the hunger c.indd - Wall of Hope
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Nach Maßgabe seiner Möglichkeiten<br />
Den Menschen kann man<br />
glaubwürdig verschiedenste<br />
Schlechtigkeiten unterstellen<br />
– und natürlich sich selbst<br />
auch. Der universale Verdacht<br />
funktioniert nach Nestroys<br />
Maxime: „Ich glaube von jedem<br />
Menschen das Schlechteste,<br />
selbst von mir, und ich<br />
habe mich selten geirrt.“ Wer<br />
so denkt, ist garantiert kein<br />
„Gutmensch“.<br />
Aber zum Realismus gehört<br />
doch auch, dass man mit<br />
guten Gründen zumindest<br />
h<strong>of</strong>fen darf, dass niemand<br />
seinen Nachbarn ver<strong>hunger</strong>n<br />
lässt. Dass dies schon<br />
<strong>of</strong>t passiert ist, beweist gar<br />
nichts, und zwar nicht bloß,<br />
weil man es als Ausnahmefall<br />
einstufen kann.<br />
Moral ist „kontrafaktisch“, das<br />
heißt, selbst wenn sich kein<br />
Mensch daran hält (und sich<br />
auch niemals einer daran<br />
gehalten hat), gelten die<br />
moralischen Regeln. Aber<br />
ich glaube, beim Nicht-<br />
Ver<strong>hunger</strong>n-Lassen geht es<br />
um nichts Kontrafaktisches,<br />
sondern um etwas Kreatürliches:<br />
Der, der zu essen<br />
hat, erträgt den Anblick des<br />
Hungernden nicht.<br />
Unerträglicher Anblick<br />
Es gibt unter anderem diesen<br />
einen Witz von der menschlichen<br />
Grausamkeit: Über<br />
einen armseligen Bittsteller<br />
sagt der Bankier zum Diener:<br />
„Schmeiß ihn hinaus – ich<br />
ertrage seinen jämmerlichen<br />
Anblick nicht!“<br />
Für einen solchen Zynismus<br />
muss man schon sehr reich,<br />
also weit entfernt von den<br />
meisten Menschen sein.<br />
Vielleicht ungefähr so weit<br />
wie es die sogenannte „Erste“<br />
Welt von der sogenannten<br />
„Dritten“ ist.<br />
Wer nicht reisen kann (oder<br />
will) und daher die Unerträglichkeit<br />
des Hungers nicht<br />
zu Gesicht bekommt, muss<br />
leider politisch denken: Er<br />
muss sich über den abstrakten<br />
Vorgang des politischen<br />
Denkens vor Augen führen,<br />
dass in dieser Welt Menschen<br />
nicht nur <strong>hunger</strong>n, sondern<br />
auch ver<strong>hunger</strong>n. Darunter<br />
viele Kinder.<br />
Die Zeichnung wurde uns von<br />
Gerhard Haderer unentgeltlich<br />
zur Verfügung gestellt.<br />
Die Unbeschreiblichkeit<br />
dieses Skandals sollte<br />
jeden dazu bringen,<br />
wenigstens nach Maßgabe<br />
seiner Möglichkeiten den<br />
Hunger der Welt zu<br />
bekämpfen.<br />
Franz Schuh<br />
österreichischer<br />
Schriftsteller & Essayist<br />
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