Gnade oder Belastung - fraulich Online
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Nie im<br />
Ruhestand<br />
Altersarmut in<br />
Deutschland hat ein<br />
weibliches Gesicht<br />
Text: Stefanie Neumann · Foto rechts: © Rolf van Melis/Pixelio<br />
Sie ist eine echte Perle: Wo sie geputzt hat, kann<br />
man nachher vom Boden essen. Zuverlässig ist sie<br />
obendrein. Denn sie braucht das Geld. Weil die<br />
Rente bescheiden ist, verdient sie sich mit Putzen<br />
was hinzu. Gisi, eine alte Freundin der Familie,<br />
geht mittlerweile auf die 70 zu. Ihr Mann ist vor<br />
10 Jahren gestorben. Seitdem ist sie allein.<br />
Gisi hat immer hart gearbeitet, drei Kinder erzogen, ihren<br />
Mann liebevoll gepflegt. Sie hatten ein erfülltes gemeinsames<br />
Leben, einen netten Freundeskreis, fuhren gerne und<br />
oft in den Urlaub. Ab und zu wurde den Söhnen etwas<br />
zugesteckt und bei den Enkeln war man auch nicht kleinlich.<br />
Mit dem Tod kam nicht nur die Einsamkeit, sondern<br />
auch erhebliche finanzielle Einschränkungen. Die<br />
Witwenrente ist bescheiden: Sie kann ihre Miete bezahlen<br />
und hungern muss sie auch nicht. Aber viel mehr ist<br />
nicht drin. Der Sparclub? Den kann sie sich eigentlich<br />
nicht mehr leisten, denn ein gemütlicher Abend in der<br />
Stammkneipe mit einem kleinen Imbiss kostet sie mindestens<br />
15 Euro, die dann wieder woanders fehlen. Sie<br />
schämt sich dafür, dass es ihr schwer fällt, im gewohnten<br />
Umfeld finanziell mithalten zu können. Deshalb geht Gisi<br />
putzen. Sie bessert ihre nicht gerade üppige Witwenrente<br />
durch harte, körperliche Arbeit auf, weil sie ihren<br />
Lebensstandard einigermaßen halten möchte. Weil sie<br />
dazu gehören, ihre sozialen Kontakte auch weiter leben<br />
möchte. Sich einladen zu lassen, dazu ist sie zu stolz.Von<br />
einem echten Ruhestand kann sie nur träumen. Sie wird<br />
putzen gehen, so lange es eben geht.<br />
Gisi ist kein Einzelfall. Immer mehr ältere Menschen<br />
haben kein Auskommen mehr mit dem Einkommen. Die<br />
Generation, die im Krieg <strong>oder</strong> kurz davor geboren wurde,<br />
ist heute die vergessene Generation. Den Lebensstandard,<br />
den sie sich in 50 Jahren erarbeitet und erkämpft haben,<br />
können viele, sind sie erst einmal verrentet, nicht mehrhalten.<br />
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Im<br />
Durchschnitt bekommen Witwen 560 Euro monatlich –<br />
und das auch nur, wenn der Verstorbene mindestens fünf<br />
Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt hat <strong>oder</strong> schon<br />
Ruheständler war (Quelle: General-Anzeiger online). Da<br />
kann man sich gut ausrechnen, was zum Leben nach<br />
Abzug von Fixkosten übrigbleibt. „Wenn wir nicht mehr<br />
arbeiten müssen, machen wir es uns schön.“ Wie verheißungsvoll<br />
das klingt. Endlich frei sein, unabhängig sein,<br />
raus aus der sich immer schneller drehenden Tretmühle<br />
jahrzehntelanger Erwerbstätigkeit. Den goldenen Herbst<br />
des Lebens genießen. Der wird heute ganz schnell zum<br />
grauen Einerlei, wenn das Geld so knapp ist, dass man froh<br />
ist, alle Rechnungen zahlen zu können. Da darf nichts<br />
Unvorhergesehenes passieren. Kein großes Elektrogerät<br />
den Dienst einstellen, keine Brille, kein Zahnersatz fällig<br />
werden. Die Raten für solche „Extravaganzen“ müssten<br />
dann auch noch irgendwo abgezwackt werden.<br />
Gisi hatte einen unerschütterlichen Glauben in unser<br />
Rentensystem. Zu Unrecht, wie sie heute bitter erkennen<br />
muss. War das abzusehen? Immer hieß es staatlicherseits:<br />
„Die Renten sind sicher!“ (Norbert Blüm, Bundesarbeitsminister,<br />
1986) Sicherheit ist wohl immer auch Auslegungssache.<br />
Heute sind die Renten mit Sicherheit in vielen<br />
Fällen zu niedrig. Anno Domini 2008 ist abzusehen:<br />
Wer heute nicht zusätzlich vorsorgt, den trifft es womöglich<br />
noch härter im Alter.<br />
Ich finde übrigens, dass Gisi keinen Grund hat, sich zu<br />
schämen. Im Gegenteil: Was sie geleistet hat und immer<br />
noch leistet, ist beachtlich. Traurig mit anzusehen ist es<br />
aber auch . . .