MS-Bro 2005_Kern - Evangelisches Diakoniewerk Gallneukirchen
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Suche nach dem „roten Faden“ ihrer Lebensgeschichte – einen anderen Menschen<br />
brauchen, der mit ihnen die Geschichten entwickelt, ordnet, zum Abschluss<br />
bringt, wieder neu öffnet und auf die tragende Geschichte Gottes hinweist.<br />
Entscheidend ist die Einstellung des Seelsorgers zu seinem Gegenüber.<br />
Wer sich auf Lebensgeschichten einlässt, muss offen sein für Begegnung mit<br />
dem Reichtum, aber auch mit der Last der Biographie. Das wichtigste Mittel in<br />
der Gesprächsführung ist eine beziehungsstiftende und beziehungsfördernde<br />
Grundhaltung. Es bildet sich eine „Erzählgemeinschaft“, die vom Geben und<br />
Nehmen geprägt ist. Wer in einer biographisch orientierten Seelsorge mit alten<br />
Menschen tätig ist, muss die Bereitschaft aufbringen, den Umgang mit der eigenen<br />
Lebensgeschichte zu reflektieren.<br />
Außerdem ist eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlich normierten und<br />
biographisch geformten Vorstellungen von alten Menschen notwendig, um die<br />
Offenheit und Wechselseitigkeit des Gesprächs nicht zu behindern.<br />
Folgende Ziele sind wichtig:<br />
Die autobiographische Kompetenz stärken<br />
Zunächst soll der Seelsorger die Barrieren gegenüber dem Erzählen abbauen.<br />
Den Vorurteilen „Meine Geschichte interessiert niemanden“, „wer hat schon<br />
Zeit zum Zuhören“, „der andere lebt in einer anderen Zeit“ ist entgegenzutreten.<br />
Wenn der Einstieg in eine Erzählung schwerfällt, sind öffnende Fragen hilfreich,<br />
damit der ältere Mensch einen Anfang findet. Motivierend wirkt häufig der<br />
Hinweis, dass in den Geschichten des Lebens verborgene Schätze liegen, die für<br />
die nachfolgenden Generationen entdeckt werden können. Wenn die autobiographische<br />
Kompetenz gestärkt wird, wächst das Selbstwertgefühl.<br />
Lebensgeschichte revitalisieren<br />
Biographisches Arbeiten soll auch zur Revitalisierung von Geschichten führen, in<br />
denen die Hintergrundgeschichte neue Kraft gewinnt, um neue Geschichten zu<br />
entwickeln. Die Erkenntnis „Es war gut so“ befreit von dem Zwang, sich ständig<br />
neu produzieren zu müssen oder das Vergangene nur als Vergängliches zu betrachten.<br />
Lebensgeschichte rekonstruieren<br />
Wer biographisch arbeitet, kann das Alter nicht von vornherein als Störfall festlegen.<br />
In der Rekonstruktion von Lebensgeschichte leistet die Seelsorge einen<br />
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Beitrag zum ganzheitlichen Verständnis älterer Menschen. Die Fixierung des<br />
Menschen auf dessen Grenzsituationen ist eine Untugend.<br />
Dietrich Bonhoeffer schreibt: „Ich möchte von Gott nicht an den Grenzen,<br />
sondern in der Mitte, nicht an den Schwächen, sondern in der Kraft, nicht<br />
also bei Tod und Schuld, sondern im Leben und im Guten des Menschen<br />
sprechen.“<br />
Ein wichtiges Element der Rekonstruktion ist die Zeitperspektive, das bewusste<br />
Bezogensein auf Zukünftiges und Vergangenes. Handeln, Gefühle und moralisches<br />
Verhalten hängen von der Zeitperspektive ab. Die Vergangenheit ist deshalb<br />
nie etwas endgültig Abgeschlossenes, genaussowenig wie die Zukunft<br />
ein ganz offenes als reine Möglichkeit ist. Zwar lassen sich Ereignisse der Vergangenheit<br />
in ihrer Faktizität nicht mehr rückgängig machen, aber die sich aus<br />
diesen Ereignissen entwickelnde Wirkungsgeschichte. Die Einstellung zu dem<br />
Vergangenen kann sich wandeln. Damit ist es möglich auf die Folgen des Vergangenen<br />
Einfluss zu nehmen.<br />
Lebensgeschichte integrieren<br />
Wer sich auf die Lebensgeschichte eines anderen einlässt, wird auch mit den<br />
Brüchen, Widersprüchen und dem Scheitern von Geschichten konfrontiert. Spannungen<br />
werden durch konkurrierende Geschichten erzeugt, Unversöhnlichkeit<br />
legt sich über das Leben, man zerbricht am ungelebten Leben.<br />
Wie viele Frauen hätten gerne in der Nachkriegszeit einen Beruf erlernt?<br />
Wie viel mussten auf eine beglückende Partnerschaft verzichten? Welche<br />
Auswirkungen hat der nicht in Erfüllung gegangene Kinderwunsch? Gescheiterte<br />
Berufspläne, verwirkte Partnerbeziehungen, Verlusterfahrungen<br />
sind als ungelebtes Leben im gegenwärtigen Erleben wirksam.<br />
Deshalb ist die Integration auch dieser Geschichten in das Gesamte der Lebensgeschichte<br />
eine wichtige Aufgabe der Seelsorge. Die übergreifende Geschichte<br />
Gottes nimmt die unvollendeten Geschichten des Menschen auf. Mit Gott soll<br />
das Vergangene aufgesucht werden. Bei alledem braucht man ein Gegenüber,<br />
um zu einer versöhnten Lebensgeschichte zu kommen.<br />
Das heißt doch wohl, „dass nichts Vergangenes verloren ist, dass Gott mit<br />
uns unsere Vergangenheit, die zu uns gehört, wieder aufsucht. Wenn also<br />
die Sehnsucht nach einem Vergangenen uns überfällt, … dann können wir<br />
wissen, dass es nur eine der vielen Stunden ist, die Gott für uns immer bereit<br />
hält und dann sollen wir wohl nicht auf eigene Faust, sondern mit Gott<br />
das Vergangene wieder aufsuchen. (Bonhoeffer)“<br />
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