Einführung in die Theorie und Methoden der ... - Userpage
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Sem<strong>in</strong>ar: Die Begutachtung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familiengerichtsbarkeit - SoSe 2005<br />
Leitung: Prof. R. Balloff<br />
<strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Methoden</strong> <strong>der</strong><br />
Beobachtungslehre<br />
Referat: 07. Juni 2005<br />
Die folgende Ausarbeitung stellt e<strong>in</strong>e schriftliche Ergänzung zu <strong>der</strong> Präsentation <strong>der</strong> Veranstaltung „E<strong>in</strong>-<br />
führung <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Methoden</strong> <strong>der</strong> Beobachtungslehre“ im Rahmen des Sem<strong>in</strong>ars „Die Begutach-<br />
tung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familiengerichtsbarkeit“ unter <strong>der</strong> Leitung von Herr Prof. Balloff vom 07. Juni 2005 dar.<br />
Die e<strong>in</strong>zelnen Beiträge <strong>der</strong> Autor<strong>in</strong>nen s<strong>in</strong>d gekennzeichnet <strong>in</strong>s Gesamtdokument e<strong>in</strong>gefügt worden.<br />
1. <strong>E<strong>in</strong>führung</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Theorie</strong> (Anja Ulrich)<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> Vorbereitung des hier zu besprechenden Themas war festzustellen, dass es e<strong>in</strong>e Vielzahl<br />
an Gr<strong>und</strong>lagenliteratur über <strong>Theorie</strong> <strong>und</strong> <strong>Methoden</strong> <strong>der</strong> Beobachtungslehre gibt. Wenn man <strong>die</strong>se zu Rate<br />
zieht, wird schnell deutlich, dass <strong>die</strong> verschiedenen AutorInnen sich über <strong>die</strong> verwendeten Begriffe nicht<br />
e<strong>in</strong>ig s<strong>in</strong>d. Hier soll <strong>der</strong> Leser<strong>in</strong>/ dem Leser e<strong>in</strong> möglichst praxisnaher theoretischer Überblick ermöglicht<br />
werden, ohne dass <strong>die</strong> unterschiedlich verwendeten Term<strong>in</strong>i <strong>in</strong> Bezug zu den jeweiligen Autoren gesetzt<br />
<strong>und</strong> diskutiert werden.<br />
E<strong>in</strong>ordnung <strong>in</strong>s Sem<strong>in</strong>arthema<br />
Die drei wesentlichen Bestandteile e<strong>in</strong>er psychologischen Begutachtung s<strong>in</strong>d das Gespräch o<strong>der</strong> Inter-<br />
view, <strong>die</strong> testpsychologische Untersuchung <strong>und</strong> <strong>die</strong> – darum soll hier gehen – Verhaltensbeobach-<br />
tung.<br />
Vorteile <strong>der</strong> Beobachtungsmethode<br />
Jedoch nicht nur <strong>in</strong> <strong>der</strong> Begutachtungssituation ist <strong>die</strong> Verhaltensbeobachtung von Bedeutung, son<strong>der</strong>n<br />
auch zur Gew<strong>in</strong>nung von Daten, wenn von verbalen Daten Verzerrungen zu erwarten s<strong>in</strong>d, zum Beispiel<br />
bezüglich des elterlichen Erziehungsverhaltens o<strong>der</strong> gar verbale Daten nicht erhoben werden können,<br />
weil etwa <strong>die</strong> Proband<strong>in</strong> wegen ihres jungen Alters noch nicht sprechen kann.<br />
© Silke Mrose (FU-Berl<strong>in</strong>), Kathr<strong>in</strong> Raubach (TU-Berl<strong>in</strong>), Anja Ulrich (TU-Berl<strong>in</strong>)<br />
Kontakt: anja.ulrich@gmx.de<br />
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Sem<strong>in</strong>ar: Die Begutachtung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familiengerichtsbarkeit - SoSe 2005<br />
Leitung: Prof. R. Balloff<br />
Zur Erk<strong>und</strong>ung von neuem, unerforschtem Terra<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d Beobachtungsdaten von Vorteil wie auch für den<br />
Fall, dass ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>en Untersuchungsverfahren vorhanden s<strong>in</strong>d.<br />
Planung e<strong>in</strong>er Beobachtungsuntersuchung<br />
Vor <strong>der</strong> Durchführung e<strong>in</strong>er wissenschaftlichen Beobachtung müssen mehrere Fragen geklärt werden<br />
(Bortz (2002) S.263f):<br />
Wer ist <strong>der</strong> Beobachter? Braucht <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>e bestimmte Ausbildung o<strong>der</strong> muss er tra<strong>in</strong>iert werden? Soll<br />
es e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> mehrere Beobachter geben? Welche Verzerrungsprozesse s<strong>in</strong>d beim Beobachtungsvor-<br />
gang zu erwarten? Aufmerksamkeit <strong>und</strong> Wahrnehmung können über e<strong>in</strong>en festgelegten Beobachtungs-<br />
zeitraum erheblich schwanken, ebenso kann e<strong>in</strong>e starke emotionale Beteiligung das Beobachterurteil<br />
bee<strong>in</strong>flussen.<br />
Was wird beobachtet? Welche Verhaltensweisen o<strong>der</strong> welches Beobachtungsobjekt soll beobachtet<br />
werden? Es müssen auch Überlegungen zur Variabilität, zu Häufigkeit, Dauer <strong>und</strong> Regelmäßigkeit ange-<br />
stellt werden.<br />
Hierzu zählen auch <strong>die</strong> organisatorischen Vorbereitungen, <strong>die</strong> zu treffen s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> Präzisierung des Unter-<br />
suchungsthemas <strong>und</strong> <strong>die</strong> Auswahl des Sett<strong>in</strong>gs, <strong>in</strong> dem beobachtet werden soll.<br />
Wann wird beobachtet? Diese Frage richtet sich an <strong>die</strong> zu wählenden Beobachtungszeitpunkte. Es sei-<br />
en hier drei Verfahren genannt:<br />
1. Zeit- Intervall- Beobachtung (time- <strong>in</strong>terval- sampl<strong>in</strong>g): Die Beobachtungsmethode wird durch<br />
e<strong>in</strong> Signal beendet <strong>und</strong> dann wird, also nach dem Beobachtungsvorgang, protokolliert, was beobachtet<br />
wurde.<br />
2. Zeit- Punkt- Beobachtung (time- po<strong>in</strong>t- sampl<strong>in</strong>g): Es erfolgt e<strong>in</strong> Signal <strong>und</strong> ab <strong>die</strong>sem Zeitpunkt<br />
wird alles beobachtet <strong>und</strong> zeitgleich protokolliert.<br />
3. Ereignis- Beobachtung (event- sampl<strong>in</strong>g): Vor <strong>der</strong> Untersuchung werden <strong>die</strong> zu beobachtenden<br />
Ereignisse festgelegt <strong>und</strong> nur <strong>die</strong>se werden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beobachtungssituation registriert.<br />
Wo wird beobachtet? Diese Frage bezieht sich auf den Ort <strong>der</strong> Beobachtung. So kann e<strong>in</strong>e Beobach-<br />
tung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Labor stattf<strong>in</strong>den o<strong>der</strong> im Feld, zum Beispiel <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Privatwohnung.<br />
Wie wird protokolliert? Auf <strong>die</strong>se Frage wird etwas weiter unten e<strong>in</strong>gegangen.<br />
Formen <strong>der</strong> Beobachtung<br />
In <strong>der</strong> Literatur werden hier unzählige Möglichkeiten benannt, wie man verschiedene Beobachtungsfor-<br />
men klassifizieren kann. Hier sollen <strong>die</strong> beiden Dimensionen (vgl. Bortz (2002) S.267f):<br />
offene vs. verdeckte Beobachtungssituation <strong>und</strong><br />
teilnehmen<strong>der</strong> vs. nicht teilnehmen<strong>der</strong> Beobachter<br />
unterschieden werden. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>teilung, <strong>die</strong> praktisch gut handhabbar ersche<strong>in</strong>t.<br />
In <strong>der</strong> offenen Beobachtungssituation wissen alle Beteiligten, dass e<strong>in</strong>e Beobachtung vorgenommen wird.<br />
Die Person des Beobachters ist für den o<strong>der</strong> <strong>die</strong> Beobachteten sichtbar. In <strong>der</strong> verdeckten Beobachtungs-<br />
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situation wissen <strong>die</strong> Beobachteten nicht, dass sie beobachtet werden o<strong>der</strong> können den Beobachter nicht<br />
wahrnehmen.<br />
Der teilnehmende Beobachter bee<strong>in</strong>flusst se<strong>in</strong>erseits durch se<strong>in</strong>e Anwesenheit <strong>die</strong> Beobachtung. Dies<br />
geschieht zum Beispiel beim Hausbesuch. Der nicht teilnehmende Beobachter bee<strong>in</strong>flusst das Gesche-<br />
hen nicht durch se<strong>in</strong>e mutwillige E<strong>in</strong>flussnahme.<br />
Die beiden Dimensionen lassen sich nun komb<strong>in</strong>ieren. Es gibt offene Beobachtungssituationen mit e<strong>in</strong>em<br />
teilnehmenden Beobachter (z.B. <strong>der</strong> Gutachter beim Hausbesuch) o<strong>der</strong> mit e<strong>in</strong>em nicht teilnehmenden<br />
Beobachter (z.B. <strong>der</strong> Fußballtra<strong>in</strong>er während des Spiels se<strong>in</strong>er Mannschaft). Verdeckte Beobachtungssi-<br />
tuationen können ebenfalls mit teilnehmenden Beobachtern stattf<strong>in</strong>den (z.B. <strong>in</strong>formelle Mitarbeiter des<br />
ehemaligen M<strong>in</strong>isteriums für Staatssicherheit <strong>der</strong> DDR) o<strong>der</strong> mit nicht teilnehmenden Beobachtern (z.B.<br />
das Beobachten durch e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>wegscheibe).<br />
Grad <strong>der</strong> Standardisierung<br />
Je nach Anfor<strong>der</strong>ung an das am Ende generierte Datenmaterial ist im Rahmen <strong>der</strong> Untersuchungspla-<br />
nung e<strong>in</strong>e Entscheidung im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> Standardisierung <strong>der</strong> Untersuchungssituation zu treffen (Vgl.<br />
Bortz (2002) S.270).<br />
Die freie Beobachtung ist nicht standardisiert. Sie ist nur zur Exploration geeignet. Wissenschaftlichen<br />
Auswertungs- <strong>und</strong> Beurteilungskriterien hält sie nicht stand.<br />
Die halbstandardisierte Beobachtung f<strong>in</strong>det vor allem <strong>in</strong> <strong>der</strong> teilnehmenden Beobachtung o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Feldforschung Anwendung. Mit ihr ist es möglich, anhand e<strong>in</strong>es flexiblen Kategoriensystems e<strong>in</strong>e wissen-<br />
schaftliche Beobachtung durchzuführen. Sie erlaubt während des Beobachtungsprozesses <strong>die</strong> Aufnahme<br />
von neuen Ideen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Umformulierung von Ausgangsfragen. Dies macht sie zu e<strong>in</strong>em vielseitigen In-<br />
strument.<br />
Die standardisierte Beobachtung stellt <strong>die</strong> höchsten Anfor<strong>der</strong>ungen an Beobachter, Untersuchungspla-<br />
nung <strong>und</strong> Auswertung. Das hierfür gewählte Kategoriensystem muss differenziert <strong>und</strong> sehr präzise se<strong>in</strong>.<br />
In <strong>der</strong> Regel nehmen an <strong>die</strong>ser Art Untersuchung mehrere Beobachter teil, <strong>die</strong> zuvor <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beobachtung<br />
tra<strong>in</strong>iert, mit dem Kategoriensystem <strong>und</strong> dem Umgang damit vertraut gemacht worden s<strong>in</strong>d. Die standar-<br />
disierte Beobachtungsuntersuchung f<strong>in</strong>det daher im Labor statt, um Störe<strong>in</strong>flüsse auszuschalten o<strong>der</strong><br />
wenigstens konstant zu halten. Diese Untersuchungen s<strong>in</strong>d im Idealfall von hoher Güte. Die Ergebnisse<br />
können repliziert werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Auswertung erfolgt nach objektiv nachvollziehbaren Kriterien. Sie ist <strong>die</strong><br />
e<strong>in</strong>zige Beobachtungsform, <strong>die</strong> Daten zur Hypothesenprüfung mit mathematisch- statistischen <strong>Methoden</strong><br />
gew<strong>in</strong>nt.<br />
Im Rahmen des Sem<strong>in</strong>arthemas lässt sich sagen, dass das Mittel <strong>der</strong> Wahl für den Hausbesuch <strong>die</strong> halb-<br />
standardisierte Beobachtung ist. Zum e<strong>in</strong>en ist e<strong>in</strong>e hohe Standardisierung dort gar nicht möglich. We<strong>der</strong><br />
werden dort mehrere speziell tra<strong>in</strong>ierte Beobachter nach e<strong>in</strong>em vorher präzise entworfenen Kategorien-<br />
system simultan mit <strong>der</strong> Beobachtung Verhalten registrieren, noch lassen sich Störgrößen konstant hal-<br />
ten. Zum an<strong>der</strong>en wird <strong>die</strong>ses starre Kategoriensystem dem Untersuchungsgegenstand nicht gerecht. Es<br />
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muss beim Hausbesuch auch beim Untersucher e<strong>in</strong>e Anpassung an <strong>die</strong> Beobachtungssituation <strong>und</strong> an<br />
situative Beson<strong>der</strong>heiten gewährleistet se<strong>in</strong>.<br />
Das Kategoriensystem<br />
Die Erstellung e<strong>in</strong>es für <strong>die</strong> Beobachtungsuntersuchung geeigneten Kategoriensystems kann deduktiv<br />
o<strong>der</strong> <strong>in</strong>duktiv erfolgen (Bortz (2002) S. 151).<br />
Für das deduktive o<strong>der</strong> auch theoriegeleitete Vorgehen ist es notwendig, dass bereits gesichertes Vorwis-<br />
sen <strong>in</strong> Form von <strong>Theorie</strong>n vorhanden ist. Mithilfe <strong>die</strong>ses Vorwissens können nun, angepasst an den Ge-<br />
genstand <strong>der</strong> Beobachtung, mehr o<strong>der</strong> weniger abstrakte Kategorien gebildet werden.<br />
Die <strong>in</strong>duktive Erstellung von Kategorien erfolgt sehr praxisnah durch vorherige Beobachtungen. Die For-<br />
scher gehen <strong>in</strong>s Feld <strong>und</strong> tragen zusammen, was für e<strong>in</strong>en bestimmten Beobachtungsgegenstand rele-<br />
vant <strong>und</strong> beobachtbar ist <strong>und</strong> formulieren aus <strong>die</strong>sen Informationen e<strong>in</strong> Kategoriensystem.<br />
In <strong>der</strong> Praxis ist es üblich, beide Vorgehensweisen zu verknüpfen, so dass sie sich <strong>in</strong>haltlich ergänzen.<br />
Die Kategorien müssen, damit sie wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, bestimmten Anfor<strong>der</strong>ungen<br />
genügen (Vgl. Bortz (2002) S.139f).<br />
1. Kriterium <strong>der</strong> Genauigkeit: Die Def<strong>in</strong>ition <strong>der</strong> Kategorien muss exakt erfolgen. Aufgr<strong>und</strong> <strong>die</strong>ser<br />
Def<strong>in</strong>ition muss <strong>der</strong> Beobachter beurteilen können, zu welcher Kategorie e<strong>in</strong> Verhaltensmerkmal gehört, <strong>in</strong><br />
welcher qualitativen <strong>und</strong>/ o<strong>der</strong> quantitativen Ausprägung es anzutreffen <strong>und</strong> zu dokumentieren ist.<br />
2. Kriterium <strong>der</strong> Exklusivität: Die Kategorien müssen sich gegenseitig ausschließen. Es darf nicht<br />
vorkommen, dass e<strong>in</strong> Merkmal <strong>die</strong> Zugehörigkeit zu mehreren Kategorien erfüllt.<br />
3. Kriterium <strong>der</strong> Exhaustivität: Die Kategorien müssen das Merkmal erschöpfend beschreiben. Je-<br />
des zu e<strong>in</strong>er Beobachtungssituation gehörende Verhaltensmerkmal muss e<strong>in</strong>er Kategorie zuzuordnen<br />
se<strong>in</strong>. Um <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Verhaltensweisen zu genügen wird gelegentlich auf e<strong>in</strong>e Kategorie mit dem Na-<br />
men „Sonstige“ zurückgegriffen. Dort sammeln sich all <strong>die</strong> Merkmale, <strong>die</strong> durch den Beobachter nicht<br />
zuzuordnen gewesen s<strong>in</strong>d. Wissenschaftlich verwertbar ist <strong>die</strong>se Kategorie dann meist nicht.<br />
Die Protokollierung <strong>der</strong> Beobachtung<br />
Hier sollen drei Arten <strong>der</strong> Datenregistrierung besprochen werden (Rohmann & Elb<strong>in</strong>g (2002)).<br />
1. isomorphe Deskription: Hierbei wird das zu beobachtende Verhalten vollständig erfasst. Auf-<br />
gr<strong>und</strong> <strong>der</strong> Vielfalt menschlichen Verhaltens ist <strong>die</strong>s nur mit dem E<strong>in</strong>satz technischer Geräte (z.B. Video-<br />
aufnahme) möglich <strong>und</strong> ist dann noch sehr aufwendig.<br />
2. reduktive Deskription: Dies ist e<strong>in</strong> datenreduzierendes Verfahren. Unter Verwendung e<strong>in</strong>es<br />
Kategoriensystems wird nur e<strong>in</strong> vorher festgelegter Teil des Gesamtverhaltens erfasst.<br />
3. Rat<strong>in</strong>gverfahren: Das <strong>in</strong>teressierende Verhalten wird nachträglich <strong>in</strong> Qualität <strong>und</strong> Quantität auf<br />
e<strong>in</strong>er Rat<strong>in</strong>gskala e<strong>in</strong>geschätzt. Die Rat<strong>in</strong>gskala ist vergleichbar mit dem oben bereits angesprochenen<br />
Kategoriensystem. Durch <strong>die</strong> nachträgliche Bearbeitung ist das Rat<strong>in</strong>gverfahren jedoch sehr anfällig für<br />
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Verzerrungen. Allerd<strong>in</strong>gs irritiert es bei offener Beobachtung nicht <strong>die</strong> Beobachteten <strong>und</strong> auch <strong>der</strong> Unter-<br />
sucher kann sich ganz auf <strong>die</strong> Beobachtungssituation e<strong>in</strong>stellen ohne nebenbei protokollieren zu müssen.<br />
FAZIT:<br />
Beobachtungsverfahren s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong> wichtiges Instrument zur Datengew<strong>in</strong>nung.<br />
Die Gütekriterien von Beobachtungsuntersuchungen s<strong>in</strong>d abhängig vom Grad <strong>der</strong> Standardisierung. Die-<br />
ser wie<strong>der</strong>um hängt von den <strong>in</strong>haltlichen Anfor<strong>der</strong>ungen an <strong>die</strong> Untersuchung ab. Für den Hausbesuch ist<br />
<strong>die</strong> halbstandardisierte Beobachtung das Mittel <strong>der</strong> Wahl. Sie erlaubt den flexiblen Umgang mit <strong>der</strong> Be-<br />
obachtungssituation, aber gleichzeitig auch e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Auswertung <strong>der</strong> gewonnenen Daten.<br />
Für hypothesenprüfende Untersuchungen reicht e<strong>in</strong>e halbstandardisierte Beobachtung nicht aus. Hier ist<br />
e<strong>in</strong>e standardisierte Untersuchungssituation notwendig.<br />
2. Das Kategoriensystem am Beispiel (Kathr<strong>in</strong> Raubach)<br />
Begriffsklärung<br />
Zunächst e<strong>in</strong>mal gilt es zu klären, was beobachten im wissenschaftlichen S<strong>in</strong>n bedeutet.<br />
Beobachten kann als e<strong>in</strong> Prozess aufmerksamen Wahrnehmens <strong>und</strong> Registrierens von Ereignissen, Vor-<br />
gängen <strong>und</strong> konkreten Verhaltensweisen über <strong>die</strong> S<strong>in</strong>ne sehen <strong>und</strong> hören def<strong>in</strong>iert werden.<br />
Die erste Aufgabe <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Prozess ist es, festzulegen, was beobachtet werden soll. Dies wird auch als<br />
„das Festlegen <strong>der</strong> Beobachtungse<strong>in</strong>heiten“ bezeichnet (FISSENI, 1997, S. 187). Dafür bieten sich zwei<br />
Zugänge an:<br />
1. <strong>der</strong> deduktive Weg<br />
2. <strong>der</strong> <strong>in</strong>duktive Weg.<br />
Beim deduktiven Vorgehen leitet man <strong>die</strong> Abgrenzungen von e<strong>in</strong>em schon vorliegenden theoretischen<br />
Konzept ab.<br />
Geht man <strong>in</strong>duktiv vor, sammelt man zunächst erst <strong>die</strong> Verhaltensweisen, von denen man glaubt, dass sie<br />
relevant für <strong>die</strong> zu beobachtende E<strong>in</strong>heit s<strong>in</strong>d. Später versucht man <strong>die</strong>se <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e <strong>Theorie</strong> e<strong>in</strong>zubetten.<br />
Beide Zugänge schließen sich nicht aus, sie können sich sogar vorteilhaft ergänzen.<br />
Vorgehensweise<br />
Nun ist sicher was beobachtet werden soll, aber noch nicht wie im e<strong>in</strong>zelnen vorzugehen ist.<br />
Dies kann- wie <strong>in</strong> jedem diagnostischen Prozess- laut BUNGARD (1980, nach FISSENI, S. 188) nur aus<br />
<strong>der</strong> konkreten Aufgabenstellung abgeleitet werden.<br />
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Dazu gibt es e<strong>in</strong>ige Kriterien, denen e<strong>in</strong> Kategoriensystem unterliegt. Man kann es auch als Hilfe zur Ab-<br />
grenzung <strong>der</strong> Beobachtungse<strong>in</strong>heiten verstehen:<br />
1. E<strong>in</strong>deutigkeit- Die E<strong>in</strong>heiten müssen e<strong>in</strong>deutig vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong> abgegrenzt se<strong>in</strong>.<br />
2. Unterscheidung von natürlichen <strong>und</strong> künstlichen Verhaltense<strong>in</strong>heiten- Erstere nennt MURRAY<br />
(1938, nach Fisseni, 1997, S. 189) Episoden, THOMAE (1968, nach FISSENI, S. 189) spricht<br />
von Handlungen. Sie lassen e<strong>in</strong>en Anfang <strong>und</strong> e<strong>in</strong> Ende erkennen <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d von bestimmter<br />
Dauer. Letztere zeigen sich unter von außen festgelegten Bed<strong>in</strong>gungen, wie z. B. bei e<strong>in</strong>em<br />
Experiment.<br />
3. Relevanz- Es gilt, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> konkrete Aufgabenstellung bedeutsamen Verhaltensweisen her-<br />
auszufiltern <strong>und</strong> zu benennen. Was jeweils zentral- also relevant- <strong>und</strong> was eher nebensäch-<br />
lich ist, kann nur durch den Beobachter im E<strong>in</strong>zelfall entschieden werden.<br />
4. Konkret am Anfang, abstrakt zum Ende- Am Anfang sollten zunächst nur konkrete Beschrei-<br />
bungen des Verhaltens stehen, erst gegen Ende sollten Schlussfolgerungen <strong>und</strong> Bewertun-<br />
gen des gezeigten Verhaltens erfolgen.<br />
5. Kategorienbreite- Schmale Kategorien eignen sich eher für <strong>die</strong> Erfassung konkreter Verhal-<br />
tensweisen, breite Kategorien lassen ganze Verhaltenssequenzen bzw. abstraktere Eigen-<br />
schaften ( z. B. Mutter- K<strong>in</strong>d- Interaktion) zu.<br />
6. Disjunktion- Hier geht es darum, Kategorien zu def<strong>in</strong>ieren, <strong>die</strong> möglichst wenig bis gar nicht<br />
red<strong>und</strong>ant s<strong>in</strong>d. So wird es auch möglich, Verhaltensweisen e<strong>in</strong>deutig <strong>und</strong> unabhängig von-<br />
e<strong>in</strong>an<strong>der</strong> zuzuordnen. Aber solche trennscharfen Kategorien stehen erst am Ende e<strong>in</strong>er Un-<br />
tersuchung.<br />
7. Vollständigkeit- Es soll alles Verhalten, das für <strong>die</strong> Fragestellung relevant ist, erfassbar se<strong>in</strong>.<br />
Dazu ist e<strong>in</strong> umfassendes <strong>und</strong> vollständiges Kategoriensystem notwendig. Begrenzung <strong>der</strong><br />
Vollständigkeit ist auch hier wie<strong>der</strong> <strong>die</strong> konkrete, vom Beobachter festgelegte Fragestellung.<br />
Im Rahmen des Begutachtungsprozesses <strong>in</strong> <strong>der</strong> Familiengerichtsbarkeit geht es oft um <strong>die</strong> Frage <strong>der</strong><br />
K<strong>in</strong>deswohlgefährdung.<br />
Als Gutachter geht man nicht zu e<strong>in</strong>em Hausbesuch wie zu e<strong>in</strong>em Kaffeetr<strong>in</strong>ken mit Fre<strong>und</strong>en, son<strong>der</strong>n<br />
man hat schon e<strong>in</strong> grobes Kategoriensystem im Kopf. Dieses Kategoriensystem s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> K<strong>in</strong>deswohlkrite-<br />
rien. Sie unterteilen sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> elternzentrierten <strong>und</strong> <strong>die</strong> k<strong>in</strong>dzentrierten Kriterien (nähere Informationen <strong>in</strong><br />
BALLOFF, 2004, S.65f).<br />
K<strong>in</strong>deswohl<br />
An <strong>die</strong>ser Stelle folgt e<strong>in</strong> kurzer Exkurs zum Begriff K<strong>in</strong>deswohl. Wissenschaftstheoretisch ist <strong>der</strong> Begriff<br />
„K<strong>in</strong>deswohl“ laut DETTENBORN (2001, S. 45 ff, nach BALLOFF) e<strong>in</strong>e ,,def<strong>in</strong>itorische Katastrophe“<br />
(BALLOFF, 2004, S. 66). Daher schlägt DETTENBORN 2001 (S. 49, nach BALLOFF, S.67) unter dem<br />
familienrechtspsychologischen Aspekt folgendes vor:„ K<strong>in</strong>deswohl [ist] <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Persönlichkeitsentwick-<br />
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lung e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des o<strong>der</strong> Jugendlichen günstige Relation zwischen se<strong>in</strong>er Bedürfnislage <strong>und</strong> se<strong>in</strong>en Le-<br />
bensbed<strong>in</strong>gungen.“<br />
Zur Bedürfnislage könnte man das Bedürfniskonzept von BRAZELTON & GREENSPAN (2002, nach<br />
BALLOFF, S. 67) zu Rate ziehen. Danach hat das K<strong>in</strong>d sieben psychosoziale Gr<strong>und</strong>bedürfnisse, <strong>die</strong> <strong>der</strong><br />
Entwicklung se<strong>in</strong>er Persönlichkeit, se<strong>in</strong>er Identität <strong>und</strong> se<strong>in</strong>es Selbstvertrauens <strong>die</strong>nen (Abb.1).<br />
BEDÜRFNIS nach<br />
Abb. 1<br />
Zu den Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> DETTENBORN´schen Def<strong>in</strong>ition haben WESTHOFF & KLUCK 2003<br />
( S. 46f., nach BALLOFF, S. 66) sechs Merkmale vorgeschlagen.<br />
Liebe, Geborgenheit, Zuwendung, Unterstützung <strong>und</strong> beständiger<br />
Erziehung<br />
körperlicher Unversehrtheit <strong>und</strong> Sicherheit<br />
neuen <strong>und</strong> entwicklungsgerechten Erfahrungen<br />
Lob <strong>und</strong> Anerkennung<br />
Verantwortung <strong>und</strong> Selbständigkeit<br />
Übersicht <strong>und</strong> Zusammenhang, stabilen <strong>und</strong> unterstützenden Geme<strong>in</strong>schaften<br />
<strong>und</strong> e<strong>in</strong>er sicheren Zukunft<br />
Ich nenne sie <strong>die</strong> MEUKOS- Variablen, da sie so e<strong>in</strong>prägsamer s<strong>in</strong>d:<br />
Motivationale Variablen � Wille des K<strong>in</strong>des ( verbal, nichtverbal), Ziele/<br />
Hoffnungen/ Wünsche/Ängste/ Erwartungen <strong>der</strong> Beteiligten<br />
Emotionale Variablen � B<strong>in</strong>dungen des K<strong>in</strong>des, Art des Erlebens/ Verarbeitens<br />
emotionaler Belastungen <strong>und</strong> Umgang damit bei allen<br />
Beteiligten, Konflikterleben <strong>und</strong> – bewältigung<br />
Umgebungsvariablen � Wohnsituation, f<strong>in</strong>anzielle Verhältnisse<br />
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Kognitive Variablen � Problemlösefähigkeit <strong>der</strong> Eltern, soziale Kompetenz<br />
Organismusvariablen � ges<strong>und</strong>heitliche Bee<strong>in</strong>trächtigungen o<strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />
<strong>der</strong> Beteiligten, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e beson<strong>der</strong>e Betreuung notwendig<br />
machen<br />
Soziale Variablen � E<strong>in</strong>stellungen zum K<strong>in</strong>d, für das K<strong>in</strong>d an<strong>der</strong>e wichtige<br />
Beziehungen/ B<strong>in</strong>dungen, Verhalten im Umgang mit<br />
an<strong>der</strong>en<br />
Diese beiden Konzepte könnten <strong>der</strong> Operationalisierung e<strong>in</strong>er günstigen Relation zwischen <strong>der</strong> Bedürf-<br />
nislage des K<strong>in</strong>des <strong>und</strong> den zukünftigen Lebensbed<strong>in</strong>gungen <strong>die</strong>nen <strong>und</strong> so den Begriff K<strong>in</strong>deswohl fass-<br />
barer machen.<br />
Generell s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> K<strong>in</strong>deswohlkriterien noch sehr abstrakt <strong>und</strong> lassen sich <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne nicht beobachten.<br />
Daher müssen wir sie <strong>in</strong> etwas fassbares, beobachtbares umwandeln.<br />
Die o.g. Konzepte können dabei helfen.<br />
In <strong>der</strong> Begutachtungssituation wird es zunächst auch so se<strong>in</strong>, dass erst viele konkrete Verhaltensweisen<br />
im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> K<strong>in</strong>deswohlkriterien zu beobachten s<strong>in</strong>d- sowohl <strong>in</strong> positiv zu bewerten<strong>der</strong> als auch negativ<br />
zu bewerten<strong>der</strong> Richtung. Da man 3-4 Hausbesuche macht, ergibt sich e<strong>in</strong> immer geschlosseneres Bild.<br />
Hierbei wurden -da wir ke<strong>in</strong>e genormten, standardisierten Situationen haben- nach dem Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Of-<br />
fenheit Kategorien h<strong>in</strong>zugenommen, herausgenommen o<strong>der</strong> zusammengefasst.<br />
E<strong>in</strong>fluss- <strong>und</strong> Verzerrungstendenzen<br />
Im Rahmen <strong>der</strong> Beobachtung von Verhalten erfassen wir Informationen, <strong>die</strong> durch allgeme<strong>in</strong>e <strong>und</strong> auch<br />
spezielle E<strong>in</strong>flüsse <strong>und</strong> Verzerrungstendenzen bee<strong>in</strong>trächtigt se<strong>in</strong> können.<br />
Allgeme<strong>in</strong>e Beobachtungs- bzw. Beurteilungsfehler können folgende se<strong>in</strong> (Abb. 2):<br />
Der Halo- Effekt, bei dem e<strong>in</strong>e zentrale Eigenschaft den E<strong>in</strong>druck bestimmt. E<strong>in</strong> berühmtes Beispiel dafür<br />
s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> ASCH – Experimente, bei denen zwei Versuchsgruppen jeweils e<strong>in</strong>e Adjektivliste zur Beschrei-<br />
bung e<strong>in</strong>er Person vorgelegt wurde. In je<strong>der</strong> <strong>der</strong> beiden Listen wurde nur e<strong>in</strong>e zentrale Eigenschaft verän-<br />
<strong>der</strong>t- warm <strong>und</strong> kühl. Je nachdem welche Eigenschaft <strong>in</strong> <strong>der</strong> Liste stand, wurde <strong>die</strong> Person als entwe<strong>der</strong><br />
sympathisch o<strong>der</strong> unsympathisch empf<strong>und</strong>en.<br />
E<strong>in</strong> weiterer E<strong>in</strong>fluss ist <strong>der</strong> Positionseffekt. Abhängig davon, wann <strong>die</strong> Information gegeben wird- zuerst<br />
o<strong>der</strong> zuletzt- bildet sich <strong>der</strong> Beobachter e<strong>in</strong> bestimmtes Urteil. D.h. also, dass <strong>der</strong> erste E<strong>in</strong>druck o<strong>der</strong><br />
auch <strong>der</strong> letzte das Urteil prägen können.<br />
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Die zentrale Tendenz bezeichnet den Hang zu neutralen Urteilen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Vermeidung von extremen. Sie<br />
zeigt sich sehr schön <strong>in</strong> Rat<strong>in</strong>gskalen, bei denen immer nur <strong>der</strong> mittlere Wert angekreuzt wird. Der Hang<br />
zu neutralen Urteilen lässt sich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen auch durch <strong>die</strong> Art <strong>der</strong> Skala stark bee<strong>in</strong>flussen: z. B. 3 2 1 0 1 2<br />
3 o<strong>der</strong> 1 2 3 4 5 6 7- bei ersterer kann man viel leichter e<strong>in</strong> neutrales Urteil abgeben als bei letzterer.<br />
E<strong>in</strong> an<strong>der</strong>er Beobachtungsfehler ist <strong>der</strong> Milde- /Strengefehler. Er kann sich auf zwei Arten zeigen:<br />
1. werden generell günstige (Milde) bzw. ungünstige (Strenge) Urteile vergeben [generosity].<br />
2. werden sympathische Menschen günstiger (Milde) bzw. ungünstiger (Strenge) beurteilt als un-<br />
sympathische [leniency].<br />
Der Kontrast- bzw. Ähnlichkeitsfehler ist e<strong>in</strong>e Verzerrung <strong>in</strong> folgen<strong>der</strong> Form: man entdeckt beim ande-<br />
ren Eigenschaften, <strong>die</strong> man sich selbst abspricht (Kontrast) o<strong>der</strong> Eigenschaften, <strong>die</strong> man selbst me<strong>in</strong>t zu<br />
haben ( Ähnlichkeit).<br />
Der Erwartungseffekt ist unter dem Begriff „selffulfill<strong>in</strong>g prophecy“ bekannt. Hier leitet e<strong>in</strong>e ungeprüfte<br />
Hypothese <strong>die</strong> Schlussfolgerungen. E<strong>in</strong> typisches Beispiel s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Stereotype, <strong>die</strong> wir alle auch durch<br />
Erfahrungen gemacht haben <strong>und</strong> <strong>in</strong> ähnlichen, passenden Situationen- meist unbewusst- anwenden.<br />
Abb. 2<br />
HALO- Effekt<br />
Erwartungsfehler<br />
Kontrast-/ Ähnlichkeitsfehler<br />
E<strong>in</strong>gangs erwähnte ich, dass neben den allgeme<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>flüssen auf <strong>die</strong> Beurteilung von Informationen<br />
auch noch speziell <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verhaltensbeobachtung Verzerrungen auftreten können (Abb.3).<br />
E<strong>in</strong> erster Fehler kann se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> eigene Differenzierungsfähigkeit zu überfor<strong>der</strong>n. Dies kann bei zu vielen<br />
zu beobachtenden Objekten bzw. Kategorien <strong>der</strong> Fall se<strong>in</strong>. Menschen haben nur e<strong>in</strong>e begrenzte Kapazi-<br />
tät, <strong>die</strong> es gilt e<strong>in</strong>zuplanen.<br />
allgeme<strong>in</strong>e<br />
Beobachtungsfehler<br />
E<strong>in</strong> zweiter Fehler ist womöglich, dass <strong>die</strong> Kategorien zu unscharf def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d. Damit ist e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige<br />
Zuordnung nicht mehr möglich <strong>und</strong> bietet so zuviel Freiraum für Interpretationen.<br />
E<strong>in</strong> weiterer Fehler kann dar<strong>in</strong> liegen, dass <strong>der</strong> Beobachter unvertraut ist mit den festgelegten Beobach-<br />
tungse<strong>in</strong>heiten- also dem, was beobachtet werden soll- o<strong>der</strong> auch mit den teilnehmenden Personen.<br />
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Positionseffekt<br />
zentrale Tendenz<br />
Milde-/ Strengefehler<br />
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E<strong>in</strong> letzter bei FISSENI (S. 202) zu f<strong>in</strong>den<strong>der</strong> Fehler ist es, <strong>in</strong> den Untersuchungsablauf e<strong>in</strong>zugreifen. Der<br />
Beobachter hält sich nicht an <strong>die</strong> festgelegten Regeln.<br />
Wie lassen sich nun <strong>die</strong>se systematischen Fehler vermeiden?<br />
HASEMANN (1983, S. 471, nach FISSENI, S.202) legt e<strong>in</strong>e „ sorgfältige Schulung <strong>der</strong> Beurteiler“ nahe.<br />
E<strong>in</strong>e weitere Methode, <strong>die</strong> auch zur Schulung <strong>die</strong>nen kann, ist <strong>die</strong> mechanische Fixierung auf Tonband<br />
o<strong>der</strong> Video, wobei letzterer <strong>die</strong> Präferenz zuzuweisen ist.<br />
Abb.3<br />
Differenzierungsfähigkeit<br />
überfor<strong>der</strong>n<br />
<strong>in</strong> Untersuchungsablauf<br />
e<strong>in</strong>greifen<br />
3. Interaktionsbeobachtung <strong>in</strong> <strong>der</strong> familiengerichtlichen Begutachtung (Silke Mrose)<br />
E<strong>in</strong>leitung<br />
spezielle Beobachtungsfehler<br />
Neben dem Gespräch <strong>und</strong> <strong>der</strong> testpsychologischen Diagnostik stellt <strong>die</strong> Verhaltensbeobachtung <strong>die</strong> dritte<br />
wesentliche Erfassungsmethode im Gutachtenverfahren dar. Allerd<strong>in</strong>gs geschieht <strong>die</strong> Verhaltensbe-<br />
obachtung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Praxis nicht immer theoriegeleitet, son<strong>der</strong>n oft auch beiläufig <strong>in</strong> zufälligen Sett<strong>in</strong>gs (un-<br />
systematisch). Zum Beispiel wenn im Gespräch das Verhalten implizit (Mimik, Sprache, Körperhaltung,<br />
Verhaltensreaktionen) erfasst wird. Die freie Verhaltensbeobachtung f<strong>in</strong>det bei Hausbesuchen <strong>und</strong> allen<br />
an<strong>der</strong>en Begegnungen während <strong>der</strong> Begutachtung statt <strong>und</strong> <strong>die</strong>nt <strong>der</strong> Orientierung des Sachverständigen.<br />
An<strong>der</strong>nfalls wird e<strong>in</strong> Beobachtungssett<strong>in</strong>g festgelegt, mit festen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen (systematisch) <strong>und</strong><br />
immer mit Wissen <strong>der</strong> Beteiligten! Die systematische Verhaltensbeobachtung ermöglicht Vergleichbarkeit<br />
zwischen mehreren Erwachsenen <strong>und</strong> dem K<strong>in</strong>d. Die Auswertung erfolgt nach festgelegten Kriterien, f<strong>in</strong>-<br />
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unscharf def<strong>in</strong>ieren<br />
unvertraut mit<br />
Beobachtungse<strong>in</strong>heiten<br />
Teilnehmenden<br />
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det <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er def<strong>in</strong>ierten Situation statt. Sie kann teilnehmend o<strong>der</strong> nichtteilnehmend erfolgen, o<strong>der</strong> z.B.<br />
während e<strong>in</strong>er Mahlzeit o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>er Konfliktlösesituation halbstrukturiert se<strong>in</strong>. Zudem existieren verschie-<br />
dene Verhaltenssett<strong>in</strong>gs für spezielle Fragestellungen (z.B. Fremde-Situationstest für <strong>die</strong> Diagnostik<br />
<strong>der</strong> B<strong>in</strong>dung, Mutter-K<strong>in</strong>d-Beobachtung nach Tausch), <strong>die</strong> im E<strong>in</strong>zelfall zum E<strong>in</strong>satz kommen. Die Aus-<br />
wahl <strong>der</strong> jeweiligen Methode erfolgt durch den SV, <strong>die</strong>ser muss den E<strong>in</strong>satz begründen <strong>und</strong> <strong>die</strong> gewonnen<br />
Daten <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Interpretation nachvollziehbar darstellen.<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich gilt es bei <strong>der</strong> Verhaltensbeobachtung zu bedenken, dass <strong>die</strong> Interaktion durch <strong>die</strong> Anwe-<br />
senheit e<strong>in</strong>es Dritten bee<strong>in</strong>flusst wird. Dabei bedeutet e<strong>in</strong>e misslungene Interaktion nicht unbed<strong>in</strong>gt,<br />
dass sie auch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vergangenheit misslang! Im Gegenzug wäre es aber ungewöhnlich, wenn e<strong>in</strong>e ver-<br />
traute Geme<strong>in</strong>samkeit zwischen den Interaktionspartnern hergestellt werden konnte, wenn das <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Alltagssituation nie vorhanden war!<br />
Was wird beobachtet?<br />
Bei e<strong>in</strong>er Beobachtung unter Bezugnahme auf <strong>die</strong> K<strong>in</strong>deswohlkriterien soll unter an<strong>der</strong>em <strong>die</strong> Erziehungs-<br />
kompetenz <strong>der</strong> Eltern beurteilt werden. Auf <strong>der</strong> Verhaltensebene könnte sich <strong>die</strong>se beispielsweise <strong>in</strong> den<br />
folgenden positiven Faktoren für <strong>die</strong> Erziehung zeigen:<br />
• Herstellung von positiven emotionalen Beziehungen, zeigt sich <strong>in</strong> verbalen Äußerungen <strong>der</strong><br />
Wertschätzung <strong>und</strong> des Verstehens.<br />
• Zuwendung zeigt sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tendenz, positive Gefühlsäußerungen entsprechend zu beant-<br />
worten („reziproke Affekte“).<br />
• Wertschätzung des K<strong>in</strong>des zeigt sich <strong>in</strong> Verhaltensmerkmalen <strong>der</strong> Eltern, wie Geduld, Hilfe,<br />
Höflichkeit, Lob, Ermutigung, Empathie, Vermeiden von Lieblosigkeit, Grobheit, Unernst usw.<br />
Die zu den elternzentrierten K<strong>in</strong>deswohlkriterien gehörende affektive <strong>und</strong> kognitive För<strong>der</strong>kompetenz<br />
zeigt sich unter an<strong>der</strong>em <strong>in</strong> <strong>der</strong> Angemessenheit elterlichen Verhaltens <strong>und</strong> <strong>der</strong> Reaktionsweise <strong>der</strong> K<strong>in</strong>-<br />
<strong>der</strong> darauf. Die K<strong>in</strong>dorientierung <strong>der</strong> Eltern ist z.B. am Gesprächsstil <strong>der</strong> Eltern operationalisierbar:<br />
• Bereitschaft <strong>der</strong> Eltern, auf Probleme des K<strong>in</strong>des e<strong>in</strong>zugehen <strong>und</strong> das Gespräch lösungso-<br />
rientiert zu gestalten.<br />
• Austausch, <strong>der</strong> von Fröhlichkeit <strong>und</strong> Geme<strong>in</strong>samkeit gekennzeichnet ist.<br />
• Altersangemessene, klar <strong>und</strong> deutliche verbale Äußerungen <strong>und</strong> E<strong>in</strong>stellungen <strong>der</strong> Eltern<br />
dem K<strong>in</strong>d gegenüber.<br />
Mögliche Bewertungsskalen für <strong>die</strong> Eltern-K<strong>in</strong>d-Interaktionsbeobachtung können z.B. K<strong>in</strong>dorientiert-<br />
heit, Geme<strong>in</strong>samkeit, Klarheit, Übernahme <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dperspektive, Entwicklungsangemessenheit, Gefühle<br />
erkennen etc. umfassen.<br />
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Der Untersuchungsort<br />
An welchem Ort <strong>die</strong> Beobachtung stattf<strong>in</strong>den soll, wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fachwelt kontrovers diskutiert. Zum e<strong>in</strong>en<br />
wird empfohlen <strong>die</strong> Anhörung von jüngeren K<strong>in</strong><strong>der</strong>n (z.B. fünfjähriges K<strong>in</strong>d) <strong>in</strong> gewohnter häuslicher<br />
Umgebung durchzuführen. Dort sei <strong>die</strong> entspannteste Gesprächsatmosphäre möglich. Kritisiert wird dar-<br />
an aber auch <strong>die</strong> mangelnde Neutralität <strong>der</strong> häuslichen Umgebung.<br />
Für Jugendamtsberichte sollten Hausbesuche stattf<strong>in</strong>den, um <strong>die</strong> örtlichen Verhältnisse <strong>und</strong> das Umfeld<br />
zu prüfen. Verschiedentlich wird auch <strong>der</strong> Besuch an neutralen Orten, wie dem K<strong>in</strong><strong>der</strong>garten o<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
Schule empfohlen, trägt aber den familiären Konflikt unnötigerweise <strong>in</strong> <strong>die</strong> Allgeme<strong>in</strong>heit. Zudem ist <strong>die</strong><br />
Begutachtung e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>schneidendes persönliches Ereignis <strong>und</strong> fällt unter das Gebot <strong>der</strong> Schweigepflicht.<br />
Deshalb sollte <strong>die</strong> Tätigkeit des Sachverständigen nicht o<strong>der</strong> so wenig wie möglich unter den Augen <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit stattf<strong>in</strong>den.<br />
E<strong>in</strong>e neutrale Atmosphäre für <strong>die</strong> Untersuchung ist <strong>in</strong> den Praxisräumen des Gutachters gegeben.<br />
Hausbesuche müssen immer angekündigt werden! Die Notwendigkeit des Hausbesuches ist abhängig<br />
vom diagnostischen Vorgehen des SV <strong>und</strong> von <strong>der</strong> diagnostischen Notwendigkeit. Es gibt ke<strong>in</strong>e wissen-<br />
schaftliche Begründung für o<strong>der</strong> gegen den Hausbesuch. Der Sachverständige (SV) sollte sich fragen, ob<br />
es Hypothesen gibt, <strong>die</strong> anhand e<strong>in</strong>es Hausbesuches geklärt werden müssen.<br />
Notwendig ist e<strong>in</strong> Hausbesuch dann, wenn bezüglich <strong>der</strong> Wohnsituation Bedenken bestehen, z.B. bei<br />
Fragen im H<strong>in</strong>blick auf Verwahrlosung, Herausnahme des K<strong>in</strong>des, o<strong>der</strong> wenn Eltern nicht bereit o<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Lage s<strong>in</strong>d, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Praxisräume zukommen (K<strong>in</strong>desbetreuung, weite Anfahrtswege etc.). Allerd<strong>in</strong>gs<br />
muss bei weiten Anfahrtswegen wegen <strong>der</strong> steigenden Kosten <strong>der</strong> Familienrichter <strong>in</strong>formiert werden.<br />
Die Qualität <strong>der</strong> Wohnung ist ke<strong>in</strong>e orig<strong>in</strong>är psychologische Frage, sie sollte vom Jugendamt beant-<br />
wortet werden. H<strong>in</strong>gegen <strong>die</strong> Anregungsqualität <strong>der</strong> Wohnung, <strong>die</strong> Umgebung, <strong>die</strong> Nähe zur Schule,<br />
Spielmöglichkeiten etc. s<strong>in</strong>d <strong>der</strong> psychologischen Bewertung zugänglich.<br />
Beispiel: Interaktionsbeobachtung als Hilfsmittel für <strong>die</strong> Beurteilung <strong>der</strong> Eltern-K<strong>in</strong>d-Beziehung bei<br />
strittigem Sorgerecht (s. Remschmidt, 1984)<br />
Der Sachverständige (SV) im Sorgerechtsgutachten soll Aussagen zur B<strong>in</strong>dung des K<strong>in</strong>des an beide El-<br />
ternteile <strong>und</strong> zur Qualität <strong>der</strong> Eltern-K<strong>in</strong>d-Beziehung machen. Aufschlüsse über <strong>die</strong> Qualität <strong>der</strong> Eltern-<br />
K<strong>in</strong>d-Beziehung o<strong>der</strong> über <strong>die</strong> B<strong>in</strong>dung des K<strong>in</strong>des an den e<strong>in</strong>en o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Elternteil können gestützt<br />
werden durch den E<strong>in</strong>satz von Verhaltensbeobachtungen <strong>der</strong> Mutter-K<strong>in</strong>d- <strong>und</strong> <strong>der</strong> Vater-K<strong>in</strong>d-<br />
Interaktion vor allem bei K<strong>in</strong><strong>der</strong>n im Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>d- <strong>und</strong> Vorschulalter (zusätzlich zur Exploration <strong>und</strong> psycho-<br />
diagnostischen Untersuchung).<br />
Kriterien für <strong>die</strong> Beurteilung <strong>und</strong> E<strong>in</strong>ordnung <strong>der</strong> Beobachtungsdaten<br />
Ausgehend von Untersuchungen über Zusammenhänge zwischen <strong>der</strong> Art <strong>und</strong> Qualität <strong>der</strong> Eltern-K<strong>in</strong>d-<br />
Interaktion auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite <strong>und</strong> Merkmalen ihrer Beziehung <strong>und</strong> <strong>der</strong> psychosozialen Entwicklung von<br />
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K<strong>in</strong><strong>der</strong>n auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite können Kriterien für <strong>die</strong> Beurteilung <strong>und</strong> E<strong>in</strong>ordnung <strong>der</strong> Beobachtungsda-<br />
ten aufgestellt werden (Interaktionsmerkmale):<br />
Eltern:<br />
K<strong>in</strong>d:<br />
• Responsivität <strong>und</strong> emotionale Wärme des Elternteils vs. Direktivismus <strong>und</strong> Indifferenz<br />
• Anregung <strong>und</strong> Ermutigung zur Selbstständigkeit durch den Elternteil vs. Lenkung <strong>und</strong> Be-<br />
stimmung des K<strong>in</strong>des<br />
• Umwelt<strong>in</strong>teresse des K<strong>in</strong>des vs. Rückzug <strong>und</strong> Isolierung<br />
• Kontakt<strong>in</strong>itiative des K<strong>in</strong>des vs. Des<strong>in</strong>teresse <strong>und</strong> Aufdr<strong>in</strong>glichkeit<br />
Zwei Formen <strong>der</strong> Interaktionsbeobachtung<br />
Es besteht das Dilemma zwischen <strong>der</strong> Quantifizierung kle<strong>in</strong>ster Beobachtungse<strong>in</strong>heiten <strong>und</strong> <strong>der</strong> Relevanz<br />
<strong>der</strong> Aussage zu komplexen Beziehungsphänomenen. Deshalb sollen zwei Formen <strong>der</strong> Interaktionsbe-<br />
obachtung am Beispiel e<strong>in</strong>er Spielsituation vorgestellt werden:<br />
• Unsystematisches ganzheitliches Vorgehen: Formen <strong>der</strong> verbalen <strong>und</strong> nonverbalen<br />
Interaktion sowie Handlungsablauf (Spielablauf) bezüglich Inhalt <strong>und</strong> Dynamik werden<br />
beobachtet <strong>und</strong> <strong>in</strong>terpretiert, auch während des Gespräches mit den Erwachsenen. (s.<br />
dazu das Beispiel im Remschmidt, 1984)<br />
• Systematische Quantifizierung von Interaktionsformen anhand vorgegebener Kate-<br />
Untersuchungssituation:<br />
goriensysteme, <strong>die</strong> auf Verhaltensebene def<strong>in</strong>iert werden (richten sich nach Entwick-<br />
lungsstand <strong>und</strong> Ausdrucksmöglichkeiten des K<strong>in</strong>des).<br />
• Getrennte Sitzungen mit Vater-K<strong>in</strong>d <strong>und</strong> Mutter-K<strong>in</strong>d<br />
• Spielraum mit Spielmaterial (Puppenhaus, Bauste<strong>in</strong>e)<br />
• Auffor<strong>der</strong>ung: Können mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> spielen<br />
• Beobachter sitzt <strong>in</strong> Ecke des Raumes, protokolliert das Geschehen bzw. Videoaufnahme durch<br />
E<strong>in</strong>wegscheibe<br />
Zu <strong>der</strong> quantitativ orientierten Auswertung gehören geschulte Beobachter, e<strong>in</strong>e Festgelegte Dauer <strong>der</strong><br />
Beobachtungssituation sowie e<strong>in</strong> Kategoriensystem. Für das vorliegende Beispiel (Remschmidt, 1984)<br />
wurden sechs, auf Verhaltensebene formulierte Kategorien, verwendet:<br />
1. Spontane Kontaktaufnahme (z.B. Blickkontakt, Auffor<strong>der</strong>ung, Zuwendung, Zugehen)<br />
2. Annahme e<strong>in</strong>es Kontaktangebotes (z.B. nimmt Spielzeug an)<br />
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Fazit<br />
3. Kooperation (befolgt e<strong>in</strong>e Auffor<strong>der</strong>ung)<br />
4. Aufnahme von Körperkontakt<br />
5. Ablehnung e<strong>in</strong>es Kontaktangebotes (Abwenden, Nichtreagieren, „Ne<strong>in</strong>“)<br />
6. Sprachliche Zuwendung<br />
Die Verhaltensbeobachtung br<strong>in</strong>gt auch Probleme mit sich, zum Beispiel mangelhafte Objektivität, Halo-<br />
o<strong>der</strong> Hofeffekt <strong>und</strong> Auswertungs- <strong>und</strong> Interpretationsfehler. Zudem spiegeln sich Persönlichkeitstheorien<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Auswertung des SV. Weiterh<strong>in</strong> erfor<strong>der</strong>t <strong>die</strong> quantitative Form e<strong>in</strong>en hohen zeitlichen Aufwand,<br />
dafür ist <strong>die</strong> Beobachtung aber wie<strong>der</strong>holbar (Reliabilität) <strong>und</strong> e<strong>in</strong>deutiger (Validität).<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich wird <strong>die</strong> Objektivität <strong>der</strong> Verhaltensbeobachtung umso größer, je konkreter <strong>die</strong> zu be-<br />
obachtenden Verhaltensweisen s<strong>in</strong>d <strong>und</strong> je weniger Beurteilungen vom Auswerter vorgenommen werden<br />
müssen. Die Schlussfolgerung von Häufigkeiten auf <strong>in</strong>haltliche Zusammenhänge wird h<strong>in</strong>gegen weniger<br />
objektiv, je verhaltensnäher <strong>und</strong> beobachtbarer <strong>die</strong> Merkmale def<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d.<br />
Dennoch ist <strong>die</strong> Verhaltensbeobachtung trotz <strong>der</strong> E<strong>in</strong>schränkungen e<strong>in</strong>e geeignete Methode, dort wo kei-<br />
ne an<strong>der</strong>en validen Testverfahren zur Verfügung stehen. Aussagekräftig werden <strong>die</strong> Beobachtungsergeb-<br />
nisse jedoch erst durch <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>bettung <strong>in</strong> den psychodiagnostischen Gesamtbef<strong>und</strong>.<br />
Literatur:<br />
. Balloff, Ra<strong>in</strong>er (2004) K<strong>in</strong><strong>der</strong> vor dem Familiengericht. München: Re<strong>in</strong>hardt<br />
. Bortz, J. & Dör<strong>in</strong>g, N. (2002). Forschungsmethoden <strong>und</strong> Evaluation. Berl<strong>in</strong>: Spr<strong>in</strong>ger<br />
. Feger, H. (1994). Planung <strong>und</strong> Bewertung von wissenschaftlichen Beobachtungen. In<br />
C.F.Graumann (Hrsg.)., Enzyklopä<strong>die</strong> <strong>der</strong> Psychologie: Themenbereich B, Serie I, Bd. 2 (S. 1- 65)<br />
Gött<strong>in</strong>gen: Hogrefe<br />
. Fisseni, Hermann- Josef. (1997). Lehrbuch <strong>der</strong> psychologischen Diagnostik. 2. überarbeitete Aufla-<br />
ge, 7. Kapitel: Verhaltensbeobachtung. Gött<strong>in</strong>gen: Hogrefe<br />
. Flick, U. (2002). Qualitative Sozialforschung - e<strong>in</strong>e <strong>E<strong>in</strong>führung</strong>. Frankfurt: Rowohlt<br />
. Hackenberg, W., Krause, M. & Schlack, H.G. (1984) Systematische Interaktionsbeobachtung als<br />
Hilfsmittel für <strong>die</strong> Beurteilung <strong>der</strong> Eltern- K<strong>in</strong>d- Beziehung bei strittigem Sorgenrecht. In. H.<br />
Remschmidt (Hrsg.) K<strong>in</strong><strong>der</strong>psychiatrie <strong>und</strong> Familienrecht (S.101-105). Stuttgart: Enke<br />
. Salzgeber, J. (2001). Familienpsychologische Gutachten. München: C.H. Beck<br />
. Rohmann, U. & Elb<strong>in</strong>g, U. (2002). Selbstverletzendes Verhalten. Überlegungen, Fragen <strong>und</strong> Ant-<br />
worten. Dortm<strong>und</strong>: Borgmann Verlag<br />
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