PROGRAMM
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Donnerstag, 23. September 2004,<br />
15.00-18.00 Uhr<br />
Vorsitz und Einleitung: João PINHEIRO,<br />
Stellvertretender Vorsitzender der EVP-<br />
ED-Fraktion<br />
THEMA: Die Beziehungen zwischen der<br />
EU und der Türkei<br />
Auswirkungen der türkischen<br />
Mitgliedschaft für die EU von:<br />
Edgar LENSKI, Lehrbeauftragter,<br />
Humboldt-Universität, Berlin<br />
Die Türkei in Europa von:<br />
Alexandre DEL VALLE, Rechercheur,<br />
Frankreich<br />
Stellungnahmen von:<br />
Elmar BROK, Vorsitzender des<br />
Ausschusses für auswärtige<br />
Angelegenheiten<br />
José Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />
NEYRA, EVP-ED-Koordinator im<br />
Ausschuss für auswärtige<br />
Angelegenheiten<br />
Jacques TOUBON, erster<br />
stellvertretender Vorsitzender der Delegation<br />
im gemischten parlamentarischen<br />
Ausschuss EU-Türkei<br />
Diskussion<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
<strong>PROGRAMM</strong><br />
1<br />
Freitag, 24. September 2004, 09.00-<br />
12.30 Uhr<br />
Vorsitz: Hans-Gert PÖTTERING,<br />
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion<br />
THEMA: Menschen- und<br />
Minderheitenrechte in der Türkei<br />
Beiträge von:<br />
Yusuf ALATAS, stellvertretender<br />
Vorsitzender der Türkischen Vereinigung<br />
für Menschenrechte<br />
Gabriele JUEN, CFSP/External Relations<br />
- Amnesty International, Brüssel<br />
Elisabeth DÖRLER, Christlich-<br />
Muslimisches Forum, Experte zu<br />
religiösen Minderheiten in der Türkei<br />
Stellungnahmen von:<br />
Simon BUSUTTIL, Leiter der<br />
maltesischen Delegation der EVP-ED-<br />
Fraktion, Mitglied der Delegation für die<br />
Beziehungen zu den Mahgreb-Ländern<br />
und der Union des Arabischen Maghreb<br />
Armin LASCHET, EVP-ED-Obmann im<br />
Unterausschuss für Menschenrechte<br />
Camiel EURLINGS, Berichterstatter im<br />
Ausschuss für auswärtige<br />
Angelegenheiten zur Türkei<br />
Diskussion<br />
Abschließende Anmerkungen durch Hans-<br />
Gert PÖTTERING, Vorsitzender der<br />
EVP-ED-Fraktion
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
THEMA II: MENSCHEN- UND<br />
MINDERHEITENRECHTE IN DER<br />
TÜRKEI<br />
E. DÖRLER, Experte zu religiösen<br />
Minderheiten in der Türkei; G. JUEN, CFSP/<br />
External Relations;<br />
Y. ALATAS, stellvertretender Vorsitzender<br />
der Türkischen Vereinigung für<br />
Menschenrechte; H.-G. PÖTTERING,<br />
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion;<br />
P.FONTAINE,stellvertretender<br />
Generalsekretär; S. BUSUTTIL, Leiter der<br />
maltesischen Delegation der EVP-ED-Fraktion;<br />
A.LASCHET, EVP-ED-Obmann im<br />
Unterausschuss für Menschenrechte;<br />
C. EURLINGS, Berichterstatter im Ausschuss<br />
für auswärtige Angelegenheiten zur Türkei<br />
Der Vorsitzende der EVP-ED-Fraktion,<br />
Hans-Gert PÖTTERING, führt in das zweite<br />
Thema dieser Studientage ein, indem er die<br />
Mitglieder der EVP-ED-Fraktion über den<br />
Verlauf der Konferenz der Präsidenten<br />
informiert, an der am Vorabend der türkische<br />
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan<br />
teilgenommen habe.<br />
Bei diesem Treffen habe der<br />
Ministerpräsident keinen Zweifel daran<br />
gelassen, dass er sich die Eröffnung von<br />
Beitrittsverhandlungen wünsche und für Anfang<br />
Oktober grünes Licht seitens der Kommission<br />
erwarte.<br />
26<br />
Mit Hinweis auf die von ihm einberufene<br />
Sondersitzung des türkischen Parlaments für<br />
den kommenden Sonntag habe Recep Tayyip<br />
Erdogan eine schnelle Regelung des Problems<br />
im Zusammenhang mit der Reform des<br />
türkischen Strafgesetzbuches angekündigt.<br />
Im Mittelpunkt stehe dabei die Strafbarkeit<br />
von Ehebruch.<br />
Auf der Konferenz der Präsidenten habe sich<br />
Hans-Gert PÖTTERING als Vorsitzender der<br />
größten Fraktion im Europäischen Parlament<br />
gegen die Eröffnung von Verhandlungen<br />
ausgesprochen. Er halte den Zeitpunkt für<br />
verfrüht, insbesondere angesichts der Situation<br />
der Menschenrechte in der Türkei.<br />
Sollten die Verhandlungen dennoch eröffnet<br />
werden, müsste an deren Ende nicht<br />
zwangsläufig der Beitritt der Türkei stehen.<br />
Das Ergebnis der Verhandlungen könne auch<br />
eine privilegierte Partnerschaft sein.<br />
Vor dem Hintergrund der Aussprache zu<br />
Thema I dieser Studientage stellt der<br />
Vorsitzende Hans-Gert PÖTTERING<br />
diesbezüglich fest, dass sich bei den<br />
folgenden beiden, von ihm nochmals<br />
bekräftigten Punkten trotz einiger<br />
Meinungsverschiedenheiten unter den<br />
Fraktionsmitgliedern eine Mehrheitsmeinung<br />
abzuzeichnen beginne.<br />
- Der Zeitpunkt für die Eröffnung von<br />
Verhandlungen sei verfrüht, insbesondere<br />
aufgrund der noch mangelhaften Umsetzung<br />
der gesetzlichen Bestimmungen im Bereich des<br />
Schutzes der Menschenrechte;<br />
- Sollte die Entscheidung dennoch zugunsten<br />
der Eröffnung von Verhandlungen fallen, dürfe<br />
deren Ausgang nicht vorweggenommen<br />
werden. Am Ende der Verhandlungen könne die<br />
Empfehlung entweder zugunsten eines<br />
Beitritts der Türkei oder aber zugunsten einer<br />
privilegierten Partnerschaft ausfallen.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Für den 6. Oktober 2004 werde eine Mitteilung<br />
der Kommission erwartet, in der sie die<br />
Eröffnung von Verhandlungen empfehlen<br />
werde. Danach läge die Entscheidung bei den<br />
Staats- und Regierungschefs. Zum Zeitpunkt<br />
dieser Entscheidung werde die EVP zu einem<br />
Gipfel zusammenkommen, um über diese Frage<br />
zu beraten.<br />
Yusuf ALATAS, stellvertretender<br />
Vorsitzender der Türkischen Vereinigung für<br />
Menschenrechte<br />
Yusuf ALATAS, stellvertretender<br />
Vorsitzender der Türkischen Vereinigung für<br />
Menschenrechte, erinnert daran, dass die<br />
Türkei seit der Ankündigung ihrer Kandidatur<br />
für einen Betritt zur Europäischen Union<br />
bedeutende Reformen auf den Weg gebracht<br />
habe.<br />
Zu den positiven Entwicklungen zähle er die<br />
Verfassungsänderungen, bei denen die<br />
Todesstrafe abgeschafft worden sei. Ferner<br />
27<br />
sei das Rechtsstaatsprinzip eingeführt worden.<br />
Einige Gerichte, unter ihnen das<br />
Staatssicherheitsgericht, seien abgeschafft<br />
und der Vorrang internationaler<br />
Übereinkommen anerkannt worden. Letztere<br />
seien bezüglich ihrer Anwendung dem<br />
nationalen Recht gleichgestellt worden. Es sei<br />
nun sehr viel schwieriger geworden, politische<br />
Parteien aufzulösen. Verfassungsrechtliche<br />
Einschränkungen im Zusammenhang mit dem<br />
Gebrauch von Minderheitensprachen, wie dem<br />
Kurdischen, im öffentlichen Leben und in der<br />
Schule seien abgeschafft worden. Das<br />
Verfassungsgericht stütze seine Urteile nun<br />
auf die Rechtssprechung des Europäischen<br />
Gerichtshofs für Menschenrechte. Schließlich<br />
sei der Generalsekretär des Nationalen<br />
Sicherheitsrates nicht länger ein Angehöriger<br />
des Militärs, sondern erstmals ein Zivilist.<br />
Parallel zu diesen Verfassungsänderungen<br />
seien auch noch eine Vielzahl von Gesetzen und<br />
Gesetzbüchern grundlegend geändert worden.<br />
Zu nennen seien hier beispielsweise die<br />
Aufhebung und Verbesserung derjenigen<br />
Artikel, mit denen bislang die freie<br />
Meinungsäußerung eingeschränkt worden sei.<br />
Die Gesinnungsgefangenen seien freigelassen<br />
worden. Die Untersuchungshaft sei auf vier<br />
Tage verkürzt worden. Tatverdächtige hätten<br />
nun das Recht auf einen Anwalt. Auch im<br />
Bereich der rechtlichen Bestimmungen zur<br />
Niederlassungsfreiheit seien weitreichende<br />
Verbesserungen vorgenommen worden.<br />
Hinsichtlich des Gebrauchs der kurdischen<br />
Sprache und anderer Minderheitensprachen im<br />
öffentlichen Leben und in der Schule seien die<br />
gesetzlichen Einschränkungen aufgehoben<br />
worden.<br />
Das Strafmaß für Folter sei verschärft<br />
worden. Die Menschenrechtssituation stelle<br />
sich nun so dar, dass es eventuell möglich sein<br />
könnte, den Prozess von Leila Zana und anderer<br />
Gesinnungsgefangener wieder aufzunehmen.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Ein neues und liberaleres Strafgesetzbuch<br />
werde verfasst, das mit den europäischen<br />
Standards vergleichbar sei.<br />
Bedauerlicherweise sei die Annahme dieses<br />
Gesetzbuches aufgrund der Diskussion um den<br />
Ehebruch verschoben worden. Die Aussprache<br />
im Parlament werde jedoch fortgesetzt und<br />
der Textentwurf noch vor dem 6. November<br />
angenommen.<br />
Im Bereich des Minderheitenschutzes seien<br />
unter Beachtung der Kriterien von Kopenhagen<br />
eine ganze Reihe von positiven<br />
verfassungsrechtlichen Maßnahmen ergriffen<br />
worden.<br />
Einige Probleme bestünden jedoch fort.<br />
Verfassungsänderungen seien nicht<br />
ausreichend, um sämtliche Probleme zu lösen.<br />
Alle diese positiven Änderungen in Texten<br />
müssten im täglichen Leben der Bürger<br />
konkrete Gestalt annehmen.<br />
Yusuf ALATAS zählt die Bereiche auf, bei<br />
denen es noch Probleme in der Praxis gebe:<br />
Die Folter in der Türkei sei noch immer ein<br />
Thema, das Anlass zu Sorge gebe. Trotz der<br />
Reformen im Laufe der ersten Jahreshälfte<br />
2004 seien der türkischen<br />
Menschenrechtsvereinigung IHD 692 Fälle von<br />
Folter bekannt geworden. Diese 692 Fälle<br />
beträfen das gesamte Staatsgebiet der<br />
Türkei. Yusuf ALATAS zeigt auf einer Karte,<br />
wie die Fälle von Folter im Land verteilt sind.<br />
Selbstverständlich habe die Regierung eine<br />
„Null-Toleranz-Politik“ bei der Bekämpfung von<br />
Folter und Misshandlungen angekündigt. Yusuf<br />
ALATAS räumt jedoch ein, dass die Regierung,<br />
auch wenn sie nichts unternehme, was Folter<br />
und Misshandlungen unterstütze, bislang<br />
keinerlei Verwaltungsvorschriften erlassen<br />
habe, um sie aktiv zu verhindern. Kein einziger<br />
Gouverneur oder Sicherheitschef, dem Folter<br />
zur Last gelegt worden sei, habe zurücktreten<br />
müssen. In der Praxis würden diese<br />
28<br />
Beschuldigungen von den Justizbehörden nicht<br />
ernst genommen und nur sehr schleppend<br />
behandelt. Die Regierung müsse hier mehr<br />
Autorität zeigen und striktere<br />
Verwaltungsvorschriften für die Polizei und die<br />
Bediensteten der Behörden erlassen.<br />
Ein weiterer wichtiger Bereich seien die<br />
kulturellen Rechte. In der Türkei hätten<br />
Kurden und andere Minderheitengruppen<br />
Schwierigkeiten, ihre kulturellen Rechte<br />
auszuüben. Einige Maßnahmen seien<br />
abgeschafft, andere ergriffen worden. Das<br />
Staatsfernsehen strahle beispielsweise einmal<br />
pro Woche eine halbe Stunde lang ein<br />
Bildungsprogramm in kurdischer Sprache aus.<br />
Das könne man zwar belächeln, es handle sich<br />
hierbei jedoch um eine regelrechte Revolution<br />
in der Türkei. Selbstverständlich sei dies nicht<br />
ausreichend, aber die Tatsache, dass das<br />
Verbot aufgehoben worden sei, und sei es nur<br />
für eine halbe Stunde in der Woche, stelle<br />
einen gewaltigen Fortschritt dar.<br />
Es müssten noch mehr dieser kulturellen<br />
Rechte eingeräumt werden, und der Staat<br />
müsse ihre Wahrnehmung stärken und fördern.<br />
Auch wenn es in diesem Bereich keine exakten<br />
statistischen Angaben gebe, könne davon<br />
ausgegangen werden, dass in der Türkei<br />
zwischen 12 und 20 Millionen Kurden lebten,<br />
was einem Fünftel bzw. einem Viertel der<br />
türkischen Bevölkerung entspreche. Angesichts<br />
einer solchen Größenordnung könne das Problem<br />
nicht mit einigen kleinen Verbesserungen<br />
gelöst werden. In 15 Jahren erbitterten<br />
Kampfes – des Kampfes gegen den<br />
Terrorismus – seien viele Menschen getötet<br />
und 3 000 Dörfer geräumt worden. Heute<br />
seien 5 000 politische Gefangene in türkischen<br />
Gefängnissen inhaftiert. Die Regierung habe die<br />
Pflicht, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um<br />
für ihre Wiedereingliederung in die<br />
Gesellschaft zu sorgen. Dies geschehe jedoch<br />
nicht. Die notwendigen Voraussetzungen für<br />
eine Rückkehr dieser Menschen in ihre Dörfer
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
seien nicht geschaffen worden. Auch gebe es<br />
keine Entschädigungen für die bei<br />
terroristischen Angriffen erlittenen Schäden.<br />
Es würden keine nachhaltigen Maßnahmen<br />
ergriffen, um das Wiederaufflammen des<br />
bewaffneten Terrorismus zu verhindern.<br />
Es sei nicht möglich, dem Terror Einhalt zu<br />
gebieten, wenn Anschläge als singuläre<br />
Bluttaten angesehen würden. Der Terror habe<br />
Ursachen und wenn diese nicht mit friedlichen<br />
Mitteln beseitigt würden, führe dies zu einer<br />
weiteren Stärkung des Terrorismus.<br />
Die türkische Regierung müsse in diesem Punkt<br />
Erfolge erzielen. Das Kurdenproblem müsse<br />
durch ein umfangreiches Projekt für den<br />
sozialen Frieden gelöst werden. In einer<br />
Gesellschaft dürfe es keine Gruppen geben,<br />
die in einer dauerhaften Konfrontation leben.<br />
In einem demokratischen Land müsse eine<br />
demokratische Lösung für dieses Problem<br />
gefunden werden.<br />
Die Meinungsfreiheit werde zwar anerkannt,<br />
es gebe jedoch noch immer gravierende<br />
Einschränkungen.<br />
Auch das Recht auf Versammlungsfreiheit<br />
werde, abhängig von den jeweiligen<br />
Gouverneuren, von Region zu Region<br />
unterschiedlich gehandhabt.<br />
Durch die Beziehungen zwischen der Türkei<br />
und der Europäischen Union sei ein großes<br />
demokratisches Potential geschaffen und der<br />
Weg für einen umfassenden Reformprozess<br />
geebnet worden.<br />
In diesem Punkt zeigt sich Yusuf ALATAS<br />
enttäuscht über die Redner beim ersten Thema<br />
dieser Studientage, da sie kein Bild gezeichnet<br />
hätten, das der wirklichen Situation in der<br />
Türkei entspreche.<br />
29<br />
Selbstverständlich müsse die Türkei die<br />
Kriterien erfüllen, um der Europäischen Union<br />
beitreten zu können. Es könne jedoch nicht<br />
alles über Nacht geregelt werden. Man dürfe<br />
nicht vergessen, so Yusuf ALATAS, dass<br />
gerade die Kurden, Armenier und die<br />
griechischen Minderheiten am meisten von<br />
einem Beitritt zur Europäischen Union<br />
profitieren würden.<br />
Außer in der Europäischen Union sei die Türkei<br />
bereits Mitglied in allen europäischen<br />
Organisationen (NATO, OECD, Europarat ...).<br />
Zum Zeitpunkt der Aufnahme der Türkei in<br />
die jeweilige Organisation habe niemand die<br />
Frage gestellt, ob sie ein europäischer Staat<br />
sei oder nicht.<br />
Es könne sein, dass es Unterschiede gebe.<br />
Vielleicht befinde sich die Türkei nicht<br />
vollständig auf europäischem Boden, aber sie<br />
sei ein Teil Europas.<br />
Abschließend stellt Yusuf ALATAS fest, dass<br />
der Beitrittsprozess nicht unterbrochen<br />
werden dürfe, wenn man die Situation der<br />
Menschenrechte verbessern und die<br />
Demokratie in der Türkei stärken wolle.<br />
Gabriele JUEN, CFSP/External Relations -<br />
Amnesty International
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Gabriele JUEN erläutert, wie Amnesty International<br />
die Situation der Menschenrechte<br />
in der Türkei einschätzt.<br />
Sie erinnert daran, dass es sich Amnesty International<br />
zur Aufgabe gemacht habe, den<br />
Schutz der Menschenrechte in allen Ländern<br />
der Welt zu stärken; politische Entscheidungen<br />
zu treffen, sei nicht Sache von Amnesty International.<br />
Daher bestehe das Ziel von Amnesty<br />
International nicht darin, den Beitritt<br />
eines Landes zur Europäischen Union oder zu<br />
irgendeiner anderen internationalen<br />
Organisation zu blockieren oder zu<br />
befürworten.<br />
Angesichts der Vielzahl von<br />
Verfassungsänderungen und<br />
Gesetzesreformen, die zur Erfüllung der<br />
politischen Kriterien von Kopenhagen im Sinne<br />
des Menschenrechtsschutzes erfolgt seien,<br />
halte Amnesty International den Prozess zur<br />
Vorbereitung für den Beitritt jedoch für eine<br />
positive Phase für die Türkei und ihre Bürger.<br />
Wie überall in der Welt hätten auch die Bürger<br />
in der Türkei das Recht auf ein größtmögliches<br />
Maß an Schutz. Organisationen wie diejenige,<br />
die Yusuf Alatas repräsentiere, Intellektuelle<br />
und Studenten hätten sich dafür eingesetzt,<br />
die Situation der Menschenrechte in der<br />
Türkei zu verbessern. Die aktuelle Entwicklung<br />
der Türkei mit der Perspektive auf einen<br />
möglichen Beitritt basiere auf der langjährigen<br />
und großartigen Arbeit dieser<br />
Menschenrechtsaktivisten.<br />
Die türkische Regierung sei Verpflichtungen<br />
eingegangen, die weit über die schlichte<br />
Einhaltung des Acquis communautaire<br />
hinausgingen. Verglichen mit den bis heute<br />
begangenen groben<br />
Menschenrechtsverletzungen stellten die nun<br />
gegenüber den Bürgern gemachten<br />
Versprechungen eine Kehrtwende dar. Die<br />
30<br />
Umsetzung dieser Versprechungen in die<br />
Praxis ließe jedoch auf sich warten.<br />
Das im Februar 2004 Ministerpräsident<br />
Erdogan vorgelegte Memorandum von Amnesty<br />
International mit dem Titel „De la parole aux<br />
actes“ („Vom Papier in die Praxis“) habe die<br />
türkische Regierung darin bestärkt, gegen<br />
Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Dies<br />
sei und bleibe die absolute Priorität für Amnesty<br />
International.<br />
Gabriele JUEN gibt einen Überblick über<br />
diejenigen Punkte, bei denen es in der Türkei<br />
im Bereich der Menschenrechte weiterhin<br />
Anlass zur Sorge gebe. Eine Auflistung dieser<br />
Punkte, von denen sie hier nur einige referiere,<br />
sei in dem genannten Memorandum enthalten.<br />
Die Folter bleibe ein allgegenwärtiges und<br />
ernstes Problem in der Türkei. Mehrfach habe<br />
die Regierung deutlich gemacht, dass sie Folter<br />
nicht mehr tolerieren werde, aber es bedürfe<br />
noch weiterer Maßnahmen, damit diese Haltung<br />
auch in das Bewusstsein der Polizeibeamten,<br />
Staatsanwälte und Richter dringe.<br />
Die Türkei habe die Vorschriften für<br />
Verhaftungen und Strafvollzug verbessert.<br />
Insbesondere sei hier das Recht auf<br />
umgehende Kontaktaufnahme mit einem<br />
Rechtsbeistand zu nennen. Auf Worte müssten<br />
nun jedoch Taten folgen. In der Realität<br />
würden Anwälte allzu oft in ihrer Arbeit<br />
behindert. Es müsse ein System eingerichtet<br />
werden, um eine regelmäßige Kontrolle der<br />
Orte, an denen Personen festgehalten werden,<br />
durch unabhängige Kontrolleure zu<br />
ermöglichen. Auch Polizeidienststellen<br />
unterlägen keinerlei Kontrollen. Die meisten<br />
Hinweise auf Folter beträfen aber gerade die<br />
Polizeidienststellen. In vielen Fällen sähen sich<br />
gerade die jüngsten Polizisten mit niedrigem<br />
Dienstgrad Vorwürfen der Folter ausgesetzt,<br />
während Beamte mit höherem Dienstgrad nicht<br />
betroffen seien. Die Staatsanwälte müssten
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
mehr Rechte erhalten, um bei Fällen von Folter<br />
mit der größtmöglichen Konsequenz ermitteln<br />
zu können.<br />
Im Bereich der Verhaftungen seien<br />
Verbesserungen festzustellen, es gebe jedoch<br />
noch immer Fälle von offiziellen Verhaftungen,<br />
bei denen die Polizeibeamten dazu tendierten,<br />
ihre Macht zu missbrauchen. Im ersten<br />
Halbjahr 2004 habe es bei der Polizei Fälle<br />
von Missbrauch der Staatsgewalt gegen<br />
Studenten, Gewerkschafter, Vertreter der<br />
Linken und gegen Personen gegeben, die<br />
allgemein als „Oppositionelle“ bezeichnet<br />
würden. Die bei der Staatsanwaltschaft<br />
eingereichten Klagen mündeten selten in ein<br />
Verfahren, und in den Fällen, in denen es zu<br />
einem Verfahren käme, fielen die Strafen<br />
gering aus. Diejenigen Personen, die sich über<br />
eine schlechte Behandlung beschwert hätten,<br />
seien im Anschluss sogar oft von der Justiz<br />
wegen Teilnahme an nicht genehmigten<br />
Demonstrationen angeklagt worden. Amnesty<br />
International lägen auch Berichte über nicht<br />
offizielle Verhaftungen vor. Die betroffenen<br />
Personen seien in ein Auto gezerrt, Verhören<br />
unterzogen und dann im Einzelfall auch an<br />
inoffiziellen Orten eingesperrt worden.<br />
Über diese Praktiken existiere kein einziger<br />
offizieller Bericht, man könne jedoch<br />
inoffizielle Berichte erhalten, was auf<br />
Probleme in der Befehlskette der Polizei<br />
hinzuweisen scheine. Amnesty International sei<br />
der Ansicht, dass die ranghöchsten<br />
Polizeibeamten ihre Einheiten besser<br />
kontrollieren und die volle Verantwortung für<br />
jeden Machtmissbrauch ihrer Untergebenen<br />
übernehmen müssten.<br />
Bei inoffiziellen Verhaftungen stelle sich in den<br />
meisten Fällen die Frage der Straffreiheit:<br />
Diese Verhaftungen würden von<br />
Polizeibeamten vorgenommen, die oft zivile<br />
Fahrzeuge nutzten; in diesem Bereich liege<br />
offensichtlich die Absicht vor, die<br />
31<br />
Reformbemühungen zu sabotieren, indem eine<br />
Stimmung allgemeiner Angst erzeugt werde.<br />
Darüber hinaus hätten sich im Laufe des ersten<br />
Halbjahres 2004 die Belege für Behinderungen<br />
der freien Meinungsäußerung gehäuft.<br />
Zuweilen sei es sogar zu Inhaftierungen<br />
gekommen. Auf Grundlage alter Gesetze seien<br />
hohe Geldstrafen verhängt worden. Zu den<br />
Geschädigten hätten einige Zeitungen gezählt,<br />
die Artikel veröffentlicht hätten, in denen<br />
Meinungen geäußert worden seien, ohne zur<br />
Gewalt aufzurufen. Zu nennen seien<br />
beispielsweise auch Klagen gegen Vertreter<br />
von Menschrechtsvereinigungen, die Poster in<br />
kurdischer Sprache für die Feierlichkeiten in<br />
der Woche der Menschenrechte im Dezember<br />
2003 veröffentlicht hätten.<br />
Der Entwurf des neuen Strafgesetzbuchs, der<br />
heute dem türkischen Parlament vorgelegt<br />
werde, stelle eine Verbesserung des alten<br />
Strafgesetzbuchs dar, Amnesty International<br />
verfüge jedoch noch nicht über die vollständige<br />
Liste der 340 neuen Bestimmungen.<br />
Amnesty International sei beunruhigt<br />
angesichts der noch immer bestehenden<br />
Möglichkeit, dass die nationale Sicherheit als<br />
Vorwand für die Einschränkung der freien<br />
Meinungsäußerung genutzt werden könne. Das<br />
Wichtigste sei jedoch, zu beobachten, ob das<br />
künftige Strafgesetzbuch den Staatsanwälten<br />
ermöglichen werde, die Rede-, Meinungs- und<br />
Versammlungsfreiheit besser schützen zu<br />
können. Dieses neue Strafgesetzbuch solle<br />
auch das Recht auf gewaltfreie Äußerung<br />
abweichender Meinungen bei allen Fragen<br />
beinhalten. Dazu gehöre auch die gewaltfreie<br />
Kritik an Staatsbeamten, der Armee sowie der<br />
Regierung.<br />
Amnesty International richte die<br />
Aufmerksamkeit auch auf die Gewalt gegen<br />
Frauen in der Familie. Dieses Problem sei auch<br />
Thema der allgemeinen Kampagne zur
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. In einem<br />
im Juni veröffentlichten Bericht seien einige<br />
Beispiele von Frauen veröffentlicht worden,<br />
die geschlagen, vergewaltigt, getötet oder in<br />
den Selbstmord getrieben worden seien. Die<br />
Diskriminierung von Frauen in allen<br />
Lebensbereichen beginne bei der Geburt, wenn<br />
weibliche Babys verkauft würden, und setze<br />
sich fort, wenn sie als Jugendliche zur Heirat<br />
gezwungen würden. Die Zwangsverheiratung<br />
stelle jedoch eine Verletzung des heute<br />
existierenden türkischen Strafrechts sowie<br />
der internationalen Verträge dar. Das<br />
türkische Strafgesetzbuch werde jedoch in<br />
diesem Bereich ignoriert. Im Südosten und im<br />
Osten der Türkei würden 45 % der Frauen<br />
vor ihrer Heirat nicht nach ihrer Meinung<br />
gefragt, und 50 % der Frauen würden ohne<br />
ihre Zustimmung verheiratet. Die Frauen, die<br />
zur Heirat gezwungen würden, seien oft<br />
minderjährig. Den meisten Frauen, die sich der<br />
Wahl der Familie widersetzten, werde mit<br />
Gewalt gedroht; sie begäben sich damit in<br />
Lebensgefahr. Die Zweckheirat werde oft<br />
genutzt, um Verfahren wegen Vergewaltigung<br />
oder Gewaltanwendung zu vermeiden. Die<br />
Familien vergewisserten sich häufig nicht, ob<br />
ihre Töchter nach einem Verkauf nicht Opfer<br />
von Menschenhandel oder Prostitution würden.<br />
Der Südosten des Landes sei zwei Jahrzehnte<br />
lang von Konflikten geprägt gewesen, die zur<br />
Aufsplitterung von Gemeinschaften geführt<br />
hätten. Eine umfangreiche Immigration<br />
innerhalb des Agrarsektors habe zur<br />
Aufsplitterung ganzer Gemeinschaften<br />
geführt. Es handle sich hier um ein von<br />
institutionalisierter Gewalt geprägtes Umfeld:<br />
Die Gewalt und die Kriminalität gegen Frauen<br />
im Südosten, innerhalb und außerhalb der<br />
Familie, hätten sich im Stillen ereignet und<br />
wären nie bestraft worden. Die Gewalt gegen<br />
Frauen innerhalb der Familie sei jedoch nicht<br />
auf eine einzelne Region der Türkei<br />
beschränkt. Die Frauen erführen diese Gewalt<br />
im gesamten Land.<br />
32<br />
Die Freiheit der Frauen werde oft<br />
eingeschränkt, um Kontrolle über ihr<br />
Sexualleben zu haben. Gemäß eines<br />
sogenannten Ehrenkodex stelle die Frau mit<br />
ihrem Verhalten das Risiko einer Entehrung der<br />
Familie dar. Die Androhung von Tod oder Gewalt<br />
werde eingesetzt, um diesen Kodex<br />
durchzusetzen. Über Todesfälle werde häufig<br />
nicht berichtet, oder aber man stelle sie als<br />
Selbstmorde und nicht als Morde dar. Frauen<br />
würden auch dazu gezwungen oder dazu<br />
getrieben, Selbstmord zu begehen. Die<br />
Behörden stellten beim Tod von Frauen keine<br />
ernsthaften Untersuchungen an, wodurch jeder<br />
Versuch, die Situation in den Griff zu<br />
bekommen, sehr erschwert werde. Die Frauen,<br />
die in einer Gemeinschaft mit einem solchen<br />
Kodex lebten, hätten es sehr schwer, sich<br />
gegen die sexuelle Gewalt, deren Opfer sie<br />
seien, zur Wehr zu setzen. Wenn sie darüber<br />
sprächen, würden sie beschuldigt, private<br />
Angelegenheiten in die Öffentlichkeit zu<br />
tragen. Die Frauen selbst seien dann auf einmal<br />
die Schuldigen, und welche Beweise es auch<br />
immer für die Gewalt geben möge, es seien<br />
die Frauen, die angeklagt würden. Jene, die<br />
eine andere Ansicht verträten und die Frauen<br />
öffentlich verteidigten, würden schließlich auch<br />
von der Gesellschaft verurteilt. Der Begriff<br />
der „Ehre“ sei derart missbraucht worden,<br />
dass er zur Rechtfertigung jeder Art von<br />
Gewalt gegen Frauen verwendet werde.<br />
Frauen, die vergewaltigt worden seien, könnten<br />
bei sich zuhause eingesperrt, geächtet oder<br />
umgebracht werden.<br />
Die Türkei habe eine ganze Reihe von<br />
internationalen Verträgen ratifiziert, die sich<br />
mit dem Schutz der Rechte von Frauen<br />
befassen, darunter das Zusatzprotokoll des<br />
Übereinkommens zum Schutz der Rechte von<br />
Frauen. Dies sei ein beachtenswerter Schritt<br />
in die richtige Richtung, da Frauen nun das<br />
Recht hätten, sich an die Weltgemeinschaft zu<br />
wenden, um ihr Recht auf Selbstverteidigung<br />
geltend zu machen. Das internationale Recht
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
verpflichte jeden Staat, Frauen auch in ihrem<br />
Privatleben zu schützen und die<br />
Verantwortlichen solcher Gewalttaten zu<br />
verurteilen.<br />
Mit der Unterschrift unter dieses Protokoll<br />
habe die Türkei den Ausschuss für den Kampf<br />
gegen Diskriminierung von Frauen autorisiert,<br />
sich mit Individualklagen zu befassen. Der<br />
Austausch zwischen diesem Ausschuss, der für<br />
die Umsetzung des Protokolls zuständig sei,<br />
und den entsprechenden türkischen Behörden<br />
habe den von der Frauenbewegung in der<br />
Türkei seit langem angestrengten Bemühungen,<br />
die Gesetzgebung dahingehend zu<br />
beeinflussen, dass Frauen vor Gewalt in der<br />
Familie geschützt würden, neuen Schwung<br />
verliehen. Ganz in diesem Sinne sei 1998 in der<br />
Türkei das Gesetz für den Schutz der Familie<br />
verabschiedet worden. Aber nach wie vor<br />
bestünden gravierende Lücken. Nach Ansicht<br />
von Amnesty International werde dieses<br />
Gesetz schlicht und ergreifend nicht<br />
angewendet.<br />
Die Debatte darüber, Ehebruch wieder unter<br />
Strafe zu stellen, habe einen Schatten auf die<br />
wichtigen und positiven Reformen für mehr<br />
Gleichheit zwischen Männern und Frauen<br />
geworfen, die für das neue Strafgesetzbuch<br />
vorgesehen gewesen seien. Bei der Reform des<br />
Strafgesetzbuchs sei geplant gewesen, die<br />
Kompetenzen der Gerichte einzuschränken,<br />
wenn diese geeignet seien, die<br />
Verantwortlichen eines „Verbrechens im<br />
Namen der Ehre“ zu schützen. Die<br />
Möglichkeiten für ein Gericht, das Strafmaß<br />
bei Personen, die sich des Frauenhandels<br />
schuldig gemacht hätten oder wegen<br />
Frauenhandels angeklagt seien, willkürlich zu<br />
verringern, seien in diesem neuen<br />
Strafgesetzbuch ebenfalls eingeschränkt<br />
worden.<br />
Gabriele JUEN betont, dass, abgesehen vom<br />
Problem des Ehebruchs, für das schon bald eine<br />
33<br />
Lösung gefunden sein dürfte, an der Mehrzahl<br />
der Anträge auf Abschaffung der Frauen<br />
diskriminierenden Artikel festgehalten<br />
worden sei.<br />
Drei Probleme bestünden jedoch weiterhin:<br />
- Der Jungfräulichkeitstest: Ein Artikel des<br />
Strafgesetzbuchs ermögliche es den Richtern<br />
und der Staatsanwaltschaft weiterhin,<br />
Untersuchungen der Genitalien von Frauen und<br />
jungen Mädchen anzuordnen, um ihre<br />
Jungfräulichkeit zu überprüfen, insbesondere<br />
nach einer Vergewaltigung. Dieser<br />
Jungfräulichkeitstest sei absolut inakzeptabel<br />
und stelle im Falle einer Vergewaltigung oder<br />
eines Gewaltverbrechens keine seriöse<br />
medizinische Untersuchung dar.<br />
- Die Bestrafung sexueller Beziehungen<br />
zwischen Jugendlichen: Ein junges Mädchen im<br />
Alter von 16 Jahren könne mit Unterstützung<br />
ihrer Eltern verheiratet werden; die<br />
außerehelichen sexuellen Beziehungen von<br />
Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren<br />
stellten jedoch eine Straftat dar.<br />
- „Verbrechen im Namen der Ehre“: Diejenigen<br />
Gesetze und Praktiken, mit denen sich eine<br />
Straffreiheit für Gewaltakte gegen Frauen<br />
rechtfertigen lasse, müssten abgeschafft<br />
werden; insbesondere müsste die Reduzierung<br />
des Strafmaßes bei Personen abgeschafft<br />
werden, die wegen „Verbrechen im Namen der<br />
Ehre“ angeklagt seien. In den Begründungen<br />
werde auf „Bräuche“, die „Ehre“, die „Tradition“,<br />
eine „schwere oder unbegründete<br />
Provokation“ oder auf „erlittenes Unrecht“<br />
Bezug genommen.<br />
Abschließend unterstreicht Gabriele JUEN,<br />
dass sich Amnesty International, unabhängig<br />
von der Empfehlung der Europäischen<br />
Kommission und unabhängig von den<br />
Entscheidungen des Europäischen Rates über<br />
die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen,
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
weiterhin konsequent dafür einsetzen werde,<br />
jedwede Verletzung der Menschenrechte<br />
öffentlich zu machen. Amnesty International<br />
werde auf eine effektive Umsetzung der<br />
Reformen dringen. In der Türkei seien<br />
substantielle Veränderungen notwendig.<br />
In diesem Sinne beharre Amnesty International<br />
gegenüber den Abgeordneten als<br />
verantwortliche Volksvertreter in Europa<br />
darauf, dass sie darauf achten müssten, dass<br />
die Türkei ihren Reformprozess fortsetze. Die<br />
Europäische Union müsse ein System einführen,<br />
das es ermögliche, beim Schutz der<br />
Menschenrechte in allen aktuellen und<br />
künftigen Mitgliedstaaten einen möglichst<br />
hohen Standard zu gewährleisten. Sie weist<br />
darauf hin, dass der Beitritt zur Europäischen<br />
Union heute die beste Garantie für ein Land<br />
sei, von gleichberechtigten Mitgliedstaaten<br />
nicht mehr kritisiert zu werden.<br />
Elisabeth DÖRLER, Christlich-Muslimisches<br />
Forum, Experte zu religiösen Minderheiten in<br />
der Türkei<br />
34<br />
Elisabeth DÖRLER vom christlichmuslimischen<br />
Forum stellt in ihrem Beitrag<br />
die Situation der christlichen Minderheiten in<br />
der Türkei in den Mittelpunkt.<br />
Sie berichtet, dass es in der Türkei 100 000<br />
Christen in 13 Kirchen und 20 000 Juden gebe,<br />
die sich in derselben Lage befänden.<br />
Auf die Kirchen könne Einfluss genommen<br />
werden. Der orthodoxe Patriarch müsse<br />
beispielsweise die türkische<br />
Staatsangehörigkeit besitzen.<br />
Im Baurecht sei der Begriff Moschee durch<br />
kultisches Bauwerk ersetzt worden. Es stelle<br />
sich die Frage, wie das Präsidium für religiöse<br />
Angelegenheiten, das auch weiterhin in diesem<br />
Bereich zuständige Gremium, diesen Begriff<br />
interpretieren werde. Bislang sei jedoch noch<br />
kein Antrag gestellt worden, da Kirchen keine<br />
juristischen Personen seien.<br />
Darüber hinaus gebe es auch weiterhin<br />
Probleme bei der Priesterausbildung. Einige<br />
Kirchen könnten die Ausbildung in anderen<br />
Ländern organisieren oder ausländische<br />
Priester für sich gewinnen. Problematisch sei<br />
die Situation der orthodoxen Griechen, der<br />
armenisch-apostolischen Kirche und der<br />
syrischen Kirche, da es sich um regionale<br />
Kirchen handle, die keine ausreichende<br />
Ausbildung sicherstellen könnten. Der<br />
armenische Patriarch fordere die Möglichkeit,<br />
die 1970 ausgesetzte religiöse Ausbildung<br />
wieder aufzunehmen. Auch die griechischorthodoxe<br />
Ausbildungseinrichtung sei<br />
geschlossen worden. Für die übrigen Kirchen<br />
sei man bemüht, praktische Lösungen zu finden:<br />
Man lasse die Priester als Touristen einreisen<br />
und bei der Einreise gäben diese andere<br />
Tätigkeiten an. Der ökumenische orthodoxe<br />
Patriarch müsse beispielsweise die türkische<br />
Staatsangehörigkeit besitzen. Die syrische<br />
Kirche werde derzeit von einer sehr alten Person<br />
geleitet, und der potentielle Nachfolger
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
erhalte weder die türkische<br />
Staatsbürgerschaft noch eine<br />
Aufenthaltserlaubnis.<br />
Es könne zu sprachlichen Problemen kommen,<br />
die sogar zu einem Hindernis für die<br />
Theologenausbildung führen könnten. Die Syrer<br />
befänden sich momentan in einer schwierigen<br />
Situation, obwohl sie theoretisch das Recht<br />
hätten, in syrischer Sprache zu unterrichten.<br />
Aufgrund des Mangels an Lehrern habe das<br />
Syrische jedoch keinerlei Chance zu überleben.<br />
Im September 2003 habe ein Treffen der<br />
katholischen Kirchen stattgefunden,<br />
bedauerlicherweise ohne Teilnahme der<br />
reformierten Kirchen. Folgende<br />
Schlussfolgerungen seien gezogen worden:<br />
- Die Kirchen wollten als juristische Person<br />
anerkannt werden und ihre Priester selbst<br />
ausbilden können;<br />
- den nicht muslimischen, armenischen,<br />
griechischen und jüdischen Minderheiten, die<br />
dem Ottomanischen Reich angehört hätten,<br />
würden vom Vertrag von Lausanne Garantien<br />
als Minderheit und nicht als Kirche gegeben;<br />
- die Verleihung einer Rechtspersönlichkeit für<br />
die christlichen Gemeinschaften stehe nicht im<br />
Einklang mit der in der Verfassung<br />
festgeschriebenen Laizität.<br />
Der türkische Staat schein der Ansicht zu sein,<br />
dass eine Kirche dann, wenn sie eine<br />
Rechtspersönlichkeit erhalte, eventuell<br />
Grundbesitz beanspruchen könnte. Dies sei<br />
jedoch absolut nicht der Fall.<br />
Das Prinzip der Laizität in der Türkei schließe<br />
aus, dass Synagogen und Kirchen eine<br />
Rechtspersönlichkeit verliehen werde. Es<br />
stehe nicht zur Diskussion, den Katholiken<br />
Rechte einzuräumen, von denen die Muslime<br />
nicht profitieren könnten.<br />
35<br />
In der Erklärung der Bischofskonferenz vom<br />
Juni 2004 werde bekräftigt, dass es in keinem<br />
Land der Europäischen Union Probleme bei der<br />
Anerkennung von Kirchen gegeben habe.<br />
Beispielsweise gewähre ein österreichisches<br />
Gesetz von 1912 den Muslimen jegliche<br />
religiöse Freiheit unter der Bedingung, dass<br />
sie die Verfassung respektierten. Daher<br />
hofften die Kirchen inständig auf eine<br />
Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, um zu<br />
verhindern, dass die Mitglieder einiger<br />
Gemeinschaften die Türkei aufgrund fehlender<br />
Zukunftsperspektiven verlassen.<br />
Der römisch-katholischen Kirche und der<br />
reformierten Kirche werde eine<br />
Rechtspersönlichkeit in der Türkei noch immer<br />
verwehrt. Diese Ablehnung beruhe auf dem<br />
Prinzip der Laizität, das jedoch zu<br />
interpretieren sei. Die Türkei sei nämlich das<br />
Land, in dem sich das Christentum entwickelt<br />
habe. Dieser Sachverhalt werde von der<br />
Touristikbranche weidlich ausgenutzt. Daher<br />
gebe es bei den Kirchen die Hoffnung, dass<br />
die Gespräche und Verhandlungen fortgesetzt<br />
werden könnten, um die Situation der Kirchen<br />
in der Türkei zu klären und zu stärken.<br />
Simon BUSUTTIL, Leiter der maltesischen<br />
Delegation der EVP-ED-Fraktion
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Beitrag von Simon BUSUTTIL, Leiter der<br />
maltesischen Delegation:<br />
Zu Beginn möchte ich gerne eine unverblümte<br />
Frage in die Runde werfen: Ist es nicht schon<br />
zu spät, diese Debatte zu führen? Sind wir<br />
nicht bereits von den Ereignissen überrollt<br />
worden?<br />
Ich stelle diese Frage, weil wir mit einer harten<br />
politischen Realität konfrontiert werden.<br />
Tatsache ist nämlich, dass der Europäische Rat<br />
bereits mehr als einmal zugesagt hat, grünes<br />
Licht für die Beitrittsverhandlungen mit der<br />
Türkei zu geben, wenn die Kommission nächsten<br />
Monat eine positive Empfehlung zu den<br />
politischen Kriterien abgibt.<br />
Ich werde noch einen Schritt weiter gehen.<br />
Meiner Ansicht nach ist die Frage, ob die<br />
Türkei ein europäisches Land ist oder nicht,<br />
ebenfalls irrelevant geworden … weil auch<br />
diese Frage von den Ereignissen überholt<br />
wurde. Es ist jetzt reichlich spät, der Türkei<br />
zu sagen, sie sei nicht europäisch: Nicht,<br />
nachdem sie seit 1949 vollwertiges Mitglied<br />
des Europarates ist; nicht, nachdem ihr damals<br />
im Jahr 1963 im Rahmen des<br />
Assoziierungsabkommens die Aussicht auf<br />
Beitritt versprochen wurde; nicht, nachdem die<br />
Türkei seit 1999 EU-Beitrittskandidat ist und<br />
nicht, nachdem man ihr seit dem Europäischen<br />
Rat von Kopenhagen 2002 wiederholt erklärt<br />
hat, dass die EU unverzüglich die<br />
Beitrittsverhandlungen aufnehmen werde,<br />
sobald das Land die politischen Kriterien von<br />
Kopenhagen erfülle.<br />
Die EU kann jetzt nicht einfach diesem Land<br />
zusätzliche Bedingungen stellen oder, was noch<br />
schlimmer ist, einfach erklären, es solle sich<br />
einer anderen Staatenunion anschließen. Ich<br />
glaube, dafür ist es zu spät. Und ich glaube<br />
ebenfalls, dass unsere Glaubwürdigkeit auf<br />
36<br />
dem Spiel steht. Wir müssen die Versprechen,<br />
die wir gegeben haben, einlösen.<br />
Die Entscheidung, ob Verhandlungen mit der<br />
Türkei eingeleitet werden sollten, und<br />
gegebenenfalls, ob die Türkei Mitglied wird,<br />
muss ausschließlich auf der Grundlage der<br />
Kriterien getroffen werden, die im Falle<br />
anderer Länder, die Mitglied geworden sind,<br />
angewandt wurden. Dieser Punkt muss betont<br />
werden, denn ich habe das Gefühl, dass es in<br />
der EVP-Fraktion Mitglieder gibt, die geneigt<br />
scheinen, die Torpfosten zu versetzen und die<br />
Beitrittsbedingungen neu festzulegen. Ich bin<br />
gegen diese Vorgehensweise, und ich bin<br />
ebenfalls der Ansicht, dass es dafür zu spät<br />
ist.<br />
Das bedeutet nicht, dass die Entscheidung, die<br />
Verhandlungen aufzunehmen, uns zu einem Datum<br />
für den Beitritt der Türkei verpflichtet,<br />
oder dass wir dem Ergebnis der<br />
Verhandlungen vorgreifen sollten, oder gar,<br />
dass die EU-Mitgliedschaft der Türkei gewiss<br />
oder unvermeidlich ist.<br />
Es ist eindeutig im Interesse der Union,<br />
sicherzustellen, dass kein Land der EU beitritt,<br />
ohne ernsthafte Zusicherungen, dass die<br />
Beitrittskriterien voll und ganz eingehalten<br />
werden. Die Kriterien müssen „bis aufs letzte<br />
i-Tüpfelchen“ eingehalten werden.<br />
Letztes Jahr, nach dem Bericht Oostlander,<br />
bekräftigte das Parlament, die Reformen in<br />
der Türkei müssten anhand ihrer Umsetzung<br />
beurteilt werden. Und das ist immer noch der<br />
größte Härtetest für die Türkei - wie dies auch<br />
für alle derzeitigen und künftigen Bewerber<br />
der Fall sein sollte.<br />
Jetzt, da der grundlegende Aspekt geklärt<br />
ist, nämlich, dass die Bewerbung der Türkei<br />
entsprechend den festgelegten Kriterien<br />
behandelt werden sollte, können wir uns der<br />
Frage zuwenden, ob die Türkei auch tatsächlich
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
den Erwartungen entspricht und Fortschritte<br />
erzielt, insbesondere in Bezug auf die<br />
politischen Kriterien, die eine unabdingbare<br />
Voraussetzung für die Aufnahme der<br />
Beitrittsverhandlungen sind.<br />
In dieser Hinsicht müssen wir natürlich den<br />
Bericht der Europäischen Kommission<br />
abwarten, und ich gehe davon aus, dass die<br />
Kommission einen fairen, objektiven und<br />
durchdachten Bericht darüber vorlegt, wie die<br />
Türkei bei den politischen Kriterien<br />
abgeschnitten hat. Die Schlussfolgerung der<br />
Kommission sollte nicht von persönlicher<br />
politischer Voreingenommenheit einzelner<br />
Kommissionsmitgliedern gefärbt sein;<br />
ausschlaggebend sollte einzig und allein eine<br />
strenge Bewertung der Leistung der Türkei<br />
sein.<br />
Ich bin der Auffassung, dass die Bilanz der<br />
Türkei bei der Umsetzung im Laufe der letzten<br />
Jahre nicht sehr überzeugend ist. Die Türkei<br />
hat in den letzten zweieinhalb Jahren zwar<br />
erhebliche Rechtsreformpakete<br />
verabschiedet, die praktische Umsetzung geht<br />
jedoch nur sehr schleppend voran.<br />
Wenn wir uns an die letzten Einstufungen von<br />
„Freedom House“ aus dem Jahr 2004 halten,<br />
so wird die Türkei immer noch als „teilweise<br />
freies Land“ eingestuft. Auf einer<br />
Bewertungsskala von 1 bis 7, auf der 1 den<br />
höchsten und 7 den niedrigsten Wert darstellt,<br />
erzielt die Türkei bei den politischen Rechten<br />
3 und bei den bürgerlichen Freiheiten 4 Punkte.<br />
Diese Bewertung wird durch die türkische<br />
Menschenrechtsorganisation IHD bekräftigt,<br />
die im Juli d.J. behauptete, bei den<br />
Menschenrechten habe es zwar einige<br />
Fortschritte gegeben, Folter und willkürliche<br />
Verhaftung seien jedoch immer noch an der<br />
Tagesordnung.<br />
Vor Kurzem hat die kurdische Gemeinschaft<br />
neue Rechte erworben, es muss jedoch noch<br />
37<br />
viel getan werden, bevor wir sagen können, dass<br />
die Kurden uneingeschränkt ihre Rechte als<br />
Volksgruppe und ihre Minderheitenrechte<br />
genießen.<br />
Auch Amnesty International hat sich besorgt<br />
darüber geäußert, dass es immer noch eine<br />
Kluft zwischen der Verabschiedung von<br />
Gesetzen und ihrer Durchführung gibt. In<br />
diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen,<br />
dass die Parlamentarische Versammlung des<br />
Europarates seit 1996 ein Monitoring-<br />
Verfahren angewandt hat, um zu überprüfen,<br />
wie die Türkei ihren gesetzlichen<br />
Verpflichtungen nachkommt. Obwohl der<br />
Europarat im Juni 1 beschloss, dieses<br />
Verfahren angesichts der von der Türkei<br />
erzielten Fortschritte zu beenden, hielt die<br />
Versammlung es dennoch für angebracht, eine<br />
Reihe von Reformen aufzulisten, die noch<br />
durchgeführt werden müssen und die den<br />
wesentlichen Kern einer wirklich<br />
funktionierenden Demokratie betreffen. Diese<br />
Anmerkungen machen zwar deutlich, dass die<br />
Türkei in den letzten zweieinhalb Jahren<br />
enorme Fortschritte gemacht hat, was<br />
Unterstützung und Ermunterung verdient,<br />
dass diese Reformen jedoch vielleicht noch<br />
nicht ausreichen.<br />
Daher muss die Umsetzung weiterhin genau<br />
beobachtet werden.<br />
Der Regelmäßige Bericht der Kommission über<br />
die Türkei vom letzten Jahr enthielt zahlreiche<br />
Änderungen, die entsprechend den<br />
Kopenhagener Kriterien noch umgesetzt<br />
werden müssen. Die Liste war entmutigend,<br />
weil sie so viele Änderungen betraf, und ich<br />
bezweifle, dass es überhaupt möglich war, sie<br />
in der kurzen Zeitspanne eines Jahres<br />
durchzuführen. Amnesty International und die<br />
Kommission weisen beispielsweise beide auf die<br />
Misshandlung von Frauen hin sowie darauf, dass<br />
zwischen 30 und 58 Prozent der türkischen<br />
1 Resolution 1380 of 2004
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Frauen von körperlicher Gewalt betroffen sind.<br />
Das ist eindeutig nicht in Ordnung.<br />
Daher ist es vielleicht noch ein bisschen zu<br />
früh, über die Dauerhaftigkeit der<br />
verabschiedeten Änderungen zu reden, und es<br />
ist sicherlich klug, ein wenig abzuwarten, damit<br />
diese Änderungen fest verankert sind, bevor<br />
wir ein Urteil aussprechen.<br />
Ich wiederhole jedoch, dass wir den Bericht<br />
der Kommission abwarten müssen und erst dann<br />
unsere Schlussfolgerungen ziehen sollten. Wir<br />
sollten eindeutig den politischen Willen und<br />
Mut haben, eine positive Schlussfolgerung zu<br />
ziehen, wenn dies gerechtfertigt ist, wir<br />
sollten jedoch ebenfalls fähig sein, eine negative<br />
Schlussfolgerung zu ziehen, wenn die<br />
politischen Kriterien nicht ausreichend erfüllt<br />
werden.<br />
Die Entscheidung des Europäischen Rates wird<br />
so oder so deutliche politische Konsequenzen<br />
nach sich ziehen.<br />
Es spricht einiges für das Argument, die<br />
Aufnahme der Beitrittsverhandlungen würden<br />
dazu beitragen, den laufenden Reformprozess<br />
zu konsolidieren, und die<br />
Beitrittsverhandlungen selbst würden als Motor<br />
für Veränderungen dienen, denn wir<br />
konnten dies in anderen Ländern beobachten.<br />
Ich kann ebenfalls nachvollziehen, dass die<br />
Aufnahme der Verhandlungen dazu beitragen<br />
würden, die Demokratie und die<br />
Grundfreiheiten in der Türkei zu stärken und<br />
letztendlich einen erheblichen Einfluss auf die<br />
Gesellschaft in der Türkei haben würden. Es<br />
würde zeigen, dass Islam und Demokratie nicht<br />
unvereinbar sind und wäre zudem eine<br />
deutliche Botschaft an unsere südlichen<br />
Nachbarn, um sie dazu zu ermuntern, der<br />
Türkei nachzueifern.<br />
Wir sollten jedoch umsichtig vorgehen und nicht<br />
mit einem Ja oder Nein beginnen und unsere<br />
38<br />
vorgefasste Meinung sozusagen „von hinten“<br />
rechtfertigen. Der Antrag der Türkei auf<br />
Mitgliedschaft hängt jedoch davon ab - und<br />
sollte auch in Zukunft davon abhängen -, ob<br />
das Land die festgelegten Beitrittskriterien<br />
erfüllt, wie dies auch bei anderen Ländern der<br />
Fall war. Die Türkei darf keine<br />
Sonderbehandlung bekommen. Sie sollte<br />
jedoch fair und gerecht behandelt werden. Ich<br />
denke, das hat die Türkei verdient.<br />
Armin LASCHET, EVP-ED-Obmann im<br />
Unterausschuss für Menschenrechte<br />
Im Hinblick auf das Versprechen an die Türkei<br />
aus dem Jahr 1963 fragt sich Armin<br />
LASCHET, Koordinator der EVP-ED-Fraktion<br />
im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten,<br />
ob die Europäische Union, der nicht mehr<br />
lediglich sechs Staaten angehörten und die<br />
nicht mehr eine reine Wirtschaftsgemeinschaft<br />
sei, eine Entscheidung auf der Grundlage eines<br />
mehr als vierzig Jahre zurückliegenden<br />
Versprechens treffen könne.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Armin LASCHET ist der Ansicht, dass das Argument,<br />
wonach es „zu spät sei, einen<br />
Rückzieher zu machen“, für das Europäische<br />
Parlament keine Relevanz habe. Das<br />
Europäische Parlament werde seine<br />
Stellungnahme erst am Ende des gesamten<br />
Verfahrens abgeben. Die Entscheidung pro<br />
oder contra Beitritt werde es in voller<br />
Souveränität fällen.<br />
Hinsichtlich der laufenden Verfahren bringt<br />
Armin LASCHET einige Kritikpunkte an. Die<br />
für den Charakter und die Zukunft der<br />
Europäischen Union grundlegende<br />
Entscheidung, der Türkei den<br />
Kandidatenstatus für einen Beitritt zur<br />
Europäischen Union zu verleihen, sei 1999 von<br />
den Staats- und Regierungschefs ohne<br />
Beteiligung der nationalen Parlamente und des<br />
Europäischen Parlaments getroffen worden,<br />
die jedoch das letzte Wort haben werden.<br />
Nach der Mitteilung der Kommission seien es<br />
erneut die Staats- und Regierungschefs, die<br />
am 17. Dezember über die Eröffnung von<br />
Beitrittsverhandlungen entscheiden würden –<br />
und zwar wiederum ohne Beteiligung der<br />
nationalen Parlamente und des Europäischen<br />
Parlaments, die erst am Ende der<br />
Verhandlungen zu Wort kämen.<br />
Armin LASCHET betont, dass die religiöse<br />
Zugehörigkeit der Türken in der aktuellen<br />
Diskussion keine Rolle spiele dürfe. Bereits<br />
heute lebten Millionen von Muslimen in der<br />
Europäischen Union. Sie seien integraler<br />
Bestandteil der Europäischen Union. Ein<br />
negativer Ausgang der Verhandlungen würde<br />
daher als Abweisung der Muslime gewertet<br />
werden. Das europäische „Nein“ würde als<br />
„Nein“ zu Muslimen und als „Nein“ zum Islam<br />
gewertet.<br />
Im Bereich der Menschenrechte stelle sich die<br />
Frage, wie die Situation in der Türkei zu<br />
verbessern sei. Vor diesem Hintergrund könnte<br />
39<br />
die Lösung darin bestehen, die Verhandlungen<br />
aufzunehmen. Auf diese Weise wäre Europa<br />
weiterhin in der Lage, Einfluss auf die Türkei<br />
nehmen, was vielleicht zu einer Verbesserung<br />
der Menschenrechtssituation führen könnte.<br />
Für das strategische Interesse an einem<br />
Beitritt der Türkei als muslimisches Land zur<br />
Europäischen Union werde auch ein<br />
geopolitisches Argument ins Feld geführt: Die<br />
Türkei könne Einfluss auf die arabische Welt<br />
ausüben. Auch aus dieser Perspektive wäre es<br />
sinnvoll, eine Entscheidung zugunsten der<br />
Aufnahme von Verhandlungen zu treffen.<br />
Armin LASCHET fragt sich jedoch, wie die<br />
Europäische Union unter diesen<br />
Voraussetzungen als politische Union erhalten<br />
werden könne.<br />
Wenn entschieden werde, Verhandlungen zu<br />
eröffnen, müssten diese seiner Ansicht nach<br />
ergebnisoffen geführt werden. Am Ende der<br />
Verhandlungen müsse klar und deutlich mit der<br />
türkischen Regierung gesprochen werden.<br />
Armin LASCHET sei sich nicht sicher, ob die<br />
Türkei die Bedeutung des Acquis<br />
communautaire wirklich erfasst habe und<br />
verstehe, was es bedeute, einer integrierten<br />
politischen Union anzugehören. Möglicherweise<br />
würden die türkische Regierung und die<br />
türkische Gesellschaft im Laufe der<br />
Verhandlungen erkennen, dass eine<br />
privilegierte Partnerschaft vielleicht eine<br />
einmalige Chance sei, die für das Land sehr viel<br />
günstiger sei als ein einfacher Beitritt zur<br />
Europäischen Union.<br />
Im Bereich der Menschenrechte habe sich die<br />
Situation auf Gesetzesebene eindeutig<br />
verbessert. Bei der Umsetzung seien jedoch<br />
nach wie vor Defizite zu verzeichnen. Im<br />
Bereich der Kultur seien hingegen keinerlei<br />
Fortschritte erreicht worden; dies gelte<br />
insbesondere für die Frage der Rechte von
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Frauen. Hier sei die Türkei noch weit davon<br />
entfernt, die europäischen Normen zu erfüllen.<br />
Armin LASCHET spricht auch das Problem an,<br />
dass die Kirchen keine juristische Personen<br />
seien. Ferner erwähnt er die Probleme im<br />
Zusammenhang mit der Priesterausbildung. Vor<br />
dem Hintergrund des türkischen Modells sei<br />
die Situation verständlich: Seit 1923 besage<br />
das laizistische Modell des türkischen Staates,<br />
dass keiner Religion ein Sonderrecht<br />
eingeräumt werde, weder den christlichen<br />
Kirchen, noch der muslimischen Welt, in der es<br />
darüber hinaus keine kirchliche Hierarchie<br />
gebe.<br />
Es stelle sich die Frage, ob die Entwicklung<br />
der türkischen Gesellschaft und des türkischen<br />
Staates ausreiche, sich in gewisser Weise von<br />
der Tradition des türkischen Staates<br />
abzuwenden, um sich den Normen anzunähern,<br />
die in der Europäischen Verfassung<br />
festgeschrieben seien.<br />
Diese Überlegungen müssten in den<br />
kommenden Wochen vertieft werden. Die EVP-<br />
ED-Fraktion, die sich für die europäische Integration<br />
einsetze, müsse den Schwerpunkt<br />
auf die Einhaltung der Kriterien von Kopenhagen<br />
und die dauerhafte Stabilität der europäischen<br />
Institutionen legen.<br />
40<br />
Camiel EURLINGS, Berichterstatter im<br />
Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten zur<br />
Türkei, Leiter der niederländischen Delegation<br />
der EVP-ED-Fraktion<br />
Camiel EURLINGS, Berichterstatter im<br />
Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten<br />
zur Türkei, möchte an den Anfang seiner<br />
Überlegungen die Entschließung zum Bericht<br />
OOSTLANDER stellen, der innerhalb des<br />
Europäischen Parlaments breite Zustimmung<br />
gefunden habe.<br />
Angesichts des großen öffentlichen<br />
Interesses, das dieser Frage entgegen<br />
gebracht werde, müsse die Aussprache<br />
korrekt verlaufen.<br />
Der Text der Europäischen Verfassung<br />
bekräftige, dass es sich bei der Europäischen<br />
Union um eine Wertegemeinschaft handle. Die<br />
Türkei sei am Entstehungsprozess beteiligt<br />
gewesen. In den Artikeln 2 und 3 sei die Rede<br />
von der Würde des Menschen, der Wahrung<br />
der Menschenrechte, von Freiheit,<br />
Demokratie, Gleichheit, Toleranz,<br />
Gerechtigkeit, Pluralismus und<br />
Nichtdiskriminierung.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Es sei wichtig, dass alle Staaten diese Begriffe<br />
akzeptierten. Die in der Türkei erzielten<br />
Fortschritte seien umfangreich und verdienten<br />
Anerkennung. Es empfehle sich jedoch, die<br />
Schwächen und Lücken herauszustreichen, die<br />
im Bereich der Menschenrechte<br />
fortbestünden.<br />
Camiel EURLINGS verweist in diesem<br />
Zusammenhang auf die vom Parlament<br />
verabschiedeten Beschlüsse zur Frage der<br />
Rechte der Frau bzw. der Minderheitenrechte.<br />
Bei diesen Punkten seien noch<br />
Nachbesserungen erforderlich. Die Regierung<br />
habe sich verpflichtet, die Folter zu verbieten.<br />
In türkischen Gefängnissen würden jedoch<br />
noch immer politische Gefangene gefoltert. Die<br />
Beobachtungsstelle für Menschenrechte habe<br />
eine Warnung veröffentlicht, und zahlreichen<br />
Organisationen lägen Hinweise auf Folter in der<br />
Türkei vor. Yusuf ALATAS zufolge habe es<br />
innerhalb von sechs Monaten 692 Fälle von<br />
Folter gegeben. Eine andere Organisation<br />
registrierte 593 Fälle, in denen Menschen nach<br />
ihrer Inhaftierung medizinische Versorgung<br />
benötigt hätten.<br />
Hier müsse folglich weiter insistiert und der<br />
Druck aufrechterhalten werden. Camiel<br />
EURLINGS weist in diesem Zusammenhang auf<br />
die Äußerungen von Ministerpräsident Erdogan<br />
auf der Konferenz der Präsidenten am<br />
Vorabend hin, der die Kritik der NRO ignoriert<br />
habe. Er habe darauf verwiesen, dass<br />
Experten in ihren Stellungnahmen zu stark<br />
voneinander abweichenden Schlussfolgerungen<br />
kämen.<br />
In der Theorie gebe es in der Türkei religiöse<br />
Toleranz, in der Praxis seien jedoch noch<br />
immer zahlreiche Probleme festzustellen. Die<br />
griechisch-orthodoxe Kirche sei beispielsweise<br />
mit großen Problemen im Zusammenhang mit<br />
den Ausbildungseinrichtungen konfrontiert.<br />
Wie Frau DÖRLER angemerkt habe, müsse der<br />
ökumenische Patriarch die türkische<br />
41<br />
Staatsbürgerschaft besitzen. Eine ganze Reihe<br />
Geistlicher hätten die Türkei verlassen müssen.<br />
Es sei offensichtlich, dass die katholischen<br />
Kirchen keine Rechtspersönlichkeit erhalten<br />
werden. Schließlich seien auch die Muslime nicht<br />
vollständig frei, da das Religionsministerium<br />
festlege, was in den Moscheen gesagt werden<br />
dürfe und was nicht. Die Regierung wolle diese<br />
Schwierigkeiten ausräumen. Es bestünden<br />
jedoch weiterhin Befürchtungen im Hinblick auf<br />
die religiöse Intoleranz; Gegenreaktionen<br />
seien nicht gänzlich zu verhindern.<br />
In der jüngsten Vergangenheit sei es zu<br />
Fortschritten bei der Gleichbehandlung von<br />
Männern und Frauen gekommen, auch habe sich<br />
die Situation der Frauen verbessert. Es bleibe<br />
zu hoffen, dass das Strafgesetzbuch ohne den<br />
Ehebruch-Paragraphen verabschiedet werden<br />
könne. In der Praxis habe sich die Situation<br />
der Frauen jedoch nur in besonders gut<br />
gebildeten Schichten verbessert. Zahlreiche<br />
Frauen würden weiterhin Opfer häuslicher<br />
Gewalt. Schließlich weist Camiel EURLINGS<br />
auf alle Lücken hin, die in sämtlichen Bereichen,<br />
in denen Grundrechte von Frauen berührt<br />
seien, fortbestehen: Recht auf Arbeit, Recht<br />
auf Gesundheit, Recht auf Information, Recht<br />
auf Wahlfreiheit. Die Gesetzgebung weise hier<br />
noch immer Lücken auf. Die von den Frauen im<br />
Zusammenhang mit dieser Art von Gewalt<br />
geäußerten Vorwürfe würden nicht ausreichend<br />
ernstgenommen.<br />
Auch bei der Ausübung von<br />
Minderheitenrechten gebe es noch immer<br />
Defizite. Yusuf Alatas habe auf<br />
Verbesserungen hingewiesen, wie etwa die<br />
Möglichkeit Radiosendungen in kurdischer<br />
Sprache auszustrahlen, auch wenn die zulässige<br />
Dauer dieser Sendungen stark begrenzt sei.<br />
Die Behörden könnten jedoch noch immer<br />
Schulen beispielsweise mit der Begründung<br />
schließen, sie hätten zu kleine oder zu große<br />
Türen.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Im Bereich der Menschenrechte, hätten sich<br />
die bestehenden Rechtsvorschriften zwar in<br />
die richtige Richtung entwickelt, sie müssten<br />
nun jedoch auch in der Praxis Anwendung<br />
finden.<br />
Die Bevölkerung selbst müsse zeigen, dass sie<br />
tatsächlich den Willen habe, etwas zu<br />
verändern. Die Frage, ob dies der Fall sei,<br />
könne man sich bei Themen wie dem Ehebruch,<br />
der mangelnden Kontrolle des<br />
Verteidigungshaushalts oder der Rolle der<br />
Armee stellen.<br />
Für das Parlament müsse die endgültige<br />
Einführung der Rechtsstaatlichkeit in der<br />
Türkei Vorrang haben. Durch ihren<br />
spektakulären Meinungsumschwung gegenüber<br />
der Türkei trage die Kommission nicht gerade<br />
zur Vereinfachung der Situation bei. Der Druck<br />
auf die Türkei müsse aufrechterhalten<br />
werden, damit die Fortschritte weitergehen.<br />
Der Vertrag von Rom sehe vor, dass die<br />
Europäische Union demokratischen Staaten<br />
offen stehen müsse. Zahlreiche Einwände<br />
gegen den Beitritt der Türkei könnten<br />
ausgeräumt werden, wenn die Türkei<br />
nachweise, dass das Land eine echte<br />
Demokratie sei. Der Beitritt könne eigentlich<br />
nur dann stattfinden, wenn die<br />
Beitrittskandidaten die in diesen Bereichen<br />
aufgestellten Bedingungen erfüllten. Dies<br />
gelte für Rumänien ebenso wie für die Türkei.<br />
Die türkische Verfassung müsse überarbeitet<br />
werden, um der Europäischen Verfassung zu<br />
entsprechen. Erst dann könne man sagen, die<br />
Türkei habe mit alten Denkweisen gebrochen.<br />
Wenn die Entwicklung in der Türkei tatsächlich<br />
in diese Richtung gehen sollte, wäre dies ein<br />
großer Schritt nach vorn. Es müsse jedoch<br />
nachdrücklich darauf bestanden werden, dass<br />
im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit<br />
keinerlei Kompromisse möglich seien. Die<br />
Türkei könne erst dann der Europäischen Union<br />
beitreten, wenn das Prinzip der<br />
42<br />
Rechtsstaatlichkeit ausnahmslos eingehalten<br />
werde. Vor diesem Hintergrund sehe Camiel<br />
EURLINGS seine künftige Arbeit als<br />
Berichterstatter.<br />
Im Rahmen der Diskussion versichert Charles<br />
TANNOCK, stellvertretender Vorsitzender<br />
des Unterausschusses für Menschenrechte<br />
dass es für das Europäische Parlament nicht<br />
zu spät sei, sich für oder gegen den Beitritt<br />
der Türkei zur Europäischen Union<br />
auszusprechen. Die Entscheidung des<br />
Europäischen Rates von Helsinki könne die<br />
Europaabgeordneten nicht des Rechtes<br />
berauben, im Rahmen dieser Debatte der<br />
Meinung der Bürger Ausdruck zu verleihen. Sie<br />
sollten sich daher eventuell auch gegen den<br />
Beitritt der Türkei aussprechen können, wenn<br />
ihnen dies am Ende der Verhandlungen<br />
gerechtfertigt scheinen sollte.<br />
Georgios PAPASTAMKOS, Vorsitzender des<br />
Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-<br />
Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien<br />
betont, dass der Schutz der Menschenrechte<br />
und der Schutz von Minderheiten der Kern<br />
einer Demokratie ist. Die demokratische<br />
Anpassung der Türkei in den vergangenen<br />
Jahren ist nicht zu leugnen, jedoch nicht<br />
ausreichend. Warum? Weil die Türkei<br />
Reformen auf Wunsch der Europäischen Union<br />
durchführt. Wäre die Möglichkeit einer<br />
europäischen Integration nicht gegeben, würde<br />
die Türkei nicht versuchen ihre Demokratie und<br />
den Schutz der Menschenrechte zu<br />
verbessern.<br />
Die Frage ist nicht, ob die Türkei geographisch<br />
gesehen zu Europa gehört, sondern ob sie es<br />
im demokratischen Sinne tut. In dieser<br />
Beziehung muss die Türkei, so Georgios<br />
PAPASTAMKOS, noch einen langen Weg gehen.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Ist das türkische System stabil genug um zu<br />
garantieren, dass die Eröffnung von<br />
Verhandlungen eine Beschleunigung der<br />
Reformen nach sich zieht? Welches sind die<br />
Folgen eines Beitritts in die Europäische Union<br />
für die Türkei bezüglich wirtschaftlicher und<br />
sozialer Kohäsion in der Agrarwirtschaft und<br />
im demographischen Sinne?<br />
Für Georgios PAPASTAMKOS müssen sich die<br />
Werte der Europäischen Union, welche sich auf<br />
die Kulturmodelle der Zivilisation beziehen,<br />
gegen die Kopenhagener-Kriterien<br />
duchsetzen. Nicht Europa muss sich kulturell<br />
an die Türkei anpassen sondern die Türkei muss<br />
sich an Europa anpassen.<br />
Antonios TRAKATELLIS, Vizepräsident des<br />
Europäischen Parlaments geht auf die<br />
Religionsfreiheit in der Türkei und ganz<br />
speziell auf den Fall des Theologischen<br />
Instituts in Halki ein, das 1971 auf Anordnung<br />
der türkischen Behörden geschlossen worden<br />
sei. Die Wiedereröffnung des Instituts in Halki<br />
sei von wesentlicher Bedeutung für das<br />
ökumenische Patriarchat, um sicherzustellen,<br />
dass neue Generationen an Geistlichen und<br />
ökumenische Patriarchen ausgebildet werden<br />
könnten. Dies gelte auch für die Ausbildung<br />
aller amerikanischen und europäischen<br />
Erzbischöfe der griechisch-orthodoxen Kirche.<br />
Die Wiedereröffnung dieses theologischen<br />
Zentrums werde zudem den Willen der<br />
türkischen Regierung unter Beweis stellen, die<br />
Beitrittskriterien gewissenhaft zu erfüllen.<br />
In diesem Zusammenhang bestätigt Antonios<br />
TRAKATELLIS den von Camiel EURLINGS<br />
vertretenen Standpunkt, dass das Europäische<br />
Parlament die Pflicht habe zu prüfen, ob die<br />
Türkei die Beitrittskriterien auch tatsächlich<br />
erfülle. Es habe die Verpflichtung, auf Lücken<br />
hinzuweisen und Mängel aufzuzeigen, damit die<br />
43<br />
Türkei ganz klar erkennen könne, was von ihr<br />
verlangt werde. Ohne ein solches Vorgehen sei<br />
der Weg des Landes in die Europäischen Union<br />
schwierig und der Ausgang der Verhandlungen<br />
ungewiss.<br />
Das Europäische Parlament habe sich immer als<br />
Hüter der Menschenrechte gesehen. Es wäre<br />
unvorstellbar, wenn es von einem Tag auf den<br />
anderen den Beitritt eines Landes zur<br />
Europäischen Union akzeptieren würde, in dem<br />
die Menschenrechte nicht eingehalten werden.<br />
Wenn die Türkei diese Botschaft verstehe,<br />
werde sie die erforderlichen Schritte<br />
ergreifen. Dies sei im Interesse der türkischen<br />
Bürger, die auf diese Weise eine<br />
fortschrittliche Demokratie erhalten und mit<br />
dem Beitritt zur Europäischen Union belohnt<br />
würden.<br />
Es liege also an der Türkei, sich auf Europa<br />
einzulassen und sich für den europäischen Weg<br />
zu entscheiden. Nur so könne sich Europa zu<br />
gegebener Zeit für den Beitritt des Landes<br />
zur Europäischen Union entscheiden.<br />
Im Hinblick auf die Entscheidung,<br />
Beitrittsverhandlungen mit der Türkei<br />
aufzunehmen, weist Margie SUDRE, Leiterin<br />
der französischen Delegation der EVP-ED-<br />
Fraktion darauf hin, dass hier dieselben Regeln<br />
gelten müssten wie bei anderen Ländern auch.<br />
Sie sehe hier jedoch die Tendenz, gegenüber<br />
der Türkei weniger anspruchsvoll zu sein, als<br />
man dies bei anderen Beitrittskandidaten<br />
gewesen sei.<br />
Die Unzulänglichkeiten der Türkei im Bereich<br />
der Menschenrechte seien offenkundig.<br />
Margie SUDRE sei beunruhigt, wenn sie heute<br />
höre, wie Kommissar Verheugen erkläre, dass<br />
es nicht gerechtfertigt sei, die Türkei der<br />
systematischen Folter zu bezichtigen. Was<br />
habe man sich darunter vorzustellen? Dass die
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Türkei von Zeit zu Zeit ihre Gefangenen foltern<br />
darf, ohne dass die Menschenrechte verletzt<br />
würden? Margie SUDRE weist darauf hin, dass<br />
die Türkei nun bereits seit 40 Jahren die<br />
Absicht habe der Europäischen Union<br />
beizutreten. Die Türkei kenne die<br />
Anforderungen der Europäischen Union im<br />
Hinblick auf einen Beitritt. Es sei<br />
besorgniserregend zu sehen, dass das Land<br />
im Bereich der Menschenrechte heute nicht<br />
schon wesentlich weiter sei.<br />
Margie SUDRE spricht sich ferner dafür aus,<br />
eine äußerste Frist festzusetzen, innerhalb<br />
derer die Türkei alle Kriterien von Kopenhagen<br />
ausnahmslos und ohne Kompromisse erfüllen<br />
müsse. Nach Ablauf dieser Frist könnte der<br />
Türkei definitiv gesagt werden, ob sie der<br />
Europäischen Union beitreten könne oder nicht.<br />
Man müsse künftig aufhören, Fristen ständig<br />
zu verlängern und den Zeitpunkt einer<br />
definitiven Antwort immer wieder zu<br />
verschieben.<br />
Konstantinos HATZIDAKIS, Mitglied des<br />
Gemischten Parlamentarischen Ausschusses<br />
EU-Türkei, weist darauf hin, dass sich der<br />
Standpunkt der Delegation der griechischen<br />
Nea Dimokratia, wie gestern von ihrem Leiter,<br />
Ioannis VARVITSIOTIS, erläutert,<br />
folgendermaßen zusammenfassen lasse: Die<br />
Orientierung der Türkei in Richtung Europa<br />
könnte zur Stabilität der gesamten Region und<br />
ganz besonders zur Stabilisierung der<br />
bilateralen Beziehungen zwischen Griechenland<br />
und der Türke beitragen i.<br />
Dies bedeute jedoch nicht, dass die griechische<br />
Delegation der Türkei einen Blankoscheck<br />
ausstellen wolle. An die Türkei müsse derselbe<br />
Maßstab angelegt werden wie an alle anderen<br />
Länder, die Beitrittsverhandlungen geführt<br />
hätten. Es gehe hier nicht darum, dass sich<br />
Europa an die in der Türkei vorherrschenden<br />
Verhältnisse gewöhne, vielmehr sei es Sache<br />
44<br />
der Türkei, sich den in Europa herrschenden<br />
Verhältnissen anzupassen.<br />
Konstantinos HATZIDAKIS betont speziell<br />
den Fall der beiden Inseln Imbros und<br />
Tenedos. Diese beiden Inseln im Ägäischen<br />
Meer gehörten bis zum Vertrag von Lausanne<br />
im Jahr 1923 zu Griechenland. In Artikel 14<br />
des Vertrags werde der griechische Charakter<br />
dieser Inseln anerkannt. Ferner sei in ihm sogar<br />
deren Autonomie innerhalb des türkischen<br />
Staates vorgesehen. So sollten die Inseln<br />
Imbros und Tenedos laut Vertrag zwar unter<br />
türkische Souveränität gestellt werden, jedoch<br />
eine unabhängige Verwaltung erhalten, um die<br />
Sicherheit des Eigentums und der Einwohner<br />
sowie die Ausbildung der lokalen Polizeikräfte<br />
gewährleisten zu können. Die Türkei habe sich<br />
jedoch nicht nur kategorisch geweigert, Artikel<br />
14 des Vertrags von Lausanne umzusetzen,<br />
sondern zudem zahlreiche Anstrengungen<br />
unternommen, um den griechischen Charakter<br />
der Inseln auszulöschen. Heute bestünden<br />
schwerwiegende Probleme im Bereich der<br />
Menschenrechte und beim Minderheitenschutz.<br />
Im Bildungssystem sei Unterricht auf<br />
Griechisch praktisch verboten. Die Schulen, die<br />
noch den griechischen Gemeinschaften<br />
gehörten, seien konfisziert worden, um darin<br />
Hotels oder Cafeterien zu betreiben. Im<br />
Rahmen einer Assimilationspolitik werde die<br />
Erstellung eines Grundbuchs als Vorwand<br />
genutzt, um den Grundbesitz der Griechen zu<br />
konfiszieren. Im Zusammenhang mit der<br />
Religionsfreiheit würden Genehmigungen für<br />
die Renovierung der Kirchen selbst dann nicht<br />
erteilt, wenn diese Akten von Vandalismus zum<br />
Opfer gefallen seien.<br />
Insgesamt spricht sich Konstantinos<br />
HATZIDAKIS zugunsten des Beitritts der<br />
Türkei aus. Es dürfe jedoch kein Blankoscheck<br />
ausgestellt werden. Den Menschenrechten<br />
müsste absolute Priorität eingeräumt werden.<br />
Hier seien keinerlei Zugeständnisse möglich.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Jacques TOUBON, stellvertretender<br />
Vorsitzender der Delegation des Gemischten<br />
Parlamentarischen Ausschusses EU-Türkei ist<br />
der Ansicht, dass die Türkei im Hinblick auf<br />
die Demokratisierung und die Menschenrechte<br />
zwar einerseits Fortschritte bei der<br />
Gesetzgebung und den politischen Institutionen<br />
erzielt habe, andererseits jedoch seit den<br />
70er und 80er Jahren gravierende<br />
Rückschritte bei den Verhaltens- und<br />
Denkweisen gemacht habe. Bei dem von<br />
Antonios TRAKATELLIS erwähnten Beispiel<br />
des Theologischen Instituts in Halki werde dies<br />
offenkundig. Seiner Meinung nach sei der<br />
Mentalitätswandel nicht auf die Politik des<br />
Staates oder der Partei, sondern auf<br />
tiefgreifende Veränderungen innerhalb der<br />
Gesellschaft zurückzuführen.<br />
Jacques TOUBON zufolge laufe Europa<br />
Gefahr, in eine Falle zu geraten und Opfer<br />
eines Traums zu werden. In der Falle säße es,<br />
wenn die Verhandlungen zu den Bedingungen<br />
der Türkei und nicht zu den Bedingungen der<br />
Europäischen Union abgeschlossen würden.<br />
Hier seien beispielsweise die Äußerungen des<br />
für die Erweiterung zuständigen Kommissars<br />
Verheugen zu erwähnen, der Folter in<br />
Einzelfällen akzeptiere, Hauptsache sie<br />
erfolge nicht systematisch. Bei dem Traum<br />
handele es sich um den Traum der Liberalen<br />
weltweit, die eine Elite bildeten und die<br />
Verbindung zu den Völkern, insbesondere zu<br />
den Völkern Europas, gekappt hätten.<br />
Es sei nun Aufgabe des Europäischen<br />
Parlaments im Namen der Völker Europas das<br />
Wort zu ergreifen, und zwar ungeachtet der<br />
Entwicklungen zwischen 1963 und dem<br />
Europäischen Rat von Helsinki. Die Völker<br />
Europas stellten sich Fragen, die Kommissar<br />
Verheugen gänzlich unbekannt seien.<br />
Das Europäische Parlament müsse folglich Mut<br />
beweisen. Auch Camiel EURLINGS müsse den<br />
Mut haben, in seinem Bericht auf zuviel<br />
45<br />
Diplomatie zu verzichten, auch wenn er Mitglied<br />
im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten<br />
sei. Er müsse diesen Bericht vielmehr aus der<br />
Sicht eines Politikers verfassen, der die<br />
Interessen der niederländischen Bürger<br />
vertrete, die dieses Thema sehr beschäftige.<br />
Jacques TOUBON schließt seinen Beitrag mit<br />
drei Vorschlägen:<br />
Der Vorsitzende, Hans-Gert PÖTTERING,<br />
sollte die Erklärungen von Kommissar<br />
Verheugen in zwei Beziehungen kritisieren.<br />
Zum einen habe Kommissar Verheugen nicht<br />
über die Eröffnung von Verhandlungen zu<br />
befinden. Er könne nicht einfach behaupten, die<br />
Bedingungen seien erfüllt und es gebe keine<br />
Hindernisse mehr. Zum anderen seien seine<br />
Äußerungen über die Folter absolut<br />
inakzeptabel.<br />
In der Sache wäre es zudem angebracht, eine<br />
Alternative, wie etwa eine privilegierte<br />
Partnerschaft, zu erarbeiten. Als Zielsetzung<br />
der Verhandlungen müsse nicht nur ein<br />
möglicher Beitritt ins Auge gefasst werden,<br />
sondern auch andere Beziehungen ganz<br />
unterschiedlicher Art zwischen der Türkei und<br />
der Europäischen Union.<br />
Schließlich müsse die Frage gestellt werden,<br />
wie die Zukunft der Europäische Union mit der<br />
Türkei als Mitgliedstaat aussehen werde, und<br />
nicht etwa die Frage, was aus der Türkei<br />
werde, wenn ihr der Zutritt zur Europäischen<br />
Union verwehrt bleiben sollte.<br />
Jan ZAHRADIL kommt auf den Begriff der<br />
privilegierten Partnerschaft zurück. Er halte<br />
die Idee für gut, man müsse sich jedoch sehr<br />
konkret fragen, was anstelle eines echten<br />
Beitritts angeboten werden könnte.<br />
Wenn es sich nicht um einen echten Beitritt<br />
handle, wäre es sinnvoll, die Beziehung so zu
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
organisieren, dass sie mehr darstelle als nur<br />
einen einfachen Beitritt zur EFTA oder zum<br />
Europäischen Wirtschaftsraum. Eine solche<br />
Partnerschaft müsste über die Beziehungen<br />
hinausgehen, die die EU mit Norwegen oder der<br />
Schweiz unterhalte. Es stelle sich jedoch die<br />
Frage, ob eine solche Partnerschaft auf die<br />
Türkei beschränkt bleiben oder ob sie nicht<br />
auch auf andere Länder ausgedehnt werden<br />
sollte.<br />
Es sei zwar möglich, dass sich die Situation in<br />
der Türkei in den kommenden zehn Jahren so<br />
entwickle, dass die Türkei selbst feststelle,<br />
dass ein Beitritt zur Europäischen Union nicht<br />
das sei, was sich das Land vorstelle. Dann wäre<br />
es möglich, auf Antrag der Türkei selbst eine<br />
privilegierte Partnerschaft anzustreben. Jan<br />
ZAHRADIL betont jedoch, dass man nicht<br />
wisse, wie sich die Situation in der Europäischen<br />
Union in zehn Jahren darstelle. Vielleicht sei<br />
dann die Verfassung in Kraft, vielleicht aber<br />
auch nicht.<br />
Sollte die Verfassung dann rechtskräftig sein,<br />
könnte die Europäische Union noch immer eine<br />
gewisse Flexibilität durch die verstärkte<br />
Zusammenarbeit unter Beweis stellen. Ein<br />
Europa der unterschiedlichen<br />
Geschwindigkeiten wäre dann Realität. Es<br />
stelle sich die Frage, wie man vor diesem<br />
Hintergrund eine privilegierte Partnerschaft<br />
organisieren könne, die dann vielleicht schon<br />
die Regel sei.<br />
Richard SEEBER zufolge könne die Zusage aus<br />
dem Jahr 1963 nicht als Argument genutzt<br />
werden, da sich die geopolitische Situation seit<br />
damals stark verändert habe.<br />
Er bedauere, dass Regierungen ihre<br />
Entscheidungen ohne Rücksicht auf die Meinung<br />
der Bürger träfen. Er könne in diesem<br />
Zusammenhang nicht verstehen, dass das<br />
Eurobarometer in Europa seit Jahren keine<br />
46<br />
Meinungsumfragen mehr zum Beitritt der<br />
Türkei durchführe. Bei einem so sensiblen<br />
Thema müsse man die Meinung der<br />
europäischen Bürger mehr berücksichtigen.<br />
Im Hinblick auf das Rechtssystem sei es<br />
besonders wichtig, darauf zu achten, dass die<br />
Kriterien von Kopenhagen und insbesondere die<br />
Kriterien im Zusammenhang mit dem Schutz<br />
der Menschenrechte bereits vor der Aufnahme<br />
von Beitrittsverhandlungen erfüllt seien.<br />
Die EVP-ED-Fraktion müsse sich daher klar<br />
und deutlich gegen die Aufnahme von<br />
Verhandlungen aussprechen. Der Zeitpunkt sei<br />
verfrüht, wie der Vorsitzende, Hans-Gert<br />
PÖTTERING, bemerkt habe. Sollten die<br />
Verhandlungen dennoch aufgenommen werden,<br />
müsse ergebnisoffen verhandelt werden.<br />
Eine Alternative zum Beitritt müsse ins Auge<br />
gefasst werden. Richard SEEBER weist darauf<br />
hin, dass der Europäische Wirtschaftsraum<br />
von Schweden als eine Art Vorzimmer der<br />
Europäischen Union bezeichnet worden sei, was<br />
auch für die Türkei gelten könne.<br />
Alejo VIDAL-QUADRAS ROCA,<br />
Vizepräsident des Europäischen Parlaments,<br />
zufolge zeige die Diskussion, dass die Türkei<br />
bei der Gesetzgebung und der<br />
Verfassungsreform im Hinblick auf die<br />
Kriterien von Kopenhagen in den vergangenen<br />
drei Jahren spektakuläre Fortschritte erzielt<br />
habe. Es sei jedoch ebenso offensichtlich, dass<br />
die praktische Umsetzung dieser<br />
Gesetzesreformen nicht zufriedenstellend sei,<br />
insbesondere in den Bereichen, die mit der<br />
Einhaltung der Menschen- und<br />
Minderheitenrechte oder mit der<br />
Religionsfreiheit in Zusammenhang stünden.<br />
Alejo VIDAL-QUADRAS ROCA empfiehlt die<br />
Tatsache, dass die Türkei die Kriterien von<br />
Kopenhagen in der Praxis noch nicht erfülle,
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
weniger dramatisch zu sehen. Er verweist<br />
dabei auf sein eigenes Land. In Spanien habe<br />
nach Francos Tod 1975 der Übergang zur<br />
Demokratie begonnen. Die Reformen der<br />
Verfassung und der Gesetze seien<br />
beeindruckend und innerhalb von drei oder vier<br />
Jahren abgeschlossen gewesen. Sehr viel<br />
länger habe es jedoch gedauert, bis jeder<br />
Polizist, jeder Richter, jeder Beamte und<br />
jeder Gefängnisdirektor die Reformen<br />
verinnerlicht und sich das tatsächliche<br />
Verhalten an die neue demokratische Kultur<br />
angepasst habe.<br />
Daher sei es seiner Meinung nach unmöglich,<br />
von der Türkei etwas zu verlangen, das von<br />
den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen<br />
Union nicht erwartet worden sei. Wenn es in<br />
Spanien acht oder zehn Jahre gedauert habe,<br />
um das tägliche Leben und die<br />
Verwaltungspraxis auf die Demokratie<br />
einzustellen, dann könne die Türkei ebenfalls<br />
einen gewissen Zeitraum beanspruchen, um<br />
ihre Gesetzesreformen auch tatsächlich<br />
umzusetzen.<br />
Systematische Folter sei schrecklich und dürfe<br />
nicht akzeptiert werden. Folter sei jedoch auch<br />
in Einzelfällen schrecklich und könne auch dann<br />
nicht akzeptiert werden. Es gebe keine<br />
unterschiedlichen Abstufungen bei der<br />
Ablehnung von Folter.<br />
Das Europäische Parlament müsse beim Beitritt<br />
jedes neuen Mitgliedstaates eine gemeinsame<br />
Stellungnahme abgeben. Die EVP-ED-Fraktion,<br />
in der heute sehr unterschiedliche Ansichten<br />
aufeinander träfen, müsse eine Möglichkeit<br />
finden, einen gemeinsamen Standpunkt über<br />
die Frage der Türkei zu formulieren. Alejo<br />
VIDAL-QUADRAS ROCA zufolge müsse<br />
dieser Standpunkt bis zur endgültigen<br />
Stellungnahme des Europäischen Parlaments<br />
als Grundlage für eine kritische und strenge<br />
Beurteilung der Beitrittsverhandlungen dienen.<br />
Es müsse jederzeit darauf geachtet werden,<br />
47<br />
dass alle Bedingungen kompromisslos erfüllt<br />
werden<br />
Ioannis MATSIS frage sich als Zyprer, ob<br />
die Türkei die Republik Zypern anerkennen<br />
werde. Die Türkei sei nämlich das einzige Land,<br />
das Zypern, einen Mitgliedstaat der<br />
Europäischen Union, noch immer nicht<br />
anerkenne.<br />
Ioannis MATSIS spreche sich für eine<br />
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der<br />
Türkei aus, sobald die Türkei bereit sei, ihre<br />
Verpflichtungen beim Schutz der<br />
Menschenrechte – auch auf Zypern – zu<br />
erfüllen. Die Europäische Union sei<br />
verpflichtet, sich dafür einzusetzen.<br />
Ferner hofft Ioannis MATSIS, dass alle<br />
Zweifel an einem friedlichen Zusammenzuleben<br />
der türkischen und griechischen Zyprer<br />
ausgeräumt werden können. Wenn das<br />
internationale Recht eingehalten werde, könne<br />
Zypern die Rolle eines Bindeglieds zwischen<br />
den Völkern der Region, einschließlich der<br />
Türkei, übernehmen und eine stabilisierende<br />
Wirkung haben.<br />
Árpád DUKA-ZÓLYOMI zufolge werde trotz<br />
der großen wirtschaftlichen Fortschritte auf<br />
gesellschaftlicher Ebene deutlich, dass die<br />
Türkei nach wie vor weit davon entfernt sei,<br />
die Kriterien von Kopenhagen zu erfüllen,<br />
insbesondere was die Einhaltung der<br />
Menschenrechte und die<br />
Sicherheitsvorkehrungen für deren Schutz<br />
angehe.<br />
Heute stelle sich die Frage, ob man wirklich<br />
von einer türkischen Demokratie sprechen<br />
könne, wenn so viele Menschen gefoltert<br />
würden. Seiner Meinung nach sei der Einsatz<br />
von Folter mit einer modernen Gesellschaft<br />
absolut unvereinbar.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Einige seien der Ansicht, die Türkei sei auf<br />
einem guten Weg. Kommissar Verheugen habe<br />
sich diesbezüglich wiederholt unverantwortlich<br />
verhalten. Die Türkei müsse die Kriterien von<br />
Kopenhagen erfüllen. Seiner Einschätzung nach<br />
sei sie jedoch zum heutigen Zeitpunkt weit<br />
davon entfernt.<br />
Er schließt mit der Anmerkung, man dürfe den<br />
Charakter der Europäischen Union nicht aus den<br />
Augen verlieren. Die Kriterien dürften nicht<br />
leichtfertig preisgegeben werden. Die<br />
Europäische Union müsse ihren Druck<br />
unbedingt aufrechterhalten.<br />
Renate SOMMER ist der Ansicht, dass die<br />
Türkei noch sehr viel Zeit benötige, bis sie der<br />
Europäischen Union beitreten könne. Die seit<br />
1999 eingeleiteten Reformen seien noch immer<br />
nicht in die Praxis umgesetzt worden.<br />
Die Türkei strebe die Mitgliedschaft seit 1963<br />
an und beschwere sich, dass sie immer wieder<br />
abgewiesen worden sei. Die Tatsache, dass der<br />
Reformprozess erst 1999 begonnen habe, sei<br />
jedoch ein Beleg dafür, dass die türkische<br />
Bevölkerung nicht die geringste Vorstellung<br />
davon habe, was ein Beitritt zur Europäischen<br />
Union bedeute.<br />
Es müsse einen Mentalitätswandel geben. Der<br />
Staat verschließe die Augen vor der Folter und<br />
toleriere „Verbrechen im Namen der Ehre“.<br />
Die Situation der Frauen sei beschämend, auch<br />
wenn sie sich mit Hinweis auf die Tradition<br />
erklären ließe. Betroffen seien vor allem die<br />
ärmsten Bevölkerungsschichten, in denen der<br />
Bildungsstand besonders niedrig sei.<br />
Der Bevölkerung müsse die Zeit für einen<br />
Mentalitätswandel gegeben werden, damit<br />
sich die Türkei an die Europäische Union<br />
annähern könne. Ein solcher Mentalitätswandel<br />
dauere jedoch mindestens zwei bis drei<br />
Generationen.<br />
48<br />
Renate SOMMER spricht sich für eine<br />
Fristsetzung im Hinblick auf die Einhaltung der<br />
Kriterien von Kopenhagen aus.<br />
Die Behörden gingen von einem automatischen<br />
Ablauf des Verfahrens aus. Kommissar<br />
Verheugen habe einen positiven Bericht<br />
angekündigt. Man könne fast darauf setzen,<br />
dass sich die Regierungschefs im Dezember<br />
für die Eröffnung von Verhandlungen<br />
aussprechen werden. Das Europäische<br />
Parlament habe daher eine große<br />
Verantwortung. Es müsse der<br />
vorherrschenden Meinung etwas<br />
entgegensetzen. Das Parlament könne die<br />
Menschenrechte nicht in der ganzen Welt<br />
verteidigen, aber bei einem Land, das der<br />
Union beitrete, könne es die Augen nicht<br />
verschließen.<br />
Renate SOMMER fordert den<br />
Berichterstatter nachdrücklich dazu auf, einen<br />
kritischen politischen Bericht zu verfassen und<br />
auf diese Weise die Meinung eines großen Teils<br />
der europäischen Bevölkerung zum Ausdruck<br />
zu bringen.<br />
Albert DESS empört sich über die<br />
Pressemitteilungen, wonach Herr Verheugen<br />
gesagt habe, dass alles geklärt sei, und zwar<br />
ungeachtet der nach wie vor bestehenden<br />
beachtlichen Lücken bei Themen wie den<br />
Menschenrechten, Armenien, Zypern, dem<br />
Kurdenproblem usw.<br />
Bei der Abstimmung über die neue Kommission<br />
könne eine Kommission, in der Kommissar<br />
Verheugen mit seinem unverantwortlichen<br />
Handeln die Zukunft Europas gefährde, nicht<br />
mit seiner Zustimmung rechnen.<br />
Nikolaos VAKALIS ist der Ansicht, dass die<br />
Türkei der Europäischen Union nicht beitreten<br />
werde, wenn sie die Kriterien nicht erfülle, da
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Europa einen stark ausgeprägten<br />
Selbsterhaltungstrieb habe. Es bleibe daher<br />
zu klären, ob die Türkei die Kriterien von<br />
Kopenhagen erfülle oder nicht.<br />
Es stelle sich die grundsätzliche Frage,<br />
welches Europa wir in der Zukunft haben<br />
wollen. Mit der Türkei oder ohne sie? Mit der<br />
Türkei als Mitgliedstaat oder mit der Türkei<br />
im Rahmen einer privilegierten Partnerschaft?<br />
Und dann sei da ja noch die Frage nach den<br />
angrenzenden Regionen.<br />
Auch für Zuzana ROITHOVÁ ist weniger die<br />
Frage entscheidend, ob die Türkei der<br />
Europäischen Union beitreten werde oder nicht,<br />
sondern vielmehr die Frage, welches Europa<br />
wir zukünftig wollten.<br />
Es sei eindeutig, dass die Türkei die Kriterien<br />
von Kopenhagen nicht erfülle. Daher dürfe die<br />
Türkei der Europäischen Union nicht beitreten.<br />
Die Europäische Union habe jedoch die Pflicht,<br />
nach Mitteln und Wegen zu suchen, um die<br />
Entwicklung der Menschenrechte in der Türkei<br />
positiv zu beeinflussen. Dieses Kriterium sei<br />
noch wichtiger als die übrigen.<br />
In diesem Sinne sei die Idee einer<br />
privilegierten Partnerschaft zu entwickeln.<br />
Dieses alternative Konzept müsse jedoch noch<br />
konkretisiert und mit Inhalten gefüllt werden.<br />
Yusuf ALATAS sagt, er habe die Diskussionen<br />
mit Interesse verfolgt und sei mit den meisten<br />
kritischen Anmerkungen einverstanden. Auch<br />
er sei der Ansicht, dass der Türkei kein<br />
Blankoscheck ausgestellt werden könne. Die<br />
Türkei müsse die Situation der<br />
Menschenrechte verbessern.<br />
Einige hätten jedoch die Ansicht geäußert, dass<br />
die Türkei selbst dann nicht als Vollmitglied,<br />
sondern nur im Rahmen einer privilegierten<br />
49<br />
Partnerschaft akzeptiert werden sollte, wenn<br />
sie alle politischen Kriterien erfülle.<br />
Dieser Vorschlag sei den bisherigen Kandidaten<br />
nicht unterbreitet worden. Es sei<br />
selbstverständlich, dass die Türkei solange<br />
kein Vollmitglied werde, bis nicht alle Kriterien<br />
erfüllt seien. Aber er könne die Logik, mit der<br />
man der Türkei eine andere Lösung vorschlagen<br />
wolle, nicht nachvollziehen. Seines Erachtens<br />
handle es sich dabei um ein diskriminierendes<br />
Verhalten.<br />
Im Bereich der Menschenrechte gebe es in der<br />
Türkei Defizite. Es dürfe jedoch nicht außer<br />
Acht gelassen werden, dass gerade die<br />
Minderheiten (Armenier, Griechen, Kurden)<br />
einen Beitritt zur Europäischen Union<br />
befürworteten.<br />
Einige äußerten die Ansicht, dass ein<br />
Mentalitätswandel mehrere Generationen in<br />
Anspruch nehmen würde. Er glaube dies nicht.<br />
Diese Ansicht zeige vielmehr, dass die<br />
Europäer zu wenig über die Türkei wüssten.<br />
Die Türkei habe in wenigen Jahren so viele<br />
Dinge bewegt, für die andere Länder<br />
Jahrzehnte benötigt hätten.<br />
Die türkische Gesellschaft und die türkische<br />
Bevölkerung seien nicht so rückständig, wie<br />
angenommen werde. Die türkische<br />
Gesellschaft dürfe nicht anhand der türkischen<br />
Immigranten in Europa beurteilt werden. Bei<br />
ihnen handle es sich um Personen, die vor 30<br />
Jahren nach Europa gekommen seien und nicht<br />
an der Entwicklung in der Türkei teilgenommen<br />
hätten.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Gabriele JUEN betont, dass es für die Gewalt<br />
gegen Frauen in der Türkei eine Vielzahl<br />
kultureller Gründe gebe. Es sei aber durchaus<br />
sinnvoll, die Situation in der Türkei mit der in<br />
der Europäischen Union zu vergleichen. So<br />
käme es beispielsweise in Österreich lediglich<br />
in 20 % aller Vergewaltigungen zu einer<br />
Verurteilung. In Spanien wiesen die Statistiken<br />
zahlreiche Fälle ehelicher Gewalt auf.<br />
Armin LASCHET erinnert daran, dass sich die<br />
Kriterien von Kopenhagen nicht nur an die<br />
Türkei richteten, sondern an die gesamte<br />
Europäische Union.<br />
Seiner Ansicht nach sei die Europäische Union<br />
nicht in der Lage, ein Land von der Größe der<br />
Türkei aufzunehmen. Die beste Alternative<br />
wäre eine privilegierte Partnerschaft. Es sei<br />
unmöglich, den Anwendungsbereich sämtlicher<br />
Richtlinien des europäischen Rechts bis an die<br />
irakischen Grenzen auszudehnen (die Richtlinien<br />
über Flora, Fauna, Trinkwasser usw.). Die<br />
Lösung könne in einer Beteiligung der Türkei<br />
an der GASP und am Gemeinsamen Markt<br />
liegen, ohne den gesamten Acquis<br />
communautaire anzuwenden.<br />
Simon BUSUTTIL weist auf die<br />
Meinungsverschiedenheiten hin, die es<br />
innerhalb der EVP-ED-Fraktion beizulegen<br />
gelte.<br />
Ein Teil der Fraktion vertrete die Auffassung,<br />
der Beitritt der Türkei müsse von vornherein<br />
ausgeschlossen werden. Ein anderer Teil der<br />
Fraktion sei der Ansicht, dass die Türkei<br />
beitreten könne, wenn die Kriterien für den<br />
Beitritt erfüllt seien.<br />
Die Schwierigkeit liege darin, den Zeitpunkt<br />
festzulegen, an dem der Türkei bescheinigt<br />
werden könne, dass sie im Hinblick auf die<br />
politischen Kriterien ausreichende Fortschritte<br />
für eine Aufnahme in die Europäische Union<br />
gemacht habe.<br />
50<br />
Nach Ansicht von Simon BUSUTTIL sollte es<br />
ein objektives Verfahren geben. Der Türkei<br />
solle unvoreingenommen begegnet werden,<br />
ohne einen Beitritt von vornherein<br />
auszuschließen. Daher sei die Aufgabe des<br />
Berichterstatters sehr schwierig!<br />
Camiel EURLINGS, Leiter der<br />
niederländischen Delegation der EVP-ED-<br />
Fraktion dankt allen Rednern und jenen, die<br />
auf den Bericht Bezug genommen hätten, den<br />
er zu verfassen habe. Einige seien der Ansicht<br />
gewesen, dass der Bericht nicht diplomatisch<br />
ausfallen dürfe. Er werde diese Anregung<br />
aufnehmen.<br />
Seiner Meinung nach sei die Einhaltung der<br />
Kriterien nicht die einzige Frage, die sich stelle.<br />
Die entscheidende Frage sei, ob die Türkei ein<br />
Mitgliedstaat werden könne. Aber selbst wenn<br />
man zu dem Schluss kommen sollte, dass der<br />
Europäische Rat Unrecht gehabt und die Situation<br />
nicht richtig eingeschätzt habe, könnte<br />
es dennoch zu einer Mehrheit im Europäischen<br />
Parlament kommen.<br />
Als Berichtserstatter stütze er sich auf die<br />
verschiedenen vom Parlament angenommenen<br />
Entschließungen und hoffe, einen Bericht<br />
vorlegen zu können, in dem kritische Punkte<br />
offen angesprochen würden. Dies sei jedoch<br />
nicht ganz einfach, da sich in der EVP-ED-<br />
Fraktion und in anderen Fraktionen einige für<br />
und andere gegen eine Kandidatur aussprächen.<br />
Camiel EURLINGS erläutert die Punkte, die<br />
er beabsichtige, in den Bericht aufzunehmen,<br />
noch etwas genauer. Er werde die<br />
unverantwortliche Haltung von Kommissar<br />
Verheugen und dessen Aufsehen erregende<br />
Kehrtwendung kritisieren. Auf jeden Fall<br />
müsse klar und deutlich gesagt werden, wenn<br />
die Kriterien nicht erfüllt sein sollten. Es müsse<br />
ein kritischer Standpunkt eingenommen<br />
werden. Im Mittelpunkt des Dialogs mit der
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
Türkei müssten künftig unabhängig von der<br />
Entscheidung des Rates die politischen<br />
Kriterien stehen. Die Eröffnung von<br />
Verhandlungen stelle darüber hinaus noch keine<br />
Vorentscheidung über deren Ausgang dar. Das<br />
Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in der<br />
Europäischen Union dürfe nicht gefährdet<br />
werden.<br />
Camiel EURLINGS versichert, dass er keine<br />
diplomatische Grundhaltung einnehmen werde.<br />
Er wisse, dass seine Aufgabe als<br />
Berichtserstatter nicht einfach sei. Er hoffe<br />
auf die Unterstützung der EVP-ED-Fraktion,<br />
damit sich eine kritische Stimme im<br />
Europäischen Parlament Gehör verschaffen<br />
könne und nicht unter jenen zahlreichen<br />
Stimmen untergehe, die jegliche Kritik an der<br />
Türkei unterdrücken wollten.<br />
Hans-Gert PÖTTERING, Vorsitzender der<br />
EVP-ED-Fraktion<br />
51<br />
Schlussfolgerungen<br />
Der Vorsitzende Hans-Gert PÖTTERING<br />
schließt die Aussprache und dankt den<br />
Rednern.<br />
Auch wenn es in der EVP-ED-Fraktion gewisse<br />
Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang<br />
mit einem möglichen Beitritt der Türkei gebe,<br />
sei es dennoch möglich, eine Position zu<br />
entwickeln, auf die sich die Mehrheit der<br />
Fraktion verständigen könne.<br />
In der Aussprache sei betont worden, dass<br />
man bei der Formulierung des Berichts bzw.<br />
der Entscheidungsfindung beim Thema Türkei<br />
nicht bei Null anfangen müsse. Das Verfahren<br />
sei bereits im Gange und jede Institution der<br />
Europäischen Union habe entsprechend den<br />
vorgesehenen Verfahren ein Mitspracherecht.<br />
Auch wenn es schwierig sei, Schlüsse aus der<br />
Eröffnung der Verhandlungen zu ziehen, hoffe<br />
er, dass über alle diese Fragen erneut<br />
vernünftig, fundiert und unvoreingenommen<br />
diskutiert werde, wenn die Entscheidung auf<br />
der Grundlage des Berichts von Camiel<br />
EURLINGS anstehe. Nach diesem Bericht<br />
würden das Verfahren fortgesetzt und<br />
diejenigen Elemente ermittelt, bei denen<br />
Übereinstimmung bestehe.<br />
Der Berichterstatter habe ein wichtige<br />
Aufgabe zu erfüllen. Er müsse einen Bericht<br />
verfassen, dem eine möglichst große Mehrheit<br />
im Parlament zustimmen könne.
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004
Veröffentlicht durch EVP-ED-Fraktion im<br />
Europaïschen Parlament<br />
Editor: Dienststelle Dokumentation -<br />
Veröffentlichungen - Forschung<br />
Redaktion: Christine DETOURBET<br />
Mitarbeit: Vera Benito, Barbara Sledsens<br />
Photos: Pressedienststelle der EVP-ED-<br />
Fraktion<br />
Adresse: Europäisches Parlament<br />
47-53 rue Wiertz<br />
B - 1047 Brüssel<br />
Belgien<br />
Internet: http://www.epp-ed.org<br />
E-mail: epp-ed@europarl.eu.int<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
EVP - ED<br />
Fraktion der Europaïschen Volkspartei<br />
(Christdemokraten) und europäischer<br />
Demokraten
THEMA I: BEZIEHUNGEN EU-TÜRKEI<br />
Edgar Lenski, Lehrbeauftrager; João Pinheiro,<br />
Stellvertretender Vorsitzender der EVP-ED-<br />
Fraktion; Pascal Fontaine, Stellvertretender<br />
Generalsekretär<br />
Edgar LENSKI, Dozent an der Humboldt-<br />
Universität Berlin, spricht über den Beitritt<br />
der Türkei und seine Auswirkungen für die<br />
Europäische Union.<br />
Er hebt hervor, dass an dem Tag, da die Türkei<br />
Mitglied der Europäischen Union werde – wenn<br />
sie es denn wird –, die Verfassung bereits in<br />
Kraft sein werde. Vermutlich würden dann auch<br />
Rumänien, Bulgarien und möglicherweise<br />
Kroatien bereits der Europäischen Union<br />
angehören.<br />
Der Beitritt der Türkei könnte im Jahr 2007<br />
erfolgen, wenn alles wie vorgesehen verläuft.<br />
Die Europäische Union werde dann 27 oder 28<br />
Mitgliedstaaten zählen, die alle die Europäische<br />
Verfassung einhalten werden.<br />
Im Jahr 1963 habe die Europäische<br />
Wirtschaftsgemeinschaft ein<br />
Assoziierungsabkommen mit der Türkei<br />
geschlossen: das Abkommen von Ankara.<br />
Heute würden die Beziehungen zwischen der<br />
Türkei und der Europäischen Union durch die<br />
im Jahr 1995 errichtete Zollunion geregelt.<br />
Diese Zollunion habe der Türkei bereits eine<br />
weitgehende Integration auf der rechtlichen<br />
Ebene des europäischen Systems ermöglicht.<br />
In gewissem Maße komme diese Integration<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
2<br />
einem Beitritt nahe. Das große politische Ziel<br />
der Türkei, die von dem Willen getragen ist,<br />
diese Entwicklung fortzusetzen, sei jedoch der<br />
Beitritt zur Union.<br />
Heute sei die Türkei ein mehr oder weniger<br />
europäischer Staat, der etwa 70 Millionen<br />
Einwohner zählt. Schätzungen der Vereinten<br />
Nationen zufolge wird die Bevölkerungszahl in<br />
fünf oder sechs Jahren bei 80 Millionen liegen<br />
und im Jahr 2035 100 Millionen erreichen. Die<br />
Türkei wäre also der größte Mitgliedstaat der<br />
Europäischen Union.<br />
Wenngleich die Türkei von der<br />
Bevölkerungszahl her ein großes Land sei, sei<br />
sie doch in wirtschaftlicher Hinsicht ein kleines<br />
Land. Ihr BIP sei mehr oder weniger<br />
vergleichbar mit dem BIP der zehn neuen<br />
Mitgliedstaaten zusammengenommen.<br />
Obwohl derzeit noch viele Schwierigkeiten<br />
einer Lösung bedürfen, insbesondere auf dem<br />
Gebiet der Menschenrechte, geht Edgar<br />
LENSKI nicht auf Details der wirtschaftlichen<br />
und politischen Kriterien, die die Türkei<br />
erfüllen muss, ein, denn all diese Kriterien<br />
werden, wenn die Türkei eines Tages der Union<br />
beitritt, auf alle Fälle erfüllt sein.<br />
Nach vollzogenem Beitritt wäre die Türkei<br />
neben Frankreich, Italien, Deutschland,<br />
Großbritannien, Spanien und Polen eines der<br />
sieben großen EU-Mitgliedstaaten. Welche<br />
Auswirkungen hätte das für die Europäische<br />
Union?<br />
In konstitutioneller Hinsicht<br />
Was das Europäische Parlament betrifft, dem<br />
gemäß der Verfassung 750 Mitglieder<br />
angehören würden, so hätte die Türkei<br />
entweder die größte Zahl von<br />
Europaabgeordneten oder eine Zahl, die nach<br />
der Neuordnung dieser Zahlen der<br />
Deutschlands, Frankreichs und
Großbritanniens vergleichbar wäre. In jedem<br />
Falle würden die türkischen Abgeordneten mit<br />
etwa 80 Europaabgeordneten die größte Delegation<br />
ausmachen.<br />
In der Kommission würde das Rotationssystem<br />
in Kraft treten, und die Türkei würde alle fünf<br />
oder zehn Jahre ein Kommissionsmitglied<br />
stellen. Sollte jedoch der Rat im Jahr 2014<br />
beschließen, das System beizubehalten, das<br />
jedem Mitgliedstaat seinen Kommissar sichert,<br />
so hätte die Türkei ebenfalls einen Kommissar.<br />
Was den Rat betrifft, so wäre die Türkei<br />
ebenso wie die übrigen Mitgliedstaaten<br />
vertreten, das heißt durch einen Vertreter in<br />
jeder Ratsformation, dessen Gewicht nach der<br />
neuen Verfassung von der Bevölkerungszahl<br />
abhängen würde. Da die Bevölkerungszahl der<br />
Türkei entweder die höchste oder die<br />
zweithöchste unter allen Mitgliedstaaten wäre,<br />
hätte das beträchtliche Auswirkungen im Rat.<br />
Hinsichtlich der Haltung der Türkei gegenüber<br />
der europäischen Integration und der<br />
Verfassung hat Edgar LENSKI den Eindruck,<br />
dass in der Türkei nach wie vor sehr<br />
unterschiedliche politische Auffassungen zur<br />
europäischen Integration bestehen. Das Establishment<br />
könne die Bedeutung des europäischen<br />
Projekts nicht ermessen und betrachte die<br />
europäische Integration als eine Art<br />
erweiterter Zollunion. Die Geschäftswelt<br />
ihrerseits betrachte die Europäische Union als<br />
einen interessanten Markt und sei bereit, sich<br />
den wirtschaftlichen Herausforderungen zu<br />
stellen. Nur eine kleine Schicht der<br />
Gesellschaft sehe die europäische Integration<br />
als ein politisches Projekt gemeinsamer Werte<br />
und einer moralischen Gemeinschaft. Was die<br />
Haltung gegenüber der europäischen Integration<br />
betreffe, bleibe also noch viel zu tun, damit<br />
die Türkei und die türkischen Mitglieder in den<br />
verschiedenen Institutionen nicht zum<br />
Auslöser großer Schwierigkeiten in der<br />
Funktionsweise der Organe werden.<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
3<br />
Betrachtet man die konstitutionelle Wirkung<br />
auf die Institutionen und die türkische Haltung<br />
zur europäischen Integration<br />
zusammengenommen, so betreffe die<br />
Hauptschwierigkeit nicht die Kommission – denn<br />
der Kommissar wird in die Struktur des<br />
Kollegiums integriert – und auch nicht das<br />
Parlament – denn die Parlamentarier seien auf<br />
die Fraktionen verteilt, und die türkischen<br />
Mitglieder des Europäischen Parlaments<br />
würden also keinen Block bilden. Nach<br />
Auffassung von Edgar LENSKI werde das<br />
Problem sich im Wesentlichen auf der Ebene<br />
des Rates stellen.<br />
Wie sieht nun Europa die Türkei? Nach<br />
Auffassung von Edgar LENSKI bestehe im<br />
Gegensatz zu der Art moralischer<br />
Verpflichtung zur Beendigung des kalten<br />
Krieges, die die Union der 15 gegenüber den<br />
zehn neuen Mitgliedstaaten empfand, keinerlei<br />
moralisches Gefühl gegenüber dem Beitritt<br />
der Türkei. Das könnte sich auf eine eventuelle<br />
Erweiterung um die Türkei auswirken. Vielmehr<br />
bestehe der diffuse Eindruck, dass es eine<br />
Verpflichtung gebe, ein früher gegebenes<br />
Versprechen einzulösen.<br />
In wirtschaftlicher Hinsicht<br />
Die finanziellen Auswirkungen des türkischen<br />
Beitritts werden gigantisch sein: selbst wenn<br />
die gemeinsame Agrarpolitik und die<br />
Regionalpolitik in ihrer gegenwärtigen Form<br />
nicht verlängert werden, wird die Türkei<br />
enorme Auswirkungen auf diese Politikfelder<br />
haben. Die türkische Wirtschaft sei nicht sehr<br />
entwickelt, abgesehen von dem gewissen<br />
Wachstum, das zu verzeichnen sei und den<br />
derzeit positiven Wirtschaftsindikatoren, sei<br />
doch ihr wirtschaftliches Gewicht nach wie vor<br />
sehr gering.
Hinsichtlich des Arbeitsmarktes können die<br />
Auswirkungen des türkischen Beitritts unter<br />
zwei Gesichtspunkten gesehen werden.<br />
Das Assoziierungsabkommen, die<br />
Zusatzprotokolle und die verschiedenen<br />
Abkommen auf der Ebene des Rates hätten<br />
die rechtliche Integration der auf dem<br />
europäischen Arbeitsmarkt anwesenden<br />
türkischen Arbeitnehmer bereits entwickelt.<br />
Diesbezüglich werde der Beitritt der Türkei<br />
also keine nennenswerten Auswirkungen haben.<br />
Andererseits hält Edgar LENSKI die<br />
Befürchtung, dass der Arbeitsmarkt der<br />
Mitgliedstaaten durch eine neue türkische<br />
Zuwanderungswelle überschwemmt werden<br />
könnte, nicht für gerechtfertigt (nach einigen<br />
Berechnungen wurde ein Zustrom von bis zu<br />
vier Millionen neuen türkischen Arbeitnehmern<br />
in die derzeitigen Mitgliedstaaten<br />
angekündigt). Wenn die Türkei der Union<br />
beitrete, so werde sie in gewissem Maße ihre<br />
wirtschaftliche Situation stabilisiert haben.<br />
Dieses Potenzial von vier Millionen<br />
Zuwanderern scheine also übertrieben. Trotz<br />
allem könne dies jedoch einen gewissen Druck<br />
auf die Anpassung der Arbeitsgesetzgebung<br />
ausüben, um dem gewaltigen<br />
Wettbewerbsdruck, der von der Türkei<br />
ausgehe, Rechnung zu tragen.<br />
Die allgemeinen wirtschaftlichen Auswirkungen<br />
des türkischen Beitritts werden für die<br />
türkische Wirtschaft, die dann leichter Zugang<br />
zum EU-Markt hätte, sehr groß sein.<br />
Umgekehrt sei in der Türkei ein großes<br />
Investitionspotenzial für die europäischen<br />
Unternehmen zu erwarten.<br />
Die mögliche Einleitung von Verhandlungen mit<br />
der Europäischen Union habe in der Türkei einen<br />
starken Druck in Richtung auf die Umsetzung<br />
politischer und wirtschaftlicher Reformen<br />
ausgelöst. Diese Reformen seien absolut<br />
notwendig. Sie hätten nicht nur mit der<br />
Perspektive des Beitritts zur Europäischen<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
4<br />
Union zu tun. Der EU-Beitritt sei nur der<br />
Katalysator.<br />
Als Schlussfolgerung unterstreicht Edgar<br />
LENSKI, dass, falls die Kommission der<br />
Auffassung sein sollte, dass die politischen<br />
Kriterien hinreichend eingehalten werden, was<br />
aus seiner Sicht nicht der Fall sei, das<br />
Europäische Parlament die Entwicklung der<br />
Verhandlungen genauestens verfolgen sollte.<br />
Dabei seien nicht ausschließlich die politischen<br />
und wirtschaftlichen Kriterien zu<br />
berücksichtigen, das würden die Kommission<br />
und die GD Erweiterung ohnehin tun. Besondere<br />
Aufmerksamkeit gebühre den politischen<br />
Vorstellungen über die europäische Integration<br />
in der Türkei und der allgemeinen Haltung<br />
hinsichtlich der Integration.<br />
Abschließend erinnert Edgar LENSKI daran,<br />
dass eines der Kriterien von Kopenhagen<br />
besage, dass die Europäische Union in der Lage<br />
sein müsse, die neu beitretenden Länder zu<br />
akzeptieren und einzugliedern. Wenn es nun<br />
der Europäischen Union gelungen sei, zehn<br />
Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa<br />
sowie Malta aufzunehmen, so stelle sich die<br />
Frage, ob sie in der Lage sei, nach dieser<br />
Erweiterung noch einen weiteren Mitgliedstaat<br />
wie die Türkei zu verkraften. Edgar LENSKI<br />
fürchtet, das hoch entwickelte politische und<br />
rechtliche System, wie es die Europäische<br />
Union darstelle, könne zusammenbrechen,<br />
wenn man einen Mitgliedstaat akzeptiere, der<br />
nicht in der Lage wäre, die aus der EU-<br />
Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen<br />
zu erfüllen.
Alexandre DEL VALLE, Rechercheur;<br />
Edgar LENSKI, Lehrbeauftragter<br />
Für den französischen Wissenschaftler<br />
Alexandre DEL VALLE wirft der Beitritt der<br />
Türkei zur Europäischen Union zwangsläufig<br />
dreierlei große Probleme auf:<br />
Geopolitische und sicherheitspolitische<br />
Probleme:<br />
Die Behauptung, dass die Türkei in Europa eine<br />
Lösung gegen den Islamismus oder den<br />
Terrorismus wäre, dürfe nicht für bare Münze<br />
genommen werden.<br />
Alexandre Del Valle erinnert diesbezüglich<br />
daran, dass die Türkei eine gemeinsame Grenze<br />
mit dem Iran der Mullahs, mit Syrien, das mit<br />
der Hizbollah verbunden ist, mit dem Irak des<br />
antiwestlichen Jihad der Al Qaida, mit<br />
Aserbaidschan und Georgien als<br />
Durchgangsstationen der islamistischen<br />
Terroristen des tschetschenischen Jihad, mit<br />
den geopolitisch instabilsten Regionen der Welt<br />
im Kaukasus und eine virtuelle kulturelle<br />
Grenze mit den 200 Millionen turksprachigen<br />
Menschen, die im Übrigen im Beitritt der<br />
Türkei eine Büchse der Pandora für die Öffnung<br />
der Europäischen Union für das gesamte<br />
turksprachige Zentralasien, das bis nach<br />
Nordchina reicht, sehen.<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
5<br />
Der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union<br />
würde zugleich die Büchse der Pandora der<br />
Erweiterung auf die islamische Welt öffnen:<br />
Tunesien, Algerien (wenn es einst ein wenig<br />
mehr befriedet sein werde) und Marokko<br />
würden darin ebenfalls einen ersten Schritt in<br />
Richtung auf ihre eigene Kandidatur sehen.<br />
Wenn man eines Tages 100 Millionen Türken in<br />
der Europäischen Union akzeptiert, warum dann<br />
nicht die sechs Millionen Tunesier oder die<br />
25 Millionen Algerier und Marokkaner?<br />
Der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union<br />
würde für die EU ein bislang nie dagewesenes<br />
geopolitisches und ein Grenzproblem mit sich<br />
bringen. Aus der Sicht von Alexandre Del Valle<br />
ist es bedauerlich, dass diese Debatte über<br />
die Grenzen Europas niemals stattgefunden<br />
hat. Europa handle mehr und mehr wie eine Art<br />
„rechtliches Empire“, das zwar demokratisch,<br />
aber doch ein Empire sei. Die Definition des<br />
Begriffs Empire laute: unbeschränkte nicht<br />
definierte Ausdehnung ohne feste Grenzen.<br />
Der große Vorwurf derer, die für den Beitritt<br />
der Türkei zu Europa sind, betreffe das Risiko<br />
für Europa, als ein christlicher Club<br />
wahrgenommen zu werden. Der legitime Wille,<br />
nicht als christlicher Club oder nicht rassistisch<br />
zu erscheinen, dürfe jedoch nicht dazu führen,<br />
der Debatte über die Grenzen Europas aus<br />
dem Wege zu gehen.<br />
Die Behauptung, eine gemäßigte islamistische<br />
Türkei sei eine Lösung gegen den Islamismus,<br />
stellt ebenfalls ein ernstes Problem dar. Die<br />
radikalsten islamistischen Organisationen der<br />
Welt seien nicht nur in der Türkei stark<br />
verankert, sondern vor allem im Osten der<br />
Türkei, dem anatolischen Landesteil und<br />
Kurdistan.<br />
Es besteht eine direkte Verbindung zwischen<br />
den großen, Al Qaida nahe stehenden<br />
Organisationen in Irakisch-Kurdistan und den<br />
islamistischen Organisationen in Türkisch-
Kurdistan. Geopolitisch gesehen gäbe es einen<br />
direkten Übergang, der bald keine Grenze<br />
mehr haben werde, zwischen der Europäischen<br />
Union und den gefährlichsten islamistischen<br />
terroristischen Hochburgen der Welt.<br />
Die geopolitischen und sicherheitspolitischen<br />
Probleme bleiben also bestehen, und<br />
kategorisch zu behaupten, dass die Türkei eine<br />
Lösung gegen den Terrorismus und den<br />
Islamismus sei, sei nichts als eine bloße<br />
Behauptung, die längst nicht bewiesen sei.<br />
Völkerrechtliche und europarechtliche<br />
Probleme und Probleme der<br />
Rechtsstaatlichkeit<br />
Aus völkerrechtlicher Sicht erinnert<br />
Alexandre Del Valle daran, dass die Türkei<br />
trotz des Annan-Plans weiterhin die<br />
Marionettenrepublik in Nordzypern anerkennt,<br />
die 37 % des Territoriums der Insel besetzt<br />
hält. Diese Situation stelle einen nie<br />
dagewesenen Fall dar, denn diese Republik im<br />
Norden werde nicht nur durch die<br />
internationale Gemeinschaft nicht anerkannt,<br />
sondern die Türkei wie auch der türkische Teil<br />
Zyperns erkennen absolut nicht die Einheit an,<br />
die gerade der Europäischen Union beigetreten<br />
ist, die Republik Zypern, die international<br />
anerkannt ist und lediglich durch die Türkei in<br />
Frage gestellt wird.<br />
Kommissar Verheugen habe unlängst erklärt,<br />
dass die Nichtanerkennung Zyperns durch die<br />
Türkei kein Hinderungsgrund für die Aufnahme<br />
von Verhandlungen sein dürfe. Diese<br />
Behauptung sei, so Alexandre Del Valle, vom<br />
Standpunkt der europäischen<br />
Rechtsstaatlichkeit äußerst schwerwiegend.<br />
Die Europäische Union sei eine Gemeinschaft,<br />
und man könne sich nicht aussuchen, einer<br />
Gemeinschaft à la carte beizutreten, indem<br />
man einige ihrer Mitglieder akzeptiert und ein<br />
anderes ausschließt. Zypern sei als einziger<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
6<br />
legaler Vertreter, als politische und rechtliche<br />
Einheit Zypern anerkannt, und als solche sei<br />
es der Europäischen Union beigetreten.<br />
Fragen der Moral und der Werte<br />
Wie soll man es in der Europäischen Union, die<br />
gewiss kein christlicher Club ist und es auch<br />
nicht sein soll, die aber mehrheitlich aus<br />
Ländern mit christlicher und katholischer Tradition<br />
besteht, hinnehmen, dass beispielsweise<br />
heute in der Türkei, einem so genannten<br />
laizistischen und pluralistischen Land, die<br />
katholische Kirche noch immer keinen Status<br />
besitzt und noch immer nicht das Recht hat,<br />
Geld zu verlangen oder auch nur privat Geld<br />
zu sammeln, und sei es für die Renovierung<br />
einer Kirche?<br />
Wie kann man von einem laizistischen Staat<br />
sprechen, wenn 70 % der Frauen verschleiert<br />
sind, wenn der Staat 90 000 Imame und<br />
Tausende von Moscheen unterhält, wenn dieser<br />
gleiche Staat die Religion im Personalausweis<br />
vermerkt und Nichtmoslems die Tätigkeit im<br />
höheren öffentlichen und militärischen Dienst<br />
untersagt?<br />
Alexandre Del Valle hebt hervor, dass die<br />
Türkei ein innerlich außerordentlich stark<br />
zerrissenes Land sei.<br />
Aus geopolitischer Sicht gebe es zwei Länder<br />
in der Türkei. Einerseits eine große islamischasiatische<br />
Türkei, die historisch gesehen 80 %<br />
der Bevölkerung und 85 % des türkischen<br />
Territoriums ausmacht und äußerst<br />
unterschiedliche Sitten aufweist, mit<br />
Traditionen der Ehrenverbrechen und einem<br />
Frauenstatus, der dem im Iran und in den<br />
Golfstaaten vergleichbar ist. Andererseits<br />
eine sehr europäische Türkei auf 3-4 % des<br />
Territoriums, mit sehr modernen Sitten, wo<br />
ehemalige Griechen, oberflächlich islamisierte<br />
ehemalige Armenier oder ehemalige Albaner<br />
leben, deren Sitten sehr viel stärker
europäisch geprägt sind, die wohlhabender sind<br />
und sich zu einer Form von Laizität bekennen.<br />
Aber diese Türkei wird gegenwärtig durch die<br />
an der Macht befindliche islamistische Türkei<br />
bekämpft.<br />
Aus der Sicht von Alexandre Del Valle spielt<br />
Brüssel mit der Forderung nach dem Abbau<br />
der politischen Macht der Armee als dem<br />
einzigen Garanten für die prowestliche<br />
laizistische türkische Ausrichtung den<br />
Islamisten in Ankara in die Hände.<br />
Wenn sie entmilitarisiert würde, und das ist<br />
das Ziel von Premierminister Erdogan, der von<br />
der radikalsten islamistischen Strömung<br />
herkommt, würde die Türkei zunehmend<br />
reislamisiert. Wer behaupte, die an der Macht<br />
befindlichen türkischen Islamisten seien<br />
„gemäßigt“, vergesse die Worte von<br />
Premierminister Erdogan oder seinem<br />
Außenminister, dem Pro-Saudi Abdullah Gül,<br />
der bei einer Veranstaltung der deutschen<br />
SPD die Polygamie rechtfertigte. Kürzlich<br />
wollten sie nicht nur den Ehebruch unter<br />
Strafe stellen, sondern das Gesetz über den<br />
Ehebruch im Strafgesetzbuch sah auch vor,<br />
jeden Jugendlichen unter 18 Jahre, der beim<br />
Flirt überrascht wird, zu acht Monaten<br />
Gefängnis zu verurteilen.<br />
Die Probleme der Moral: Die Europäische Union<br />
sei zwar ein Raum des Friedens und der<br />
Demokratie, aber zivilisatorisch sei sie<br />
(natürlich „vorrangig“) mit den Völkern mit<br />
jüdisch-christlicher Kultur verbunden, die<br />
durch das in Europa beheimatete griechischlateinische<br />
Denken geprägt seien. Da müssten<br />
schon viele Völker vor der Türkei<br />
demokratisiert werden, denn die Ukraine,<br />
Weißrussland und Russland seien sehr viel<br />
europäischer.<br />
In der Türkei sei das Problem anders gelagert.<br />
Sie wurde „gesäubert“ und ist heute zu 99 %<br />
moslemisch seit dem Völkermord an<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
7<br />
1,5 Millionen armenischen und assyrischchaldäischen<br />
Christen (1916) und seit der<br />
Vertreibung von zwei Millionen Griechen im<br />
Jahr 1922. Diese Verbrechen wurden nicht nur<br />
niemals aufgearbeitet, sondern die Negierung<br />
des Völkermords werde sogar in der Schule<br />
gelehrt. Das sei nicht bloßes Vergessen,<br />
sondern da werde staatlich verordneter<br />
Negationismus gelehrt, der noch weiter gehe<br />
als der Negationismus der Shoah in Europa,<br />
denn es sei einfach eine Verdrehung der<br />
Tatsachen. Die vom Bildungsministerium<br />
verteilten Schulbücher klagten die Armenier<br />
an, schlechte christliche Bürger zu sein, die die<br />
türkischen Frauen vergewaltigten, die mit<br />
Russland kollaborierten und „Völkermord“ an<br />
Hunderttausenden Türken verübt hätten.<br />
Ein weiteres Detail, das nach Meinung von<br />
Alexandre Del Valle einige Beobachter hätte<br />
aufschrecken müssen: Herr Erdogan<br />
persönlich habe unlängst ein Recht auf<br />
Einmischung innerhalb des griechischen<br />
Hoheitsgebiets im Namen der so genannten<br />
griechischen Moslems, die durch den<br />
griechischen Staat verfolgt würden,<br />
gefordert. Hingegen wisse jeder kundige<br />
Beobachter sehr gut, dass die Moslems in<br />
Griechenland einen Autonomiestatus gegenüber<br />
der Sharia und einen in Europa einmaligen<br />
persönlichen Status genießen.<br />
Wie Alexandre Del Valle erklärt, wäre es aus<br />
seiner Sicht ein schwerwiegender Fehler für<br />
die Interessen der Europäer, die Interessen<br />
der Anhänger der Laizität in der Türkei sowie<br />
für die grundsätzlichen Fragen der<br />
Grundwerte der Europäischen Union, wenn man<br />
den Beitritt eines Landes akzeptierte, das<br />
staatlichen Negationismus betreibt und größte<br />
Schwierigkeiten hat, auch nur die geringste<br />
selbstkritische Prüfung vorzunehmen.
José Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />
NEYRA, EVP-ED-Obmann im Ausschuss für<br />
auswärtige Angelegenheiten<br />
José-Ignacio SALAFRANCA SÀNCHEZ-<br />
NEYRA (Obmann der EVP-ED im Ausschuss<br />
für auswärtige Angelegenheiten), hält es bei<br />
so einem heiklen Thema für wichtig, dass die<br />
Parlamentarier den von der internationalen<br />
Gemeinschaft ausgesandten Signalen<br />
besondere Aufmerksamkeit schenken.<br />
Eines dieser Signale laute, dass man das<br />
Schwergewicht nicht nur auf Wissen und<br />
Kenntnisse legen dürfe, sondern auch auf den<br />
Dialog als Form des fruchtbaren Austauschs.<br />
Ein anderes von der Gesellschaft ausgesandtes<br />
Signal erinnere in diesem Jahr der Erweiterung<br />
um zehn neue Mitgliedstaaten daran, dass die<br />
Freiheit die ethische Standarte der<br />
Europäischen Union sei.<br />
In diesem Geiste des Dialogs und der Freiheit<br />
äußert Jóse Ignacio SALAFRANCA<br />
SÁNCHEZ-NEYRA seine Überlegungen zu der<br />
äußerst komplexen Frage des Beitritts der<br />
Türkei.<br />
Zum Verfahren ist José Ignacio<br />
SALAFRANCA SÁNCHEZ-NEYRA der<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
8<br />
Auffassung, dass die EVP-ED-Fraktion, die bis<br />
vor kurzem Fraktion der Christdemokraten<br />
genannt wurde, keine dogmatische Haltung<br />
beziehen darf. Man müsse zunächst die<br />
Prämissen aufstellen und erst dann<br />
Schlussfolgerungen ziehen, und nicht zuerst von<br />
den Schlussfolgerungen ausgehen, um dann zu<br />
überlegen, wie man auf dieser Grundlage<br />
Prämissen aufstellen kann.<br />
Dann müsse die Debatte rationell und objektiv<br />
geführt werden.<br />
Hierzu ruft er einige wichtige Fakten in<br />
Erinnerung: der Europäische Rat von Helsinki<br />
gestattete der Türkei, den Antrag auf den<br />
Beitritt zu stellen. Die Kommission werde im<br />
Oktober ihre Stellungnahme zur Aufnahme von<br />
Verhandlungen abgeben und das Europäische<br />
Parlament werde darüber im Plenum beraten.<br />
José Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />
NEYRA hat sich auf der erweiterten<br />
Vorstandssitzung des Ausschusses für<br />
auswärtige Angelegenheiten sehr dafür<br />
eingesetzt, der EVP-ED-Fraktion diesen<br />
äußerst wichtigen Bericht zukommen zu lassen.<br />
Nach Vorlage des Berichts im Ausschuss für<br />
auswärtige Angelegenheiten und seiner<br />
Verabschiedung im Plenum werde dem<br />
Europäischen Rat eine Entschließung vorgelegt.<br />
Natürlich könnten im Anschluss daran einige<br />
Mitgliedstaaten ein Referendum für eine positive<br />
Entscheidung bezüglich des Abschlusses<br />
der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ins<br />
Auge fassen.<br />
Um die Debatte voranzubringen, wirft José<br />
Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-NEYRA<br />
einige sachdienliche Fragen auf.<br />
Kann man einem Land im Falle der Türkei den<br />
Kandidatenstatus gewähren und zugleich<br />
behaupten, die Beitrittsverhandlungen mit<br />
diesem Land würden niemals beginnen?<br />
Da die Europäische Union eine<br />
Rechtsgemeinschaft sei, deren einmal
getroffene Entscheidungen auch eingehalten<br />
werden müssten, müsse die Antwort nach<br />
Auffassung von José Ignacio SALAFRANCA<br />
SÁNCHEZ-NEYRA von der Einhaltung und<br />
Achtung der Bedingungen und Kriterien von<br />
Kopenhagen abhängig gemacht werden.<br />
Kann man von einem Land verlangen, ein loyaler<br />
Verbündeter des Westens innerhalb des<br />
Atlantischen Bündnisses zu sein und große<br />
Risiken an seinen Grenzen und in der inneren<br />
Situation auf sich zu nehmen, ohne ihm das<br />
Recht auf Mitgliedschaft in der Europäischen<br />
Union einzuräumen? Lässt sich im Übrigen die<br />
von den gemäßigten Islamisten beschworene<br />
westliche Orientierung der Türkei bestätigen?<br />
Hierzu hebt José Ignacio SALAFRANCA<br />
SÁNCHEZ-NEYRA hervor, dass der türkische<br />
Premierminister Recep Tayyip Erdogan mit<br />
seiner Botschaft auf der Konferenz der<br />
Fraktionsvorsitzenden versucht habe, den<br />
Nachweis zu erbringen, dass seine Partei, die<br />
AKP, auf den Westen gesetzt habe und dass<br />
er von seinen islamistischen Wurzeln her<br />
versuche, zwischen der privaten und der<br />
öffentlichen Sphäre zu unterscheiden. Das<br />
Schwergewicht sei auf die radikalen<br />
Islamisten gelegt worden, die versuchten, mit<br />
einer Serie blutiger Attentate den laizistischen<br />
Staat zu Fall zu bringen und eine islamistische<br />
Republik in der Türkei zu errichten. Sollte man,<br />
um diese Fehlentwicklung zu vermeiden, der<br />
Türkei den Beitritt zur Europäischen Union<br />
gestatten? Das sei eine vollkommen legitime<br />
Frage, über die es nachzudenken gelte.<br />
Ein weiteres entscheidendes Element bei der<br />
Stellungnahme zu dem türkischen Problem sei<br />
die Frage, ob die europäische Öffentlichkeit<br />
heute bereit sei, die Türkei aufzunehmen.<br />
Die Europäische Union sei eine<br />
Rechtsgemeinschaft, und die Regeln müssten<br />
eingehalten werden. Der Beitritt der Türkei<br />
müsste einstimmig gebilligt werden. Wenn ein<br />
Mitgliedstaat dagegen sei, könne sie nicht<br />
Mitglied werden.<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
9<br />
Abschließend äußert José Ignacio<br />
SALAFRANCA SÁNCHEZ-NEYRA die<br />
Auffassung, dass man in erster Linie<br />
herausbekommen müsse, was die Europäische<br />
Union wirklich wolle, und analysieren müsse, wo<br />
das Interesse der Europäischen Union liege.<br />
In den vorangegangenen Redebeiträgen habe<br />
man vor allem auf die besonders negativen<br />
Konsequenzen dieses Beitritts verwiesen,<br />
jedoch keine Bewertung des allgemeinen<br />
Interesses der Europäischen Union<br />
vorgenommen. Dort müsse jedoch der<br />
Schwerpunkt der Debatte liegen.<br />
Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung müsse<br />
man die Konsequenzen dieses Beitritts<br />
abwägen. Bevor man dies tue, müsse man sich<br />
jedoch fragen, wo die wahren Interessen der<br />
Europäischen Union liegen. Auf der Grundlage<br />
all dieser Elemente, einschließlich des Berichts<br />
der Europäischen Kommission, einschließlich des<br />
Inhalts dieser Debatten und der<br />
nachfolgenden Debatten könne sich das<br />
Europäische Parlament eine Meinung bilden und<br />
diese im Interesse der gesamten Europäischen<br />
Union verteidigen.<br />
Jacques TOUBON (stellvertretender<br />
Vorsitzender der Delegation im Gemischten<br />
Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei),<br />
erinnert daran, dass er im Juni 2000 zusammen<br />
mit dem ehemaligen französischen<br />
Premierminister Alain Juppé einen Entwurf für<br />
eine Europäische Verfassung vorgelegt habe,<br />
der bereits die Notwendigkeit hervorhob, die<br />
Grenzen Europas festzulegen. Für die Türkei<br />
habe man nicht einen Status als Mitglied der<br />
Europäischen Union vorgeschlagen, sondern<br />
den einer privilegierten Partnerschaft.<br />
Wenn die EVP-ED-Fraktion heute überlege, wo<br />
das Interesse der Europäischen Union liege,<br />
so wünsche sie, dass die Europäische Union eine<br />
politische Union sein möge, die sich unter<br />
Achtung der nationalen Souveränitäten
organisiert und zu einem bedeutenden Partner<br />
auf der internationalen Bühne wird.<br />
Jacques TOUBON, erster stellvertretender<br />
Vorsitzender der Delegation im gemischten<br />
parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei<br />
Für Jacques TOUBON steht der Beitritt der<br />
Türkei nicht im Einklang mit diesem<br />
europäischen Projekt, und dieser Beitritt wäre<br />
nicht gut für die Europäische Union, denn er<br />
würde im Gegenteil die Entwicklung zu einem<br />
offenen und verschwommenen Europa nach sich<br />
ziehen (wo will man einen Schlusspunkt für die<br />
Erweiterung Europas setzen, wenn die Türkei<br />
erst einmal dazu gehört?); ein schwaches, weil<br />
übervolles Europa (de facto würden damit<br />
mehr Menschen der EU beitreten als mit den<br />
im Mai 2004 beigetretenen zehn neuen Staaten<br />
insgesamt); ein Europa ohne echte Macht nach<br />
innen und nach außen.<br />
In Wahrheit käme die Türkei in der<br />
Europäischen Union der Idee eines Europas der<br />
Subsidiarität ohne echte politische Union gleich<br />
und entspräche nicht dem Ziel eines Europas<br />
der Integration unter Achtung der<br />
Souveränität der Staaten, das von der EVP auf<br />
ihrem Kongress von Estoril und von den<br />
Vertretern der EVP während des gesamten<br />
Konvents vertreten wurde – einer Idee, die<br />
letztlich im Entwurf des<br />
Verfassungsvertrages, welcher jetzt den<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
10<br />
Staats- und Regierungschefs zur Unterschrift<br />
vorliegt, gesiegt habe.<br />
Zu den Argumenten, die häufig zugunsten des<br />
türkischen Beitritts vorgebracht werden,<br />
unterstreicht Jacques TOUBON, dass das Argument,<br />
man müsse ein 1963 gegebenes<br />
Versprechen einlösen, ihm nicht stichhaltig<br />
erscheine. Damals sei es ja darum gegangen,<br />
dass die Türkei dem Gemeinsamen Markt, der<br />
Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft,<br />
beitritt. Mit dem Vertrag von 1995 und der<br />
seit 1999 vollendeten Zollunion sei diese<br />
Verpflichtung bereits erfüllt.<br />
Es sei hingegen etwas anderes, Mitglied der<br />
politischen Union zu sein, die Europa seit 1995<br />
geworden sei, und dessen, was sie mit der<br />
Verfassung werden solle. Sich auf die<br />
Vergangenheit zu beziehen, sei nicht die<br />
richtige Methode, um die gegenwärtige Situation<br />
und vor allem das Projekt für Europa in<br />
den nächsten Jahren zu meistern.<br />
Manche Leute behaupten, die Integration der<br />
Türkei würde es ermöglichen, eine Brücke<br />
zwischen dem Orient und dem Islam zu<br />
schlagen. Die Türkei befindet sich jedoch in<br />
einer besonders konfliktgeladenen<br />
geopolitischen Situation. Im Konflikt mit den<br />
Kurden und natürlich als Verbündete der USA<br />
und Israels in Schwierigkeiten mit den Persern<br />
im Iran und mit den arabischen Ländern scheint<br />
sie derzeit nicht gerade ein bindendes Element<br />
im Nahen und Mittleren Osten zu sein.<br />
Aus der Sicht von Jacques TOUBON wäre es<br />
von diesem Gesichtspunkt her eher<br />
angebracht, anstatt die Türkei zu Europa hin<br />
zu ziehen, indem man sie in gewisser Weise von<br />
der sie umgebenden Region abhebt, ihr im<br />
Gegenteil eine gewisse politische Autonomie zu<br />
verleihen, die es ihr ermöglicht, der gemäßigte<br />
und friedliche Pfeiler eines Gebiets zu werden,<br />
das vom Schwarzen Meer bis zum Kaukasus<br />
und zum Nahen Osten reicht.
Zugunsten der Integration der Türkei wird<br />
noch ein anderes Argument vorgebracht,<br />
nämlich, dass sie der beste Verbündete des<br />
Westens sei. Gewiss ist die Türkei der<br />
Verbündete des Westens, aber muss denn die<br />
Europäische Union mit der NATO<br />
gleichgesetzt werden? Soll die GASP eine<br />
einfache Kopie der Politik der Atlantischen<br />
Allianz auf europäischem Territorium sein?<br />
Wenn die Verfassung die Instrumente einer<br />
gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik<br />
vorgesehen hat, so weil diese eine eigene Politik<br />
der Europäischen Union sein soll.<br />
Jacques TOUBON besteht auf der<br />
Notwendigkeit, die Vorteile und die Nachteile<br />
des türkischen Beitritts abzuwägen, und<br />
erinnert diesbezüglich an drei unbestreitbare<br />
Fakten:<br />
Das Gewicht der Türkei in der Europäischen<br />
Union:<br />
Prozentual zur europäischen Bevölkerung<br />
macht die Türkei heute 13 %, Deutschland 15 %<br />
und Frankreich etwas weniger als 11 % aus. In<br />
20 Jahren wird sich ein Umschwung vollziehen<br />
und die Türkei wird 15 %, Deutschland 14 %<br />
und Frankreich gut 11 % ausmachen.<br />
Demzufolge wird sich die Situation der<br />
europäischen Institutionen, insbesondere des<br />
Ministerrates, vollkommen ändern.<br />
Die Kosten für die gemeinsame Agrarpolitik:<br />
Einige Prognosen gehen von Kosten in Höhe von<br />
11,3 Mrd. Euro aus, das heißt deutlich mehr als<br />
die Kosten für die Gemeinsame Agrarpolitik<br />
im Ergebnis der Erweiterung um alle zehn<br />
neuen Mitgliedstaaten. Die gleiche Tendenz sei<br />
auch für die Regionalpolitik und die<br />
Strukturfonds abzusehen.<br />
Die größten Schwierigkeiten betreffen die<br />
Demokratie und die Menschenrechte:<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
11<br />
Die Affäre um das Strafgesetzbuch, von der<br />
Kommissar Verheugen heute Vormittag sagte,<br />
sie sei geregelt, da im Prinzip das türkische<br />
Parlament am kommenden Sonntag den neuen<br />
Entwurf des Strafgesetzbuchs erörtern<br />
werde, darf uns nicht den Blick verstellen. Die<br />
Situation hinsichtlich der Demokratie und der<br />
Menschenrechte sei weitaus komplexer und<br />
müsse unter ganz anderen Gesichtspunkten<br />
betrachtet werden.<br />
Nach den Worten von Jacques TOUBON sollte<br />
man also die Scheinheiligkeit beiseite lassen<br />
und die Türken für das nehmen, was sie sind,<br />
das heißt, sie gehören wahrscheinlich zu den<br />
intelligentesten Völkern und Politikern Europas<br />
und Asiens; und mit ihnen einvernehmlich eine<br />
neue und spezifische Lösung finden, um enge<br />
und organische Beziehungen zwischen der<br />
modernen Türkei und der Europäischen Union,<br />
wie sie sich derzeit gestaltet, herzustellen.<br />
Es sollte dabei um eine echte spezifische<br />
Partnerschaft gehen, in der beispielsweise die<br />
Zollunion, die heute völlig unvollkommen, weil<br />
ungerecht ist, ausgewogen gestaltet würde.<br />
Gemäß Artikel 13 des Vertrages über die<br />
Zollunion begnügt sich die Türkei derzeit<br />
damit, sich den Tarifänderungen der<br />
Europäischen Union anzupassen. Künftig sollte<br />
die Türkei sich an der Festlegung des<br />
gemeinsamen Außentarifs in einer völlig<br />
umgestalteten Zollunion beteiligen können, die<br />
zu einer echten Wirtschaftspartnerschaft<br />
würde. Eine ähnliche Situation müsste<br />
hinsichtlich der Kontrolle der<br />
Migrationsströme, der Sicherheit des<br />
Seeverkehrs und vor allem der Sicherheit des<br />
Mineralöltransports und der Überwachung der<br />
Grenzen innerhalb und außerhalb des Rahmens<br />
der NATO hergestellt werden.<br />
Abschließend äußert Jacques TOUBON die<br />
Überzeugung, dass eine solche privilegierte<br />
Partnerschaft für die Türkei, aber auch für
die Europäische Union günstiger wäre als die<br />
Illusion eines Beitritts.<br />
Im Rahmen der Aussprache legt Ioannis<br />
VARVITSIOTIS, Leiter der griechischen Delegation<br />
der EVP-ED-Fraktion die<br />
wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Parameter<br />
des EU-Beitritts der Türkei aus der<br />
Sicht Griechenlands dar.<br />
Die Geografie und die Geschichte haben die<br />
Beziehungen zwischen Griechenland und der<br />
Türkei geprägt. Ihre Beziehungen entwickelten<br />
sich unter dem Einfluss der geografischen<br />
Nähe und der historischen Bedingungen. Es gab<br />
eine Fülle von Konflikten zwischen ihnen.<br />
Deshalb sei aus offenkundigen Gründen die<br />
europäische Orientierung der Türkei für<br />
Griechenland eine strategische Entscheidung.<br />
Eine Öffnung der Türkei zu Europa hin werde<br />
eine Normalisierung der bilateralen<br />
Beziehungen sowie die Zusammenarbeit und<br />
die Festigung eines Klimas des Friedens, der<br />
Sicherheit und der Entspannung in dieser Region<br />
der Welt fördern. Sie werde zugleich die<br />
Kräfte der Modernisierung in der Türkei<br />
stärken.<br />
Jedoch verdiene ein Aspekt besondere<br />
Aufmerksamkeit: die Türkei müsse die<br />
Menschenrechte, wie die Minderheitenrechte<br />
und die Religionsfreiheit voll respektieren.<br />
Diesbezüglich verweist Ioannis<br />
VARVITSIOTIS insbesondere auf die<br />
griechische Minderheit.<br />
Ioannis VARVITSIOTIS hebt besonders<br />
hervor, dass die Erfüllung der Kriterien von<br />
Kopenhagen die Voraussetzung für die<br />
Aufnahme von Verhandlungen zwischen der<br />
Türkei und der Europäischen Union sei. Zu<br />
diesem Aspekt sehe er der Mitteilung der<br />
Kommission mit großem Interesse entgegen.<br />
Im Zusammenhang mit der noch immer<br />
ungelösten Zypernfrage vertritt Ioannis<br />
VARVITSIOTIS die Auffassung, dass die<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
12<br />
Chancen für eine Verständigung mit einer<br />
demokratischen Türkei, die das Völkerrecht<br />
und den acquis communautaire achtet, größer<br />
seien.<br />
Antonio TAJANI, Leiter der italienischen Delegation<br />
der EVP-ED-Fraktion unterstreicht,<br />
dass es heute darum gehe, ein Datum für die<br />
Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei<br />
festzulegen, und nicht über den sofortigen<br />
Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zu<br />
beschließen.<br />
Die Verhandlungen könnten langwierig sein, und<br />
sie könnten auch zu einem negativen Ergebnis<br />
führen, wie dies bei Bulgarien und Rumänien<br />
der Fall war, deren EU-Beitritt vertagt wurde,<br />
da die Voraussetzungen nicht erfüllt waren.<br />
Herzstück des Problems müssten die<br />
Interessen der Europäischen Union sein, aber<br />
auch die Perspektiven, die sich ihr eröffnen.<br />
Die Europäische Union ist keine rein<br />
geografische Einheit. Nach Einschätzung von<br />
Johannes Paul II, der ein großer Europäer sei,<br />
müsse Europa Spiegelbild von Ideen und<br />
Kulturen sein. Unter diesem Blickwinkel müsse<br />
man das Problem betrachten. Sollte man die<br />
Tür vor der Türkei verschließen? Welche<br />
Konsequenzen hätte das? Welche Vorteile<br />
brächte das? Wo lägen die Gefahren in einem<br />
solchen Falle?<br />
Nach dem Völkerrecht müssen einmal<br />
eingegangene Verpflichtungen eingehalten<br />
werden. In diesem Geiste sollten die<br />
Verhandlungen eröffnet werden, denn die Tür<br />
vor der Türkei zu verschließen, würde<br />
bedeuten, die von der Türkei eingegangenen<br />
Verpflichtungen, unsere Werte zu<br />
unterstützen, und ihre während des kalten<br />
Krieges eingegangenen Verpflichtungen zur<br />
Verteidigung Europas und nicht nur der NATO,<br />
zurückzuweisen.
Zu einer Zeit, da sich der islamische Fanatismus<br />
entwickelt und die gemäßigten Kräfte<br />
zurückgedrängt werden, kommt der Türkei<br />
eine äußerst wichtige Rolle zu. Wenn die<br />
Europäische Union die Tür vor der Türkei<br />
verschließt, drohe, wie Antonio TAJANI<br />
fürchtet, ein Sieg der fanatischen Kräfte.<br />
Was die Minderheitenrechte betreffe, so<br />
müsse die Türkei mit ihrem Beitritt zur<br />
Europäischen Union die Verfassung anwenden,<br />
insbesondere Artikel 51, der die Rechte der<br />
Kirchen verteidigt.<br />
Die Werte der Europäischen Union müssten<br />
geachtet werden, und die Türkei müsse sich<br />
ein politisches System geben, das die<br />
Menschen- und Bürgerrechte anerkennt. Nur<br />
unter dieser Voraussetzung könne die Türkei<br />
der Union beitreten. Es wäre jedoch ein Fehler,<br />
bereits heute zu behaupten, dass die Türkei<br />
diese Voraussetzungen nicht einhalten werde.<br />
Die Verhandlungsphase kann möglicherweise<br />
sehr lange dauern. Die Verhandlungen<br />
abzuschließen, bevor sie überhaupt begonnen<br />
haben, wäre falsch und gefährlich für Europa,<br />
da wir dann Gefahr liefen, dieses Land an den<br />
Grenzen Griechenlands und an den Grenzen<br />
des europäischen Mittelmeerraums zu<br />
verprellen.<br />
Im Übrigen hebt Antonio TAJANI hervor, dass<br />
es zwar ein politischer Fehler wäre, die<br />
Eröffnung dieser Verhandlungen zu<br />
verweigern, dass jedoch zugleich die Aufnahme<br />
von Verhandlungen nicht notwendigerweise<br />
bedeutet, dass sie ein positives Ergebnis<br />
bringen.<br />
Ville ITÄLÄ stellt sich zwei Fragen:<br />
Werde nicht, wenn die Verhandlungen erst<br />
einmal begonnen hätten, politischer Druck<br />
ausgeübt werden, um einem Nein zum Beitritt<br />
entgegenzutreten, selbst wenn die Kriterien<br />
nicht voll erfüllt sein sollten?<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
13<br />
Welche Kosten entstünden der Gemeinschaft,<br />
wenn die Verhandlungen in diesem Jahr<br />
beginnen würden, und welches wären dann die<br />
jährlichen Kosten?<br />
Aus der Sicht von Gunnar HÖKMARK, Leiter<br />
der schwedischen Delegation der EVP-ED-<br />
Fraktion werde jede Position, für welche man<br />
sich auch entscheidet, große Auswirkungen<br />
haben, die man jetzt analysieren und<br />
diskutieren müsse.<br />
Die EVP-ED sei eine Partei, die sich häufig auf<br />
die Gründerväter (Schuman, Eisenhower,<br />
Churchill) berufe, weil diese die Kraft hatten,<br />
über die Konflikte hinaus zu blicken. Die<br />
Grundidee der Europäischen Union bestehe ja<br />
gerade darin, Divergenzen zu überwinden und<br />
nicht zuzulassen, dass sie zu Hindernissen<br />
zwischen den Völkern werden. Unter diesem<br />
Blickwinkel müsse man auch den Beitritt der<br />
Türkei sehen.<br />
Gunnar Hökmark führt weiter aus, hinsichtlich<br />
der Grenzen Europas könnte man zwar<br />
geteilter Meinung sein, aber in praktischer<br />
Hinsicht sei die Türkei bereits definiert<br />
worden: wie Antonio TAJANI zu Recht<br />
unterstrichen habe, sei die Türkei zu einem<br />
Eckstein für die Sicherheit Europas geworden.<br />
Die Türken seien nicht wegen ihres atlantischen<br />
Gebarens Mitglied der NATO geworden,<br />
sondern wegen ihres Beitrags zur Sicherheit<br />
Europas. Somit sei die Türkei angesichts der<br />
politischen Entwicklungen und der<br />
Zusammenarbeit in Europa bereits als Mitglied<br />
und Partner akzeptiert.<br />
Die Frage sei nun, ob die Türkei sich zum<br />
Besseren oder zum Schlimmeren hin<br />
entwickelt habe. Wird die Europäische Union,<br />
wenn die Verhandlungen erst einmal eröffnet<br />
sind, in der Lage sein, die Beziehungen<br />
zwischen dem Westen und der islamischen<br />
Welt zu beeinflussen? Und wie sieht es aus,<br />
wenn die Aufnahme der Verhandlungen
verweigert wird? Jede Entscheidung habe ihre<br />
Konsequenzen.<br />
Für Gunnar Hökmark besteht die eigentliche<br />
Frage darin, ob die Europäische Union berufen<br />
ist, die Entwicklung der Gesellschaft nach ihren<br />
Werten in einem Land wie der Türkei und in<br />
anderen Teilen der Region zu unterstützen.<br />
Natürlich werde die Botschaft wichtig sein.<br />
Wird der Beitritt der Türkei auf der<br />
Grundlage der Kriterien von Kopenhagen, wenn<br />
es denn dazu kommt, die Sicherheit, die<br />
Stabilität der EU in diesem Teil der Welt<br />
erhöhen? Wird er die Europäische Union<br />
stärker machen? Wird dieser Wille, die<br />
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu<br />
stärken, positive Auswirkungen auf das<br />
Wirtschaftswachstum haben?<br />
Hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung<br />
und der demografischen Probleme sei<br />
hervorzuheben, dass die Türkei eine junge<br />
Bevölkerung und eine arme, aber in starkem<br />
Wachstum begriffene Wirtschaft besitzt.<br />
Wird die Perspektive ihres Beitritts zur EU<br />
eine Unterstützung für die wirtschaftliche<br />
Entwicklung der Türkei sein?<br />
Gunnar Hökmark hat volles Verständnis für<br />
die gegen den Beitritt der Türkei geäußerten<br />
Positionen. Jedoch sollte man seiner Meinung<br />
nach die Situation analysieren und sich dabei<br />
vor Augen führen, dass Eisenhower und<br />
Churchill auf den Plan getreten sind, als in<br />
Europa Hass herrschte, und dass sie vor der<br />
gleichen Notwendigkeit standen,<br />
Feindseligkeiten zu überwinden.<br />
Edgar LENSKI antwortet auf die Frage, ob<br />
die Verhandlungen in eine ablehnende Antwort<br />
münden könnten.<br />
Juristisch gesehen gebe es keinerlei<br />
Verpflichtung, und es scheine durchaus möglich,<br />
dass die Europäische Union am Schluss der<br />
Verhandlungen Nein zum Beitritt sagen könnte.<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
14<br />
Aus politischer Sicht sei das wohl schwieriger.<br />
Da aber das Europäische Parlament im<br />
Erweiterungsprozess ein Wort mitzureden<br />
habe, könne es, wenn die wirtschaftlichen und<br />
politischen Kriterien von Kopenhagen nicht voll<br />
eingehalten seien, kein positives Ergebnis<br />
geben, und die Verhandlungen würden<br />
fortgesetzt. Am Ende würden sie in eine positive<br />
Lösung münden.<br />
Aus der Sicht von Alexandre DEL VALLE<br />
sollte man keine Angst vor den Konsequenzen<br />
einer negativen Antwort haben. Es gebe weder<br />
eine moralische noch eine juristische<br />
Verpflichtung, die Türkei in Europa zu<br />
akzeptieren.<br />
Die Behauptung, dass die Konsequenzen<br />
schrecklich sein könnten, dass die türkischen<br />
Reaktionen unberechenbar seien, dass man<br />
Gefahr laufe, den islamischen<br />
Fundamentalismus oder gar den<br />
Antiokzidentalismus zu fördern, sind in seinen<br />
Augen Argumente, die mehr Zurückhaltung<br />
geboten sein lassen. Es wäre das erste Mal,<br />
dass ein Land für den Fall der Verweigerung<br />
seiner Aufnahme mit ernsten Konsequenzen<br />
droht. Es gehe auch gar nicht darum, sich der<br />
Erpressung zu beugen.<br />
Im Übrigen sei das Argument Pacta sunt<br />
servanta für die Europäische Union nicht<br />
bindend, zumal eine Entschließung des<br />
Europäischen Parlaments von 1987, an die<br />
unlängst im Bericht Arie Oostlander erinnert<br />
wurde, als Voraussetzung für den Beitritt der<br />
Türkei zur Europäischen Union festlegte, dass<br />
sie hinsichtlich der Fragen der Ethik und der<br />
Werte den armenischen Völkermord<br />
anerkennt, dass sie ihre Truppen und ihre<br />
Siedler aus Zypern abzieht, das sie entgegen<br />
jeglicher internationalen Rechtmäßigkeit<br />
besetzt hält, dass sie den Status der<br />
Minderheiten anerkennt und die Verletzung<br />
der Menschenrechte einstellt. Heute befänden<br />
sich noch immer 10 000 politische Gefangene
in türkischen Gefängnissen. Die Strafen bei<br />
Ehrenverbrechen fielen noch immer milder aus<br />
als bei Meinungsvergehen.<br />
Wenngleich es zutreffe, dass die<br />
Verhandlungen einen günstigen Einfluss<br />
ausüben könnten, sei die Türkei doch in äußerst<br />
mächtiges Land, das eifersüchtig über seine<br />
Interessen wacht und von alters her von einem<br />
äußerst virulenten Nationalismus beherrscht<br />
wird.<br />
Alexandre DEL VALLE zeigt Verständnis für<br />
das Argument, dass die Türkei ein Teil Europas<br />
sein müsse, weil sie zur Verteidigung Europas<br />
beitrage. Jedoch zähle dieses Argument nur<br />
hinsichtlich der Werte. Europa bestehe nun<br />
aber nicht ausschließlich aus Werten. Es<br />
besitze zugleich eine Geschichte, eine<br />
Geografie. Man könne eine jahrhundertelange<br />
Geschichte nicht leugnen!<br />
Robert Schuman habe die europäische<br />
Identität und die Definition Europas nicht nur<br />
auf die Tatsache begrenzt, bei der<br />
Verteidigung einiger Länder der freien Welt<br />
gegen den Kommunismus mitgewirkt zu haben.<br />
Das habe auch Japan getan. Solle es deshalb<br />
der Europäischen Union beitreten? Soll<br />
Usbekistan zu Europa gehören, weil es bald<br />
Mitglied der NATO werde, einer Organisation,<br />
die gegen den Warschauer Pakt gegründet<br />
wurde?<br />
Man dürfe die Rolle der Türkei im kalten Krieg<br />
nicht mit einem Beweis für Europäertum<br />
verwechseln! Das sei kein Beweis für<br />
Demokratie, denn zu jener Zeit sei die Türkei<br />
alles andere gewesen als demokratisch. Sie<br />
befand sich wie Pakistan im Rahmen einer<br />
strategisch vollkommen legitimen Allianz, einer<br />
antikommunistischen Allianz, die nichts mit der<br />
Identität Europas zu tun hatte.<br />
Das Argument, bei Nichtaufnahme von<br />
Verhandlungen bestünde die Gefahr, dass die<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
15<br />
Türkei in den islamischen Fundamentalismus<br />
abrutschen könne, sei ebenfalls verständlich,<br />
aber keineswegs bewiesen. Die Türkei sei nur<br />
laizistisch und anti-islamisch, weil die Armee<br />
das Land fest im Griff habe. Wollte man das<br />
kemalistische und militärische Gefüge im<br />
Namen der Kriterien von Kopenhagen auflösen,<br />
so könnte das einen nicht beherrschbaren<br />
Prozess auslösen. Ohne Schutzgitter könnte die<br />
Türkei implodieren!<br />
Jóse Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />
NEYRA verweist darauf, dass er zwar eine<br />
persönliche Meinung zu dieser Frage habe,<br />
aber als Koordinator neutral bleiben möchte.<br />
Seiner Meinung nach sollten mehrere Punkte<br />
klargestellt werden: der Europäische Rat habe<br />
einstimmig beschlossen, der Türkei einen Status<br />
als Kandidat für den Beitritt in die<br />
Europäische Union zu verleihen. Die<br />
Europäische Kommission als Hüterin der<br />
Verträge müsse dem Rechnung tragen. Das<br />
Europäische Parlament habe zwar ein<br />
gesetzmäßiges Recht, sich zu äußern, aber die<br />
Entscheidung liege nicht bei ihm, sondern beim<br />
Europäischen Rat.<br />
Ein weiteres grundlegendes Element dieser<br />
Angelegenheit: das europäische Projekt gründe<br />
sich auf die Werte des Friedens, der<br />
Verständigung und der Solidarität, wie sie die<br />
Gründerväter verfochten haben. Wird die<br />
Türkei in der Lage sein, diese Werte zu<br />
übernehmen?<br />
Es gehe nicht nur darum, ob die Türkei die<br />
Kriterien von Kopenhagen sorgfältig einhalten<br />
werde oder nicht. Vielmehr müsse man auch<br />
prüfen, ob die Kandidatur der Türkei mit den<br />
Werten der Europäischen Union vereinbar ist<br />
oder nicht.<br />
Jóse Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />
NEYRA möchte zugleich das Argument<br />
relativieren, dass die Türkei im Falle ihres<br />
Beitritts 80 oder 90 Abgeordnete hätte oder
dass sie das bevölkerungsreichste Land der<br />
Europäischen Union wäre.<br />
Die Vereinigten Staaten machen 3 % der<br />
Weltbevölkerung aus und sind in der Lage, 1/<br />
3 der Güter und Dienstleistungen zu erzeugen.<br />
China mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern und<br />
seinem enormen Wachstumspotenzial erzeugt<br />
nur 3 % der Güter und Dienstleistungen. Das<br />
BSP Russlands ist niedriger als das der<br />
Schweiz.<br />
Kern der Debatte müsste die Definition der<br />
Interessen der Union sein, eine Abwägung des<br />
„Für“ und des „Wider“ dieser Kandidatur und<br />
eine Bewertung der Kosten. Welcher<br />
Orientierung folgt dieses Projekt? Welches<br />
sind die Grenzen der Europäischen Union? Was<br />
wird die europäische Öffentlichkeit von dieser<br />
Erweiterung halten?<br />
Ob dies gefällt oder nicht, die Türkei ist ein<br />
Kandidatenland für die Union. Die Frage ist nun,<br />
ob es sinnvoll ist oder nicht, den Beginn der<br />
Verhandlungen auf unbestimmte Zeit<br />
hinauszuschieben.<br />
Ioannis KASOULIDES, Leiter der<br />
zypriotischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
weist auf ein Dilemma hin.<br />
Im Falle einer negativen Entscheidung<br />
bezüglich der Eröffnung von Verhandlungen<br />
könnte das Ergebnis ein Schwenk der Türkei<br />
in Richtung Fundamentalismus sein.<br />
Im gegenteiligen Falle, wenn die Türkei den<br />
Weg des Beitritts beschreitet, wäre das<br />
Ergebnis, dass die Armee sich früher oder<br />
später gezwungen sähe, sich in die Kasernen<br />
zurückzuziehen und die Rolle des Garanten der<br />
Laizität und des Kemalismus aufzugeben, die<br />
sie heute im konstitutionellen nationalen<br />
politischen Leben spielt.<br />
Charles TANNOCK, Stellvertretender<br />
Vorsitzender des Unterausschusses für<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
16<br />
Menschenrechte ruft den Wortlaut der<br />
Entschließung in Erinnerung, die das<br />
Europäische Parlament im Jahr 1987 zum<br />
Thema des armenischen Völkermords<br />
verabschiedet hat. Kommissar Günter<br />
Verheugen behauptet schamlos, diese Frage<br />
sei nicht mehr aktuell, da seit dem Völkermord<br />
an den Armeniern sehr viel Zeit verstrichen<br />
sei.<br />
Das Argument der Zugehörigkeit der Türkei<br />
zur NATO würde bedeuten, dass die USA und<br />
Kanada in Zukunft ebenfalls den Beitritt zur<br />
Europäischen Union beantragen könnten. Im<br />
Übrigen sei, wie Charles TANNOCK<br />
hervorhebt, die Türkei nicht Mitglied der<br />
NATO, um die westlichen oder christlichen<br />
Werte zu verteidigen, sondern in ihrem<br />
eigenen Interesse: das kemalistische Erbe sei<br />
antikommunistisch, und seinerzeit habe es<br />
innerhalb der Türkei eine kommunistische<br />
Bedrohung gegeben.<br />
Charles TANNOCK spricht der in der Türkei<br />
an der Macht befindlichen Partei AKP den<br />
Charakter der Modernität ab. Eines ihrer Ziele<br />
bestünde darin, den laizistischen Staat zu<br />
zerstören und den Islamismus in der Schule<br />
wiederherzustellen. Premierminister Erdogan<br />
sei ein aus einer Religionsschule<br />
hervorgegangener Imam, der wegen<br />
Verteidigung islamischer Werte vier Monate<br />
im Gefängnis gesessen habe.<br />
Charles TANNOCK verweist ferner auf die<br />
Risiken hinsichtlich der illegalen Zuwanderung<br />
und der terroristischen Infiltration, die mit<br />
der Ausdehnung der Grenzen der Europäischen<br />
Union bis an die Tore Syriens oder des Iran<br />
verbunden wären.<br />
Im Übrigen würden die Kosten dieses Beitritts,<br />
seine Auswirkungen auf die GAP und die<br />
Strukturfonds der Europäischen Union<br />
Schaden zufügen.
Die Türkei sei ein großes Land, das besondere<br />
Beziehungen verdiene, nicht aber den Beitritt<br />
oder die Freizügigkeit.<br />
Jean-Luc DEHAENE bringt seine<br />
Enttäuschung hinsichtlich des Inhalts der<br />
Debatte zum Ausdruck.<br />
In der Einführung zu diesen Studientagen zum<br />
Thema Europa und die Türkei hätte man die<br />
verschiedenen Aspekte dieses Dossiers<br />
entwickeln müssen. Es scheint nun aber, dass<br />
man beabsichtige, einen einseitigen Standpunkt<br />
herauszustellen.<br />
Man habe nicht auf die Geschichte Bezug<br />
genommen, die diesem Dossier<br />
vorausgegangen sei, und die Einführungen<br />
hätten nicht den Verfahren Rechnung getragen,<br />
die derzeit innerhalb der Europäischen Union<br />
bestehen.<br />
Dieses Dossier stünde seit Jahren in Europa<br />
auf der Tagesordnung. Es sei recht gefährlich,<br />
dass die Union als eine Rechtseinheit in ihrem<br />
Vorgehen nicht kohärent sei. Der Europäische<br />
Rat habe die Türkei als Kandidatenland<br />
anerkannt, wenngleich diese Position an einige<br />
Bedingungen gebunden sei. Und das<br />
Europäische Parlament leugne das nicht.<br />
Natürlich müsse man den Kopenhagen-Kriterien<br />
Rechnung tragen, aber im Rahmen des<br />
Verfahrens, man dürfe nicht während des<br />
laufenden Spiels neue Regeln aufstellen.<br />
Georgios PAPASTAMKOS, Vorsitzender des<br />
Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-<br />
Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien<br />
lenkt den Blick auf die kulturellen, politischen<br />
und wirtschaftlichen Kriterien der türkischen<br />
Kandidatur für den EU-Beitritt.<br />
Über das kulturelle Kriterium sagte Jean<br />
Monnet einmal, wenn er die Stufen der<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
17<br />
Integration noch einmal planen müsste, würde<br />
er mit der Kultur beginnen.<br />
Was aber bedeutet das Wort “europäisch”<br />
eigentlich? Gewiss beinhaltet der Begriff eine<br />
kulturelle Identität, die im Laufe der<br />
Geschichte geprägt wurde. Hat er aber eine<br />
einzige Bedeutung oder hat er inzwischen eine<br />
multikulturellere Bedeutung angenommen?<br />
Europa wurde geschaffen, weiterentwickelt<br />
und verändert durch die Vielfalt miteinander<br />
im Wettbewerb stehender nationaler<br />
Stereotypen. Die einigenden Kräfte im heutigen<br />
Europa sind an einem einmaligen Projekt<br />
beteiligt. Ihr Erfolg wird jedoch von ihrer<br />
Fähigkeit abhängen, die geschichtlichen und<br />
politischen Unterschiede zu überwinden oder<br />
wenigstens zu mildern. Vor diesem<br />
Hintergrund wird die Mitgliedschaft der<br />
Türkei in der Europäischen Union zu einer<br />
teilweisen Verschiebung der geographischen<br />
Grenzen Europas sowie zu einer Veränderung<br />
des historischen Verständnisses seiner Kultur<br />
zur Folge haben. Reicht das geographische<br />
Kriterium aus, um ein Land vom europäischen<br />
Gedanken auszuschließen?<br />
Für Georgios PAPASTAMKOS lautet die<br />
Antwort: Nein. In der Geschichte gibt es keine<br />
Belege für mehr oder weniger entwickelte<br />
kulturelle Identitäten. Gleichzeitig ist das<br />
europäische kulturelle Modell selbsttragend,<br />
souverän und beständig. Allerdings dürfte die<br />
Bereicherung dieses Modells durch ein neues,<br />
“ideologisch belastetes” kulturelles Modell<br />
Spannungen und Kontroversen hervorrufen und<br />
Fragen aufwerfen.<br />
Seiner Ansicht nach wird es keinen Konflikt der<br />
Modelle geben, wenn auch ein Großteil der<br />
europäischen Bürger immer schon sein<br />
Augenmerk auf ein anderes, ebenso<br />
souveränes kulturelles Modell mit seinen<br />
eigenen spezifischen Strukturen und<br />
unabhängigen Standpunkten zu Fragen der<br />
kulturellen Macht innerhalb Europas gerichtet
hat. Nichtsdestoweniger ist Europa ein Akt der<br />
spontanen Zusammenarbeit seiner<br />
Mitgliedstaaten, die als eine demokratisch<br />
legitimierte politische Macht handeln, und das<br />
Ergebnis der bewussten Beteiligung der<br />
Bürger am europäischen Integrationsprozess.<br />
Vor diesem Hintergrund muss jede kulturelle<br />
Anpassung beim Beitritt eines neuen Landes<br />
die folgende Richtung haben: Bewerberland -<br />
EU.<br />
Infolgedessen ist es nicht die Aufgabe<br />
Europas, seine Kultur anzupassen. Vielmehr<br />
muss die Türkei sich den europäischen<br />
Standards anpassen.<br />
Die praktischen und theoretischen Fragen, die<br />
in der Europäischen Union und insbesondere in<br />
der EVP-Fraktion öffentlich debattiert<br />
werden, hätten stattdessen in der Türkei<br />
erörtert werden müssen. Es gibt keinen Grund<br />
dafür, dass diese Fragen innerhalb der<br />
Europäischen Union einen Konflikt auslösen.<br />
Hätten die Diskussionen in der Türkei<br />
stattgefunden, dann hätten wir eine bessere<br />
Kenntnis von den internen kulturellen<br />
Konflikten in der Türkei und könnten besser<br />
einschätzen, ob sie in der Lage sein wird, sich<br />
den europäischen Standards anzupassen.<br />
Es gibt Stimmen in der Europäischen Union, die<br />
die Türkei als einen Markt, als eine Zollunion,<br />
aber nicht als ein neues kulturelles Merkmal<br />
der Europäischen Union betrachten.<br />
Aber ist die Türkei denn ein kulturell<br />
einheitliches Land oder ist sie nicht vielmehr<br />
ein Land mit eigenen inneren Konflikten<br />
zwischen den Kulturen und Zivilisationen?<br />
Werden wir uns denen in der Türkei<br />
anschließen, die gegen Europa sind in dem<br />
Bestreben, ihre traditionellen Strukturen zu<br />
verteidigen, oder sollten wir als eine<br />
demokratische Gesellschaft die proeuropäischen<br />
Kräfte in der Türkei<br />
unterstützen?<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
18<br />
In Bezug auf das politische Kriterium<br />
unterstreicht Georgios PAPASTAMKOS, dass<br />
die Europäische Union definitionsgemäß eine<br />
Union des Rechts, eine Union der Demokratien,<br />
die auf der Rechtstaatlichkeit und der Achtung<br />
der Menschenrechte und der Grundfreiheiten<br />
basiert, ist. Wenn diese Grundprinzipien<br />
lediglich Rhetorik wären, dann könnte die<br />
Türkei oder jeder andere Staat mit<br />
demokratischen Defiziten bedingungslos als<br />
Mitglied aufgenommen werden.<br />
Der demokratische Grundsatz und die<br />
Marktwirtschaft sind konstante Bestandteile<br />
der ‘Konditionalitätsklauseln’ aller europäischen<br />
Außenbeziehungen und sollten umso mehr zu<br />
den von einem beitrittswilligen Land zu<br />
erfüllenden wichtigsten Bedingungen gehören.<br />
Es ist weithin bekannt, welche Konsequenzen<br />
das demokratische Defizit in der Türkei hat:<br />
Militärherrschaft, Verletzung der<br />
Menschenrechte, Missachtung der<br />
Minderheiten, mangelnde Religionsfreiheit,<br />
Truppen, die einen Teil eines anderen EU-<br />
Mitgliedstaates besetzen, und außenpolitische<br />
Kursänderungen bezüglich ihrer Nachbarn<br />
entgegen den Grundsätzen der Europäischen<br />
Union sowie den Regeln des Völkerrechts.<br />
Die unbestrittenen demokratischen<br />
Anpassungen in der Türkei haben sich als<br />
unzureichend erwiesen. Institutionelle<br />
Reformen wurden lediglich auf Drängen<br />
Europas durchgeführt, was dazu führte, dass<br />
gegen den Fortschritt gerichtete Reaktionen<br />
noch heute spürbar sind.<br />
Demokratie und Rechtstaatlichkeit sind<br />
qualitative Größen. Sie sind nicht quantifizierbar<br />
und können nicht von außen aufgezwungen<br />
werden. Unabhängig von seinem Status als<br />
Bewerberland sollte die Türkei bereits<br />
innerhalb eines unbestrittenen demokratischen<br />
Rahmens arbeiten.
Infolgedessen lautet die Frage nicht, ob die<br />
Türkei ein europäisches Land ist, sondern ob<br />
sie ein demokratisches Land ist. Meiner Ansicht<br />
nach hat die Türkei noch einen langen Weg bis<br />
zum Beitritt vor sich.<br />
Reicht allein der Beginn der<br />
Beitrittsverhandlungen aus, damit die proeuropäischen<br />
Kräfte in der Türkei die<br />
Oberhand gewinnen? Hierin liegt das Dilemma,<br />
denn wer kann garantieren, dass sich die<br />
Demokratisierung nach dem<br />
Verhandlungsbeginn beschleunigt?<br />
Hat die Türkei den notwendigen festen<br />
politischen Willen, um dauerhafte interne<br />
politische Reformen durchzuführen? Hat die<br />
Türkei eine bewusste Entscheidung getroffen,<br />
für das Konzept der Europäischen Union eines<br />
gemeinsamen politischen Raums der Gleichheit<br />
der Mitgliedstaaten und der supranationalen<br />
Integration einzutreten?<br />
Wenn wir vermeiden wollen, die Türkei als<br />
nichts anderes als einen Markt zu betrachten,<br />
dann sind dies wichtige Fragen. Die Aussicht<br />
auf den Beitritt der Türkei verschiebt das<br />
geographische Zentrum der Europäischen<br />
Union. Dies war bereits beim Beitritt der<br />
letzten zehn neuen Mitgliedstaaten der Fall<br />
und wird sich mit dem Beitritt Bulgariens und<br />
Rumäniens noch verstärken. Wenn die Türkei<br />
als nächstes Land beitreten wird, werden die<br />
geographischen Grenzen der Europäischen<br />
Union bis an Iran und Irak heranreichen, an<br />
eine Region mit großen politischen Problemen.<br />
Verfügt die Europäische Union über die<br />
konstitutionellen Fähigkeiten, um in regionalen<br />
Krisen, die von internationalem Interesse sind,<br />
zu intervenieren? Die Antwort lautet: Nein.<br />
Das Defizit in der Außenpolitik der<br />
Europäischen Union besteht auch nach der<br />
Annahme des Verfassungsvertrages weiter, es<br />
sei denn, Europa akzeptiert vorab das<br />
strategische Interesse der Türkei, jenseits<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
19<br />
und außerhalb des europäischen Rahmens ein<br />
Mitspracherecht in dieser Region zu haben.<br />
Im Hinblick auf das wirtschaftliche Kriterium<br />
betont Georgios PAPASTAMKOS, dass die<br />
Bewertung des wirtschaftlichen Kriteriums für<br />
den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union<br />
mit geringeren Schwierigkeiten verbunden ist,<br />
weil politische Bewertungen nicht erforderlich<br />
sind.<br />
Trotz einiger Überbleibsel staatlicher Intervention<br />
kann das türkische Wirtschaftssystem,<br />
das sich dem europäischen Wirtschaftsmodell<br />
zunehmend annähert, als „gemischt” bezeichnet<br />
werden. Weitere Anpassungen an das<br />
europäische Modell erfordern hauptsächlich<br />
strukturelle Veränderungen auf dem Gebiet<br />
der staatlichen Beihilfen und der<br />
Subventionen, der Agrarpolitik, der<br />
staatlichen Monopole und Unternehmen, des<br />
gesunden Wettbewerbs und im Allgemeinen<br />
der Rolle des Staates in der Wirtschaft.<br />
In Bezug auf die makroökonomische Leistung<br />
und die wirtschaftliche Stabilität begann die<br />
Türkei im Anschluss an die dramatische Krise<br />
2000/2001, ein umfassendes Anpassungs- und<br />
Stabilisierungsprogramm unter der Aufsicht<br />
des IWF umzusetzen. Die wichtigsten<br />
Kennzeichen dieses Programms sind<br />
Haushaltsdisziplin, Währungsstabilität,<br />
Privatisierung, Reformierung des<br />
Finanzsystems, des Sozialsystems, der<br />
staatlichen Unternehmen und der öffentlichen<br />
Verwaltung. Es besteht Einigkeit darüber, dass<br />
das Programm ein Erfolg gewesen ist. Die<br />
makroökonomischen Indikatoren der Türkei<br />
haben sich bereits beträchtlich verbessert.<br />
Das Haushaltsdefizit, die Staatsverschuldung,<br />
die Inflation und die Zinssätze sind stark<br />
zurückgegangen. Gleichzeitig hatten die<br />
Reformen aufgrund der hohen<br />
Wachstumsraten keine größeren negativen<br />
Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau.<br />
Nunmehr sind kontinuierliche Anstrengungen im<br />
Hinblick auf eine Stabilisierung erforderlich.
Die Türkei benötigt eine gesunde<br />
Volkswirtschaft mit einem berechenbaren und<br />
stabilen Umfeld, das einen Schutz vor neuen<br />
Krisen bietet. Dies wird das Land auf den Weg<br />
hin zu einer kontinuierlichen Entwicklung und<br />
zu einer Minderung der Armut bringen und eine<br />
Konvergenz mit den Kriterien der Europäischen<br />
Währungsunion herbeiführen.<br />
Allerdings geben einige wirtschaftlichen<br />
Aspekte Anlass zu einer gewissen Skepsis.<br />
Ein Problem ist die tiefe Kluft zwischen dem<br />
Entwicklungsniveau der Türkei und dem der<br />
25 europäischen Mitgliedstaaten. Aufgrund<br />
des niedrigen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts<br />
der Türkei (ca. 29% des EU-Durchschnitts<br />
2003) würde der EU-Beitritt eine Zunahme<br />
der Bevölkerung der Europäischen Union um<br />
17% bedeuten, das BIP der EU würde jedoch<br />
nur um 2% ansteigen. Durch die erheblichen<br />
regionalen Unterschiede zwischen dem Westen<br />
und dem Osten der Türkei (das Pro-Kopf-<br />
Einkommen in der Region Marmara beträgt<br />
153% des türkischen Durchschnitts, während<br />
es sich in Ostanatolien auf nur 28% beläuft)<br />
würde die eventuelle Erweiterung außerdem<br />
gewaltige regionale Unterschiede innerhalb<br />
der Europäischen Union zur Folge haben. Dies<br />
wäre für die Kohäsionspolitik der Europäischen<br />
Union eine riesige Herausforderung, die in ihrer<br />
derzeitigen Form die Mitgliedschaft der<br />
Türkei nicht verkraften könnte.<br />
Das zweite Problem ergibt sich aus der Größe<br />
des türkischen Agrarsektors. In diesem<br />
Sektor sind 32,8% der Erwerbstätigen, d.h.<br />
23,5 Millionen Menschen (2003), beschäftigt,<br />
während es in der EU-25 5,4% bzw. 24,5<br />
Millionen Menschen sind. Die Zahl der<br />
türkischen Bauern ist ebenso hoch wie die Zahl<br />
der Bauern der EU-25. Dies würde die GAP<br />
ernsthaft gefährden. In Anbetracht der<br />
derzeitigen Daten wäre eine gewaltige<br />
Aufstockung ihrer Mittel erforderlich. Die<br />
Auswirkungen auf den Agrarhandel sind<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
20<br />
schwer vorhersehbar, aber es bestehen kaum<br />
Zweifel daran, dass nach der Überwindung der<br />
bestehenden Hindernisse der Handel mit<br />
Agrarerzeugnissen zwischen der Türkei und<br />
der restlichen EU zugunsten der Türkei, die<br />
vergleichsweise niedrige Produktionskosten<br />
hat, erheblich ansteigen würde. Dies könnte im<br />
Agrarsektor der anderen Mitgliedstaaten<br />
einige Anpassungsprobleme verursachen.<br />
Der dritte Punkt schließlich betrifft die<br />
Bevölkerungsdynamik. Die Türkei ist mit einer<br />
Bevölkerung von 71,325 Millionen Menschen<br />
nach Deutschland das zweitgrößte Land in der<br />
EU. Prognosen zufolge wird die Türkei im Jahre<br />
2015 eine Bevölkerung von 82,150 Millionen<br />
(ebenso viele wie Deutschland) und im Jahre<br />
2025 von 88,995 Millionen haben. Dann wird<br />
die Türkei das bevölkerungsreichste Land der<br />
Europäischen Union sein. Eine große<br />
Bevölkerung bei einem geringen Einkommen in<br />
Kombination mit düsteren Aussichten und einer<br />
Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im<br />
Agrarsektor sind allesamt Faktoren, die eine<br />
massive Abwanderung in andere europäische<br />
Staaten bewirken dürften, hauptsächlich in<br />
diejenigen Länder, in denen es bereits einen<br />
hohen Bevölkerungsanteil türkischer<br />
Zuwanderer gibt, wie in Deutschland, in<br />
Frankreich, in den Niederlanden, in Österreich<br />
und in Belgien). Dies wird großen Druck auf die<br />
nationalen Arbeitsmärkte und Sozialsysteme<br />
ausüben. Allerdings kann diese Entwicklung<br />
durch lange Übergangsfristen für die<br />
Freizügigkeit der Arbeitnehmer und des<br />
Weiteren durch die Schaffung positiver<br />
politischer und wirtschaftlicher Bedingungen<br />
im Herkunftsland, im vorliegenden Fall in der<br />
Türkei, vermieden werden.<br />
Abschließend lässt sich feststellen, dass die<br />
Türkei viele der wirtschaftlichen<br />
Beitrittskriterien für den Verhandlungsbeginn<br />
erfüllt vorausgesetzt, dass sie weiterhin das<br />
Stabilisierungs- und Reformprogramm<br />
umsetzt. Andererseits wird es in der Zukunft<br />
auf der strukturellen Ebene zu schwer
wiegenden Problemen und Herausforderungen<br />
für die Kernpolitiken der Europäischen Union<br />
kommen, und diese erfordern so schnell wie<br />
möglich eine gangbare Lösung.<br />
Was auch immer geschehen mag, der<br />
tatsächliche Beginn der Beitrittsverhandlungen<br />
dürfte sich positiv auswirken.<br />
György SCHÖPFLIN wirft die Frage auf,<br />
inwieweit die Türkei in der Lage sein werde,<br />
die in die Europäische Union abgewanderten<br />
Arbeitnehmer wieder aufzunehmen.<br />
Zu der türkischen Auffassung des Begriffs<br />
der Staatsbürgerschaft vertritt György<br />
SCHÖPFLIN die Auffassung, dass sie nicht auf<br />
einem Gleichheitsprinzip basiere. Es sei<br />
praktisch unvorstellbar, von einem Türken zu<br />
verlangen, dass er jemanden als<br />
gleichberechtigten Staatsbürger akzeptiert,<br />
der nicht türkischsprachig und Moslem ist.<br />
Eine weitere Quelle der Beunruhigung ist, dass<br />
die Türkei ihre imperiale Vergangenheit<br />
weiterhin als ein ruhmreiches Kapitel<br />
betrachtet. Das bringt nicht nur Probleme für<br />
das einstmals besetzte Ungarn und<br />
Griechenland mit sich, sondern auch für<br />
Bulgarien und Rumänien als potenzielle EU-<br />
Mitglieder.<br />
Vom soziologischen Standpunkt her kann ein<br />
großer Teil der türkischen Bevölkerung<br />
vernünftigerweise als „prämodern” bezeichnet<br />
werden, da sie weder die kognitive noch die<br />
intellektuelle oder semantische Fähigkeit<br />
besitzt, die Komplexität der Moderne zu<br />
begreifen. Ihre Integration in das westliche<br />
Europa würde einen gewaltigen sozialen und<br />
soziologischen Kraftaufwand erfordern.<br />
György SCHÖPFLIN ist nicht sicher, dass die<br />
Europäische Union in der Lage wäre, das zu<br />
meistern. Die türkische Elite wiederum ist<br />
stark für die Laizität engagiert. Wird sie aber<br />
die Kraft haben, die Bevölkerung<br />
mitzunehmen?<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
21<br />
Elmar BROK, Vorsitzender des Ausschusses<br />
für auswärtige Angelegenheiten<br />
Elmar BROK (Vorsitzender des Ausschusses<br />
für auswärtige Angelegenheiten) erstattet<br />
Bericht über das Treffen mit dem türkischen<br />
Premierminister Erdogan im Rahmen der<br />
Konferenz der Präsidenten.<br />
Nach seinen Worten sei das Treffen unter ganz<br />
normalen Bedingungen abgelaufen. Einige<br />
kritische Fragen habe es hauptsächlich zum<br />
Verfahren gegeben, das seit Jahren alles<br />
andere als klar sei.<br />
Für die Kandidatenländer müssten die<br />
wirtschaftlichen Kriterien konsequent<br />
berücksichtigt werden. In einigen Fällen sei<br />
das während der gesamten Verhandlungsphase<br />
geschehen. Diese Kriterien müssten jedoch<br />
bereits vor Eröffnung der Verhandlungen<br />
erfüllt sein. Beispiele seien die Slowakei und<br />
die Tschechische Republik. Auf dieses Argument<br />
habe Premierminister Erdogan stets<br />
geantwortet, die Türkei warte seit 40 Jahren<br />
auf eine Antwort, und es sei an der Zeit, diese<br />
Antwort zu geben. Allerdings müssten die<br />
Bedingungen durch die Türkei erfüllt sein. Es<br />
komme nicht auf den Zeitpunkt an, an dem der<br />
Beitrittsantrag gestellt werde, sondern den
Zeitpunkt, an dem die Bedingungen für den<br />
Beitritt erfüllt seien.<br />
Gewiss habe die Türkei in den letzten Jahren<br />
viele Fortschritte auf dem Gebiet der<br />
legislativen Reformen gemacht. Aber<br />
andererseits deuteten doch viele Zeichen<br />
darauf hin, dass diese legislative Arbeit sich<br />
nicht voll in der Realität der Gesellschaft<br />
widerspiegelt.<br />
In diesem Zusammenhang erinnert Elmar<br />
BROK an einige Punkte, die von den<br />
Organisationen zur Verteidigung der<br />
Menschenrechte vorgebracht wurden: mehr als<br />
200 Fälle von Folter und mehr als 500 Fälle<br />
von willkürlichen Verhaftungen im Jahr 2003<br />
machen deutlich, dass den legislativen<br />
Reformen nicht immer konkrete Maßnahmen<br />
folgen.<br />
Ein anderes Beispiel: Im Jahr 2003 erhielten<br />
703 Türken in Deutschland den<br />
Flüchtlingsstatus, da sie aufgrund<br />
unzureichender Rechtsstaatlichkeit in der<br />
Türkei nicht mit einer fairen Behandlung<br />
rechnen konnten. Wenn diesen Personen<br />
tatsächlich auf dieser Grundlage Asylrecht<br />
gewährt wurde, so zeigt das, dass es in der<br />
Türkei keine wirkliche Rechtsstaatlichkeit gibt.<br />
Wenn die Kommission in ihrem Bericht im<br />
Oktober die Vorbehalte nicht ausräumt, die<br />
durch derartige Probleme ausgelöst werden,<br />
ist im Dezember keine positive Entscheidung<br />
zu erwarten, und die Verhandlungen können<br />
nicht eröffnet werden.<br />
Einige Gerüchte besagen, dass die Kommission<br />
in ihrem Bericht erwäge, die Agrarpolitik<br />
aufgrund der Finanzierungsprobleme nicht voll<br />
umzusetzen, oder dass die Freizügigkeit der<br />
Arbeitnehmer mittelfristig nicht umgesetzt<br />
werden solle. Selbst wenn Übergangszeiten<br />
denkbar sind, müssten doch alle EU-Länder<br />
gleiche Rechte und Pflichten haben. Andernfalls<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
22<br />
stünde die Kohärenz der Europäischen Union<br />
auf dem Spiel.<br />
Gewiss besitze die Türkei eine unschätzbare<br />
strategische Bedeutung. In diesem<br />
Zusammenhang müsse alles getan werden, um<br />
eine Situation dauerhafter Spannungen zu<br />
vermeiden, die den Reform- und<br />
Demokratisierungsprozess dieses Landes<br />
gefährden würde. Bestünde nicht, wenn die<br />
Verhandlungen sich wie vorgesehen über 10 bis<br />
15 Jahre erstrecken, die Gefahr, dass diese<br />
lange Wartezeit zu zahlreichen Unsicherheiten<br />
führt? Was würde geschehen, wenn die<br />
Verhandlungen sich noch länger hinziehen oder<br />
wenn ein Referendum das Verfahren zum<br />
Scheitern brächte?<br />
Einige, wie beispielsweise die Polen, sprechen<br />
sich für die Eröffnung der Verhandlungen mit<br />
der Türkei mit Blick auf die Entwicklungen in<br />
der Ukraine aus. Wenn man diesen Blickwinkel<br />
zugrunde legt und dann den Fall Weißrusslands<br />
ins Auge fasst, das keine wirklich<br />
demokratische Führung besitzt, besteht die<br />
Gefahr, dass die Europäische Union an Kohäsion<br />
verliert. Es müssen zahlreiche Fakten<br />
berücksichtigt werden. Große Weltreiche, die<br />
sich auf dem Gipfel ihrer Ausstrahlung<br />
befanden, gerieten bereits an den Rand des<br />
Untergangs, weil es ihnen nicht gelang, ihre<br />
Kohäsion zu wahren.<br />
Nach dem Verständnis von Elmar BROK müsse<br />
die Union eine Gemeinschaft gleichberechtigter<br />
Mitgliedstaaten bleiben, eine Unterteilung in<br />
verschiedene Kategorien sei nicht denkbar.<br />
In den letzten Jahrzehnten hat der Kemalismus<br />
einen Wandlungsprozess in der Türkei<br />
durchlaufen. Ist jedoch die Türkei angesichts<br />
der Schwierigkeiten, die im Falle eines<br />
Regierungswechsels auftreten könnten,<br />
wirklich in der Lage, ihre innere Stabilität über<br />
einen längeren Zeitraum zu wahren? Ist die
soziale und wirtschaftliche Realität des Landes<br />
geeignet, eine solche Stabilität zu sichern?<br />
Abschließend erklärt Elmar BROK, dass nach<br />
dem normalen Verfahren, wenn im Dezember<br />
die Bedingungen nicht als erfüllt angesehen<br />
würden, die Situation nach weiteren zwei<br />
Jahren erneut geprüft werden müsste.<br />
Diese Frist könnte es ermöglichen, in der<br />
Zwischenzeit die Debatte über die<br />
Ausdehnung Europas und die Beteiligung der<br />
Türkei weiter zu führen.<br />
Alejo VIDAL-QUADRAS ROCA,<br />
Vizepräsident des Europäischen Parlaments<br />
zeigt sich enttäuscht vom Verlauf der<br />
Debatte. Alle Teilnehmer hätten im gleichen<br />
Sinne gesprochen, so dass es der Debatte an<br />
der notwendigen Meinungsvielfalt fehlte. Er<br />
widerspricht den Worten von Edgar Lenski und<br />
unterstreicht, dass seiner Auffassung nach die<br />
Tatsache, dass die Türkei 70 Jahre lang<br />
versucht habe, europäisch zu sein, und trotz<br />
aller Schwierigkeiten versucht habe, sich durch<br />
die Übernahme universeller Werte den<br />
offenen Gesellschaften anzunähern, einen<br />
moralischen Wert darstelle, der ebenso<br />
verteidigt werden müsse wie beim Beitritt der<br />
osteuropäischen Länder.<br />
Der Redebeitrag von Alexandre DEL VALLE<br />
habe mehr von einer Propagandaübung an sich<br />
gehabt als von einer wissenschaftlichen<br />
Analyse.<br />
Im Einfluss der Türkei auf den Kaukasus sah<br />
Alexandre DEL VALLE einen Grund zur<br />
Besorgnis. Das Gegenteil könnte hingegen<br />
unterstützt werden: beispielsweise gehören<br />
der Einfluss Spaniens auf Lateinamerika,<br />
Frankreichs auf die frankophonen Länder und<br />
Portugals auf Brasilien als integraler<br />
Bestandteil zu den Aktiva der Union. Wenn ein<br />
beitretendes Land Einfluss über eine so große<br />
Region ausübt, so sei dies ein strategisches Plus<br />
für die Union, und nicht ein Nachteil.<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
23<br />
Im Übrigen schien Alexandre DEL VALLE in<br />
seinem Redebeitrag zu empfehlen, dass der<br />
Einfluss der Armee im türkischen politischen<br />
System beibehalten wird, um Laizität und<br />
Stabilität in der Türkei zu gewährleisten. Nach<br />
Auffassung von Alejo VIDAL-QUADRAS<br />
ROCA ließen sich sicher andere Mittel finden,<br />
um gegen den islamischen Fundamentalismus<br />
zu kämpfen.<br />
Einige empfehlen einen speziellen Status für<br />
die Türkei, um ihr zu ermöglichen, in den Genuss<br />
der wirtschaftlichen Vorteile des großen<br />
Binnenmarktes zu kommen, ohne ihr jedoch<br />
Zugang zu den Institutionen der Europäischen<br />
Union zu gewähren.<br />
Nach Meinung von Alejo VIDAL-QUADRAS<br />
ROCA bestehe da ein ernster Widerspruch<br />
mit den europäischen Ambitionen. Wie soll man,<br />
wenn die Europäische Union berufen ist, sehr<br />
viel mehr zu sein als ein Markt, eine<br />
Wertegemeinschaft, ein ethischer Leuchtturm<br />
für die Welt zu sein, dann einem Land wie der<br />
Türkei, das dazugehören möchte, sagen, es<br />
müsse sich mit einem Europa der Märkte<br />
begnügen!<br />
Für Alejo VIDAL-QUADRAS ROCA ist das<br />
Grundproblem ein ganz anderes. In dem<br />
gegenwärtigen geopolitischen Kontext<br />
herrsche eine nie dagewesene schreckliche<br />
Bedrohung, der Feind sei diffus, fanatisch,<br />
unerbittlich und in der Lage, unserer<br />
Zivilisation und unserem Leben große Schäden<br />
zuzufügen. Die Tatsache, dass die Türkei<br />
Verhandlungen mit der Europäischen Union<br />
aufnimmt, stelle unabhängig vom Ausgang<br />
dieser Verhandlungen ein so mächtiges Signal<br />
für den Triumph bestimmter Werte für die<br />
gesamte islamische Welt dar, dass man es auf<br />
keinen Fall verpassen dürfe.<br />
Albert DESS ist der Auffassung, dass der<br />
Beitritt der Türkei der Anfang vom Ende des<br />
europäischen Vereinigungsprozesses wäre. Er
würde Europa als Wertegemeinschaft<br />
gefährden.<br />
Albert DESS verweist insbesondere auf die<br />
mangelnde religiöse Freiheit und die Lage der<br />
türkischen Frauen. Er dankt der CDU-<br />
Vorsitzenden Angela MERKEL, die den Mut<br />
aufgebracht hat, in die Türkei zu reisen und<br />
sich nicht für den Beitritt, sondern für eine<br />
qualifizierte Partnerschaft auszusprechen. Die<br />
Türkei sei nicht in der Lage, die europäischen<br />
Werte umzusetzen, und werde es noch für<br />
lange Zeit nicht sein.<br />
Ursula STENZEL, Leiterin der<br />
österreichischen Delegation der EVP-ED-<br />
Fraktion unterstreicht, dass die äußerst<br />
kontroverse türkische Frage eine<br />
Entscheidung politischer Art erfordere. Der<br />
Handlungsspielraum sei allerdings sehr eng, da<br />
der Rat sich bereits mehrfach einstimmig<br />
geäußert habe.<br />
Ursula STENZEL stellt fest, dass eine Kluft<br />
zwischen der Realität in der Türkei und den<br />
Arbeiten der Juristen bestehe. Die in Ankara<br />
beschlossenen Reformen würden vielfach nicht<br />
umgesetzt. Sind die türkischen Politiker<br />
wirklich in der Lage, diese Reformen<br />
umzusetzen und bestimmte tief verankerte<br />
Reflexe auszumerzen? Im Rahmen der<br />
Verhandlungen, die in die Erweiterung um die<br />
zehn neuen Mitgliedstaaten mündeten, hat die<br />
Europäische Union nachdrücklich darauf<br />
bestanden, dass die Texte wirklich umgesetzt<br />
werden müssten. Dieses Kriterium müsse auch<br />
für die Türkei gelten, vor allem auf politischer<br />
Ebene.<br />
Aus der Sicht von Ursula STENZEL sollte man<br />
sich keine Illusionen machen, der Beitritt der<br />
Türkei zur Europäischen Union werde sich<br />
schwerlich verhindern lassen. Man müsse<br />
jedoch darauf bestehen, dass der<br />
Verhandlungsprozess transparent verläuft,<br />
und sagen, dass die Verhandlungen nicht<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
24<br />
zwangsläufig in den Beitritt münden werden.<br />
Eine Rückzugslösung müsse möglich sein<br />
Erna HENNICOT-SCHOEPGES legt das<br />
Schwergewicht auf die kulturellen Argumente.<br />
Wie sie hervorhebt, sei es im Wesentlichen der<br />
kulturelle Bruch, der die europäische<br />
Öffentlichkeit beunruhige. Wie will man Europa<br />
auf diesen Bruch vorbereiten? Wie will man<br />
dem Gesetz Vorrang gegenüber dem Glauben<br />
einräumen?<br />
Die Presse enthüllte unlängst, dass in London<br />
die Eröffnung einer islamischen Bank<br />
genehmigt worden sei, die nach der Sharia<br />
funktioniert. Das bedeutet, dass diese Bank<br />
den Anhängern des Islam zinslose Kredite<br />
gewähren kann. Sei das ein Grund, zum Islam<br />
überzutreten? Ist das vereinbar mit den in<br />
der Europäischen Union geltenden<br />
Wettbewerbsregeln?<br />
Renate SOMMER lenkt die Aufmerksamkeit<br />
auf die Tatsache, dass die Türkei keineswegs<br />
auf ein Scheitern der Verhandlungen<br />
eingestellt sei. Die Türkei wolle keinen Beitritt<br />
zweiter Klasse, wie ihn Herr Verheugen<br />
vorgeschlagen habe.<br />
Wollte man der Rede von Premierminister<br />
Erdogan vor der Konferenz der Präsidenten<br />
glauben, so sei die Türkei ein Paradies: die<br />
Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit<br />
seien gewährleistet, die Folter abgeschafft.<br />
Möglicherweise gebe es noch einige Probleme<br />
bezüglich des Minderheitenrechts, aber<br />
früher sei das viel schlimmer gewesen! Wir<br />
wüssten sehr wohl, dass all das nicht wahr ist!<br />
Wenn die Kommission am 6. Oktober ihre<br />
Mitteilung vorlegt, sollte man sich abstimmen.<br />
Die Einleitung der Verhandlungen könne nicht<br />
erfolgen, wenn einige Kriterien nicht erfüllt<br />
seien. Die Einhaltung der Kriterien von<br />
Kopenhagen müsse als Druckmittel dienen.
Bislang seien sie durch die Türkei nicht<br />
umgesetzt worden.<br />
Frau Renate SOMMER besteht ferner darauf,<br />
dass die Eröffnung der Verhandlungen mit der<br />
Türkei ihrem Ergebnis nicht vorgreifen dürfe.<br />
So würde der parallele Aufbau von<br />
Nachbarschaftsbeziehungen der Türkei<br />
gestatten, sich ohne Gesichtsverlust von den<br />
Verhandlungen zurückzuziehen, wenn sie<br />
feststellt, dass sie nicht bereit ist, den acquis<br />
communautaire vollständig zu übernehmen oder<br />
auf den für den EU-Beitritt notwendigen Teil<br />
der nationalen Souveränität zu verzichten.<br />
Als Fazit unterstreicht Edgar LENSKI, dass<br />
es seiner Auffassung nach nicht möglich sei,<br />
eine Ersatzlösung ins Auge zu fassen. Das<br />
wäre nützlich gewesen, aber der Zug sei<br />
bereits abgefahren!<br />
Nach seinem Dafürhalten könne der<br />
Handlungsspielraum sich nur auf die Länge der<br />
Beitrittsverhandlungen erstrecken.<br />
Die Europäische Union habe trotzdem noch eine<br />
wichtige Waffe in der Hand. Für jeden Beitritt<br />
zur Europäischen Union sei die Zustimmung des<br />
Europäischen Parlaments erforderlich. Das<br />
Europäische Parlament könnte sich letztlich<br />
sowohl vom juristischen als auch vom politischen<br />
Standpunkt her immer noch ablehnend äußern,<br />
wenn die Kriterien nicht erfüllt seien.<br />
Alexandre DEL VALLE möchte noch einige<br />
Vorbehalte zu dem Argument äußern, dass die<br />
Türkei seit 70 Jahren bewiesen habe, dass sie<br />
in der Demokratie und der offenen<br />
Gesellschaft verankert sei.<br />
STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />
ZUR TÜRKEI<br />
23.-24. SEPTEMBER 2004<br />
25<br />
In diesen 70 Jahren habe die Türkei 1,5<br />
Millionen Armenier ausgerottet, 2 Millionen<br />
Griechen ins Meer getrieben, Zehntausende<br />
politische Gefangene gemacht und einen<br />
Staatsterror eingeführt, der auch heute in<br />
Kurdistan mit Tausenden Toten noch andauere.<br />
Gewiss sei die Türkei prowestlich gewesen.<br />
Könne man aber sagen, sie habe bewiesen, dass<br />
sie pluralistisch sei, wenn man bedenkt, dass<br />
die Religion auf den Personalausweisen<br />
vermerkt wird, dass Nicht-Sunniten keinen<br />
Zugang zur Verwaltung, zur Armee und zum<br />
höheren öffentlichen Dienst haben und dass die<br />
12 Millionen Aleviten kein Recht auf<br />
Religionsausübung und auch nur die geringste<br />
Anerkennung haben.<br />
Alexandre DEL VALLE ist der Meinung, man<br />
müsse sich in der Debatte von der political<br />
correctness lösen und die Sprache der<br />
Wahrheit sprechen. Abschließend erklärt er,<br />
in der Politik sei die Kunst, Nein sagen zu<br />
können, viel eher ein Zeichen von<br />
Verantwortungsbewusstsein als aus Angst vor<br />
den Konsequenzen Ja zu sagen. Angst sei kein<br />
politisches Handeln.<br />
Nach Meinung von Jacques TOUBON müsse<br />
man von Europa sprechen, wie es sei, und von<br />
dem Europa, das wir wollen, im Verhältnis zur<br />
Türkei wie sie sei.<br />
Vor allem sollten wir uns nicht von Trugbildern<br />
leiten lassen, sondern uns der Wahrheit stellen,<br />
der Wahrheit des europäischen Projekts, das<br />
wir alle wollen, und der Wahrheit der Situation<br />
in der Türkei heute und morgen.<br />
I