23.10.2013 Aufrufe

Gnade oder Belastung - fraulich Online

Gnade oder Belastung - fraulich Online

Gnade oder Belastung - fraulich Online

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

16<br />

Nie im<br />

Ruhestand<br />

Altersarmut in<br />

Deutschland hat ein<br />

weibliches Gesicht<br />

Text: Stefanie Neumann · Foto rechts: © Rolf van Melis/Pixelio<br />

Sie ist eine echte Perle: Wo sie geputzt hat, kann<br />

man nachher vom Boden essen. Zuverlässig ist sie<br />

obendrein. Denn sie braucht das Geld. Weil die<br />

Rente bescheiden ist, verdient sie sich mit Putzen<br />

was hinzu. Gisi, eine alte Freundin der Familie,<br />

geht mittlerweile auf die 70 zu. Ihr Mann ist vor<br />

10 Jahren gestorben. Seitdem ist sie allein.<br />

Gisi hat immer hart gearbeitet, drei Kinder erzogen, ihren<br />

Mann liebevoll gepflegt. Sie hatten ein erfülltes gemeinsames<br />

Leben, einen netten Freundeskreis, fuhren gerne und<br />

oft in den Urlaub. Ab und zu wurde den Söhnen etwas<br />

zugesteckt und bei den Enkeln war man auch nicht kleinlich.<br />

Mit dem Tod kam nicht nur die Einsamkeit, sondern<br />

auch erhebliche finanzielle Einschränkungen. Die<br />

Witwenrente ist bescheiden: Sie kann ihre Miete bezahlen<br />

und hungern muss sie auch nicht. Aber viel mehr ist<br />

nicht drin. Der Sparclub? Den kann sie sich eigentlich<br />

nicht mehr leisten, denn ein gemütlicher Abend in der<br />

Stammkneipe mit einem kleinen Imbiss kostet sie mindestens<br />

15 Euro, die dann wieder woanders fehlen. Sie<br />

schämt sich dafür, dass es ihr schwer fällt, im gewohnten<br />

Umfeld finanziell mithalten zu können. Deshalb geht Gisi<br />

putzen. Sie bessert ihre nicht gerade üppige Witwenrente<br />

durch harte, körperliche Arbeit auf, weil sie ihren<br />

Lebensstandard einigermaßen halten möchte. Weil sie<br />

dazu gehören, ihre sozialen Kontakte auch weiter leben<br />

möchte. Sich einladen zu lassen, dazu ist sie zu stolz.Von<br />

einem echten Ruhestand kann sie nur träumen. Sie wird<br />

putzen gehen, so lange es eben geht.<br />

Gisi ist kein Einzelfall. Immer mehr ältere Menschen<br />

haben kein Auskommen mehr mit dem Einkommen. Die<br />

Generation, die im Krieg <strong>oder</strong> kurz davor geboren wurde,<br />

ist heute die vergessene Generation. Den Lebensstandard,<br />

den sie sich in 50 Jahren erarbeitet und erkämpft haben,<br />

können viele, sind sie erst einmal verrentet, nicht mehrhalten.<br />

Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im<br />

Durchschnitt bekommen Witwen 560 Euro monatlich –<br />

und das auch nur, wenn der Verstorbene mindestens fünf<br />

Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt hat <strong>oder</strong> schon<br />

Ruheständler war (Quelle: General-Anzeiger online). Da<br />

kann man sich gut ausrechnen, was zum Leben nach<br />

Abzug von Fixkosten übrigbleibt. „Wenn wir nicht mehr<br />

arbeiten müssen, machen wir es uns schön.“ Wie verheißungsvoll<br />

das klingt. Endlich frei sein, unabhängig sein,<br />

raus aus der sich immer schneller drehenden Tretmühle<br />

jahrzehntelanger Erwerbstätigkeit. Den goldenen Herbst<br />

des Lebens genießen. Der wird heute ganz schnell zum<br />

grauen Einerlei, wenn das Geld so knapp ist, dass man froh<br />

ist, alle Rechnungen zahlen zu können. Da darf nichts<br />

Unvorhergesehenes passieren. Kein großes Elektrogerät<br />

den Dienst einstellen, keine Brille, kein Zahnersatz fällig<br />

werden. Die Raten für solche „Extravaganzen“ müssten<br />

dann auch noch irgendwo abgezwackt werden.<br />

Gisi hatte einen unerschütterlichen Glauben in unser<br />

Rentensystem. Zu Unrecht, wie sie heute bitter erkennen<br />

muss. War das abzusehen? Immer hieß es staatlicherseits:<br />

„Die Renten sind sicher!“ (Norbert Blüm, Bundesarbeitsminister,<br />

1986) Sicherheit ist wohl immer auch Auslegungssache.<br />

Heute sind die Renten mit Sicherheit in vielen<br />

Fällen zu niedrig. Anno Domini 2008 ist abzusehen:<br />

Wer heute nicht zusätzlich vorsorgt, den trifft es womöglich<br />

noch härter im Alter.<br />

Ich finde übrigens, dass Gisi keinen Grund hat, sich zu<br />

schämen. Im Gegenteil: Was sie geleistet hat und immer<br />

noch leistet, ist beachtlich. Traurig mit anzusehen ist es<br />

aber auch . . .

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!