strong> palästinisch-syrischen Raum bis zum Ende der<br />

Omaiyadenzeit (750), noch nicht der Islamgeschichte zugeordnet werden können; Münzprägungen<br />

und auch z.B. die gemeinhin als musl<strong>im</strong>isch gedeutete Inschrift <strong>im</strong> Jerusalemer Felsendom<br />

verraten ein syrisch-arabisches Christentum, das sich als Alternative zum Christen-<br />

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tum des byzantinischen Reichs verstand. Inzwischen ist eine Reihe weiterer Arbeiten erschienen,<br />

die <strong>im</strong>mer neue Aspekte der frühen Islamgeschichte diskutieren. Die Islamforschung<br />

scheint in Bewegung zu geraten.<br />

Was aber die Thesen Luxenbergs angeht, ist dies die Quintessenz: Luxenberg entwickelt die<br />

detailliert ausgeführte These, dass älteren Teilen des Koran eine in syrisch-aramäischer Sprache<br />

verfasste christliche Urschrift zu Grunde liegt. Syrisch-aramäisch sei in den ersten Jahrhunderten<br />

christlicher Zeitrechnung die dominante Schriftsprache des Nahen Ostens gewesen,<br />

eine Schriftsprache, die verwandt, aber nicht identisch ist mit der späteren arabischen<br />

Konsonantenschrift.<br />

Im östlichen Mesopotamien lebte ein Volk, das sich zum christlichen Glauben bekannte, aber<br />

den Glauben daran, dass Jesus der Sohn Gottes sei, ablehnte, in Jesus nur einen Propheten<br />

sah und so einen entschiedenen Monotheismus vertrat. Dieses Volk wurde <strong>im</strong> dritten Jahrhundert<br />

von den Sassaniden militärisch geschlagen und ins heutige Südwest-Afghanistan<br />

deportiert.<br />

Danach ist offenbar folgendes passiert. Sie saßen dort als Untertanen der Perser ohne Verbindung<br />

zum Rest der syrischen Bevölkerung, und man kann annehmen, dass sie in der Isolation<br />

ihre Theologie weiterentwickelt haben. Sie blieb strukturell erhalten, aber sie hat zum<br />

Beispiel einen Begriff in der Christologie neu erfunden: Muhammad. Das kann man daraus<br />

schließen, dass auf den ersten Münzen, die aus dieser Gegend kommen, Muhammad steht.<br />

„Muhammad“ ist keine totale Neuerung, weil es das arabische Übersetzungswort für „Erwählter“<br />

ist.<br />

Das heißt, dieses christliche arabische Volk entwickelte in der Isolation, also unberührt vom<br />

Kirchenchristentum und seiner Theologie, seine eigenen monotheistischen Glaubensvorstellungen,<br />

seine eigene Theologie, in der der als „Muhammad“ bezeichnete Jesus nur der Prophet<br />

Gottes ist, nicht aber dessen ewig gezeugter „Sohn“. Anfang des siebten Jahrhunderts<br />

zerfiel das Sassanidenreich. Anlässlich dieser Befreiung sind die arabischen Christen aus dem<br />

Nordosten Mesopotamiens nach Süden gezogen und haben dabei ihre Materialien, wahrscheinlich<br />

die Urform der koranischen Materialien, wenn auch in syrischer Sprache, mitgenommen<br />

und haben zunächst Mesopotamien erobert und dann – einer von ihnen –<br />

Abdalmalik – <strong>im</strong> letzten Drittel des siebten Jahrhunderts auch den Westen. Den Weg kann<br />

man an den Münzprägungen, die dann aus dem Nordosten Mesopotamiens zunächst ins<br />

Zentrum und dann bis nach Damaskus und Jerusalem kamen, das dokumentieren.<br />

Bestätigt sich diese These in weiteren Forschungsergebnissen, würde das bedeuten: Der Koran<br />

entstand nicht allein auf der arabischen Halbinsel, nicht in Mekka und Medina – diese<br />

Städte werden übrigens auch nicht explizit <strong>im</strong> Koran genannt – und ist schon gar nicht auf<br />

Offenbarungen zurückzuführen. Zweitens: Der Koran hat seine frühen inhaltlichen Wurzeln in<br />

einer syrisch-christlichen Sekte. Drittens: Als <strong>im</strong> heutigen arabischen Raum ein neues größe-<br />

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es politisches Gebilde geschaffen wurde, wurde der syrisch-christliche „Urkoran“ innerhalb<br />

eines längeren Zeitraumes weiterentwickelt und zur Staatsreligion. Viertens: Muhammad als<br />

historische Persönlichkeit hat nicht existiert – jedenfalls nicht so, wie Musl<strong>im</strong>e das glauben.<br />

Die historisch-kritischen Erklärungsversuche zur Entstehung des Koran sind noch nicht abgeschlossen.<br />

Man muss natürlich vorsichtig sein, es handelt sich nur um eine These, und sie wird<br />

von mir nicht vorgetragen, um den Islam zu beschämen. Hier ist eine Philologie, die in vielen<br />

Punkten noch an den Anfängen. Andere Islamwissenschaftler gehen davon aus, dass sich der<br />

Koran in einem längeren Zeitraum in einzelnen Gemeinden herausgebildet hat. Eine These,<br />

die mit den genannten Überlegungen durchaus vereinbar wäre.<br />

Der Buddhismus ist <strong>im</strong> wesentlichen Weg (griechisch: Methode), um mit dem Geist und am<br />

Bewusstsein zu arbeiten, eine fast ausschließlich auf das Spirituell-Praktische ausgerichtete<br />

Lebensform, die – gerade als spirituelle Methode - mit allen möglichen Religionen koexistieren<br />

kann. Letztlich geht es be<strong>im</strong> Buddhismus um Liebe, Freundlichkeit, Mitgefühl und Toleranz.<br />

Die letzte Mahnung des Buddha an seine Schüler war: »Alles Bedingte ist unbeständig.<br />

Erwirkt euch das Heil!« Dieses besteht <strong>im</strong> Eingehen ins Unbedingte. Bedeutet dies die Auflösung<br />

jeder Art von „Selbst“?<br />

Umstritten ist nicht nur die Frage nach dem Selbstand <strong>im</strong> Unbedingten, sondern auch, ob<br />

man den Buddhismus eher als Philosophie oder besser als Religion oder noch in anderer<br />

Weise beschreiben soll. Er enthält Elemente, die das eine (Religion) wie das andere (Philosophie)<br />

zulassen und auch verbieten.<br />

Die europäische Tradition neigt dazu, den Lebenswillen zu betonen und sich aktiv in der Welt<br />

der Sinne zu betätigen. Die religiöse Tradition der Menschheit aber beruht auf der Verneinung<br />

des bloßen Lebenswillens und wendet sich vielfach von der Welt der Sinne ab. Die europäische<br />

Geistigkeit wurde in regelmäßigen Abständen <strong>im</strong>mer wieder durch Elemente des<br />

Ostens „verjüngt“. Wenn man die orientalischen Elemente aus der griechischen Philosophie<br />

herauslöst, wenn man von Christus, Paulus, Dionysius Areopagita und der arabischen Philosophie<br />

absähe, so wäre die Welt abendländischer Religiosität während der letzten 2000 Jahre<br />

unvorstellbar.<br />

Es gibt zahlreiche Methoden, das Heil durch Meditation zu erlangen; diese Methoden sind in<br />

der buddhistischen Tradition klarer und vollständiger enthalten als irgendwo sonst. Einem<br />

Menschen, der von der ihn umgebenden Welt und von sich selbst gründlich enttäuscht und<br />

aller Illusionen beraubt ist, dem hat der Buddhismus viel Anziehendes zu bieten.<br />

Die Lebensregeln, die die buddhistischen Schriften bieten, lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen:<br />

Moral, Kontemplation und Weisheit. Haltungen wie grenzenlose Freundlichkeit,<br />

des grenzenloses Mitleid, grenzenlose Mitfreude und grenzenloser Gleichmut erscheinen<br />

heute attraktiver denn je. Anders steht es mit dem Ziel des Buddhismus, der Aufhebung<br />

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der Individualität, dem Erlöschen des Selbstseins. Vielleicht darf man Nirwana als den Zustand<br />

der wahren Individualität beschreiben, denn das Wort Individualität, wie wir es verstehen,<br />

ist elastisch und unbest<strong>im</strong>mt genug dazu. Die buddhistischen Schriften haben allerdings<br />

diesen und jeden ähnlichen Ausdruck <strong>im</strong>mer sorgfältig vermieden.<br />

(Vgl. Edward Conze. Der Buddhismus, 10. Aufl. 1995, S. 9 -12.)<br />

Was wir in Europa unter Philosophie verstehen, ist eine Schöpfung der Griechen. Die buddhistische<br />

Tradition kennt nichts derartiges und würde die Erforschung der Wirklichkeit rein<br />

zu dem Zweck der Erweiterung unserer Kenntnisse über sie als eine bloße Zeitverschwendung<br />

ansehen. Die Lehre Buddhas will den Weg zur Erlösung zeigen. Jede Philosophie, die<br />

sich in den Werken buddhistischer Autoren finden mag, ist insofern zufällig, als sich <strong>im</strong> großen<br />

Wortschatz der buddhistischen Schriften nichts findet, was unserem Begriff Philosophie<br />

entspräche. Eine Analogie könnte das vielleicht klarer machen. Die chinesische Sprache hat,<br />

nach Auffassung der Chinesen selbst, keine Grammatik und wird in China ohne grammatische<br />

Hilfsmittel gelehrt. Europäische Philologen haben nach dem Vorbild unserer lateinischen<br />

grammatischen Grundbegriffe eine chinesische Grammatik konstruiert. Sie passt nicht<br />

recht, und die Chinesen behelfen sich weiter ohne sie. Den Europäern aber bedeutet diese<br />

Grammatik lateinischen Stiles mit ihren bekannten Kategorien eine Erleichterung bei der<br />

Erlernung der chinesischen Sprache. Ähnlich könnte ein Versuch, die buddhistische Gedankenwelt<br />

in der Terminologie europäischer Philosophie darzustellen, den Zugang zu ihr erleichtern.<br />

Edward Conze schlägt vor, die buddhistische Philosophie in diesem Sinn als dialektischen<br />

Pragmatismus mit besonderer Hinneigung zu psychologischen Betrachtungen zu definieren.<br />

Der Buddhismus, der seiner Herkunft und Zielsetzung nach eine Heilslehre ist, hat sich <strong>im</strong>mer<br />

durch eine stark auf das Praktische gerichtete Haltung ausgezeichnet. Jede Spekulation<br />

über Fragen, die nicht direkt mit der Heilslehre zusammenhängen, wird vermieden.<br />

Die Grundlage des Lebens ist das Leiden. Ein von einem Pfeil Verwundeter wird, bevor er<br />

sich den Pfeil entfernen lässt, nicht darauf bestehen, zu erfahren, wer der Schütze war, ob<br />

groß oder klein, schwarz oder blond. Er will nur von dem Geschoss befreit werden. Unzählige<br />

Missverständnisse wären vermieden worden, hätte man erkannt, dass die Aussagen der<br />

buddhistischen Autoren nicht Spekulationen über die Natur der Wirklichkeit sind, sondern<br />

Ratschläge für praktisches Handeln, Beschreibungen verschiedener Verhaltungsweisen und<br />

der aus ihnen sich ergebenden Erfahrungen. »Willst du dieses Ziel erreichen, so musst du<br />

folgendermaßen handeln.« »Tust du das, so wirst du folgende Erfahrung machen.«<br />

So kann man sagen, dass buddhistisches Denken sich in der Richtung des so genannten<br />

Pragmatismus bewegt. Der Wert eines Gedankens wird best<strong>im</strong>mt durch seine Brauchbarkeit<br />

für die Praxis, durch den Wert der Lebensweise, die durch ihn angeregt wird. Überall, wo<br />

positive Eigenschaften wie innere Freiheit, Güte, heiteres Selbstvertrauen sich zeigen, wird<br />

eine Philosophie, die hinter einer solchen Lebenshaltung steht, geschätzt. »Jede Lehre, von<br />

der du dir sagen kannst, dass sie zu Leidenschaftslosigkeit führt und nicht zu Leidenschaft; zu<br />

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Unabhängigkeit und nicht zu Bindung; zu Verminderung weltlichen Gewinns und nicht zu<br />

seiner Vermehrung; zu Einfachheit und nicht zu Habgier; zu Zufriedenheit und nicht zu Unzufriedenheit;<br />

zu Einsamkeit und nicht zu Geselligkeit; zu Leistung und nicht zu Schlaffheit; zu<br />

Freude am Guten und nicht zu Freude am Bösen - von solcher Lehre kannst du mit Best<strong>im</strong>mtheit<br />

sagen: Das ist die Regel. Das ist die Lehre. Das ist des Meisters Botschaft.«<br />

Im Laufe der Entwicklung des Buddhismus wurde dieser Pragmatismus noch deutlicher. Seine<br />

Anhänger erkannten, dass alles, was man in Worten ausdrückt, zuletzt falsch ist - falsch<br />

schon allein deshalb, weil man es in Worte fasst. »Wer redet, weiß nicht; wer weiß, redet<br />

nicht.« Nur das edle Schweigen verletzt die Wahrheit nicht. Wenn man überhaupt spricht -<br />

und es ist erstaunlich, wie viel die Anhänger des edlen Schweigens zu sagen hatten -, so lässt<br />

es sich nur rechtfertigen durch Rücksicht auf die Schwachen. Anders ausgedrückt, man benützt<br />

Worte, weil sie möglicherweise anderen, auf einer niedrigeren geistigen Stufe Stehenden<br />

bei ihrer Fortentwicklung helfen könnten.<br />

Die Lehre ist in erster Linie ein Heilmittel. Der Buddha ist ein Arzt. Genau wie der Arzt <strong>im</strong>stande<br />

sein muss, die verschiedenen Krankheiten zu best<strong>im</strong>men, wie er ihre Ursachen erkennen<br />

und die notwendigen Heil- und Gegenmittel wissen und anzuwenden verstehen<br />

muss, so hat auch der Buddha die »Vier edlen Wahrheiten« gelehrt: den Umfang des Leidens,<br />

seinen Ursprung, seine Überwindung und den Weg, der zu seiner Überwindung führt.<br />

Isoliert man aber die Worte Buddhas von der Aufgabe, die sie erfüllen sollen, so verlieren sie<br />

alle Kraft und Bedeutung. Gegenstand buddhistischer Lehren ist es also vor allem, wie die<br />

unheilvoll wirkenden Denk- und Verhaltensmuster verringert und schließlich völlig abgebaut<br />

werden können. Insofern kommt dem Buddhismus therapeutische Funktion zu und in dieser<br />

Interpretation ist Buddhismus eine uralte Form der Psychotherapie.<br />

Dies erinnert alles sehr stark an die stoische Philosophie, mit der die frühen Christen zu konkurrieren<br />

begannen und weshalb das Christentum – eben als Lebensform, Praxis und Weg –<br />

sich als wahre Philosophie ausgewiesen hat. Die Stoa war Philosophie als Lebensform mit<br />

dem Ziel, die Meeresstille des Geistes zu ermöglichen und Medizin des Geistes zu sein, Philosophie,<br />

die eine Einladung und Einweisung war, weise zu werden.<br />

Die Kontroverse zwischen Christen und Buddhisten um das Verständnis der Letzten Wirklichkeit<br />

ist dreht sich um die Frage: personal oder <strong>im</strong>personal? Mit Klarheit hat dies Walpola<br />

Rahula, ein Gelehrter und Mönch von hohem Rang, zum Ausdruck gebracht: „Es ist besser,<br />

aufrichtig zu sagen, dass man an einen Atman oder an ein Selbst glaubt. Man mag auch seiner<br />

Meinung Ausdruck geben, dass Buddha sich völlig geirrt habe, wenn er das Dasein eines<br />

Atman leugnete. Gewiss ist aber niemandem ein Dienst damit erwiesen, wenn man versucht,<br />

in den Buddhismus eine Vorstellung hineinzutragen, die Buddha niemals angenommen haben<br />

würde, soweit wir das aus den vorhandenen Originaltexten entnehmen können.“ Von<br />

Buddha heißt es schließlich selbst: „Stellt euch eine Seelenlehre vor, ihr Mönche, durch deren<br />

Annahme Sorge, Wehklage, Leiden, Not und Trübsal nicht entstehen würden! Kennt ihr<br />

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aber eine solche Seelenlehre? - Nein, Herr! - Wohl, ihr Mönche, auch ich kenne keine solche<br />

Seelenlehre, deren Annahme die Entstehung von Sorge, Wehklage, Leiden, Not und Trübsal<br />

ausschließt.“ Damit gibt es Erlösung nur durch Überwindung einer solchen Basis individuellen<br />

Lebens.<br />

Als Johannes Paul II. anlässlich seines Besuchs in Sri Lanka 1991 den Buddhismus als „atheistisches<br />

System“ kennzeichnete, gab es einen Sturm der Entrüstung, bei dem hohe buddhistische<br />

Würdenträger die Begegnung mit ihm verweigerten. Aber da geht es um ein typisches<br />

Missverständnis auf beiden seiten, etwa der Missdeutung des Buddhismus als „negative Soteriologie“,<br />

der Darstellung des Nirwana als „Zustand völliger Indifferenz gegenüber der<br />

Welt“. Was der Papst problematisierte, war eine angebliche Abkehr von der Welt ohne Du –<br />

denn es soll jede Abkehr von der Welt nur erlaubt sein, „um die Einheit mit dem zu ermöglichen,<br />

was außerhalb der Welt ist: Und dabei handelt es sich eben nicht um das Nirwana,<br />

sondern um einen personalen Gott. Die Einheit mit ihm verwirklicht sich nicht auf dem Weg<br />

der Reinigung, sondern durch die Liebe. [...] Die christliche Mystik aller Zeiten [...] entsteht<br />

nicht aus einer reinen „Erleuchtung“, die dem Menschen das Böse bewusst werden lässt, das<br />

aus seinem Festhalten an der Welt mittels der Sinne, des Intellekts und des Geistes hervorgeht,<br />

sondern sie entsteht aus der Offenbarung des lebendigen Gottes.“<br />

Auf den ersten Blick ist die buddhistische Lehre vom Nichtselbst tatsächlich befremdlich, und<br />

die buddhistischen Erklärungen helfen wegen ihrer fremden Terminologie nicht jedem weiter.<br />

Aber umgekehrt: wenn wir die Begriffe „Selbst“, „Individuum“ oder „Ich“ reflektieren,<br />

dann gerät auch die abendländische Vorstellung vom Selbst ins Wanken. Denn personale<br />

Identität ist keineswegs so sicher, wie man es meint behaupten zu dürfen. Man ist nicht ein<br />

Selbst, und man hat nicht ein Selbst. Wer könnte es denn sein, und wer könnte es haben?<br />

Das Selbst selbst? Und was könnte dieses Selbst denn anderes sein als das, womit es benannt<br />

wird, wodurch es charakterisiert ist? In der abendländischen Philosophie hat man diesem<br />

Selbst aber eine Substanz oder Essenz zugeschrieben. Solche Setzungen haben die für<br />

das Abendland typischen Dichotomien ermöglicht: Geist-Materie, Subjekt-Objekt, Mensch-<br />

Natur, Freiheit-Determination, die aber <strong>im</strong> Buddhismus nur wenig Sinn machen. Denn dort<br />

gehört auch das Selbst bzw. die Seele zur Veränderlichkeit des Körpers. Dies beruht weitgehend<br />

auf der Vorstellung, dass die Seele eine feinstoffliche Substanz hat. Sobald man aber<br />

die Seele nicht mehr der Endlichkeit des Körpers gegenüberstellt, sondern zu ihm rechnet, ist<br />

einleuchtend, dass sie (als Selbst) nicht das Heil sein kann, wenn dieses als unvergänglich<br />

und unsterblich aufgefasst wird.<br />

Eine solche buddhistische Auffassung vom Selbst führt zu grundlegenden Divergenzen gegenüber<br />

dem Christentum. Nicht nur ist eine personale und persönliche Beziehung zwischen<br />

Gott und dem einzelnen, der Gottesglaube also, undenkbar, nicht nur müssen zwangsläufig<br />

Schöpfung, Reich Gottes und Jenseitigkeit geleugnet werden, es entstehen auch ethische<br />

Fragen in Bezug auf Willensfreiheit und Sünde.<br />

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Auch der Buddhismus stellt keine intellektuelle Herausforderung dar. Mit moderner Naturwissenschaft<br />

ist er völlig kompatibel. Die Vernunft spielt eine läuternde Rolle. Des Übernatürlichen<br />

bedarf der Buddhismus nicht. Daher stellt der Buddhismus <strong>im</strong> Westen - unverbraucht<br />

und historisch unbelastet – ein sehr ansprechendes Heilsangebot dar. Er spricht den<br />

Einzelnen an und liefert eine Art Anleitung zum Selbstmanagement. Das macht ihn anschlussfähig<br />

angesichts des Freiheitsbewusstseins und des neuzeitlichen Individualismus,<br />

zumal wenn Freiheit vor allem negativ durch Selbstbest<strong>im</strong>mung und Kritik aller Autorität,<br />

zumal der kirchlichen Autorität, auftritt.<br />

Religiöse Sehnsucht in einer durch die Wissenschaften entzauberten Welt können viele<br />

Menschen nicht durch aufgeklärte säkulare Vernunftorientierung überwinden. Zumal auch<br />

Vernunft durch die Krise von Wissenschaft und Technik, aber zumindest die einseitige<br />

Zweckrationalität, diskreditiert scheint. Da bietet sich eine Lebensform an, die spirituellen<br />

Bedürfnissen so entgegenkommt, dass Selbstbest<strong>im</strong>mung und religiöses Empfinden ohne<br />

Widerspruch verbunden werden können.<br />

Der auf westliche Bedürfnisse und unsere Mentalität hin zurechtgelegte Buddhismus besticht<br />

durch Toleranz, die allerdings auch einer gewissen Denkfaulheit entgegenkommen<br />

kann, sowie durch strenge Gerechtigkeit seines Karma-Gedankens, der wiederum dem gehe<strong>im</strong>en<br />

Neid entgegenkommt, - anders als die Rechtfertigung aus Gnade jedenfalls, die voraussetzt,<br />

dass man sich etwas schenken lassen können muss. Der Gedanke der Wiedergeburt<br />

wird oft so ausgelegt, dass man noch ein Mehr an Leben erhält – allerdings völlig gegen<br />

die Intention dieses Gedankens <strong>im</strong> Buddhismus! Die Möglichkeit, aus der Endlichkeit auszubrechen,<br />

kann positiv aufgenommen werden und den Verlust der Hoffnung auf versöhntes<br />

ewiges Leben ersetzen. In unserer verplanten, durchrationalisierten Welt weckt der Buddhismus<br />

den Sinn für die kontemplativen, zweckfreien D<strong>im</strong>ensionen des Lebens – zumal mit<br />

einer Spiritualität der Absichtslosigkeit. Diese Spiritualität n<strong>im</strong>mt auch den Körper als Medium<br />

ernst. Mit konkreten Psycho-Techniken wer-den effizient persönlich nachprüfbare Erfahrungen<br />

erschlossen, die den Buddhismus - undogmatisch - bestätigen. Es gibt Platz für neue<br />

Riten und spirituelle Disziplin, die in unserer Tradition ausgehöhlt, als Leerformeln erscheinen.<br />

Im Ganzen erscheint östliche Spiritualität also erholsam einfach und friedlich. Sie bietet<br />

offenbar an, was die gestressten Zeitgenossen brauchen. Die Alternative, auf den Gekreuzigten<br />

zu schauen, sein eigenes Kreuz auf sich zu nehmen und die Nachfolge anzutreten, die<br />

politischen Konsequenzen zu ziehen und nicht in Maria, sondern in Marta ein reifes Christentum<br />

zu sehen – das erscheint alles andere als zeitgeistkonform.<br />

Vergleicht man Religionen, übrigens unter Inanspruchnahme der Vernunft – wie sonst? -,<br />

dann zeigt sich die Stärke der Vernunft. Doch wird sie deshalb schon dem Glauben gerecht?<br />

Es hängt davon ab, von welcher Vernunft und von welchem Glauben die Rede ist. Begegnung<br />

führt <strong>im</strong>mer wieder zur Vertiefung des Selbstverständnisses, <strong>im</strong> interreligiösen Dialog wie<br />

be<strong>im</strong> Verhältnis von Glaube und Vernunft. Schon deshalb ist das Fragen und das Kopfzerbrechen<br />

be<strong>im</strong> Suchen nach Antworten aller Mühe wert – vernünftig betrachtet…<br />

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