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Donnerstag, 23. September 2004,<br />

15.00-18.00 Uhr<br />

Vorsitz und Einleitung: João PINHEIRO,<br />

Stellvertretender Vorsitzender der EVP-<br />

ED-Fraktion<br />

THEMA: Die Beziehungen zwischen der<br />

EU und der Türkei<br />

Auswirkungen der türkischen<br />

Mitgliedschaft für die EU von:<br />

Edgar LENSKI, Lehrbeauftragter,<br />

Humboldt-Universität, Berlin<br />

Die Türkei in Europa von:<br />

Alexandre DEL VALLE, Rechercheur,<br />

Frankreich<br />

Stellungnahmen von:<br />

Elmar BROK, Vorsitzender des<br />

Ausschusses für auswärtige<br />

Angelegenheiten<br />

José Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />

NEYRA, EVP-ED-Koordinator im<br />

Ausschuss für auswärtige<br />

Angelegenheiten<br />

Jacques TOUBON, erster<br />

stellvertretender Vorsitzender der Delegation<br />

im gemischten parlamentarischen<br />

Ausschuss EU-Türkei<br />

Diskussion<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

<strong>PROGRAMM</strong><br />

1<br />

Freitag, 24. September 2004, 09.00-<br />

12.30 Uhr<br />

Vorsitz: Hans-Gert PÖTTERING,<br />

Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion<br />

THEMA: Menschen- und<br />

Minderheitenrechte in der Türkei<br />

Beiträge von:<br />

Yusuf ALATAS, stellvertretender<br />

Vorsitzender der Türkischen Vereinigung<br />

für Menschenrechte<br />

Gabriele JUEN, CFSP/External Relations<br />

- Amnesty International, Brüssel<br />

Elisabeth DÖRLER, Christlich-<br />

Muslimisches Forum, Experte zu<br />

religiösen Minderheiten in der Türkei<br />

Stellungnahmen von:<br />

Simon BUSUTTIL, Leiter der<br />

maltesischen Delegation der EVP-ED-<br />

Fraktion, Mitglied der Delegation für die<br />

Beziehungen zu den Mahgreb-Ländern<br />

und der Union des Arabischen Maghreb<br />

Armin LASCHET, EVP-ED-Obmann im<br />

Unterausschuss für Menschenrechte<br />

Camiel EURLINGS, Berichterstatter im<br />

Ausschuss für auswärtige<br />

Angelegenheiten zur Türkei<br />

Diskussion<br />

Abschließende Anmerkungen durch Hans-<br />

Gert PÖTTERING, Vorsitzender der<br />

EVP-ED-Fraktion


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

THEMA II: MENSCHEN- UND<br />

MINDERHEITENRECHTE IN DER<br />

TÜRKEI<br />

E. DÖRLER, Experte zu religiösen<br />

Minderheiten in der Türkei; G. JUEN, CFSP/<br />

External Relations;<br />

Y. ALATAS, stellvertretender Vorsitzender<br />

der Türkischen Vereinigung für<br />

Menschenrechte; H.-G. PÖTTERING,<br />

Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion;<br />

P.FONTAINE,stellvertretender<br />

Generalsekretär; S. BUSUTTIL, Leiter der<br />

maltesischen Delegation der EVP-ED-Fraktion;<br />

A.LASCHET, EVP-ED-Obmann im<br />

Unterausschuss für Menschenrechte;<br />

C. EURLINGS, Berichterstatter im Ausschuss<br />

für auswärtige Angelegenheiten zur Türkei<br />

Der Vorsitzende der EVP-ED-Fraktion,<br />

Hans-Gert PÖTTERING, führt in das zweite<br />

Thema dieser Studientage ein, indem er die<br />

Mitglieder der EVP-ED-Fraktion über den<br />

Verlauf der Konferenz der Präsidenten<br />

informiert, an der am Vorabend der türkische<br />

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan<br />

teilgenommen habe.<br />

Bei diesem Treffen habe der<br />

Ministerpräsident keinen Zweifel daran<br />

gelassen, dass er sich die Eröffnung von<br />

Beitrittsverhandlungen wünsche und für Anfang<br />

Oktober grünes Licht seitens der Kommission<br />

erwarte.<br />

26<br />

Mit Hinweis auf die von ihm einberufene<br />

Sondersitzung des türkischen Parlaments für<br />

den kommenden Sonntag habe Recep Tayyip<br />

Erdogan eine schnelle Regelung des Problems<br />

im Zusammenhang mit der Reform des<br />

türkischen Strafgesetzbuches angekündigt.<br />

Im Mittelpunkt stehe dabei die Strafbarkeit<br />

von Ehebruch.<br />

Auf der Konferenz der Präsidenten habe sich<br />

Hans-Gert PÖTTERING als Vorsitzender der<br />

größten Fraktion im Europäischen Parlament<br />

gegen die Eröffnung von Verhandlungen<br />

ausgesprochen. Er halte den Zeitpunkt für<br />

verfrüht, insbesondere angesichts der Situation<br />

der Menschenrechte in der Türkei.<br />

Sollten die Verhandlungen dennoch eröffnet<br />

werden, müsste an deren Ende nicht<br />

zwangsläufig der Beitritt der Türkei stehen.<br />

Das Ergebnis der Verhandlungen könne auch<br />

eine privilegierte Partnerschaft sein.<br />

Vor dem Hintergrund der Aussprache zu<br />

Thema I dieser Studientage stellt der<br />

Vorsitzende Hans-Gert PÖTTERING<br />

diesbezüglich fest, dass sich bei den<br />

folgenden beiden, von ihm nochmals<br />

bekräftigten Punkten trotz einiger<br />

Meinungsverschiedenheiten unter den<br />

Fraktionsmitgliedern eine Mehrheitsmeinung<br />

abzuzeichnen beginne.<br />

- Der Zeitpunkt für die Eröffnung von<br />

Verhandlungen sei verfrüht, insbesondere<br />

aufgrund der noch mangelhaften Umsetzung<br />

der gesetzlichen Bestimmungen im Bereich des<br />

Schutzes der Menschenrechte;<br />

- Sollte die Entscheidung dennoch zugunsten<br />

der Eröffnung von Verhandlungen fallen, dürfe<br />

deren Ausgang nicht vorweggenommen<br />

werden. Am Ende der Verhandlungen könne die<br />

Empfehlung entweder zugunsten eines<br />

Beitritts der Türkei oder aber zugunsten einer<br />

privilegierten Partnerschaft ausfallen.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Für den 6. Oktober 2004 werde eine Mitteilung<br />

der Kommission erwartet, in der sie die<br />

Eröffnung von Verhandlungen empfehlen<br />

werde. Danach läge die Entscheidung bei den<br />

Staats- und Regierungschefs. Zum Zeitpunkt<br />

dieser Entscheidung werde die EVP zu einem<br />

Gipfel zusammenkommen, um über diese Frage<br />

zu beraten.<br />

Yusuf ALATAS, stellvertretender<br />

Vorsitzender der Türkischen Vereinigung für<br />

Menschenrechte<br />

Yusuf ALATAS, stellvertretender<br />

Vorsitzender der Türkischen Vereinigung für<br />

Menschenrechte, erinnert daran, dass die<br />

Türkei seit der Ankündigung ihrer Kandidatur<br />

für einen Betritt zur Europäischen Union<br />

bedeutende Reformen auf den Weg gebracht<br />

habe.<br />

Zu den positiven Entwicklungen zähle er die<br />

Verfassungsänderungen, bei denen die<br />

Todesstrafe abgeschafft worden sei. Ferner<br />

27<br />

sei das Rechtsstaatsprinzip eingeführt worden.<br />

Einige Gerichte, unter ihnen das<br />

Staatssicherheitsgericht, seien abgeschafft<br />

und der Vorrang internationaler<br />

Übereinkommen anerkannt worden. Letztere<br />

seien bezüglich ihrer Anwendung dem<br />

nationalen Recht gleichgestellt worden. Es sei<br />

nun sehr viel schwieriger geworden, politische<br />

Parteien aufzulösen. Verfassungsrechtliche<br />

Einschränkungen im Zusammenhang mit dem<br />

Gebrauch von Minderheitensprachen, wie dem<br />

Kurdischen, im öffentlichen Leben und in der<br />

Schule seien abgeschafft worden. Das<br />

Verfassungsgericht stütze seine Urteile nun<br />

auf die Rechtssprechung des Europäischen<br />

Gerichtshofs für Menschenrechte. Schließlich<br />

sei der Generalsekretär des Nationalen<br />

Sicherheitsrates nicht länger ein Angehöriger<br />

des Militärs, sondern erstmals ein Zivilist.<br />

Parallel zu diesen Verfassungsänderungen<br />

seien auch noch eine Vielzahl von Gesetzen und<br />

Gesetzbüchern grundlegend geändert worden.<br />

Zu nennen seien hier beispielsweise die<br />

Aufhebung und Verbesserung derjenigen<br />

Artikel, mit denen bislang die freie<br />

Meinungsäußerung eingeschränkt worden sei.<br />

Die Gesinnungsgefangenen seien freigelassen<br />

worden. Die Untersuchungshaft sei auf vier<br />

Tage verkürzt worden. Tatverdächtige hätten<br />

nun das Recht auf einen Anwalt. Auch im<br />

Bereich der rechtlichen Bestimmungen zur<br />

Niederlassungsfreiheit seien weitreichende<br />

Verbesserungen vorgenommen worden.<br />

Hinsichtlich des Gebrauchs der kurdischen<br />

Sprache und anderer Minderheitensprachen im<br />

öffentlichen Leben und in der Schule seien die<br />

gesetzlichen Einschränkungen aufgehoben<br />

worden.<br />

Das Strafmaß für Folter sei verschärft<br />

worden. Die Menschenrechtssituation stelle<br />

sich nun so dar, dass es eventuell möglich sein<br />

könnte, den Prozess von Leila Zana und anderer<br />

Gesinnungsgefangener wieder aufzunehmen.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Ein neues und liberaleres Strafgesetzbuch<br />

werde verfasst, das mit den europäischen<br />

Standards vergleichbar sei.<br />

Bedauerlicherweise sei die Annahme dieses<br />

Gesetzbuches aufgrund der Diskussion um den<br />

Ehebruch verschoben worden. Die Aussprache<br />

im Parlament werde jedoch fortgesetzt und<br />

der Textentwurf noch vor dem 6. November<br />

angenommen.<br />

Im Bereich des Minderheitenschutzes seien<br />

unter Beachtung der Kriterien von Kopenhagen<br />

eine ganze Reihe von positiven<br />

verfassungsrechtlichen Maßnahmen ergriffen<br />

worden.<br />

Einige Probleme bestünden jedoch fort.<br />

Verfassungsänderungen seien nicht<br />

ausreichend, um sämtliche Probleme zu lösen.<br />

Alle diese positiven Änderungen in Texten<br />

müssten im täglichen Leben der Bürger<br />

konkrete Gestalt annehmen.<br />

Yusuf ALATAS zählt die Bereiche auf, bei<br />

denen es noch Probleme in der Praxis gebe:<br />

Die Folter in der Türkei sei noch immer ein<br />

Thema, das Anlass zu Sorge gebe. Trotz der<br />

Reformen im Laufe der ersten Jahreshälfte<br />

2004 seien der türkischen<br />

Menschenrechtsvereinigung IHD 692 Fälle von<br />

Folter bekannt geworden. Diese 692 Fälle<br />

beträfen das gesamte Staatsgebiet der<br />

Türkei. Yusuf ALATAS zeigt auf einer Karte,<br />

wie die Fälle von Folter im Land verteilt sind.<br />

Selbstverständlich habe die Regierung eine<br />

„Null-Toleranz-Politik“ bei der Bekämpfung von<br />

Folter und Misshandlungen angekündigt. Yusuf<br />

ALATAS räumt jedoch ein, dass die Regierung,<br />

auch wenn sie nichts unternehme, was Folter<br />

und Misshandlungen unterstütze, bislang<br />

keinerlei Verwaltungsvorschriften erlassen<br />

habe, um sie aktiv zu verhindern. Kein einziger<br />

Gouverneur oder Sicherheitschef, dem Folter<br />

zur Last gelegt worden sei, habe zurücktreten<br />

müssen. In der Praxis würden diese<br />

28<br />

Beschuldigungen von den Justizbehörden nicht<br />

ernst genommen und nur sehr schleppend<br />

behandelt. Die Regierung müsse hier mehr<br />

Autorität zeigen und striktere<br />

Verwaltungsvorschriften für die Polizei und die<br />

Bediensteten der Behörden erlassen.<br />

Ein weiterer wichtiger Bereich seien die<br />

kulturellen Rechte. In der Türkei hätten<br />

Kurden und andere Minderheitengruppen<br />

Schwierigkeiten, ihre kulturellen Rechte<br />

auszuüben. Einige Maßnahmen seien<br />

abgeschafft, andere ergriffen worden. Das<br />

Staatsfernsehen strahle beispielsweise einmal<br />

pro Woche eine halbe Stunde lang ein<br />

Bildungsprogramm in kurdischer Sprache aus.<br />

Das könne man zwar belächeln, es handle sich<br />

hierbei jedoch um eine regelrechte Revolution<br />

in der Türkei. Selbstverständlich sei dies nicht<br />

ausreichend, aber die Tatsache, dass das<br />

Verbot aufgehoben worden sei, und sei es nur<br />

für eine halbe Stunde in der Woche, stelle<br />

einen gewaltigen Fortschritt dar.<br />

Es müssten noch mehr dieser kulturellen<br />

Rechte eingeräumt werden, und der Staat<br />

müsse ihre Wahrnehmung stärken und fördern.<br />

Auch wenn es in diesem Bereich keine exakten<br />

statistischen Angaben gebe, könne davon<br />

ausgegangen werden, dass in der Türkei<br />

zwischen 12 und 20 Millionen Kurden lebten,<br />

was einem Fünftel bzw. einem Viertel der<br />

türkischen Bevölkerung entspreche. Angesichts<br />

einer solchen Größenordnung könne das Problem<br />

nicht mit einigen kleinen Verbesserungen<br />

gelöst werden. In 15 Jahren erbitterten<br />

Kampfes – des Kampfes gegen den<br />

Terrorismus – seien viele Menschen getötet<br />

und 3 000 Dörfer geräumt worden. Heute<br />

seien 5 000 politische Gefangene in türkischen<br />

Gefängnissen inhaftiert. Die Regierung habe die<br />

Pflicht, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um<br />

für ihre Wiedereingliederung in die<br />

Gesellschaft zu sorgen. Dies geschehe jedoch<br />

nicht. Die notwendigen Voraussetzungen für<br />

eine Rückkehr dieser Menschen in ihre Dörfer


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

seien nicht geschaffen worden. Auch gebe es<br />

keine Entschädigungen für die bei<br />

terroristischen Angriffen erlittenen Schäden.<br />

Es würden keine nachhaltigen Maßnahmen<br />

ergriffen, um das Wiederaufflammen des<br />

bewaffneten Terrorismus zu verhindern.<br />

Es sei nicht möglich, dem Terror Einhalt zu<br />

gebieten, wenn Anschläge als singuläre<br />

Bluttaten angesehen würden. Der Terror habe<br />

Ursachen und wenn diese nicht mit friedlichen<br />

Mitteln beseitigt würden, führe dies zu einer<br />

weiteren Stärkung des Terrorismus.<br />

Die türkische Regierung müsse in diesem Punkt<br />

Erfolge erzielen. Das Kurdenproblem müsse<br />

durch ein umfangreiches Projekt für den<br />

sozialen Frieden gelöst werden. In einer<br />

Gesellschaft dürfe es keine Gruppen geben,<br />

die in einer dauerhaften Konfrontation leben.<br />

In einem demokratischen Land müsse eine<br />

demokratische Lösung für dieses Problem<br />

gefunden werden.<br />

Die Meinungsfreiheit werde zwar anerkannt,<br />

es gebe jedoch noch immer gravierende<br />

Einschränkungen.<br />

Auch das Recht auf Versammlungsfreiheit<br />

werde, abhängig von den jeweiligen<br />

Gouverneuren, von Region zu Region<br />

unterschiedlich gehandhabt.<br />

Durch die Beziehungen zwischen der Türkei<br />

und der Europäischen Union sei ein großes<br />

demokratisches Potential geschaffen und der<br />

Weg für einen umfassenden Reformprozess<br />

geebnet worden.<br />

In diesem Punkt zeigt sich Yusuf ALATAS<br />

enttäuscht über die Redner beim ersten Thema<br />

dieser Studientage, da sie kein Bild gezeichnet<br />

hätten, das der wirklichen Situation in der<br />

Türkei entspreche.<br />

29<br />

Selbstverständlich müsse die Türkei die<br />

Kriterien erfüllen, um der Europäischen Union<br />

beitreten zu können. Es könne jedoch nicht<br />

alles über Nacht geregelt werden. Man dürfe<br />

nicht vergessen, so Yusuf ALATAS, dass<br />

gerade die Kurden, Armenier und die<br />

griechischen Minderheiten am meisten von<br />

einem Beitritt zur Europäischen Union<br />

profitieren würden.<br />

Außer in der Europäischen Union sei die Türkei<br />

bereits Mitglied in allen europäischen<br />

Organisationen (NATO, OECD, Europarat ...).<br />

Zum Zeitpunkt der Aufnahme der Türkei in<br />

die jeweilige Organisation habe niemand die<br />

Frage gestellt, ob sie ein europäischer Staat<br />

sei oder nicht.<br />

Es könne sein, dass es Unterschiede gebe.<br />

Vielleicht befinde sich die Türkei nicht<br />

vollständig auf europäischem Boden, aber sie<br />

sei ein Teil Europas.<br />

Abschließend stellt Yusuf ALATAS fest, dass<br />

der Beitrittsprozess nicht unterbrochen<br />

werden dürfe, wenn man die Situation der<br />

Menschenrechte verbessern und die<br />

Demokratie in der Türkei stärken wolle.<br />

Gabriele JUEN, CFSP/External Relations -<br />

Amnesty International


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Gabriele JUEN erläutert, wie Amnesty International<br />

die Situation der Menschenrechte<br />

in der Türkei einschätzt.<br />

Sie erinnert daran, dass es sich Amnesty International<br />

zur Aufgabe gemacht habe, den<br />

Schutz der Menschenrechte in allen Ländern<br />

der Welt zu stärken; politische Entscheidungen<br />

zu treffen, sei nicht Sache von Amnesty International.<br />

Daher bestehe das Ziel von Amnesty<br />

International nicht darin, den Beitritt<br />

eines Landes zur Europäischen Union oder zu<br />

irgendeiner anderen internationalen<br />

Organisation zu blockieren oder zu<br />

befürworten.<br />

Angesichts der Vielzahl von<br />

Verfassungsänderungen und<br />

Gesetzesreformen, die zur Erfüllung der<br />

politischen Kriterien von Kopenhagen im Sinne<br />

des Menschenrechtsschutzes erfolgt seien,<br />

halte Amnesty International den Prozess zur<br />

Vorbereitung für den Beitritt jedoch für eine<br />

positive Phase für die Türkei und ihre Bürger.<br />

Wie überall in der Welt hätten auch die Bürger<br />

in der Türkei das Recht auf ein größtmögliches<br />

Maß an Schutz. Organisationen wie diejenige,<br />

die Yusuf Alatas repräsentiere, Intellektuelle<br />

und Studenten hätten sich dafür eingesetzt,<br />

die Situation der Menschenrechte in der<br />

Türkei zu verbessern. Die aktuelle Entwicklung<br />

der Türkei mit der Perspektive auf einen<br />

möglichen Beitritt basiere auf der langjährigen<br />

und großartigen Arbeit dieser<br />

Menschenrechtsaktivisten.<br />

Die türkische Regierung sei Verpflichtungen<br />

eingegangen, die weit über die schlichte<br />

Einhaltung des Acquis communautaire<br />

hinausgingen. Verglichen mit den bis heute<br />

begangenen groben<br />

Menschenrechtsverletzungen stellten die nun<br />

gegenüber den Bürgern gemachten<br />

Versprechungen eine Kehrtwende dar. Die<br />

30<br />

Umsetzung dieser Versprechungen in die<br />

Praxis ließe jedoch auf sich warten.<br />

Das im Februar 2004 Ministerpräsident<br />

Erdogan vorgelegte Memorandum von Amnesty<br />

International mit dem Titel „De la parole aux<br />

actes“ („Vom Papier in die Praxis“) habe die<br />

türkische Regierung darin bestärkt, gegen<br />

Menschenrechtsverletzungen vorzugehen. Dies<br />

sei und bleibe die absolute Priorität für Amnesty<br />

International.<br />

Gabriele JUEN gibt einen Überblick über<br />

diejenigen Punkte, bei denen es in der Türkei<br />

im Bereich der Menschenrechte weiterhin<br />

Anlass zur Sorge gebe. Eine Auflistung dieser<br />

Punkte, von denen sie hier nur einige referiere,<br />

sei in dem genannten Memorandum enthalten.<br />

Die Folter bleibe ein allgegenwärtiges und<br />

ernstes Problem in der Türkei. Mehrfach habe<br />

die Regierung deutlich gemacht, dass sie Folter<br />

nicht mehr tolerieren werde, aber es bedürfe<br />

noch weiterer Maßnahmen, damit diese Haltung<br />

auch in das Bewusstsein der Polizeibeamten,<br />

Staatsanwälte und Richter dringe.<br />

Die Türkei habe die Vorschriften für<br />

Verhaftungen und Strafvollzug verbessert.<br />

Insbesondere sei hier das Recht auf<br />

umgehende Kontaktaufnahme mit einem<br />

Rechtsbeistand zu nennen. Auf Worte müssten<br />

nun jedoch Taten folgen. In der Realität<br />

würden Anwälte allzu oft in ihrer Arbeit<br />

behindert. Es müsse ein System eingerichtet<br />

werden, um eine regelmäßige Kontrolle der<br />

Orte, an denen Personen festgehalten werden,<br />

durch unabhängige Kontrolleure zu<br />

ermöglichen. Auch Polizeidienststellen<br />

unterlägen keinerlei Kontrollen. Die meisten<br />

Hinweise auf Folter beträfen aber gerade die<br />

Polizeidienststellen. In vielen Fällen sähen sich<br />

gerade die jüngsten Polizisten mit niedrigem<br />

Dienstgrad Vorwürfen der Folter ausgesetzt,<br />

während Beamte mit höherem Dienstgrad nicht<br />

betroffen seien. Die Staatsanwälte müssten


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

mehr Rechte erhalten, um bei Fällen von Folter<br />

mit der größtmöglichen Konsequenz ermitteln<br />

zu können.<br />

Im Bereich der Verhaftungen seien<br />

Verbesserungen festzustellen, es gebe jedoch<br />

noch immer Fälle von offiziellen Verhaftungen,<br />

bei denen die Polizeibeamten dazu tendierten,<br />

ihre Macht zu missbrauchen. Im ersten<br />

Halbjahr 2004 habe es bei der Polizei Fälle<br />

von Missbrauch der Staatsgewalt gegen<br />

Studenten, Gewerkschafter, Vertreter der<br />

Linken und gegen Personen gegeben, die<br />

allgemein als „Oppositionelle“ bezeichnet<br />

würden. Die bei der Staatsanwaltschaft<br />

eingereichten Klagen mündeten selten in ein<br />

Verfahren, und in den Fällen, in denen es zu<br />

einem Verfahren käme, fielen die Strafen<br />

gering aus. Diejenigen Personen, die sich über<br />

eine schlechte Behandlung beschwert hätten,<br />

seien im Anschluss sogar oft von der Justiz<br />

wegen Teilnahme an nicht genehmigten<br />

Demonstrationen angeklagt worden. Amnesty<br />

International lägen auch Berichte über nicht<br />

offizielle Verhaftungen vor. Die betroffenen<br />

Personen seien in ein Auto gezerrt, Verhören<br />

unterzogen und dann im Einzelfall auch an<br />

inoffiziellen Orten eingesperrt worden.<br />

Über diese Praktiken existiere kein einziger<br />

offizieller Bericht, man könne jedoch<br />

inoffizielle Berichte erhalten, was auf<br />

Probleme in der Befehlskette der Polizei<br />

hinzuweisen scheine. Amnesty International sei<br />

der Ansicht, dass die ranghöchsten<br />

Polizeibeamten ihre Einheiten besser<br />

kontrollieren und die volle Verantwortung für<br />

jeden Machtmissbrauch ihrer Untergebenen<br />

übernehmen müssten.<br />

Bei inoffiziellen Verhaftungen stelle sich in den<br />

meisten Fällen die Frage der Straffreiheit:<br />

Diese Verhaftungen würden von<br />

Polizeibeamten vorgenommen, die oft zivile<br />

Fahrzeuge nutzten; in diesem Bereich liege<br />

offensichtlich die Absicht vor, die<br />

31<br />

Reformbemühungen zu sabotieren, indem eine<br />

Stimmung allgemeiner Angst erzeugt werde.<br />

Darüber hinaus hätten sich im Laufe des ersten<br />

Halbjahres 2004 die Belege für Behinderungen<br />

der freien Meinungsäußerung gehäuft.<br />

Zuweilen sei es sogar zu Inhaftierungen<br />

gekommen. Auf Grundlage alter Gesetze seien<br />

hohe Geldstrafen verhängt worden. Zu den<br />

Geschädigten hätten einige Zeitungen gezählt,<br />

die Artikel veröffentlicht hätten, in denen<br />

Meinungen geäußert worden seien, ohne zur<br />

Gewalt aufzurufen. Zu nennen seien<br />

beispielsweise auch Klagen gegen Vertreter<br />

von Menschrechtsvereinigungen, die Poster in<br />

kurdischer Sprache für die Feierlichkeiten in<br />

der Woche der Menschenrechte im Dezember<br />

2003 veröffentlicht hätten.<br />

Der Entwurf des neuen Strafgesetzbuchs, der<br />

heute dem türkischen Parlament vorgelegt<br />

werde, stelle eine Verbesserung des alten<br />

Strafgesetzbuchs dar, Amnesty International<br />

verfüge jedoch noch nicht über die vollständige<br />

Liste der 340 neuen Bestimmungen.<br />

Amnesty International sei beunruhigt<br />

angesichts der noch immer bestehenden<br />

Möglichkeit, dass die nationale Sicherheit als<br />

Vorwand für die Einschränkung der freien<br />

Meinungsäußerung genutzt werden könne. Das<br />

Wichtigste sei jedoch, zu beobachten, ob das<br />

künftige Strafgesetzbuch den Staatsanwälten<br />

ermöglichen werde, die Rede-, Meinungs- und<br />

Versammlungsfreiheit besser schützen zu<br />

können. Dieses neue Strafgesetzbuch solle<br />

auch das Recht auf gewaltfreie Äußerung<br />

abweichender Meinungen bei allen Fragen<br />

beinhalten. Dazu gehöre auch die gewaltfreie<br />

Kritik an Staatsbeamten, der Armee sowie der<br />

Regierung.<br />

Amnesty International richte die<br />

Aufmerksamkeit auch auf die Gewalt gegen<br />

Frauen in der Familie. Dieses Problem sei auch<br />

Thema der allgemeinen Kampagne zur


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. In einem<br />

im Juni veröffentlichten Bericht seien einige<br />

Beispiele von Frauen veröffentlicht worden,<br />

die geschlagen, vergewaltigt, getötet oder in<br />

den Selbstmord getrieben worden seien. Die<br />

Diskriminierung von Frauen in allen<br />

Lebensbereichen beginne bei der Geburt, wenn<br />

weibliche Babys verkauft würden, und setze<br />

sich fort, wenn sie als Jugendliche zur Heirat<br />

gezwungen würden. Die Zwangsverheiratung<br />

stelle jedoch eine Verletzung des heute<br />

existierenden türkischen Strafrechts sowie<br />

der internationalen Verträge dar. Das<br />

türkische Strafgesetzbuch werde jedoch in<br />

diesem Bereich ignoriert. Im Südosten und im<br />

Osten der Türkei würden 45 % der Frauen<br />

vor ihrer Heirat nicht nach ihrer Meinung<br />

gefragt, und 50 % der Frauen würden ohne<br />

ihre Zustimmung verheiratet. Die Frauen, die<br />

zur Heirat gezwungen würden, seien oft<br />

minderjährig. Den meisten Frauen, die sich der<br />

Wahl der Familie widersetzten, werde mit<br />

Gewalt gedroht; sie begäben sich damit in<br />

Lebensgefahr. Die Zweckheirat werde oft<br />

genutzt, um Verfahren wegen Vergewaltigung<br />

oder Gewaltanwendung zu vermeiden. Die<br />

Familien vergewisserten sich häufig nicht, ob<br />

ihre Töchter nach einem Verkauf nicht Opfer<br />

von Menschenhandel oder Prostitution würden.<br />

Der Südosten des Landes sei zwei Jahrzehnte<br />

lang von Konflikten geprägt gewesen, die zur<br />

Aufsplitterung von Gemeinschaften geführt<br />

hätten. Eine umfangreiche Immigration<br />

innerhalb des Agrarsektors habe zur<br />

Aufsplitterung ganzer Gemeinschaften<br />

geführt. Es handle sich hier um ein von<br />

institutionalisierter Gewalt geprägtes Umfeld:<br />

Die Gewalt und die Kriminalität gegen Frauen<br />

im Südosten, innerhalb und außerhalb der<br />

Familie, hätten sich im Stillen ereignet und<br />

wären nie bestraft worden. Die Gewalt gegen<br />

Frauen innerhalb der Familie sei jedoch nicht<br />

auf eine einzelne Region der Türkei<br />

beschränkt. Die Frauen erführen diese Gewalt<br />

im gesamten Land.<br />

32<br />

Die Freiheit der Frauen werde oft<br />

eingeschränkt, um Kontrolle über ihr<br />

Sexualleben zu haben. Gemäß eines<br />

sogenannten Ehrenkodex stelle die Frau mit<br />

ihrem Verhalten das Risiko einer Entehrung der<br />

Familie dar. Die Androhung von Tod oder Gewalt<br />

werde eingesetzt, um diesen Kodex<br />

durchzusetzen. Über Todesfälle werde häufig<br />

nicht berichtet, oder aber man stelle sie als<br />

Selbstmorde und nicht als Morde dar. Frauen<br />

würden auch dazu gezwungen oder dazu<br />

getrieben, Selbstmord zu begehen. Die<br />

Behörden stellten beim Tod von Frauen keine<br />

ernsthaften Untersuchungen an, wodurch jeder<br />

Versuch, die Situation in den Griff zu<br />

bekommen, sehr erschwert werde. Die Frauen,<br />

die in einer Gemeinschaft mit einem solchen<br />

Kodex lebten, hätten es sehr schwer, sich<br />

gegen die sexuelle Gewalt, deren Opfer sie<br />

seien, zur Wehr zu setzen. Wenn sie darüber<br />

sprächen, würden sie beschuldigt, private<br />

Angelegenheiten in die Öffentlichkeit zu<br />

tragen. Die Frauen selbst seien dann auf einmal<br />

die Schuldigen, und welche Beweise es auch<br />

immer für die Gewalt geben möge, es seien<br />

die Frauen, die angeklagt würden. Jene, die<br />

eine andere Ansicht verträten und die Frauen<br />

öffentlich verteidigten, würden schließlich auch<br />

von der Gesellschaft verurteilt. Der Begriff<br />

der „Ehre“ sei derart missbraucht worden,<br />

dass er zur Rechtfertigung jeder Art von<br />

Gewalt gegen Frauen verwendet werde.<br />

Frauen, die vergewaltigt worden seien, könnten<br />

bei sich zuhause eingesperrt, geächtet oder<br />

umgebracht werden.<br />

Die Türkei habe eine ganze Reihe von<br />

internationalen Verträgen ratifiziert, die sich<br />

mit dem Schutz der Rechte von Frauen<br />

befassen, darunter das Zusatzprotokoll des<br />

Übereinkommens zum Schutz der Rechte von<br />

Frauen. Dies sei ein beachtenswerter Schritt<br />

in die richtige Richtung, da Frauen nun das<br />

Recht hätten, sich an die Weltgemeinschaft zu<br />

wenden, um ihr Recht auf Selbstverteidigung<br />

geltend zu machen. Das internationale Recht


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

verpflichte jeden Staat, Frauen auch in ihrem<br />

Privatleben zu schützen und die<br />

Verantwortlichen solcher Gewalttaten zu<br />

verurteilen.<br />

Mit der Unterschrift unter dieses Protokoll<br />

habe die Türkei den Ausschuss für den Kampf<br />

gegen Diskriminierung von Frauen autorisiert,<br />

sich mit Individualklagen zu befassen. Der<br />

Austausch zwischen diesem Ausschuss, der für<br />

die Umsetzung des Protokolls zuständig sei,<br />

und den entsprechenden türkischen Behörden<br />

habe den von der Frauenbewegung in der<br />

Türkei seit langem angestrengten Bemühungen,<br />

die Gesetzgebung dahingehend zu<br />

beeinflussen, dass Frauen vor Gewalt in der<br />

Familie geschützt würden, neuen Schwung<br />

verliehen. Ganz in diesem Sinne sei 1998 in der<br />

Türkei das Gesetz für den Schutz der Familie<br />

verabschiedet worden. Aber nach wie vor<br />

bestünden gravierende Lücken. Nach Ansicht<br />

von Amnesty International werde dieses<br />

Gesetz schlicht und ergreifend nicht<br />

angewendet.<br />

Die Debatte darüber, Ehebruch wieder unter<br />

Strafe zu stellen, habe einen Schatten auf die<br />

wichtigen und positiven Reformen für mehr<br />

Gleichheit zwischen Männern und Frauen<br />

geworfen, die für das neue Strafgesetzbuch<br />

vorgesehen gewesen seien. Bei der Reform des<br />

Strafgesetzbuchs sei geplant gewesen, die<br />

Kompetenzen der Gerichte einzuschränken,<br />

wenn diese geeignet seien, die<br />

Verantwortlichen eines „Verbrechens im<br />

Namen der Ehre“ zu schützen. Die<br />

Möglichkeiten für ein Gericht, das Strafmaß<br />

bei Personen, die sich des Frauenhandels<br />

schuldig gemacht hätten oder wegen<br />

Frauenhandels angeklagt seien, willkürlich zu<br />

verringern, seien in diesem neuen<br />

Strafgesetzbuch ebenfalls eingeschränkt<br />

worden.<br />

Gabriele JUEN betont, dass, abgesehen vom<br />

Problem des Ehebruchs, für das schon bald eine<br />

33<br />

Lösung gefunden sein dürfte, an der Mehrzahl<br />

der Anträge auf Abschaffung der Frauen<br />

diskriminierenden Artikel festgehalten<br />

worden sei.<br />

Drei Probleme bestünden jedoch weiterhin:<br />

- Der Jungfräulichkeitstest: Ein Artikel des<br />

Strafgesetzbuchs ermögliche es den Richtern<br />

und der Staatsanwaltschaft weiterhin,<br />

Untersuchungen der Genitalien von Frauen und<br />

jungen Mädchen anzuordnen, um ihre<br />

Jungfräulichkeit zu überprüfen, insbesondere<br />

nach einer Vergewaltigung. Dieser<br />

Jungfräulichkeitstest sei absolut inakzeptabel<br />

und stelle im Falle einer Vergewaltigung oder<br />

eines Gewaltverbrechens keine seriöse<br />

medizinische Untersuchung dar.<br />

- Die Bestrafung sexueller Beziehungen<br />

zwischen Jugendlichen: Ein junges Mädchen im<br />

Alter von 16 Jahren könne mit Unterstützung<br />

ihrer Eltern verheiratet werden; die<br />

außerehelichen sexuellen Beziehungen von<br />

Jugendlichen zwischen 15 und 18 Jahren<br />

stellten jedoch eine Straftat dar.<br />

- „Verbrechen im Namen der Ehre“: Diejenigen<br />

Gesetze und Praktiken, mit denen sich eine<br />

Straffreiheit für Gewaltakte gegen Frauen<br />

rechtfertigen lasse, müssten abgeschafft<br />

werden; insbesondere müsste die Reduzierung<br />

des Strafmaßes bei Personen abgeschafft<br />

werden, die wegen „Verbrechen im Namen der<br />

Ehre“ angeklagt seien. In den Begründungen<br />

werde auf „Bräuche“, die „Ehre“, die „Tradition“,<br />

eine „schwere oder unbegründete<br />

Provokation“ oder auf „erlittenes Unrecht“<br />

Bezug genommen.<br />

Abschließend unterstreicht Gabriele JUEN,<br />

dass sich Amnesty International, unabhängig<br />

von der Empfehlung der Europäischen<br />

Kommission und unabhängig von den<br />

Entscheidungen des Europäischen Rates über<br />

die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen,


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

weiterhin konsequent dafür einsetzen werde,<br />

jedwede Verletzung der Menschenrechte<br />

öffentlich zu machen. Amnesty International<br />

werde auf eine effektive Umsetzung der<br />

Reformen dringen. In der Türkei seien<br />

substantielle Veränderungen notwendig.<br />

In diesem Sinne beharre Amnesty International<br />

gegenüber den Abgeordneten als<br />

verantwortliche Volksvertreter in Europa<br />

darauf, dass sie darauf achten müssten, dass<br />

die Türkei ihren Reformprozess fortsetze. Die<br />

Europäische Union müsse ein System einführen,<br />

das es ermögliche, beim Schutz der<br />

Menschenrechte in allen aktuellen und<br />

künftigen Mitgliedstaaten einen möglichst<br />

hohen Standard zu gewährleisten. Sie weist<br />

darauf hin, dass der Beitritt zur Europäischen<br />

Union heute die beste Garantie für ein Land<br />

sei, von gleichberechtigten Mitgliedstaaten<br />

nicht mehr kritisiert zu werden.<br />

Elisabeth DÖRLER, Christlich-Muslimisches<br />

Forum, Experte zu religiösen Minderheiten in<br />

der Türkei<br />

34<br />

Elisabeth DÖRLER vom christlichmuslimischen<br />

Forum stellt in ihrem Beitrag<br />

die Situation der christlichen Minderheiten in<br />

der Türkei in den Mittelpunkt.<br />

Sie berichtet, dass es in der Türkei 100 000<br />

Christen in 13 Kirchen und 20 000 Juden gebe,<br />

die sich in derselben Lage befänden.<br />

Auf die Kirchen könne Einfluss genommen<br />

werden. Der orthodoxe Patriarch müsse<br />

beispielsweise die türkische<br />

Staatsangehörigkeit besitzen.<br />

Im Baurecht sei der Begriff Moschee durch<br />

kultisches Bauwerk ersetzt worden. Es stelle<br />

sich die Frage, wie das Präsidium für religiöse<br />

Angelegenheiten, das auch weiterhin in diesem<br />

Bereich zuständige Gremium, diesen Begriff<br />

interpretieren werde. Bislang sei jedoch noch<br />

kein Antrag gestellt worden, da Kirchen keine<br />

juristischen Personen seien.<br />

Darüber hinaus gebe es auch weiterhin<br />

Probleme bei der Priesterausbildung. Einige<br />

Kirchen könnten die Ausbildung in anderen<br />

Ländern organisieren oder ausländische<br />

Priester für sich gewinnen. Problematisch sei<br />

die Situation der orthodoxen Griechen, der<br />

armenisch-apostolischen Kirche und der<br />

syrischen Kirche, da es sich um regionale<br />

Kirchen handle, die keine ausreichende<br />

Ausbildung sicherstellen könnten. Der<br />

armenische Patriarch fordere die Möglichkeit,<br />

die 1970 ausgesetzte religiöse Ausbildung<br />

wieder aufzunehmen. Auch die griechischorthodoxe<br />

Ausbildungseinrichtung sei<br />

geschlossen worden. Für die übrigen Kirchen<br />

sei man bemüht, praktische Lösungen zu finden:<br />

Man lasse die Priester als Touristen einreisen<br />

und bei der Einreise gäben diese andere<br />

Tätigkeiten an. Der ökumenische orthodoxe<br />

Patriarch müsse beispielsweise die türkische<br />

Staatsangehörigkeit besitzen. Die syrische<br />

Kirche werde derzeit von einer sehr alten Person<br />

geleitet, und der potentielle Nachfolger


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

erhalte weder die türkische<br />

Staatsbürgerschaft noch eine<br />

Aufenthaltserlaubnis.<br />

Es könne zu sprachlichen Problemen kommen,<br />

die sogar zu einem Hindernis für die<br />

Theologenausbildung führen könnten. Die Syrer<br />

befänden sich momentan in einer schwierigen<br />

Situation, obwohl sie theoretisch das Recht<br />

hätten, in syrischer Sprache zu unterrichten.<br />

Aufgrund des Mangels an Lehrern habe das<br />

Syrische jedoch keinerlei Chance zu überleben.<br />

Im September 2003 habe ein Treffen der<br />

katholischen Kirchen stattgefunden,<br />

bedauerlicherweise ohne Teilnahme der<br />

reformierten Kirchen. Folgende<br />

Schlussfolgerungen seien gezogen worden:<br />

- Die Kirchen wollten als juristische Person<br />

anerkannt werden und ihre Priester selbst<br />

ausbilden können;<br />

- den nicht muslimischen, armenischen,<br />

griechischen und jüdischen Minderheiten, die<br />

dem Ottomanischen Reich angehört hätten,<br />

würden vom Vertrag von Lausanne Garantien<br />

als Minderheit und nicht als Kirche gegeben;<br />

- die Verleihung einer Rechtspersönlichkeit für<br />

die christlichen Gemeinschaften stehe nicht im<br />

Einklang mit der in der Verfassung<br />

festgeschriebenen Laizität.<br />

Der türkische Staat schein der Ansicht zu sein,<br />

dass eine Kirche dann, wenn sie eine<br />

Rechtspersönlichkeit erhalte, eventuell<br />

Grundbesitz beanspruchen könnte. Dies sei<br />

jedoch absolut nicht der Fall.<br />

Das Prinzip der Laizität in der Türkei schließe<br />

aus, dass Synagogen und Kirchen eine<br />

Rechtspersönlichkeit verliehen werde. Es<br />

stehe nicht zur Diskussion, den Katholiken<br />

Rechte einzuräumen, von denen die Muslime<br />

nicht profitieren könnten.<br />

35<br />

In der Erklärung der Bischofskonferenz vom<br />

Juni 2004 werde bekräftigt, dass es in keinem<br />

Land der Europäischen Union Probleme bei der<br />

Anerkennung von Kirchen gegeben habe.<br />

Beispielsweise gewähre ein österreichisches<br />

Gesetz von 1912 den Muslimen jegliche<br />

religiöse Freiheit unter der Bedingung, dass<br />

sie die Verfassung respektierten. Daher<br />

hofften die Kirchen inständig auf eine<br />

Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, um zu<br />

verhindern, dass die Mitglieder einiger<br />

Gemeinschaften die Türkei aufgrund fehlender<br />

Zukunftsperspektiven verlassen.<br />

Der römisch-katholischen Kirche und der<br />

reformierten Kirche werde eine<br />

Rechtspersönlichkeit in der Türkei noch immer<br />

verwehrt. Diese Ablehnung beruhe auf dem<br />

Prinzip der Laizität, das jedoch zu<br />

interpretieren sei. Die Türkei sei nämlich das<br />

Land, in dem sich das Christentum entwickelt<br />

habe. Dieser Sachverhalt werde von der<br />

Touristikbranche weidlich ausgenutzt. Daher<br />

gebe es bei den Kirchen die Hoffnung, dass<br />

die Gespräche und Verhandlungen fortgesetzt<br />

werden könnten, um die Situation der Kirchen<br />

in der Türkei zu klären und zu stärken.<br />

Simon BUSUTTIL, Leiter der maltesischen<br />

Delegation der EVP-ED-Fraktion


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23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Beitrag von Simon BUSUTTIL, Leiter der<br />

maltesischen Delegation:<br />

Zu Beginn möchte ich gerne eine unverblümte<br />

Frage in die Runde werfen: Ist es nicht schon<br />

zu spät, diese Debatte zu führen? Sind wir<br />

nicht bereits von den Ereignissen überrollt<br />

worden?<br />

Ich stelle diese Frage, weil wir mit einer harten<br />

politischen Realität konfrontiert werden.<br />

Tatsache ist nämlich, dass der Europäische Rat<br />

bereits mehr als einmal zugesagt hat, grünes<br />

Licht für die Beitrittsverhandlungen mit der<br />

Türkei zu geben, wenn die Kommission nächsten<br />

Monat eine positive Empfehlung zu den<br />

politischen Kriterien abgibt.<br />

Ich werde noch einen Schritt weiter gehen.<br />

Meiner Ansicht nach ist die Frage, ob die<br />

Türkei ein europäisches Land ist oder nicht,<br />

ebenfalls irrelevant geworden … weil auch<br />

diese Frage von den Ereignissen überholt<br />

wurde. Es ist jetzt reichlich spät, der Türkei<br />

zu sagen, sie sei nicht europäisch: Nicht,<br />

nachdem sie seit 1949 vollwertiges Mitglied<br />

des Europarates ist; nicht, nachdem ihr damals<br />

im Jahr 1963 im Rahmen des<br />

Assoziierungsabkommens die Aussicht auf<br />

Beitritt versprochen wurde; nicht, nachdem die<br />

Türkei seit 1999 EU-Beitrittskandidat ist und<br />

nicht, nachdem man ihr seit dem Europäischen<br />

Rat von Kopenhagen 2002 wiederholt erklärt<br />

hat, dass die EU unverzüglich die<br />

Beitrittsverhandlungen aufnehmen werde,<br />

sobald das Land die politischen Kriterien von<br />

Kopenhagen erfülle.<br />

Die EU kann jetzt nicht einfach diesem Land<br />

zusätzliche Bedingungen stellen oder, was noch<br />

schlimmer ist, einfach erklären, es solle sich<br />

einer anderen Staatenunion anschließen. Ich<br />

glaube, dafür ist es zu spät. Und ich glaube<br />

ebenfalls, dass unsere Glaubwürdigkeit auf<br />

36<br />

dem Spiel steht. Wir müssen die Versprechen,<br />

die wir gegeben haben, einlösen.<br />

Die Entscheidung, ob Verhandlungen mit der<br />

Türkei eingeleitet werden sollten, und<br />

gegebenenfalls, ob die Türkei Mitglied wird,<br />

muss ausschließlich auf der Grundlage der<br />

Kriterien getroffen werden, die im Falle<br />

anderer Länder, die Mitglied geworden sind,<br />

angewandt wurden. Dieser Punkt muss betont<br />

werden, denn ich habe das Gefühl, dass es in<br />

der EVP-Fraktion Mitglieder gibt, die geneigt<br />

scheinen, die Torpfosten zu versetzen und die<br />

Beitrittsbedingungen neu festzulegen. Ich bin<br />

gegen diese Vorgehensweise, und ich bin<br />

ebenfalls der Ansicht, dass es dafür zu spät<br />

ist.<br />

Das bedeutet nicht, dass die Entscheidung, die<br />

Verhandlungen aufzunehmen, uns zu einem Datum<br />

für den Beitritt der Türkei verpflichtet,<br />

oder dass wir dem Ergebnis der<br />

Verhandlungen vorgreifen sollten, oder gar,<br />

dass die EU-Mitgliedschaft der Türkei gewiss<br />

oder unvermeidlich ist.<br />

Es ist eindeutig im Interesse der Union,<br />

sicherzustellen, dass kein Land der EU beitritt,<br />

ohne ernsthafte Zusicherungen, dass die<br />

Beitrittskriterien voll und ganz eingehalten<br />

werden. Die Kriterien müssen „bis aufs letzte<br />

i-Tüpfelchen“ eingehalten werden.<br />

Letztes Jahr, nach dem Bericht Oostlander,<br />

bekräftigte das Parlament, die Reformen in<br />

der Türkei müssten anhand ihrer Umsetzung<br />

beurteilt werden. Und das ist immer noch der<br />

größte Härtetest für die Türkei - wie dies auch<br />

für alle derzeitigen und künftigen Bewerber<br />

der Fall sein sollte.<br />

Jetzt, da der grundlegende Aspekt geklärt<br />

ist, nämlich, dass die Bewerbung der Türkei<br />

entsprechend den festgelegten Kriterien<br />

behandelt werden sollte, können wir uns der<br />

Frage zuwenden, ob die Türkei auch tatsächlich


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

den Erwartungen entspricht und Fortschritte<br />

erzielt, insbesondere in Bezug auf die<br />

politischen Kriterien, die eine unabdingbare<br />

Voraussetzung für die Aufnahme der<br />

Beitrittsverhandlungen sind.<br />

In dieser Hinsicht müssen wir natürlich den<br />

Bericht der Europäischen Kommission<br />

abwarten, und ich gehe davon aus, dass die<br />

Kommission einen fairen, objektiven und<br />

durchdachten Bericht darüber vorlegt, wie die<br />

Türkei bei den politischen Kriterien<br />

abgeschnitten hat. Die Schlussfolgerung der<br />

Kommission sollte nicht von persönlicher<br />

politischer Voreingenommenheit einzelner<br />

Kommissionsmitgliedern gefärbt sein;<br />

ausschlaggebend sollte einzig und allein eine<br />

strenge Bewertung der Leistung der Türkei<br />

sein.<br />

Ich bin der Auffassung, dass die Bilanz der<br />

Türkei bei der Umsetzung im Laufe der letzten<br />

Jahre nicht sehr überzeugend ist. Die Türkei<br />

hat in den letzten zweieinhalb Jahren zwar<br />

erhebliche Rechtsreformpakete<br />

verabschiedet, die praktische Umsetzung geht<br />

jedoch nur sehr schleppend voran.<br />

Wenn wir uns an die letzten Einstufungen von<br />

„Freedom House“ aus dem Jahr 2004 halten,<br />

so wird die Türkei immer noch als „teilweise<br />

freies Land“ eingestuft. Auf einer<br />

Bewertungsskala von 1 bis 7, auf der 1 den<br />

höchsten und 7 den niedrigsten Wert darstellt,<br />

erzielt die Türkei bei den politischen Rechten<br />

3 und bei den bürgerlichen Freiheiten 4 Punkte.<br />

Diese Bewertung wird durch die türkische<br />

Menschenrechtsorganisation IHD bekräftigt,<br />

die im Juli d.J. behauptete, bei den<br />

Menschenrechten habe es zwar einige<br />

Fortschritte gegeben, Folter und willkürliche<br />

Verhaftung seien jedoch immer noch an der<br />

Tagesordnung.<br />

Vor Kurzem hat die kurdische Gemeinschaft<br />

neue Rechte erworben, es muss jedoch noch<br />

37<br />

viel getan werden, bevor wir sagen können, dass<br />

die Kurden uneingeschränkt ihre Rechte als<br />

Volksgruppe und ihre Minderheitenrechte<br />

genießen.<br />

Auch Amnesty International hat sich besorgt<br />

darüber geäußert, dass es immer noch eine<br />

Kluft zwischen der Verabschiedung von<br />

Gesetzen und ihrer Durchführung gibt. In<br />

diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen,<br />

dass die Parlamentarische Versammlung des<br />

Europarates seit 1996 ein Monitoring-<br />

Verfahren angewandt hat, um zu überprüfen,<br />

wie die Türkei ihren gesetzlichen<br />

Verpflichtungen nachkommt. Obwohl der<br />

Europarat im Juni 1 beschloss, dieses<br />

Verfahren angesichts der von der Türkei<br />

erzielten Fortschritte zu beenden, hielt die<br />

Versammlung es dennoch für angebracht, eine<br />

Reihe von Reformen aufzulisten, die noch<br />

durchgeführt werden müssen und die den<br />

wesentlichen Kern einer wirklich<br />

funktionierenden Demokratie betreffen. Diese<br />

Anmerkungen machen zwar deutlich, dass die<br />

Türkei in den letzten zweieinhalb Jahren<br />

enorme Fortschritte gemacht hat, was<br />

Unterstützung und Ermunterung verdient,<br />

dass diese Reformen jedoch vielleicht noch<br />

nicht ausreichen.<br />

Daher muss die Umsetzung weiterhin genau<br />

beobachtet werden.<br />

Der Regelmäßige Bericht der Kommission über<br />

die Türkei vom letzten Jahr enthielt zahlreiche<br />

Änderungen, die entsprechend den<br />

Kopenhagener Kriterien noch umgesetzt<br />

werden müssen. Die Liste war entmutigend,<br />

weil sie so viele Änderungen betraf, und ich<br />

bezweifle, dass es überhaupt möglich war, sie<br />

in der kurzen Zeitspanne eines Jahres<br />

durchzuführen. Amnesty International und die<br />

Kommission weisen beispielsweise beide auf die<br />

Misshandlung von Frauen hin sowie darauf, dass<br />

zwischen 30 und 58 Prozent der türkischen<br />

1 Resolution 1380 of 2004


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ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Frauen von körperlicher Gewalt betroffen sind.<br />

Das ist eindeutig nicht in Ordnung.<br />

Daher ist es vielleicht noch ein bisschen zu<br />

früh, über die Dauerhaftigkeit der<br />

verabschiedeten Änderungen zu reden, und es<br />

ist sicherlich klug, ein wenig abzuwarten, damit<br />

diese Änderungen fest verankert sind, bevor<br />

wir ein Urteil aussprechen.<br />

Ich wiederhole jedoch, dass wir den Bericht<br />

der Kommission abwarten müssen und erst dann<br />

unsere Schlussfolgerungen ziehen sollten. Wir<br />

sollten eindeutig den politischen Willen und<br />

Mut haben, eine positive Schlussfolgerung zu<br />

ziehen, wenn dies gerechtfertigt ist, wir<br />

sollten jedoch ebenfalls fähig sein, eine negative<br />

Schlussfolgerung zu ziehen, wenn die<br />

politischen Kriterien nicht ausreichend erfüllt<br />

werden.<br />

Die Entscheidung des Europäischen Rates wird<br />

so oder so deutliche politische Konsequenzen<br />

nach sich ziehen.<br />

Es spricht einiges für das Argument, die<br />

Aufnahme der Beitrittsverhandlungen würden<br />

dazu beitragen, den laufenden Reformprozess<br />

zu konsolidieren, und die<br />

Beitrittsverhandlungen selbst würden als Motor<br />

für Veränderungen dienen, denn wir<br />

konnten dies in anderen Ländern beobachten.<br />

Ich kann ebenfalls nachvollziehen, dass die<br />

Aufnahme der Verhandlungen dazu beitragen<br />

würden, die Demokratie und die<br />

Grundfreiheiten in der Türkei zu stärken und<br />

letztendlich einen erheblichen Einfluss auf die<br />

Gesellschaft in der Türkei haben würden. Es<br />

würde zeigen, dass Islam und Demokratie nicht<br />

unvereinbar sind und wäre zudem eine<br />

deutliche Botschaft an unsere südlichen<br />

Nachbarn, um sie dazu zu ermuntern, der<br />

Türkei nachzueifern.<br />

Wir sollten jedoch umsichtig vorgehen und nicht<br />

mit einem Ja oder Nein beginnen und unsere<br />

38<br />

vorgefasste Meinung sozusagen „von hinten“<br />

rechtfertigen. Der Antrag der Türkei auf<br />

Mitgliedschaft hängt jedoch davon ab - und<br />

sollte auch in Zukunft davon abhängen -, ob<br />

das Land die festgelegten Beitrittskriterien<br />

erfüllt, wie dies auch bei anderen Ländern der<br />

Fall war. Die Türkei darf keine<br />

Sonderbehandlung bekommen. Sie sollte<br />

jedoch fair und gerecht behandelt werden. Ich<br />

denke, das hat die Türkei verdient.<br />

Armin LASCHET, EVP-ED-Obmann im<br />

Unterausschuss für Menschenrechte<br />

Im Hinblick auf das Versprechen an die Türkei<br />

aus dem Jahr 1963 fragt sich Armin<br />

LASCHET, Koordinator der EVP-ED-Fraktion<br />

im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten,<br />

ob die Europäische Union, der nicht mehr<br />

lediglich sechs Staaten angehörten und die<br />

nicht mehr eine reine Wirtschaftsgemeinschaft<br />

sei, eine Entscheidung auf der Grundlage eines<br />

mehr als vierzig Jahre zurückliegenden<br />

Versprechens treffen könne.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Armin LASCHET ist der Ansicht, dass das Argument,<br />

wonach es „zu spät sei, einen<br />

Rückzieher zu machen“, für das Europäische<br />

Parlament keine Relevanz habe. Das<br />

Europäische Parlament werde seine<br />

Stellungnahme erst am Ende des gesamten<br />

Verfahrens abgeben. Die Entscheidung pro<br />

oder contra Beitritt werde es in voller<br />

Souveränität fällen.<br />

Hinsichtlich der laufenden Verfahren bringt<br />

Armin LASCHET einige Kritikpunkte an. Die<br />

für den Charakter und die Zukunft der<br />

Europäischen Union grundlegende<br />

Entscheidung, der Türkei den<br />

Kandidatenstatus für einen Beitritt zur<br />

Europäischen Union zu verleihen, sei 1999 von<br />

den Staats- und Regierungschefs ohne<br />

Beteiligung der nationalen Parlamente und des<br />

Europäischen Parlaments getroffen worden,<br />

die jedoch das letzte Wort haben werden.<br />

Nach der Mitteilung der Kommission seien es<br />

erneut die Staats- und Regierungschefs, die<br />

am 17. Dezember über die Eröffnung von<br />

Beitrittsverhandlungen entscheiden würden –<br />

und zwar wiederum ohne Beteiligung der<br />

nationalen Parlamente und des Europäischen<br />

Parlaments, die erst am Ende der<br />

Verhandlungen zu Wort kämen.<br />

Armin LASCHET betont, dass die religiöse<br />

Zugehörigkeit der Türken in der aktuellen<br />

Diskussion keine Rolle spiele dürfe. Bereits<br />

heute lebten Millionen von Muslimen in der<br />

Europäischen Union. Sie seien integraler<br />

Bestandteil der Europäischen Union. Ein<br />

negativer Ausgang der Verhandlungen würde<br />

daher als Abweisung der Muslime gewertet<br />

werden. Das europäische „Nein“ würde als<br />

„Nein“ zu Muslimen und als „Nein“ zum Islam<br />

gewertet.<br />

Im Bereich der Menschenrechte stelle sich die<br />

Frage, wie die Situation in der Türkei zu<br />

verbessern sei. Vor diesem Hintergrund könnte<br />

39<br />

die Lösung darin bestehen, die Verhandlungen<br />

aufzunehmen. Auf diese Weise wäre Europa<br />

weiterhin in der Lage, Einfluss auf die Türkei<br />

nehmen, was vielleicht zu einer Verbesserung<br />

der Menschenrechtssituation führen könnte.<br />

Für das strategische Interesse an einem<br />

Beitritt der Türkei als muslimisches Land zur<br />

Europäischen Union werde auch ein<br />

geopolitisches Argument ins Feld geführt: Die<br />

Türkei könne Einfluss auf die arabische Welt<br />

ausüben. Auch aus dieser Perspektive wäre es<br />

sinnvoll, eine Entscheidung zugunsten der<br />

Aufnahme von Verhandlungen zu treffen.<br />

Armin LASCHET fragt sich jedoch, wie die<br />

Europäische Union unter diesen<br />

Voraussetzungen als politische Union erhalten<br />

werden könne.<br />

Wenn entschieden werde, Verhandlungen zu<br />

eröffnen, müssten diese seiner Ansicht nach<br />

ergebnisoffen geführt werden. Am Ende der<br />

Verhandlungen müsse klar und deutlich mit der<br />

türkischen Regierung gesprochen werden.<br />

Armin LASCHET sei sich nicht sicher, ob die<br />

Türkei die Bedeutung des Acquis<br />

communautaire wirklich erfasst habe und<br />

verstehe, was es bedeute, einer integrierten<br />

politischen Union anzugehören. Möglicherweise<br />

würden die türkische Regierung und die<br />

türkische Gesellschaft im Laufe der<br />

Verhandlungen erkennen, dass eine<br />

privilegierte Partnerschaft vielleicht eine<br />

einmalige Chance sei, die für das Land sehr viel<br />

günstiger sei als ein einfacher Beitritt zur<br />

Europäischen Union.<br />

Im Bereich der Menschenrechte habe sich die<br />

Situation auf Gesetzesebene eindeutig<br />

verbessert. Bei der Umsetzung seien jedoch<br />

nach wie vor Defizite zu verzeichnen. Im<br />

Bereich der Kultur seien hingegen keinerlei<br />

Fortschritte erreicht worden; dies gelte<br />

insbesondere für die Frage der Rechte von


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ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Frauen. Hier sei die Türkei noch weit davon<br />

entfernt, die europäischen Normen zu erfüllen.<br />

Armin LASCHET spricht auch das Problem an,<br />

dass die Kirchen keine juristische Personen<br />

seien. Ferner erwähnt er die Probleme im<br />

Zusammenhang mit der Priesterausbildung. Vor<br />

dem Hintergrund des türkischen Modells sei<br />

die Situation verständlich: Seit 1923 besage<br />

das laizistische Modell des türkischen Staates,<br />

dass keiner Religion ein Sonderrecht<br />

eingeräumt werde, weder den christlichen<br />

Kirchen, noch der muslimischen Welt, in der es<br />

darüber hinaus keine kirchliche Hierarchie<br />

gebe.<br />

Es stelle sich die Frage, ob die Entwicklung<br />

der türkischen Gesellschaft und des türkischen<br />

Staates ausreiche, sich in gewisser Weise von<br />

der Tradition des türkischen Staates<br />

abzuwenden, um sich den Normen anzunähern,<br />

die in der Europäischen Verfassung<br />

festgeschrieben seien.<br />

Diese Überlegungen müssten in den<br />

kommenden Wochen vertieft werden. Die EVP-<br />

ED-Fraktion, die sich für die europäische Integration<br />

einsetze, müsse den Schwerpunkt<br />

auf die Einhaltung der Kriterien von Kopenhagen<br />

und die dauerhafte Stabilität der europäischen<br />

Institutionen legen.<br />

40<br />

Camiel EURLINGS, Berichterstatter im<br />

Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten zur<br />

Türkei, Leiter der niederländischen Delegation<br />

der EVP-ED-Fraktion<br />

Camiel EURLINGS, Berichterstatter im<br />

Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten<br />

zur Türkei, möchte an den Anfang seiner<br />

Überlegungen die Entschließung zum Bericht<br />

OOSTLANDER stellen, der innerhalb des<br />

Europäischen Parlaments breite Zustimmung<br />

gefunden habe.<br />

Angesichts des großen öffentlichen<br />

Interesses, das dieser Frage entgegen<br />

gebracht werde, müsse die Aussprache<br />

korrekt verlaufen.<br />

Der Text der Europäischen Verfassung<br />

bekräftige, dass es sich bei der Europäischen<br />

Union um eine Wertegemeinschaft handle. Die<br />

Türkei sei am Entstehungsprozess beteiligt<br />

gewesen. In den Artikeln 2 und 3 sei die Rede<br />

von der Würde des Menschen, der Wahrung<br />

der Menschenrechte, von Freiheit,<br />

Demokratie, Gleichheit, Toleranz,<br />

Gerechtigkeit, Pluralismus und<br />

Nichtdiskriminierung.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Es sei wichtig, dass alle Staaten diese Begriffe<br />

akzeptierten. Die in der Türkei erzielten<br />

Fortschritte seien umfangreich und verdienten<br />

Anerkennung. Es empfehle sich jedoch, die<br />

Schwächen und Lücken herauszustreichen, die<br />

im Bereich der Menschenrechte<br />

fortbestünden.<br />

Camiel EURLINGS verweist in diesem<br />

Zusammenhang auf die vom Parlament<br />

verabschiedeten Beschlüsse zur Frage der<br />

Rechte der Frau bzw. der Minderheitenrechte.<br />

Bei diesen Punkten seien noch<br />

Nachbesserungen erforderlich. Die Regierung<br />

habe sich verpflichtet, die Folter zu verbieten.<br />

In türkischen Gefängnissen würden jedoch<br />

noch immer politische Gefangene gefoltert. Die<br />

Beobachtungsstelle für Menschenrechte habe<br />

eine Warnung veröffentlicht, und zahlreichen<br />

Organisationen lägen Hinweise auf Folter in der<br />

Türkei vor. Yusuf ALATAS zufolge habe es<br />

innerhalb von sechs Monaten 692 Fälle von<br />

Folter gegeben. Eine andere Organisation<br />

registrierte 593 Fälle, in denen Menschen nach<br />

ihrer Inhaftierung medizinische Versorgung<br />

benötigt hätten.<br />

Hier müsse folglich weiter insistiert und der<br />

Druck aufrechterhalten werden. Camiel<br />

EURLINGS weist in diesem Zusammenhang auf<br />

die Äußerungen von Ministerpräsident Erdogan<br />

auf der Konferenz der Präsidenten am<br />

Vorabend hin, der die Kritik der NRO ignoriert<br />

habe. Er habe darauf verwiesen, dass<br />

Experten in ihren Stellungnahmen zu stark<br />

voneinander abweichenden Schlussfolgerungen<br />

kämen.<br />

In der Theorie gebe es in der Türkei religiöse<br />

Toleranz, in der Praxis seien jedoch noch<br />

immer zahlreiche Probleme festzustellen. Die<br />

griechisch-orthodoxe Kirche sei beispielsweise<br />

mit großen Problemen im Zusammenhang mit<br />

den Ausbildungseinrichtungen konfrontiert.<br />

Wie Frau DÖRLER angemerkt habe, müsse der<br />

ökumenische Patriarch die türkische<br />

41<br />

Staatsbürgerschaft besitzen. Eine ganze Reihe<br />

Geistlicher hätten die Türkei verlassen müssen.<br />

Es sei offensichtlich, dass die katholischen<br />

Kirchen keine Rechtspersönlichkeit erhalten<br />

werden. Schließlich seien auch die Muslime nicht<br />

vollständig frei, da das Religionsministerium<br />

festlege, was in den Moscheen gesagt werden<br />

dürfe und was nicht. Die Regierung wolle diese<br />

Schwierigkeiten ausräumen. Es bestünden<br />

jedoch weiterhin Befürchtungen im Hinblick auf<br />

die religiöse Intoleranz; Gegenreaktionen<br />

seien nicht gänzlich zu verhindern.<br />

In der jüngsten Vergangenheit sei es zu<br />

Fortschritten bei der Gleichbehandlung von<br />

Männern und Frauen gekommen, auch habe sich<br />

die Situation der Frauen verbessert. Es bleibe<br />

zu hoffen, dass das Strafgesetzbuch ohne den<br />

Ehebruch-Paragraphen verabschiedet werden<br />

könne. In der Praxis habe sich die Situation<br />

der Frauen jedoch nur in besonders gut<br />

gebildeten Schichten verbessert. Zahlreiche<br />

Frauen würden weiterhin Opfer häuslicher<br />

Gewalt. Schließlich weist Camiel EURLINGS<br />

auf alle Lücken hin, die in sämtlichen Bereichen,<br />

in denen Grundrechte von Frauen berührt<br />

seien, fortbestehen: Recht auf Arbeit, Recht<br />

auf Gesundheit, Recht auf Information, Recht<br />

auf Wahlfreiheit. Die Gesetzgebung weise hier<br />

noch immer Lücken auf. Die von den Frauen im<br />

Zusammenhang mit dieser Art von Gewalt<br />

geäußerten Vorwürfe würden nicht ausreichend<br />

ernstgenommen.<br />

Auch bei der Ausübung von<br />

Minderheitenrechten gebe es noch immer<br />

Defizite. Yusuf Alatas habe auf<br />

Verbesserungen hingewiesen, wie etwa die<br />

Möglichkeit Radiosendungen in kurdischer<br />

Sprache auszustrahlen, auch wenn die zulässige<br />

Dauer dieser Sendungen stark begrenzt sei.<br />

Die Behörden könnten jedoch noch immer<br />

Schulen beispielsweise mit der Begründung<br />

schließen, sie hätten zu kleine oder zu große<br />

Türen.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Im Bereich der Menschenrechte, hätten sich<br />

die bestehenden Rechtsvorschriften zwar in<br />

die richtige Richtung entwickelt, sie müssten<br />

nun jedoch auch in der Praxis Anwendung<br />

finden.<br />

Die Bevölkerung selbst müsse zeigen, dass sie<br />

tatsächlich den Willen habe, etwas zu<br />

verändern. Die Frage, ob dies der Fall sei,<br />

könne man sich bei Themen wie dem Ehebruch,<br />

der mangelnden Kontrolle des<br />

Verteidigungshaushalts oder der Rolle der<br />

Armee stellen.<br />

Für das Parlament müsse die endgültige<br />

Einführung der Rechtsstaatlichkeit in der<br />

Türkei Vorrang haben. Durch ihren<br />

spektakulären Meinungsumschwung gegenüber<br />

der Türkei trage die Kommission nicht gerade<br />

zur Vereinfachung der Situation bei. Der Druck<br />

auf die Türkei müsse aufrechterhalten<br />

werden, damit die Fortschritte weitergehen.<br />

Der Vertrag von Rom sehe vor, dass die<br />

Europäische Union demokratischen Staaten<br />

offen stehen müsse. Zahlreiche Einwände<br />

gegen den Beitritt der Türkei könnten<br />

ausgeräumt werden, wenn die Türkei<br />

nachweise, dass das Land eine echte<br />

Demokratie sei. Der Beitritt könne eigentlich<br />

nur dann stattfinden, wenn die<br />

Beitrittskandidaten die in diesen Bereichen<br />

aufgestellten Bedingungen erfüllten. Dies<br />

gelte für Rumänien ebenso wie für die Türkei.<br />

Die türkische Verfassung müsse überarbeitet<br />

werden, um der Europäischen Verfassung zu<br />

entsprechen. Erst dann könne man sagen, die<br />

Türkei habe mit alten Denkweisen gebrochen.<br />

Wenn die Entwicklung in der Türkei tatsächlich<br />

in diese Richtung gehen sollte, wäre dies ein<br />

großer Schritt nach vorn. Es müsse jedoch<br />

nachdrücklich darauf bestanden werden, dass<br />

im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit<br />

keinerlei Kompromisse möglich seien. Die<br />

Türkei könne erst dann der Europäischen Union<br />

beitreten, wenn das Prinzip der<br />

42<br />

Rechtsstaatlichkeit ausnahmslos eingehalten<br />

werde. Vor diesem Hintergrund sehe Camiel<br />

EURLINGS seine künftige Arbeit als<br />

Berichterstatter.<br />

Im Rahmen der Diskussion versichert Charles<br />

TANNOCK, stellvertretender Vorsitzender<br />

des Unterausschusses für Menschenrechte<br />

dass es für das Europäische Parlament nicht<br />

zu spät sei, sich für oder gegen den Beitritt<br />

der Türkei zur Europäischen Union<br />

auszusprechen. Die Entscheidung des<br />

Europäischen Rates von Helsinki könne die<br />

Europaabgeordneten nicht des Rechtes<br />

berauben, im Rahmen dieser Debatte der<br />

Meinung der Bürger Ausdruck zu verleihen. Sie<br />

sollten sich daher eventuell auch gegen den<br />

Beitritt der Türkei aussprechen können, wenn<br />

ihnen dies am Ende der Verhandlungen<br />

gerechtfertigt scheinen sollte.<br />

Georgios PAPASTAMKOS, Vorsitzender des<br />

Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-<br />

Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien<br />

betont, dass der Schutz der Menschenrechte<br />

und der Schutz von Minderheiten der Kern<br />

einer Demokratie ist. Die demokratische<br />

Anpassung der Türkei in den vergangenen<br />

Jahren ist nicht zu leugnen, jedoch nicht<br />

ausreichend. Warum? Weil die Türkei<br />

Reformen auf Wunsch der Europäischen Union<br />

durchführt. Wäre die Möglichkeit einer<br />

europäischen Integration nicht gegeben, würde<br />

die Türkei nicht versuchen ihre Demokratie und<br />

den Schutz der Menschenrechte zu<br />

verbessern.<br />

Die Frage ist nicht, ob die Türkei geographisch<br />

gesehen zu Europa gehört, sondern ob sie es<br />

im demokratischen Sinne tut. In dieser<br />

Beziehung muss die Türkei, so Georgios<br />

PAPASTAMKOS, noch einen langen Weg gehen.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Ist das türkische System stabil genug um zu<br />

garantieren, dass die Eröffnung von<br />

Verhandlungen eine Beschleunigung der<br />

Reformen nach sich zieht? Welches sind die<br />

Folgen eines Beitritts in die Europäische Union<br />

für die Türkei bezüglich wirtschaftlicher und<br />

sozialer Kohäsion in der Agrarwirtschaft und<br />

im demographischen Sinne?<br />

Für Georgios PAPASTAMKOS müssen sich die<br />

Werte der Europäischen Union, welche sich auf<br />

die Kulturmodelle der Zivilisation beziehen,<br />

gegen die Kopenhagener-Kriterien<br />

duchsetzen. Nicht Europa muss sich kulturell<br />

an die Türkei anpassen sondern die Türkei muss<br />

sich an Europa anpassen.<br />

Antonios TRAKATELLIS, Vizepräsident des<br />

Europäischen Parlaments geht auf die<br />

Religionsfreiheit in der Türkei und ganz<br />

speziell auf den Fall des Theologischen<br />

Instituts in Halki ein, das 1971 auf Anordnung<br />

der türkischen Behörden geschlossen worden<br />

sei. Die Wiedereröffnung des Instituts in Halki<br />

sei von wesentlicher Bedeutung für das<br />

ökumenische Patriarchat, um sicherzustellen,<br />

dass neue Generationen an Geistlichen und<br />

ökumenische Patriarchen ausgebildet werden<br />

könnten. Dies gelte auch für die Ausbildung<br />

aller amerikanischen und europäischen<br />

Erzbischöfe der griechisch-orthodoxen Kirche.<br />

Die Wiedereröffnung dieses theologischen<br />

Zentrums werde zudem den Willen der<br />

türkischen Regierung unter Beweis stellen, die<br />

Beitrittskriterien gewissenhaft zu erfüllen.<br />

In diesem Zusammenhang bestätigt Antonios<br />

TRAKATELLIS den von Camiel EURLINGS<br />

vertretenen Standpunkt, dass das Europäische<br />

Parlament die Pflicht habe zu prüfen, ob die<br />

Türkei die Beitrittskriterien auch tatsächlich<br />

erfülle. Es habe die Verpflichtung, auf Lücken<br />

hinzuweisen und Mängel aufzuzeigen, damit die<br />

43<br />

Türkei ganz klar erkennen könne, was von ihr<br />

verlangt werde. Ohne ein solches Vorgehen sei<br />

der Weg des Landes in die Europäischen Union<br />

schwierig und der Ausgang der Verhandlungen<br />

ungewiss.<br />

Das Europäische Parlament habe sich immer als<br />

Hüter der Menschenrechte gesehen. Es wäre<br />

unvorstellbar, wenn es von einem Tag auf den<br />

anderen den Beitritt eines Landes zur<br />

Europäischen Union akzeptieren würde, in dem<br />

die Menschenrechte nicht eingehalten werden.<br />

Wenn die Türkei diese Botschaft verstehe,<br />

werde sie die erforderlichen Schritte<br />

ergreifen. Dies sei im Interesse der türkischen<br />

Bürger, die auf diese Weise eine<br />

fortschrittliche Demokratie erhalten und mit<br />

dem Beitritt zur Europäischen Union belohnt<br />

würden.<br />

Es liege also an der Türkei, sich auf Europa<br />

einzulassen und sich für den europäischen Weg<br />

zu entscheiden. Nur so könne sich Europa zu<br />

gegebener Zeit für den Beitritt des Landes<br />

zur Europäischen Union entscheiden.<br />

Im Hinblick auf die Entscheidung,<br />

Beitrittsverhandlungen mit der Türkei<br />

aufzunehmen, weist Margie SUDRE, Leiterin<br />

der französischen Delegation der EVP-ED-<br />

Fraktion darauf hin, dass hier dieselben Regeln<br />

gelten müssten wie bei anderen Ländern auch.<br />

Sie sehe hier jedoch die Tendenz, gegenüber<br />

der Türkei weniger anspruchsvoll zu sein, als<br />

man dies bei anderen Beitrittskandidaten<br />

gewesen sei.<br />

Die Unzulänglichkeiten der Türkei im Bereich<br />

der Menschenrechte seien offenkundig.<br />

Margie SUDRE sei beunruhigt, wenn sie heute<br />

höre, wie Kommissar Verheugen erkläre, dass<br />

es nicht gerechtfertigt sei, die Türkei der<br />

systematischen Folter zu bezichtigen. Was<br />

habe man sich darunter vorzustellen? Dass die


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Türkei von Zeit zu Zeit ihre Gefangenen foltern<br />

darf, ohne dass die Menschenrechte verletzt<br />

würden? Margie SUDRE weist darauf hin, dass<br />

die Türkei nun bereits seit 40 Jahren die<br />

Absicht habe der Europäischen Union<br />

beizutreten. Die Türkei kenne die<br />

Anforderungen der Europäischen Union im<br />

Hinblick auf einen Beitritt. Es sei<br />

besorgniserregend zu sehen, dass das Land<br />

im Bereich der Menschenrechte heute nicht<br />

schon wesentlich weiter sei.<br />

Margie SUDRE spricht sich ferner dafür aus,<br />

eine äußerste Frist festzusetzen, innerhalb<br />

derer die Türkei alle Kriterien von Kopenhagen<br />

ausnahmslos und ohne Kompromisse erfüllen<br />

müsse. Nach Ablauf dieser Frist könnte der<br />

Türkei definitiv gesagt werden, ob sie der<br />

Europäischen Union beitreten könne oder nicht.<br />

Man müsse künftig aufhören, Fristen ständig<br />

zu verlängern und den Zeitpunkt einer<br />

definitiven Antwort immer wieder zu<br />

verschieben.<br />

Konstantinos HATZIDAKIS, Mitglied des<br />

Gemischten Parlamentarischen Ausschusses<br />

EU-Türkei, weist darauf hin, dass sich der<br />

Standpunkt der Delegation der griechischen<br />

Nea Dimokratia, wie gestern von ihrem Leiter,<br />

Ioannis VARVITSIOTIS, erläutert,<br />

folgendermaßen zusammenfassen lasse: Die<br />

Orientierung der Türkei in Richtung Europa<br />

könnte zur Stabilität der gesamten Region und<br />

ganz besonders zur Stabilisierung der<br />

bilateralen Beziehungen zwischen Griechenland<br />

und der Türke beitragen i.<br />

Dies bedeute jedoch nicht, dass die griechische<br />

Delegation der Türkei einen Blankoscheck<br />

ausstellen wolle. An die Türkei müsse derselbe<br />

Maßstab angelegt werden wie an alle anderen<br />

Länder, die Beitrittsverhandlungen geführt<br />

hätten. Es gehe hier nicht darum, dass sich<br />

Europa an die in der Türkei vorherrschenden<br />

Verhältnisse gewöhne, vielmehr sei es Sache<br />

44<br />

der Türkei, sich den in Europa herrschenden<br />

Verhältnissen anzupassen.<br />

Konstantinos HATZIDAKIS betont speziell<br />

den Fall der beiden Inseln Imbros und<br />

Tenedos. Diese beiden Inseln im Ägäischen<br />

Meer gehörten bis zum Vertrag von Lausanne<br />

im Jahr 1923 zu Griechenland. In Artikel 14<br />

des Vertrags werde der griechische Charakter<br />

dieser Inseln anerkannt. Ferner sei in ihm sogar<br />

deren Autonomie innerhalb des türkischen<br />

Staates vorgesehen. So sollten die Inseln<br />

Imbros und Tenedos laut Vertrag zwar unter<br />

türkische Souveränität gestellt werden, jedoch<br />

eine unabhängige Verwaltung erhalten, um die<br />

Sicherheit des Eigentums und der Einwohner<br />

sowie die Ausbildung der lokalen Polizeikräfte<br />

gewährleisten zu können. Die Türkei habe sich<br />

jedoch nicht nur kategorisch geweigert, Artikel<br />

14 des Vertrags von Lausanne umzusetzen,<br />

sondern zudem zahlreiche Anstrengungen<br />

unternommen, um den griechischen Charakter<br />

der Inseln auszulöschen. Heute bestünden<br />

schwerwiegende Probleme im Bereich der<br />

Menschenrechte und beim Minderheitenschutz.<br />

Im Bildungssystem sei Unterricht auf<br />

Griechisch praktisch verboten. Die Schulen, die<br />

noch den griechischen Gemeinschaften<br />

gehörten, seien konfisziert worden, um darin<br />

Hotels oder Cafeterien zu betreiben. Im<br />

Rahmen einer Assimilationspolitik werde die<br />

Erstellung eines Grundbuchs als Vorwand<br />

genutzt, um den Grundbesitz der Griechen zu<br />

konfiszieren. Im Zusammenhang mit der<br />

Religionsfreiheit würden Genehmigungen für<br />

die Renovierung der Kirchen selbst dann nicht<br />

erteilt, wenn diese Akten von Vandalismus zum<br />

Opfer gefallen seien.<br />

Insgesamt spricht sich Konstantinos<br />

HATZIDAKIS zugunsten des Beitritts der<br />

Türkei aus. Es dürfe jedoch kein Blankoscheck<br />

ausgestellt werden. Den Menschenrechten<br />

müsste absolute Priorität eingeräumt werden.<br />

Hier seien keinerlei Zugeständnisse möglich.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Jacques TOUBON, stellvertretender<br />

Vorsitzender der Delegation des Gemischten<br />

Parlamentarischen Ausschusses EU-Türkei ist<br />

der Ansicht, dass die Türkei im Hinblick auf<br />

die Demokratisierung und die Menschenrechte<br />

zwar einerseits Fortschritte bei der<br />

Gesetzgebung und den politischen Institutionen<br />

erzielt habe, andererseits jedoch seit den<br />

70er und 80er Jahren gravierende<br />

Rückschritte bei den Verhaltens- und<br />

Denkweisen gemacht habe. Bei dem von<br />

Antonios TRAKATELLIS erwähnten Beispiel<br />

des Theologischen Instituts in Halki werde dies<br />

offenkundig. Seiner Meinung nach sei der<br />

Mentalitätswandel nicht auf die Politik des<br />

Staates oder der Partei, sondern auf<br />

tiefgreifende Veränderungen innerhalb der<br />

Gesellschaft zurückzuführen.<br />

Jacques TOUBON zufolge laufe Europa<br />

Gefahr, in eine Falle zu geraten und Opfer<br />

eines Traums zu werden. In der Falle säße es,<br />

wenn die Verhandlungen zu den Bedingungen<br />

der Türkei und nicht zu den Bedingungen der<br />

Europäischen Union abgeschlossen würden.<br />

Hier seien beispielsweise die Äußerungen des<br />

für die Erweiterung zuständigen Kommissars<br />

Verheugen zu erwähnen, der Folter in<br />

Einzelfällen akzeptiere, Hauptsache sie<br />

erfolge nicht systematisch. Bei dem Traum<br />

handele es sich um den Traum der Liberalen<br />

weltweit, die eine Elite bildeten und die<br />

Verbindung zu den Völkern, insbesondere zu<br />

den Völkern Europas, gekappt hätten.<br />

Es sei nun Aufgabe des Europäischen<br />

Parlaments im Namen der Völker Europas das<br />

Wort zu ergreifen, und zwar ungeachtet der<br />

Entwicklungen zwischen 1963 und dem<br />

Europäischen Rat von Helsinki. Die Völker<br />

Europas stellten sich Fragen, die Kommissar<br />

Verheugen gänzlich unbekannt seien.<br />

Das Europäische Parlament müsse folglich Mut<br />

beweisen. Auch Camiel EURLINGS müsse den<br />

Mut haben, in seinem Bericht auf zuviel<br />

45<br />

Diplomatie zu verzichten, auch wenn er Mitglied<br />

im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten<br />

sei. Er müsse diesen Bericht vielmehr aus der<br />

Sicht eines Politikers verfassen, der die<br />

Interessen der niederländischen Bürger<br />

vertrete, die dieses Thema sehr beschäftige.<br />

Jacques TOUBON schließt seinen Beitrag mit<br />

drei Vorschlägen:<br />

Der Vorsitzende, Hans-Gert PÖTTERING,<br />

sollte die Erklärungen von Kommissar<br />

Verheugen in zwei Beziehungen kritisieren.<br />

Zum einen habe Kommissar Verheugen nicht<br />

über die Eröffnung von Verhandlungen zu<br />

befinden. Er könne nicht einfach behaupten, die<br />

Bedingungen seien erfüllt und es gebe keine<br />

Hindernisse mehr. Zum anderen seien seine<br />

Äußerungen über die Folter absolut<br />

inakzeptabel.<br />

In der Sache wäre es zudem angebracht, eine<br />

Alternative, wie etwa eine privilegierte<br />

Partnerschaft, zu erarbeiten. Als Zielsetzung<br />

der Verhandlungen müsse nicht nur ein<br />

möglicher Beitritt ins Auge gefasst werden,<br />

sondern auch andere Beziehungen ganz<br />

unterschiedlicher Art zwischen der Türkei und<br />

der Europäischen Union.<br />

Schließlich müsse die Frage gestellt werden,<br />

wie die Zukunft der Europäische Union mit der<br />

Türkei als Mitgliedstaat aussehen werde, und<br />

nicht etwa die Frage, was aus der Türkei<br />

werde, wenn ihr der Zutritt zur Europäischen<br />

Union verwehrt bleiben sollte.<br />

Jan ZAHRADIL kommt auf den Begriff der<br />

privilegierten Partnerschaft zurück. Er halte<br />

die Idee für gut, man müsse sich jedoch sehr<br />

konkret fragen, was anstelle eines echten<br />

Beitritts angeboten werden könnte.<br />

Wenn es sich nicht um einen echten Beitritt<br />

handle, wäre es sinnvoll, die Beziehung so zu


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

organisieren, dass sie mehr darstelle als nur<br />

einen einfachen Beitritt zur EFTA oder zum<br />

Europäischen Wirtschaftsraum. Eine solche<br />

Partnerschaft müsste über die Beziehungen<br />

hinausgehen, die die EU mit Norwegen oder der<br />

Schweiz unterhalte. Es stelle sich jedoch die<br />

Frage, ob eine solche Partnerschaft auf die<br />

Türkei beschränkt bleiben oder ob sie nicht<br />

auch auf andere Länder ausgedehnt werden<br />

sollte.<br />

Es sei zwar möglich, dass sich die Situation in<br />

der Türkei in den kommenden zehn Jahren so<br />

entwickle, dass die Türkei selbst feststelle,<br />

dass ein Beitritt zur Europäischen Union nicht<br />

das sei, was sich das Land vorstelle. Dann wäre<br />

es möglich, auf Antrag der Türkei selbst eine<br />

privilegierte Partnerschaft anzustreben. Jan<br />

ZAHRADIL betont jedoch, dass man nicht<br />

wisse, wie sich die Situation in der Europäischen<br />

Union in zehn Jahren darstelle. Vielleicht sei<br />

dann die Verfassung in Kraft, vielleicht aber<br />

auch nicht.<br />

Sollte die Verfassung dann rechtskräftig sein,<br />

könnte die Europäische Union noch immer eine<br />

gewisse Flexibilität durch die verstärkte<br />

Zusammenarbeit unter Beweis stellen. Ein<br />

Europa der unterschiedlichen<br />

Geschwindigkeiten wäre dann Realität. Es<br />

stelle sich die Frage, wie man vor diesem<br />

Hintergrund eine privilegierte Partnerschaft<br />

organisieren könne, die dann vielleicht schon<br />

die Regel sei.<br />

Richard SEEBER zufolge könne die Zusage aus<br />

dem Jahr 1963 nicht als Argument genutzt<br />

werden, da sich die geopolitische Situation seit<br />

damals stark verändert habe.<br />

Er bedauere, dass Regierungen ihre<br />

Entscheidungen ohne Rücksicht auf die Meinung<br />

der Bürger träfen. Er könne in diesem<br />

Zusammenhang nicht verstehen, dass das<br />

Eurobarometer in Europa seit Jahren keine<br />

46<br />

Meinungsumfragen mehr zum Beitritt der<br />

Türkei durchführe. Bei einem so sensiblen<br />

Thema müsse man die Meinung der<br />

europäischen Bürger mehr berücksichtigen.<br />

Im Hinblick auf das Rechtssystem sei es<br />

besonders wichtig, darauf zu achten, dass die<br />

Kriterien von Kopenhagen und insbesondere die<br />

Kriterien im Zusammenhang mit dem Schutz<br />

der Menschenrechte bereits vor der Aufnahme<br />

von Beitrittsverhandlungen erfüllt seien.<br />

Die EVP-ED-Fraktion müsse sich daher klar<br />

und deutlich gegen die Aufnahme von<br />

Verhandlungen aussprechen. Der Zeitpunkt sei<br />

verfrüht, wie der Vorsitzende, Hans-Gert<br />

PÖTTERING, bemerkt habe. Sollten die<br />

Verhandlungen dennoch aufgenommen werden,<br />

müsse ergebnisoffen verhandelt werden.<br />

Eine Alternative zum Beitritt müsse ins Auge<br />

gefasst werden. Richard SEEBER weist darauf<br />

hin, dass der Europäische Wirtschaftsraum<br />

von Schweden als eine Art Vorzimmer der<br />

Europäischen Union bezeichnet worden sei, was<br />

auch für die Türkei gelten könne.<br />

Alejo VIDAL-QUADRAS ROCA,<br />

Vizepräsident des Europäischen Parlaments,<br />

zufolge zeige die Diskussion, dass die Türkei<br />

bei der Gesetzgebung und der<br />

Verfassungsreform im Hinblick auf die<br />

Kriterien von Kopenhagen in den vergangenen<br />

drei Jahren spektakuläre Fortschritte erzielt<br />

habe. Es sei jedoch ebenso offensichtlich, dass<br />

die praktische Umsetzung dieser<br />

Gesetzesreformen nicht zufriedenstellend sei,<br />

insbesondere in den Bereichen, die mit der<br />

Einhaltung der Menschen- und<br />

Minderheitenrechte oder mit der<br />

Religionsfreiheit in Zusammenhang stünden.<br />

Alejo VIDAL-QUADRAS ROCA empfiehlt die<br />

Tatsache, dass die Türkei die Kriterien von<br />

Kopenhagen in der Praxis noch nicht erfülle,


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

weniger dramatisch zu sehen. Er verweist<br />

dabei auf sein eigenes Land. In Spanien habe<br />

nach Francos Tod 1975 der Übergang zur<br />

Demokratie begonnen. Die Reformen der<br />

Verfassung und der Gesetze seien<br />

beeindruckend und innerhalb von drei oder vier<br />

Jahren abgeschlossen gewesen. Sehr viel<br />

länger habe es jedoch gedauert, bis jeder<br />

Polizist, jeder Richter, jeder Beamte und<br />

jeder Gefängnisdirektor die Reformen<br />

verinnerlicht und sich das tatsächliche<br />

Verhalten an die neue demokratische Kultur<br />

angepasst habe.<br />

Daher sei es seiner Meinung nach unmöglich,<br />

von der Türkei etwas zu verlangen, das von<br />

den übrigen Mitgliedstaaten der Europäischen<br />

Union nicht erwartet worden sei. Wenn es in<br />

Spanien acht oder zehn Jahre gedauert habe,<br />

um das tägliche Leben und die<br />

Verwaltungspraxis auf die Demokratie<br />

einzustellen, dann könne die Türkei ebenfalls<br />

einen gewissen Zeitraum beanspruchen, um<br />

ihre Gesetzesreformen auch tatsächlich<br />

umzusetzen.<br />

Systematische Folter sei schrecklich und dürfe<br />

nicht akzeptiert werden. Folter sei jedoch auch<br />

in Einzelfällen schrecklich und könne auch dann<br />

nicht akzeptiert werden. Es gebe keine<br />

unterschiedlichen Abstufungen bei der<br />

Ablehnung von Folter.<br />

Das Europäische Parlament müsse beim Beitritt<br />

jedes neuen Mitgliedstaates eine gemeinsame<br />

Stellungnahme abgeben. Die EVP-ED-Fraktion,<br />

in der heute sehr unterschiedliche Ansichten<br />

aufeinander träfen, müsse eine Möglichkeit<br />

finden, einen gemeinsamen Standpunkt über<br />

die Frage der Türkei zu formulieren. Alejo<br />

VIDAL-QUADRAS ROCA zufolge müsse<br />

dieser Standpunkt bis zur endgültigen<br />

Stellungnahme des Europäischen Parlaments<br />

als Grundlage für eine kritische und strenge<br />

Beurteilung der Beitrittsverhandlungen dienen.<br />

Es müsse jederzeit darauf geachtet werden,<br />

47<br />

dass alle Bedingungen kompromisslos erfüllt<br />

werden<br />

Ioannis MATSIS frage sich als Zyprer, ob<br />

die Türkei die Republik Zypern anerkennen<br />

werde. Die Türkei sei nämlich das einzige Land,<br />

das Zypern, einen Mitgliedstaat der<br />

Europäischen Union, noch immer nicht<br />

anerkenne.<br />

Ioannis MATSIS spreche sich für eine<br />

Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der<br />

Türkei aus, sobald die Türkei bereit sei, ihre<br />

Verpflichtungen beim Schutz der<br />

Menschenrechte – auch auf Zypern – zu<br />

erfüllen. Die Europäische Union sei<br />

verpflichtet, sich dafür einzusetzen.<br />

Ferner hofft Ioannis MATSIS, dass alle<br />

Zweifel an einem friedlichen Zusammenzuleben<br />

der türkischen und griechischen Zyprer<br />

ausgeräumt werden können. Wenn das<br />

internationale Recht eingehalten werde, könne<br />

Zypern die Rolle eines Bindeglieds zwischen<br />

den Völkern der Region, einschließlich der<br />

Türkei, übernehmen und eine stabilisierende<br />

Wirkung haben.<br />

Árpád DUKA-ZÓLYOMI zufolge werde trotz<br />

der großen wirtschaftlichen Fortschritte auf<br />

gesellschaftlicher Ebene deutlich, dass die<br />

Türkei nach wie vor weit davon entfernt sei,<br />

die Kriterien von Kopenhagen zu erfüllen,<br />

insbesondere was die Einhaltung der<br />

Menschenrechte und die<br />

Sicherheitsvorkehrungen für deren Schutz<br />

angehe.<br />

Heute stelle sich die Frage, ob man wirklich<br />

von einer türkischen Demokratie sprechen<br />

könne, wenn so viele Menschen gefoltert<br />

würden. Seiner Meinung nach sei der Einsatz<br />

von Folter mit einer modernen Gesellschaft<br />

absolut unvereinbar.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Einige seien der Ansicht, die Türkei sei auf<br />

einem guten Weg. Kommissar Verheugen habe<br />

sich diesbezüglich wiederholt unverantwortlich<br />

verhalten. Die Türkei müsse die Kriterien von<br />

Kopenhagen erfüllen. Seiner Einschätzung nach<br />

sei sie jedoch zum heutigen Zeitpunkt weit<br />

davon entfernt.<br />

Er schließt mit der Anmerkung, man dürfe den<br />

Charakter der Europäischen Union nicht aus den<br />

Augen verlieren. Die Kriterien dürften nicht<br />

leichtfertig preisgegeben werden. Die<br />

Europäische Union müsse ihren Druck<br />

unbedingt aufrechterhalten.<br />

Renate SOMMER ist der Ansicht, dass die<br />

Türkei noch sehr viel Zeit benötige, bis sie der<br />

Europäischen Union beitreten könne. Die seit<br />

1999 eingeleiteten Reformen seien noch immer<br />

nicht in die Praxis umgesetzt worden.<br />

Die Türkei strebe die Mitgliedschaft seit 1963<br />

an und beschwere sich, dass sie immer wieder<br />

abgewiesen worden sei. Die Tatsache, dass der<br />

Reformprozess erst 1999 begonnen habe, sei<br />

jedoch ein Beleg dafür, dass die türkische<br />

Bevölkerung nicht die geringste Vorstellung<br />

davon habe, was ein Beitritt zur Europäischen<br />

Union bedeute.<br />

Es müsse einen Mentalitätswandel geben. Der<br />

Staat verschließe die Augen vor der Folter und<br />

toleriere „Verbrechen im Namen der Ehre“.<br />

Die Situation der Frauen sei beschämend, auch<br />

wenn sie sich mit Hinweis auf die Tradition<br />

erklären ließe. Betroffen seien vor allem die<br />

ärmsten Bevölkerungsschichten, in denen der<br />

Bildungsstand besonders niedrig sei.<br />

Der Bevölkerung müsse die Zeit für einen<br />

Mentalitätswandel gegeben werden, damit<br />

sich die Türkei an die Europäische Union<br />

annähern könne. Ein solcher Mentalitätswandel<br />

dauere jedoch mindestens zwei bis drei<br />

Generationen.<br />

48<br />

Renate SOMMER spricht sich für eine<br />

Fristsetzung im Hinblick auf die Einhaltung der<br />

Kriterien von Kopenhagen aus.<br />

Die Behörden gingen von einem automatischen<br />

Ablauf des Verfahrens aus. Kommissar<br />

Verheugen habe einen positiven Bericht<br />

angekündigt. Man könne fast darauf setzen,<br />

dass sich die Regierungschefs im Dezember<br />

für die Eröffnung von Verhandlungen<br />

aussprechen werden. Das Europäische<br />

Parlament habe daher eine große<br />

Verantwortung. Es müsse der<br />

vorherrschenden Meinung etwas<br />

entgegensetzen. Das Parlament könne die<br />

Menschenrechte nicht in der ganzen Welt<br />

verteidigen, aber bei einem Land, das der<br />

Union beitrete, könne es die Augen nicht<br />

verschließen.<br />

Renate SOMMER fordert den<br />

Berichterstatter nachdrücklich dazu auf, einen<br />

kritischen politischen Bericht zu verfassen und<br />

auf diese Weise die Meinung eines großen Teils<br />

der europäischen Bevölkerung zum Ausdruck<br />

zu bringen.<br />

Albert DESS empört sich über die<br />

Pressemitteilungen, wonach Herr Verheugen<br />

gesagt habe, dass alles geklärt sei, und zwar<br />

ungeachtet der nach wie vor bestehenden<br />

beachtlichen Lücken bei Themen wie den<br />

Menschenrechten, Armenien, Zypern, dem<br />

Kurdenproblem usw.<br />

Bei der Abstimmung über die neue Kommission<br />

könne eine Kommission, in der Kommissar<br />

Verheugen mit seinem unverantwortlichen<br />

Handeln die Zukunft Europas gefährde, nicht<br />

mit seiner Zustimmung rechnen.<br />

Nikolaos VAKALIS ist der Ansicht, dass die<br />

Türkei der Europäischen Union nicht beitreten<br />

werde, wenn sie die Kriterien nicht erfülle, da


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Europa einen stark ausgeprägten<br />

Selbsterhaltungstrieb habe. Es bleibe daher<br />

zu klären, ob die Türkei die Kriterien von<br />

Kopenhagen erfülle oder nicht.<br />

Es stelle sich die grundsätzliche Frage,<br />

welches Europa wir in der Zukunft haben<br />

wollen. Mit der Türkei oder ohne sie? Mit der<br />

Türkei als Mitgliedstaat oder mit der Türkei<br />

im Rahmen einer privilegierten Partnerschaft?<br />

Und dann sei da ja noch die Frage nach den<br />

angrenzenden Regionen.<br />

Auch für Zuzana ROITHOVÁ ist weniger die<br />

Frage entscheidend, ob die Türkei der<br />

Europäischen Union beitreten werde oder nicht,<br />

sondern vielmehr die Frage, welches Europa<br />

wir zukünftig wollten.<br />

Es sei eindeutig, dass die Türkei die Kriterien<br />

von Kopenhagen nicht erfülle. Daher dürfe die<br />

Türkei der Europäischen Union nicht beitreten.<br />

Die Europäische Union habe jedoch die Pflicht,<br />

nach Mitteln und Wegen zu suchen, um die<br />

Entwicklung der Menschenrechte in der Türkei<br />

positiv zu beeinflussen. Dieses Kriterium sei<br />

noch wichtiger als die übrigen.<br />

In diesem Sinne sei die Idee einer<br />

privilegierten Partnerschaft zu entwickeln.<br />

Dieses alternative Konzept müsse jedoch noch<br />

konkretisiert und mit Inhalten gefüllt werden.<br />

Yusuf ALATAS sagt, er habe die Diskussionen<br />

mit Interesse verfolgt und sei mit den meisten<br />

kritischen Anmerkungen einverstanden. Auch<br />

er sei der Ansicht, dass der Türkei kein<br />

Blankoscheck ausgestellt werden könne. Die<br />

Türkei müsse die Situation der<br />

Menschenrechte verbessern.<br />

Einige hätten jedoch die Ansicht geäußert, dass<br />

die Türkei selbst dann nicht als Vollmitglied,<br />

sondern nur im Rahmen einer privilegierten<br />

49<br />

Partnerschaft akzeptiert werden sollte, wenn<br />

sie alle politischen Kriterien erfülle.<br />

Dieser Vorschlag sei den bisherigen Kandidaten<br />

nicht unterbreitet worden. Es sei<br />

selbstverständlich, dass die Türkei solange<br />

kein Vollmitglied werde, bis nicht alle Kriterien<br />

erfüllt seien. Aber er könne die Logik, mit der<br />

man der Türkei eine andere Lösung vorschlagen<br />

wolle, nicht nachvollziehen. Seines Erachtens<br />

handle es sich dabei um ein diskriminierendes<br />

Verhalten.<br />

Im Bereich der Menschenrechte gebe es in der<br />

Türkei Defizite. Es dürfe jedoch nicht außer<br />

Acht gelassen werden, dass gerade die<br />

Minderheiten (Armenier, Griechen, Kurden)<br />

einen Beitritt zur Europäischen Union<br />

befürworteten.<br />

Einige äußerten die Ansicht, dass ein<br />

Mentalitätswandel mehrere Generationen in<br />

Anspruch nehmen würde. Er glaube dies nicht.<br />

Diese Ansicht zeige vielmehr, dass die<br />

Europäer zu wenig über die Türkei wüssten.<br />

Die Türkei habe in wenigen Jahren so viele<br />

Dinge bewegt, für die andere Länder<br />

Jahrzehnte benötigt hätten.<br />

Die türkische Gesellschaft und die türkische<br />

Bevölkerung seien nicht so rückständig, wie<br />

angenommen werde. Die türkische<br />

Gesellschaft dürfe nicht anhand der türkischen<br />

Immigranten in Europa beurteilt werden. Bei<br />

ihnen handle es sich um Personen, die vor 30<br />

Jahren nach Europa gekommen seien und nicht<br />

an der Entwicklung in der Türkei teilgenommen<br />

hätten.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Gabriele JUEN betont, dass es für die Gewalt<br />

gegen Frauen in der Türkei eine Vielzahl<br />

kultureller Gründe gebe. Es sei aber durchaus<br />

sinnvoll, die Situation in der Türkei mit der in<br />

der Europäischen Union zu vergleichen. So<br />

käme es beispielsweise in Österreich lediglich<br />

in 20 % aller Vergewaltigungen zu einer<br />

Verurteilung. In Spanien wiesen die Statistiken<br />

zahlreiche Fälle ehelicher Gewalt auf.<br />

Armin LASCHET erinnert daran, dass sich die<br />

Kriterien von Kopenhagen nicht nur an die<br />

Türkei richteten, sondern an die gesamte<br />

Europäische Union.<br />

Seiner Ansicht nach sei die Europäische Union<br />

nicht in der Lage, ein Land von der Größe der<br />

Türkei aufzunehmen. Die beste Alternative<br />

wäre eine privilegierte Partnerschaft. Es sei<br />

unmöglich, den Anwendungsbereich sämtlicher<br />

Richtlinien des europäischen Rechts bis an die<br />

irakischen Grenzen auszudehnen (die Richtlinien<br />

über Flora, Fauna, Trinkwasser usw.). Die<br />

Lösung könne in einer Beteiligung der Türkei<br />

an der GASP und am Gemeinsamen Markt<br />

liegen, ohne den gesamten Acquis<br />

communautaire anzuwenden.<br />

Simon BUSUTTIL weist auf die<br />

Meinungsverschiedenheiten hin, die es<br />

innerhalb der EVP-ED-Fraktion beizulegen<br />

gelte.<br />

Ein Teil der Fraktion vertrete die Auffassung,<br />

der Beitritt der Türkei müsse von vornherein<br />

ausgeschlossen werden. Ein anderer Teil der<br />

Fraktion sei der Ansicht, dass die Türkei<br />

beitreten könne, wenn die Kriterien für den<br />

Beitritt erfüllt seien.<br />

Die Schwierigkeit liege darin, den Zeitpunkt<br />

festzulegen, an dem der Türkei bescheinigt<br />

werden könne, dass sie im Hinblick auf die<br />

politischen Kriterien ausreichende Fortschritte<br />

für eine Aufnahme in die Europäische Union<br />

gemacht habe.<br />

50<br />

Nach Ansicht von Simon BUSUTTIL sollte es<br />

ein objektives Verfahren geben. Der Türkei<br />

solle unvoreingenommen begegnet werden,<br />

ohne einen Beitritt von vornherein<br />

auszuschließen. Daher sei die Aufgabe des<br />

Berichterstatters sehr schwierig!<br />

Camiel EURLINGS, Leiter der<br />

niederländischen Delegation der EVP-ED-<br />

Fraktion dankt allen Rednern und jenen, die<br />

auf den Bericht Bezug genommen hätten, den<br />

er zu verfassen habe. Einige seien der Ansicht<br />

gewesen, dass der Bericht nicht diplomatisch<br />

ausfallen dürfe. Er werde diese Anregung<br />

aufnehmen.<br />

Seiner Meinung nach sei die Einhaltung der<br />

Kriterien nicht die einzige Frage, die sich stelle.<br />

Die entscheidende Frage sei, ob die Türkei ein<br />

Mitgliedstaat werden könne. Aber selbst wenn<br />

man zu dem Schluss kommen sollte, dass der<br />

Europäische Rat Unrecht gehabt und die Situation<br />

nicht richtig eingeschätzt habe, könnte<br />

es dennoch zu einer Mehrheit im Europäischen<br />

Parlament kommen.<br />

Als Berichtserstatter stütze er sich auf die<br />

verschiedenen vom Parlament angenommenen<br />

Entschließungen und hoffe, einen Bericht<br />

vorlegen zu können, in dem kritische Punkte<br />

offen angesprochen würden. Dies sei jedoch<br />

nicht ganz einfach, da sich in der EVP-ED-<br />

Fraktion und in anderen Fraktionen einige für<br />

und andere gegen eine Kandidatur aussprächen.<br />

Camiel EURLINGS erläutert die Punkte, die<br />

er beabsichtige, in den Bericht aufzunehmen,<br />

noch etwas genauer. Er werde die<br />

unverantwortliche Haltung von Kommissar<br />

Verheugen und dessen Aufsehen erregende<br />

Kehrtwendung kritisieren. Auf jeden Fall<br />

müsse klar und deutlich gesagt werden, wenn<br />

die Kriterien nicht erfüllt sein sollten. Es müsse<br />

ein kritischer Standpunkt eingenommen<br />

werden. Im Mittelpunkt des Dialogs mit der


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

Türkei müssten künftig unabhängig von der<br />

Entscheidung des Rates die politischen<br />

Kriterien stehen. Die Eröffnung von<br />

Verhandlungen stelle darüber hinaus noch keine<br />

Vorentscheidung über deren Ausgang dar. Das<br />

Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in der<br />

Europäischen Union dürfe nicht gefährdet<br />

werden.<br />

Camiel EURLINGS versichert, dass er keine<br />

diplomatische Grundhaltung einnehmen werde.<br />

Er wisse, dass seine Aufgabe als<br />

Berichtserstatter nicht einfach sei. Er hoffe<br />

auf die Unterstützung der EVP-ED-Fraktion,<br />

damit sich eine kritische Stimme im<br />

Europäischen Parlament Gehör verschaffen<br />

könne und nicht unter jenen zahlreichen<br />

Stimmen untergehe, die jegliche Kritik an der<br />

Türkei unterdrücken wollten.<br />

Hans-Gert PÖTTERING, Vorsitzender der<br />

EVP-ED-Fraktion<br />

51<br />

Schlussfolgerungen<br />

Der Vorsitzende Hans-Gert PÖTTERING<br />

schließt die Aussprache und dankt den<br />

Rednern.<br />

Auch wenn es in der EVP-ED-Fraktion gewisse<br />

Meinungsverschiedenheiten im Zusammenhang<br />

mit einem möglichen Beitritt der Türkei gebe,<br />

sei es dennoch möglich, eine Position zu<br />

entwickeln, auf die sich die Mehrheit der<br />

Fraktion verständigen könne.<br />

In der Aussprache sei betont worden, dass<br />

man bei der Formulierung des Berichts bzw.<br />

der Entscheidungsfindung beim Thema Türkei<br />

nicht bei Null anfangen müsse. Das Verfahren<br />

sei bereits im Gange und jede Institution der<br />

Europäischen Union habe entsprechend den<br />

vorgesehenen Verfahren ein Mitspracherecht.<br />

Auch wenn es schwierig sei, Schlüsse aus der<br />

Eröffnung der Verhandlungen zu ziehen, hoffe<br />

er, dass über alle diese Fragen erneut<br />

vernünftig, fundiert und unvoreingenommen<br />

diskutiert werde, wenn die Entscheidung auf<br />

der Grundlage des Berichts von Camiel<br />

EURLINGS anstehe. Nach diesem Bericht<br />

würden das Verfahren fortgesetzt und<br />

diejenigen Elemente ermittelt, bei denen<br />

Übereinstimmung bestehe.<br />

Der Berichterstatter habe ein wichtige<br />

Aufgabe zu erfüllen. Er müsse einen Bericht<br />

verfassen, dem eine möglichst große Mehrheit<br />

im Parlament zustimmen könne.


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004


Veröffentlicht durch EVP-ED-Fraktion im<br />

Europaïschen Parlament<br />

Editor: Dienststelle Dokumentation -<br />

Veröffentlichungen - Forschung<br />

Redaktion: Christine DETOURBET<br />

Mitarbeit: Vera Benito, Barbara Sledsens<br />

Photos: Pressedienststelle der EVP-ED-<br />

Fraktion<br />

Adresse: Europäisches Parlament<br />

47-53 rue Wiertz<br />

B - 1047 Brüssel<br />

Belgien<br />

Internet: http://www.epp-ed.org<br />

E-mail: epp-ed@europarl.eu.int<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004


STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

EVP - ED<br />

Fraktion der Europaïschen Volkspartei<br />

(Christdemokraten) und europäischer<br />

Demokraten


THEMA I: BEZIEHUNGEN EU-TÜRKEI<br />

Edgar Lenski, Lehrbeauftrager; João Pinheiro,<br />

Stellvertretender Vorsitzender der EVP-ED-<br />

Fraktion; Pascal Fontaine, Stellvertretender<br />

Generalsekretär<br />

Edgar LENSKI, Dozent an der Humboldt-<br />

Universität Berlin, spricht über den Beitritt<br />

der Türkei und seine Auswirkungen für die<br />

Europäische Union.<br />

Er hebt hervor, dass an dem Tag, da die Türkei<br />

Mitglied der Europäischen Union werde – wenn<br />

sie es denn wird –, die Verfassung bereits in<br />

Kraft sein werde. Vermutlich würden dann auch<br />

Rumänien, Bulgarien und möglicherweise<br />

Kroatien bereits der Europäischen Union<br />

angehören.<br />

Der Beitritt der Türkei könnte im Jahr 2007<br />

erfolgen, wenn alles wie vorgesehen verläuft.<br />

Die Europäische Union werde dann 27 oder 28<br />

Mitgliedstaaten zählen, die alle die Europäische<br />

Verfassung einhalten werden.<br />

Im Jahr 1963 habe die Europäische<br />

Wirtschaftsgemeinschaft ein<br />

Assoziierungsabkommen mit der Türkei<br />

geschlossen: das Abkommen von Ankara.<br />

Heute würden die Beziehungen zwischen der<br />

Türkei und der Europäischen Union durch die<br />

im Jahr 1995 errichtete Zollunion geregelt.<br />

Diese Zollunion habe der Türkei bereits eine<br />

weitgehende Integration auf der rechtlichen<br />

Ebene des europäischen Systems ermöglicht.<br />

In gewissem Maße komme diese Integration<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

2<br />

einem Beitritt nahe. Das große politische Ziel<br />

der Türkei, die von dem Willen getragen ist,<br />

diese Entwicklung fortzusetzen, sei jedoch der<br />

Beitritt zur Union.<br />

Heute sei die Türkei ein mehr oder weniger<br />

europäischer Staat, der etwa 70 Millionen<br />

Einwohner zählt. Schätzungen der Vereinten<br />

Nationen zufolge wird die Bevölkerungszahl in<br />

fünf oder sechs Jahren bei 80 Millionen liegen<br />

und im Jahr 2035 100 Millionen erreichen. Die<br />

Türkei wäre also der größte Mitgliedstaat der<br />

Europäischen Union.<br />

Wenngleich die Türkei von der<br />

Bevölkerungszahl her ein großes Land sei, sei<br />

sie doch in wirtschaftlicher Hinsicht ein kleines<br />

Land. Ihr BIP sei mehr oder weniger<br />

vergleichbar mit dem BIP der zehn neuen<br />

Mitgliedstaaten zusammengenommen.<br />

Obwohl derzeit noch viele Schwierigkeiten<br />

einer Lösung bedürfen, insbesondere auf dem<br />

Gebiet der Menschenrechte, geht Edgar<br />

LENSKI nicht auf Details der wirtschaftlichen<br />

und politischen Kriterien, die die Türkei<br />

erfüllen muss, ein, denn all diese Kriterien<br />

werden, wenn die Türkei eines Tages der Union<br />

beitritt, auf alle Fälle erfüllt sein.<br />

Nach vollzogenem Beitritt wäre die Türkei<br />

neben Frankreich, Italien, Deutschland,<br />

Großbritannien, Spanien und Polen eines der<br />

sieben großen EU-Mitgliedstaaten. Welche<br />

Auswirkungen hätte das für die Europäische<br />

Union?<br />

In konstitutioneller Hinsicht<br />

Was das Europäische Parlament betrifft, dem<br />

gemäß der Verfassung 750 Mitglieder<br />

angehören würden, so hätte die Türkei<br />

entweder die größte Zahl von<br />

Europaabgeordneten oder eine Zahl, die nach<br />

der Neuordnung dieser Zahlen der<br />

Deutschlands, Frankreichs und


Großbritanniens vergleichbar wäre. In jedem<br />

Falle würden die türkischen Abgeordneten mit<br />

etwa 80 Europaabgeordneten die größte Delegation<br />

ausmachen.<br />

In der Kommission würde das Rotationssystem<br />

in Kraft treten, und die Türkei würde alle fünf<br />

oder zehn Jahre ein Kommissionsmitglied<br />

stellen. Sollte jedoch der Rat im Jahr 2014<br />

beschließen, das System beizubehalten, das<br />

jedem Mitgliedstaat seinen Kommissar sichert,<br />

so hätte die Türkei ebenfalls einen Kommissar.<br />

Was den Rat betrifft, so wäre die Türkei<br />

ebenso wie die übrigen Mitgliedstaaten<br />

vertreten, das heißt durch einen Vertreter in<br />

jeder Ratsformation, dessen Gewicht nach der<br />

neuen Verfassung von der Bevölkerungszahl<br />

abhängen würde. Da die Bevölkerungszahl der<br />

Türkei entweder die höchste oder die<br />

zweithöchste unter allen Mitgliedstaaten wäre,<br />

hätte das beträchtliche Auswirkungen im Rat.<br />

Hinsichtlich der Haltung der Türkei gegenüber<br />

der europäischen Integration und der<br />

Verfassung hat Edgar LENSKI den Eindruck,<br />

dass in der Türkei nach wie vor sehr<br />

unterschiedliche politische Auffassungen zur<br />

europäischen Integration bestehen. Das Establishment<br />

könne die Bedeutung des europäischen<br />

Projekts nicht ermessen und betrachte die<br />

europäische Integration als eine Art<br />

erweiterter Zollunion. Die Geschäftswelt<br />

ihrerseits betrachte die Europäische Union als<br />

einen interessanten Markt und sei bereit, sich<br />

den wirtschaftlichen Herausforderungen zu<br />

stellen. Nur eine kleine Schicht der<br />

Gesellschaft sehe die europäische Integration<br />

als ein politisches Projekt gemeinsamer Werte<br />

und einer moralischen Gemeinschaft. Was die<br />

Haltung gegenüber der europäischen Integration<br />

betreffe, bleibe also noch viel zu tun, damit<br />

die Türkei und die türkischen Mitglieder in den<br />

verschiedenen Institutionen nicht zum<br />

Auslöser großer Schwierigkeiten in der<br />

Funktionsweise der Organe werden.<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

3<br />

Betrachtet man die konstitutionelle Wirkung<br />

auf die Institutionen und die türkische Haltung<br />

zur europäischen Integration<br />

zusammengenommen, so betreffe die<br />

Hauptschwierigkeit nicht die Kommission – denn<br />

der Kommissar wird in die Struktur des<br />

Kollegiums integriert – und auch nicht das<br />

Parlament – denn die Parlamentarier seien auf<br />

die Fraktionen verteilt, und die türkischen<br />

Mitglieder des Europäischen Parlaments<br />

würden also keinen Block bilden. Nach<br />

Auffassung von Edgar LENSKI werde das<br />

Problem sich im Wesentlichen auf der Ebene<br />

des Rates stellen.<br />

Wie sieht nun Europa die Türkei? Nach<br />

Auffassung von Edgar LENSKI bestehe im<br />

Gegensatz zu der Art moralischer<br />

Verpflichtung zur Beendigung des kalten<br />

Krieges, die die Union der 15 gegenüber den<br />

zehn neuen Mitgliedstaaten empfand, keinerlei<br />

moralisches Gefühl gegenüber dem Beitritt<br />

der Türkei. Das könnte sich auf eine eventuelle<br />

Erweiterung um die Türkei auswirken. Vielmehr<br />

bestehe der diffuse Eindruck, dass es eine<br />

Verpflichtung gebe, ein früher gegebenes<br />

Versprechen einzulösen.<br />

In wirtschaftlicher Hinsicht<br />

Die finanziellen Auswirkungen des türkischen<br />

Beitritts werden gigantisch sein: selbst wenn<br />

die gemeinsame Agrarpolitik und die<br />

Regionalpolitik in ihrer gegenwärtigen Form<br />

nicht verlängert werden, wird die Türkei<br />

enorme Auswirkungen auf diese Politikfelder<br />

haben. Die türkische Wirtschaft sei nicht sehr<br />

entwickelt, abgesehen von dem gewissen<br />

Wachstum, das zu verzeichnen sei und den<br />

derzeit positiven Wirtschaftsindikatoren, sei<br />

doch ihr wirtschaftliches Gewicht nach wie vor<br />

sehr gering.


Hinsichtlich des Arbeitsmarktes können die<br />

Auswirkungen des türkischen Beitritts unter<br />

zwei Gesichtspunkten gesehen werden.<br />

Das Assoziierungsabkommen, die<br />

Zusatzprotokolle und die verschiedenen<br />

Abkommen auf der Ebene des Rates hätten<br />

die rechtliche Integration der auf dem<br />

europäischen Arbeitsmarkt anwesenden<br />

türkischen Arbeitnehmer bereits entwickelt.<br />

Diesbezüglich werde der Beitritt der Türkei<br />

also keine nennenswerten Auswirkungen haben.<br />

Andererseits hält Edgar LENSKI die<br />

Befürchtung, dass der Arbeitsmarkt der<br />

Mitgliedstaaten durch eine neue türkische<br />

Zuwanderungswelle überschwemmt werden<br />

könnte, nicht für gerechtfertigt (nach einigen<br />

Berechnungen wurde ein Zustrom von bis zu<br />

vier Millionen neuen türkischen Arbeitnehmern<br />

in die derzeitigen Mitgliedstaaten<br />

angekündigt). Wenn die Türkei der Union<br />

beitrete, so werde sie in gewissem Maße ihre<br />

wirtschaftliche Situation stabilisiert haben.<br />

Dieses Potenzial von vier Millionen<br />

Zuwanderern scheine also übertrieben. Trotz<br />

allem könne dies jedoch einen gewissen Druck<br />

auf die Anpassung der Arbeitsgesetzgebung<br />

ausüben, um dem gewaltigen<br />

Wettbewerbsdruck, der von der Türkei<br />

ausgehe, Rechnung zu tragen.<br />

Die allgemeinen wirtschaftlichen Auswirkungen<br />

des türkischen Beitritts werden für die<br />

türkische Wirtschaft, die dann leichter Zugang<br />

zum EU-Markt hätte, sehr groß sein.<br />

Umgekehrt sei in der Türkei ein großes<br />

Investitionspotenzial für die europäischen<br />

Unternehmen zu erwarten.<br />

Die mögliche Einleitung von Verhandlungen mit<br />

der Europäischen Union habe in der Türkei einen<br />

starken Druck in Richtung auf die Umsetzung<br />

politischer und wirtschaftlicher Reformen<br />

ausgelöst. Diese Reformen seien absolut<br />

notwendig. Sie hätten nicht nur mit der<br />

Perspektive des Beitritts zur Europäischen<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

4<br />

Union zu tun. Der EU-Beitritt sei nur der<br />

Katalysator.<br />

Als Schlussfolgerung unterstreicht Edgar<br />

LENSKI, dass, falls die Kommission der<br />

Auffassung sein sollte, dass die politischen<br />

Kriterien hinreichend eingehalten werden, was<br />

aus seiner Sicht nicht der Fall sei, das<br />

Europäische Parlament die Entwicklung der<br />

Verhandlungen genauestens verfolgen sollte.<br />

Dabei seien nicht ausschließlich die politischen<br />

und wirtschaftlichen Kriterien zu<br />

berücksichtigen, das würden die Kommission<br />

und die GD Erweiterung ohnehin tun. Besondere<br />

Aufmerksamkeit gebühre den politischen<br />

Vorstellungen über die europäische Integration<br />

in der Türkei und der allgemeinen Haltung<br />

hinsichtlich der Integration.<br />

Abschließend erinnert Edgar LENSKI daran,<br />

dass eines der Kriterien von Kopenhagen<br />

besage, dass die Europäische Union in der Lage<br />

sein müsse, die neu beitretenden Länder zu<br />

akzeptieren und einzugliedern. Wenn es nun<br />

der Europäischen Union gelungen sei, zehn<br />

Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa<br />

sowie Malta aufzunehmen, so stelle sich die<br />

Frage, ob sie in der Lage sei, nach dieser<br />

Erweiterung noch einen weiteren Mitgliedstaat<br />

wie die Türkei zu verkraften. Edgar LENSKI<br />

fürchtet, das hoch entwickelte politische und<br />

rechtliche System, wie es die Europäische<br />

Union darstelle, könne zusammenbrechen,<br />

wenn man einen Mitgliedstaat akzeptiere, der<br />

nicht in der Lage wäre, die aus der EU-<br />

Mitgliedschaft erwachsenden Verpflichtungen<br />

zu erfüllen.


Alexandre DEL VALLE, Rechercheur;<br />

Edgar LENSKI, Lehrbeauftragter<br />

Für den französischen Wissenschaftler<br />

Alexandre DEL VALLE wirft der Beitritt der<br />

Türkei zur Europäischen Union zwangsläufig<br />

dreierlei große Probleme auf:<br />

Geopolitische und sicherheitspolitische<br />

Probleme:<br />

Die Behauptung, dass die Türkei in Europa eine<br />

Lösung gegen den Islamismus oder den<br />

Terrorismus wäre, dürfe nicht für bare Münze<br />

genommen werden.<br />

Alexandre Del Valle erinnert diesbezüglich<br />

daran, dass die Türkei eine gemeinsame Grenze<br />

mit dem Iran der Mullahs, mit Syrien, das mit<br />

der Hizbollah verbunden ist, mit dem Irak des<br />

antiwestlichen Jihad der Al Qaida, mit<br />

Aserbaidschan und Georgien als<br />

Durchgangsstationen der islamistischen<br />

Terroristen des tschetschenischen Jihad, mit<br />

den geopolitisch instabilsten Regionen der Welt<br />

im Kaukasus und eine virtuelle kulturelle<br />

Grenze mit den 200 Millionen turksprachigen<br />

Menschen, die im Übrigen im Beitritt der<br />

Türkei eine Büchse der Pandora für die Öffnung<br />

der Europäischen Union für das gesamte<br />

turksprachige Zentralasien, das bis nach<br />

Nordchina reicht, sehen.<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

5<br />

Der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union<br />

würde zugleich die Büchse der Pandora der<br />

Erweiterung auf die islamische Welt öffnen:<br />

Tunesien, Algerien (wenn es einst ein wenig<br />

mehr befriedet sein werde) und Marokko<br />

würden darin ebenfalls einen ersten Schritt in<br />

Richtung auf ihre eigene Kandidatur sehen.<br />

Wenn man eines Tages 100 Millionen Türken in<br />

der Europäischen Union akzeptiert, warum dann<br />

nicht die sechs Millionen Tunesier oder die<br />

25 Millionen Algerier und Marokkaner?<br />

Der Beitritt der Türkei zur Europäischen Union<br />

würde für die EU ein bislang nie dagewesenes<br />

geopolitisches und ein Grenzproblem mit sich<br />

bringen. Aus der Sicht von Alexandre Del Valle<br />

ist es bedauerlich, dass diese Debatte über<br />

die Grenzen Europas niemals stattgefunden<br />

hat. Europa handle mehr und mehr wie eine Art<br />

„rechtliches Empire“, das zwar demokratisch,<br />

aber doch ein Empire sei. Die Definition des<br />

Begriffs Empire laute: unbeschränkte nicht<br />

definierte Ausdehnung ohne feste Grenzen.<br />

Der große Vorwurf derer, die für den Beitritt<br />

der Türkei zu Europa sind, betreffe das Risiko<br />

für Europa, als ein christlicher Club<br />

wahrgenommen zu werden. Der legitime Wille,<br />

nicht als christlicher Club oder nicht rassistisch<br />

zu erscheinen, dürfe jedoch nicht dazu führen,<br />

der Debatte über die Grenzen Europas aus<br />

dem Wege zu gehen.<br />

Die Behauptung, eine gemäßigte islamistische<br />

Türkei sei eine Lösung gegen den Islamismus,<br />

stellt ebenfalls ein ernstes Problem dar. Die<br />

radikalsten islamistischen Organisationen der<br />

Welt seien nicht nur in der Türkei stark<br />

verankert, sondern vor allem im Osten der<br />

Türkei, dem anatolischen Landesteil und<br />

Kurdistan.<br />

Es besteht eine direkte Verbindung zwischen<br />

den großen, Al Qaida nahe stehenden<br />

Organisationen in Irakisch-Kurdistan und den<br />

islamistischen Organisationen in Türkisch-


Kurdistan. Geopolitisch gesehen gäbe es einen<br />

direkten Übergang, der bald keine Grenze<br />

mehr haben werde, zwischen der Europäischen<br />

Union und den gefährlichsten islamistischen<br />

terroristischen Hochburgen der Welt.<br />

Die geopolitischen und sicherheitspolitischen<br />

Probleme bleiben also bestehen, und<br />

kategorisch zu behaupten, dass die Türkei eine<br />

Lösung gegen den Terrorismus und den<br />

Islamismus sei, sei nichts als eine bloße<br />

Behauptung, die längst nicht bewiesen sei.<br />

Völkerrechtliche und europarechtliche<br />

Probleme und Probleme der<br />

Rechtsstaatlichkeit<br />

Aus völkerrechtlicher Sicht erinnert<br />

Alexandre Del Valle daran, dass die Türkei<br />

trotz des Annan-Plans weiterhin die<br />

Marionettenrepublik in Nordzypern anerkennt,<br />

die 37 % des Territoriums der Insel besetzt<br />

hält. Diese Situation stelle einen nie<br />

dagewesenen Fall dar, denn diese Republik im<br />

Norden werde nicht nur durch die<br />

internationale Gemeinschaft nicht anerkannt,<br />

sondern die Türkei wie auch der türkische Teil<br />

Zyperns erkennen absolut nicht die Einheit an,<br />

die gerade der Europäischen Union beigetreten<br />

ist, die Republik Zypern, die international<br />

anerkannt ist und lediglich durch die Türkei in<br />

Frage gestellt wird.<br />

Kommissar Verheugen habe unlängst erklärt,<br />

dass die Nichtanerkennung Zyperns durch die<br />

Türkei kein Hinderungsgrund für die Aufnahme<br />

von Verhandlungen sein dürfe. Diese<br />

Behauptung sei, so Alexandre Del Valle, vom<br />

Standpunkt der europäischen<br />

Rechtsstaatlichkeit äußerst schwerwiegend.<br />

Die Europäische Union sei eine Gemeinschaft,<br />

und man könne sich nicht aussuchen, einer<br />

Gemeinschaft à la carte beizutreten, indem<br />

man einige ihrer Mitglieder akzeptiert und ein<br />

anderes ausschließt. Zypern sei als einziger<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

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6<br />

legaler Vertreter, als politische und rechtliche<br />

Einheit Zypern anerkannt, und als solche sei<br />

es der Europäischen Union beigetreten.<br />

Fragen der Moral und der Werte<br />

Wie soll man es in der Europäischen Union, die<br />

gewiss kein christlicher Club ist und es auch<br />

nicht sein soll, die aber mehrheitlich aus<br />

Ländern mit christlicher und katholischer Tradition<br />

besteht, hinnehmen, dass beispielsweise<br />

heute in der Türkei, einem so genannten<br />

laizistischen und pluralistischen Land, die<br />

katholische Kirche noch immer keinen Status<br />

besitzt und noch immer nicht das Recht hat,<br />

Geld zu verlangen oder auch nur privat Geld<br />

zu sammeln, und sei es für die Renovierung<br />

einer Kirche?<br />

Wie kann man von einem laizistischen Staat<br />

sprechen, wenn 70 % der Frauen verschleiert<br />

sind, wenn der Staat 90 000 Imame und<br />

Tausende von Moscheen unterhält, wenn dieser<br />

gleiche Staat die Religion im Personalausweis<br />

vermerkt und Nichtmoslems die Tätigkeit im<br />

höheren öffentlichen und militärischen Dienst<br />

untersagt?<br />

Alexandre Del Valle hebt hervor, dass die<br />

Türkei ein innerlich außerordentlich stark<br />

zerrissenes Land sei.<br />

Aus geopolitischer Sicht gebe es zwei Länder<br />

in der Türkei. Einerseits eine große islamischasiatische<br />

Türkei, die historisch gesehen 80 %<br />

der Bevölkerung und 85 % des türkischen<br />

Territoriums ausmacht und äußerst<br />

unterschiedliche Sitten aufweist, mit<br />

Traditionen der Ehrenverbrechen und einem<br />

Frauenstatus, der dem im Iran und in den<br />

Golfstaaten vergleichbar ist. Andererseits<br />

eine sehr europäische Türkei auf 3-4 % des<br />

Territoriums, mit sehr modernen Sitten, wo<br />

ehemalige Griechen, oberflächlich islamisierte<br />

ehemalige Armenier oder ehemalige Albaner<br />

leben, deren Sitten sehr viel stärker


europäisch geprägt sind, die wohlhabender sind<br />

und sich zu einer Form von Laizität bekennen.<br />

Aber diese Türkei wird gegenwärtig durch die<br />

an der Macht befindliche islamistische Türkei<br />

bekämpft.<br />

Aus der Sicht von Alexandre Del Valle spielt<br />

Brüssel mit der Forderung nach dem Abbau<br />

der politischen Macht der Armee als dem<br />

einzigen Garanten für die prowestliche<br />

laizistische türkische Ausrichtung den<br />

Islamisten in Ankara in die Hände.<br />

Wenn sie entmilitarisiert würde, und das ist<br />

das Ziel von Premierminister Erdogan, der von<br />

der radikalsten islamistischen Strömung<br />

herkommt, würde die Türkei zunehmend<br />

reislamisiert. Wer behaupte, die an der Macht<br />

befindlichen türkischen Islamisten seien<br />

„gemäßigt“, vergesse die Worte von<br />

Premierminister Erdogan oder seinem<br />

Außenminister, dem Pro-Saudi Abdullah Gül,<br />

der bei einer Veranstaltung der deutschen<br />

SPD die Polygamie rechtfertigte. Kürzlich<br />

wollten sie nicht nur den Ehebruch unter<br />

Strafe stellen, sondern das Gesetz über den<br />

Ehebruch im Strafgesetzbuch sah auch vor,<br />

jeden Jugendlichen unter 18 Jahre, der beim<br />

Flirt überrascht wird, zu acht Monaten<br />

Gefängnis zu verurteilen.<br />

Die Probleme der Moral: Die Europäische Union<br />

sei zwar ein Raum des Friedens und der<br />

Demokratie, aber zivilisatorisch sei sie<br />

(natürlich „vorrangig“) mit den Völkern mit<br />

jüdisch-christlicher Kultur verbunden, die<br />

durch das in Europa beheimatete griechischlateinische<br />

Denken geprägt seien. Da müssten<br />

schon viele Völker vor der Türkei<br />

demokratisiert werden, denn die Ukraine,<br />

Weißrussland und Russland seien sehr viel<br />

europäischer.<br />

In der Türkei sei das Problem anders gelagert.<br />

Sie wurde „gesäubert“ und ist heute zu 99 %<br />

moslemisch seit dem Völkermord an<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

7<br />

1,5 Millionen armenischen und assyrischchaldäischen<br />

Christen (1916) und seit der<br />

Vertreibung von zwei Millionen Griechen im<br />

Jahr 1922. Diese Verbrechen wurden nicht nur<br />

niemals aufgearbeitet, sondern die Negierung<br />

des Völkermords werde sogar in der Schule<br />

gelehrt. Das sei nicht bloßes Vergessen,<br />

sondern da werde staatlich verordneter<br />

Negationismus gelehrt, der noch weiter gehe<br />

als der Negationismus der Shoah in Europa,<br />

denn es sei einfach eine Verdrehung der<br />

Tatsachen. Die vom Bildungsministerium<br />

verteilten Schulbücher klagten die Armenier<br />

an, schlechte christliche Bürger zu sein, die die<br />

türkischen Frauen vergewaltigten, die mit<br />

Russland kollaborierten und „Völkermord“ an<br />

Hunderttausenden Türken verübt hätten.<br />

Ein weiteres Detail, das nach Meinung von<br />

Alexandre Del Valle einige Beobachter hätte<br />

aufschrecken müssen: Herr Erdogan<br />

persönlich habe unlängst ein Recht auf<br />

Einmischung innerhalb des griechischen<br />

Hoheitsgebiets im Namen der so genannten<br />

griechischen Moslems, die durch den<br />

griechischen Staat verfolgt würden,<br />

gefordert. Hingegen wisse jeder kundige<br />

Beobachter sehr gut, dass die Moslems in<br />

Griechenland einen Autonomiestatus gegenüber<br />

der Sharia und einen in Europa einmaligen<br />

persönlichen Status genießen.<br />

Wie Alexandre Del Valle erklärt, wäre es aus<br />

seiner Sicht ein schwerwiegender Fehler für<br />

die Interessen der Europäer, die Interessen<br />

der Anhänger der Laizität in der Türkei sowie<br />

für die grundsätzlichen Fragen der<br />

Grundwerte der Europäischen Union, wenn man<br />

den Beitritt eines Landes akzeptierte, das<br />

staatlichen Negationismus betreibt und größte<br />

Schwierigkeiten hat, auch nur die geringste<br />

selbstkritische Prüfung vorzunehmen.


José Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />

NEYRA, EVP-ED-Obmann im Ausschuss für<br />

auswärtige Angelegenheiten<br />

José-Ignacio SALAFRANCA SÀNCHEZ-<br />

NEYRA (Obmann der EVP-ED im Ausschuss<br />

für auswärtige Angelegenheiten), hält es bei<br />

so einem heiklen Thema für wichtig, dass die<br />

Parlamentarier den von der internationalen<br />

Gemeinschaft ausgesandten Signalen<br />

besondere Aufmerksamkeit schenken.<br />

Eines dieser Signale laute, dass man das<br />

Schwergewicht nicht nur auf Wissen und<br />

Kenntnisse legen dürfe, sondern auch auf den<br />

Dialog als Form des fruchtbaren Austauschs.<br />

Ein anderes von der Gesellschaft ausgesandtes<br />

Signal erinnere in diesem Jahr der Erweiterung<br />

um zehn neue Mitgliedstaaten daran, dass die<br />

Freiheit die ethische Standarte der<br />

Europäischen Union sei.<br />

In diesem Geiste des Dialogs und der Freiheit<br />

äußert Jóse Ignacio SALAFRANCA<br />

SÁNCHEZ-NEYRA seine Überlegungen zu der<br />

äußerst komplexen Frage des Beitritts der<br />

Türkei.<br />

Zum Verfahren ist José Ignacio<br />

SALAFRANCA SÁNCHEZ-NEYRA der<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

8<br />

Auffassung, dass die EVP-ED-Fraktion, die bis<br />

vor kurzem Fraktion der Christdemokraten<br />

genannt wurde, keine dogmatische Haltung<br />

beziehen darf. Man müsse zunächst die<br />

Prämissen aufstellen und erst dann<br />

Schlussfolgerungen ziehen, und nicht zuerst von<br />

den Schlussfolgerungen ausgehen, um dann zu<br />

überlegen, wie man auf dieser Grundlage<br />

Prämissen aufstellen kann.<br />

Dann müsse die Debatte rationell und objektiv<br />

geführt werden.<br />

Hierzu ruft er einige wichtige Fakten in<br />

Erinnerung: der Europäische Rat von Helsinki<br />

gestattete der Türkei, den Antrag auf den<br />

Beitritt zu stellen. Die Kommission werde im<br />

Oktober ihre Stellungnahme zur Aufnahme von<br />

Verhandlungen abgeben und das Europäische<br />

Parlament werde darüber im Plenum beraten.<br />

José Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />

NEYRA hat sich auf der erweiterten<br />

Vorstandssitzung des Ausschusses für<br />

auswärtige Angelegenheiten sehr dafür<br />

eingesetzt, der EVP-ED-Fraktion diesen<br />

äußerst wichtigen Bericht zukommen zu lassen.<br />

Nach Vorlage des Berichts im Ausschuss für<br />

auswärtige Angelegenheiten und seiner<br />

Verabschiedung im Plenum werde dem<br />

Europäischen Rat eine Entschließung vorgelegt.<br />

Natürlich könnten im Anschluss daran einige<br />

Mitgliedstaaten ein Referendum für eine positive<br />

Entscheidung bezüglich des Abschlusses<br />

der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ins<br />

Auge fassen.<br />

Um die Debatte voranzubringen, wirft José<br />

Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-NEYRA<br />

einige sachdienliche Fragen auf.<br />

Kann man einem Land im Falle der Türkei den<br />

Kandidatenstatus gewähren und zugleich<br />

behaupten, die Beitrittsverhandlungen mit<br />

diesem Land würden niemals beginnen?<br />

Da die Europäische Union eine<br />

Rechtsgemeinschaft sei, deren einmal


getroffene Entscheidungen auch eingehalten<br />

werden müssten, müsse die Antwort nach<br />

Auffassung von José Ignacio SALAFRANCA<br />

SÁNCHEZ-NEYRA von der Einhaltung und<br />

Achtung der Bedingungen und Kriterien von<br />

Kopenhagen abhängig gemacht werden.<br />

Kann man von einem Land verlangen, ein loyaler<br />

Verbündeter des Westens innerhalb des<br />

Atlantischen Bündnisses zu sein und große<br />

Risiken an seinen Grenzen und in der inneren<br />

Situation auf sich zu nehmen, ohne ihm das<br />

Recht auf Mitgliedschaft in der Europäischen<br />

Union einzuräumen? Lässt sich im Übrigen die<br />

von den gemäßigten Islamisten beschworene<br />

westliche Orientierung der Türkei bestätigen?<br />

Hierzu hebt José Ignacio SALAFRANCA<br />

SÁNCHEZ-NEYRA hervor, dass der türkische<br />

Premierminister Recep Tayyip Erdogan mit<br />

seiner Botschaft auf der Konferenz der<br />

Fraktionsvorsitzenden versucht habe, den<br />

Nachweis zu erbringen, dass seine Partei, die<br />

AKP, auf den Westen gesetzt habe und dass<br />

er von seinen islamistischen Wurzeln her<br />

versuche, zwischen der privaten und der<br />

öffentlichen Sphäre zu unterscheiden. Das<br />

Schwergewicht sei auf die radikalen<br />

Islamisten gelegt worden, die versuchten, mit<br />

einer Serie blutiger Attentate den laizistischen<br />

Staat zu Fall zu bringen und eine islamistische<br />

Republik in der Türkei zu errichten. Sollte man,<br />

um diese Fehlentwicklung zu vermeiden, der<br />

Türkei den Beitritt zur Europäischen Union<br />

gestatten? Das sei eine vollkommen legitime<br />

Frage, über die es nachzudenken gelte.<br />

Ein weiteres entscheidendes Element bei der<br />

Stellungnahme zu dem türkischen Problem sei<br />

die Frage, ob die europäische Öffentlichkeit<br />

heute bereit sei, die Türkei aufzunehmen.<br />

Die Europäische Union sei eine<br />

Rechtsgemeinschaft, und die Regeln müssten<br />

eingehalten werden. Der Beitritt der Türkei<br />

müsste einstimmig gebilligt werden. Wenn ein<br />

Mitgliedstaat dagegen sei, könne sie nicht<br />

Mitglied werden.<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

9<br />

Abschließend äußert José Ignacio<br />

SALAFRANCA SÁNCHEZ-NEYRA die<br />

Auffassung, dass man in erster Linie<br />

herausbekommen müsse, was die Europäische<br />

Union wirklich wolle, und analysieren müsse, wo<br />

das Interesse der Europäischen Union liege.<br />

In den vorangegangenen Redebeiträgen habe<br />

man vor allem auf die besonders negativen<br />

Konsequenzen dieses Beitritts verwiesen,<br />

jedoch keine Bewertung des allgemeinen<br />

Interesses der Europäischen Union<br />

vorgenommen. Dort müsse jedoch der<br />

Schwerpunkt der Debatte liegen.<br />

Zum Zeitpunkt der Beschlussfassung müsse<br />

man die Konsequenzen dieses Beitritts<br />

abwägen. Bevor man dies tue, müsse man sich<br />

jedoch fragen, wo die wahren Interessen der<br />

Europäischen Union liegen. Auf der Grundlage<br />

all dieser Elemente, einschließlich des Berichts<br />

der Europäischen Kommission, einschließlich des<br />

Inhalts dieser Debatten und der<br />

nachfolgenden Debatten könne sich das<br />

Europäische Parlament eine Meinung bilden und<br />

diese im Interesse der gesamten Europäischen<br />

Union verteidigen.<br />

Jacques TOUBON (stellvertretender<br />

Vorsitzender der Delegation im Gemischten<br />

Parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei),<br />

erinnert daran, dass er im Juni 2000 zusammen<br />

mit dem ehemaligen französischen<br />

Premierminister Alain Juppé einen Entwurf für<br />

eine Europäische Verfassung vorgelegt habe,<br />

der bereits die Notwendigkeit hervorhob, die<br />

Grenzen Europas festzulegen. Für die Türkei<br />

habe man nicht einen Status als Mitglied der<br />

Europäischen Union vorgeschlagen, sondern<br />

den einer privilegierten Partnerschaft.<br />

Wenn die EVP-ED-Fraktion heute überlege, wo<br />

das Interesse der Europäischen Union liege,<br />

so wünsche sie, dass die Europäische Union eine<br />

politische Union sein möge, die sich unter<br />

Achtung der nationalen Souveränitäten


organisiert und zu einem bedeutenden Partner<br />

auf der internationalen Bühne wird.<br />

Jacques TOUBON, erster stellvertretender<br />

Vorsitzender der Delegation im gemischten<br />

parlamentarischen Ausschuss EU-Türkei<br />

Für Jacques TOUBON steht der Beitritt der<br />

Türkei nicht im Einklang mit diesem<br />

europäischen Projekt, und dieser Beitritt wäre<br />

nicht gut für die Europäische Union, denn er<br />

würde im Gegenteil die Entwicklung zu einem<br />

offenen und verschwommenen Europa nach sich<br />

ziehen (wo will man einen Schlusspunkt für die<br />

Erweiterung Europas setzen, wenn die Türkei<br />

erst einmal dazu gehört?); ein schwaches, weil<br />

übervolles Europa (de facto würden damit<br />

mehr Menschen der EU beitreten als mit den<br />

im Mai 2004 beigetretenen zehn neuen Staaten<br />

insgesamt); ein Europa ohne echte Macht nach<br />

innen und nach außen.<br />

In Wahrheit käme die Türkei in der<br />

Europäischen Union der Idee eines Europas der<br />

Subsidiarität ohne echte politische Union gleich<br />

und entspräche nicht dem Ziel eines Europas<br />

der Integration unter Achtung der<br />

Souveränität der Staaten, das von der EVP auf<br />

ihrem Kongress von Estoril und von den<br />

Vertretern der EVP während des gesamten<br />

Konvents vertreten wurde – einer Idee, die<br />

letztlich im Entwurf des<br />

Verfassungsvertrages, welcher jetzt den<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

10<br />

Staats- und Regierungschefs zur Unterschrift<br />

vorliegt, gesiegt habe.<br />

Zu den Argumenten, die häufig zugunsten des<br />

türkischen Beitritts vorgebracht werden,<br />

unterstreicht Jacques TOUBON, dass das Argument,<br />

man müsse ein 1963 gegebenes<br />

Versprechen einlösen, ihm nicht stichhaltig<br />

erscheine. Damals sei es ja darum gegangen,<br />

dass die Türkei dem Gemeinsamen Markt, der<br />

Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft,<br />

beitritt. Mit dem Vertrag von 1995 und der<br />

seit 1999 vollendeten Zollunion sei diese<br />

Verpflichtung bereits erfüllt.<br />

Es sei hingegen etwas anderes, Mitglied der<br />

politischen Union zu sein, die Europa seit 1995<br />

geworden sei, und dessen, was sie mit der<br />

Verfassung werden solle. Sich auf die<br />

Vergangenheit zu beziehen, sei nicht die<br />

richtige Methode, um die gegenwärtige Situation<br />

und vor allem das Projekt für Europa in<br />

den nächsten Jahren zu meistern.<br />

Manche Leute behaupten, die Integration der<br />

Türkei würde es ermöglichen, eine Brücke<br />

zwischen dem Orient und dem Islam zu<br />

schlagen. Die Türkei befindet sich jedoch in<br />

einer besonders konfliktgeladenen<br />

geopolitischen Situation. Im Konflikt mit den<br />

Kurden und natürlich als Verbündete der USA<br />

und Israels in Schwierigkeiten mit den Persern<br />

im Iran und mit den arabischen Ländern scheint<br />

sie derzeit nicht gerade ein bindendes Element<br />

im Nahen und Mittleren Osten zu sein.<br />

Aus der Sicht von Jacques TOUBON wäre es<br />

von diesem Gesichtspunkt her eher<br />

angebracht, anstatt die Türkei zu Europa hin<br />

zu ziehen, indem man sie in gewisser Weise von<br />

der sie umgebenden Region abhebt, ihr im<br />

Gegenteil eine gewisse politische Autonomie zu<br />

verleihen, die es ihr ermöglicht, der gemäßigte<br />

und friedliche Pfeiler eines Gebiets zu werden,<br />

das vom Schwarzen Meer bis zum Kaukasus<br />

und zum Nahen Osten reicht.


Zugunsten der Integration der Türkei wird<br />

noch ein anderes Argument vorgebracht,<br />

nämlich, dass sie der beste Verbündete des<br />

Westens sei. Gewiss ist die Türkei der<br />

Verbündete des Westens, aber muss denn die<br />

Europäische Union mit der NATO<br />

gleichgesetzt werden? Soll die GASP eine<br />

einfache Kopie der Politik der Atlantischen<br />

Allianz auf europäischem Territorium sein?<br />

Wenn die Verfassung die Instrumente einer<br />

gemeinsamen Außen- und Verteidigungspolitik<br />

vorgesehen hat, so weil diese eine eigene Politik<br />

der Europäischen Union sein soll.<br />

Jacques TOUBON besteht auf der<br />

Notwendigkeit, die Vorteile und die Nachteile<br />

des türkischen Beitritts abzuwägen, und<br />

erinnert diesbezüglich an drei unbestreitbare<br />

Fakten:<br />

Das Gewicht der Türkei in der Europäischen<br />

Union:<br />

Prozentual zur europäischen Bevölkerung<br />

macht die Türkei heute 13 %, Deutschland 15 %<br />

und Frankreich etwas weniger als 11 % aus. In<br />

20 Jahren wird sich ein Umschwung vollziehen<br />

und die Türkei wird 15 %, Deutschland 14 %<br />

und Frankreich gut 11 % ausmachen.<br />

Demzufolge wird sich die Situation der<br />

europäischen Institutionen, insbesondere des<br />

Ministerrates, vollkommen ändern.<br />

Die Kosten für die gemeinsame Agrarpolitik:<br />

Einige Prognosen gehen von Kosten in Höhe von<br />

11,3 Mrd. Euro aus, das heißt deutlich mehr als<br />

die Kosten für die Gemeinsame Agrarpolitik<br />

im Ergebnis der Erweiterung um alle zehn<br />

neuen Mitgliedstaaten. Die gleiche Tendenz sei<br />

auch für die Regionalpolitik und die<br />

Strukturfonds abzusehen.<br />

Die größten Schwierigkeiten betreffen die<br />

Demokratie und die Menschenrechte:<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

11<br />

Die Affäre um das Strafgesetzbuch, von der<br />

Kommissar Verheugen heute Vormittag sagte,<br />

sie sei geregelt, da im Prinzip das türkische<br />

Parlament am kommenden Sonntag den neuen<br />

Entwurf des Strafgesetzbuchs erörtern<br />

werde, darf uns nicht den Blick verstellen. Die<br />

Situation hinsichtlich der Demokratie und der<br />

Menschenrechte sei weitaus komplexer und<br />

müsse unter ganz anderen Gesichtspunkten<br />

betrachtet werden.<br />

Nach den Worten von Jacques TOUBON sollte<br />

man also die Scheinheiligkeit beiseite lassen<br />

und die Türken für das nehmen, was sie sind,<br />

das heißt, sie gehören wahrscheinlich zu den<br />

intelligentesten Völkern und Politikern Europas<br />

und Asiens; und mit ihnen einvernehmlich eine<br />

neue und spezifische Lösung finden, um enge<br />

und organische Beziehungen zwischen der<br />

modernen Türkei und der Europäischen Union,<br />

wie sie sich derzeit gestaltet, herzustellen.<br />

Es sollte dabei um eine echte spezifische<br />

Partnerschaft gehen, in der beispielsweise die<br />

Zollunion, die heute völlig unvollkommen, weil<br />

ungerecht ist, ausgewogen gestaltet würde.<br />

Gemäß Artikel 13 des Vertrages über die<br />

Zollunion begnügt sich die Türkei derzeit<br />

damit, sich den Tarifänderungen der<br />

Europäischen Union anzupassen. Künftig sollte<br />

die Türkei sich an der Festlegung des<br />

gemeinsamen Außentarifs in einer völlig<br />

umgestalteten Zollunion beteiligen können, die<br />

zu einer echten Wirtschaftspartnerschaft<br />

würde. Eine ähnliche Situation müsste<br />

hinsichtlich der Kontrolle der<br />

Migrationsströme, der Sicherheit des<br />

Seeverkehrs und vor allem der Sicherheit des<br />

Mineralöltransports und der Überwachung der<br />

Grenzen innerhalb und außerhalb des Rahmens<br />

der NATO hergestellt werden.<br />

Abschließend äußert Jacques TOUBON die<br />

Überzeugung, dass eine solche privilegierte<br />

Partnerschaft für die Türkei, aber auch für


die Europäische Union günstiger wäre als die<br />

Illusion eines Beitritts.<br />

Im Rahmen der Aussprache legt Ioannis<br />

VARVITSIOTIS, Leiter der griechischen Delegation<br />

der EVP-ED-Fraktion die<br />

wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Parameter<br />

des EU-Beitritts der Türkei aus der<br />

Sicht Griechenlands dar.<br />

Die Geografie und die Geschichte haben die<br />

Beziehungen zwischen Griechenland und der<br />

Türkei geprägt. Ihre Beziehungen entwickelten<br />

sich unter dem Einfluss der geografischen<br />

Nähe und der historischen Bedingungen. Es gab<br />

eine Fülle von Konflikten zwischen ihnen.<br />

Deshalb sei aus offenkundigen Gründen die<br />

europäische Orientierung der Türkei für<br />

Griechenland eine strategische Entscheidung.<br />

Eine Öffnung der Türkei zu Europa hin werde<br />

eine Normalisierung der bilateralen<br />

Beziehungen sowie die Zusammenarbeit und<br />

die Festigung eines Klimas des Friedens, der<br />

Sicherheit und der Entspannung in dieser Region<br />

der Welt fördern. Sie werde zugleich die<br />

Kräfte der Modernisierung in der Türkei<br />

stärken.<br />

Jedoch verdiene ein Aspekt besondere<br />

Aufmerksamkeit: die Türkei müsse die<br />

Menschenrechte, wie die Minderheitenrechte<br />

und die Religionsfreiheit voll respektieren.<br />

Diesbezüglich verweist Ioannis<br />

VARVITSIOTIS insbesondere auf die<br />

griechische Minderheit.<br />

Ioannis VARVITSIOTIS hebt besonders<br />

hervor, dass die Erfüllung der Kriterien von<br />

Kopenhagen die Voraussetzung für die<br />

Aufnahme von Verhandlungen zwischen der<br />

Türkei und der Europäischen Union sei. Zu<br />

diesem Aspekt sehe er der Mitteilung der<br />

Kommission mit großem Interesse entgegen.<br />

Im Zusammenhang mit der noch immer<br />

ungelösten Zypernfrage vertritt Ioannis<br />

VARVITSIOTIS die Auffassung, dass die<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

12<br />

Chancen für eine Verständigung mit einer<br />

demokratischen Türkei, die das Völkerrecht<br />

und den acquis communautaire achtet, größer<br />

seien.<br />

Antonio TAJANI, Leiter der italienischen Delegation<br />

der EVP-ED-Fraktion unterstreicht,<br />

dass es heute darum gehe, ein Datum für die<br />

Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei<br />

festzulegen, und nicht über den sofortigen<br />

Beitritt der Türkei zur Europäischen Union zu<br />

beschließen.<br />

Die Verhandlungen könnten langwierig sein, und<br />

sie könnten auch zu einem negativen Ergebnis<br />

führen, wie dies bei Bulgarien und Rumänien<br />

der Fall war, deren EU-Beitritt vertagt wurde,<br />

da die Voraussetzungen nicht erfüllt waren.<br />

Herzstück des Problems müssten die<br />

Interessen der Europäischen Union sein, aber<br />

auch die Perspektiven, die sich ihr eröffnen.<br />

Die Europäische Union ist keine rein<br />

geografische Einheit. Nach Einschätzung von<br />

Johannes Paul II, der ein großer Europäer sei,<br />

müsse Europa Spiegelbild von Ideen und<br />

Kulturen sein. Unter diesem Blickwinkel müsse<br />

man das Problem betrachten. Sollte man die<br />

Tür vor der Türkei verschließen? Welche<br />

Konsequenzen hätte das? Welche Vorteile<br />

brächte das? Wo lägen die Gefahren in einem<br />

solchen Falle?<br />

Nach dem Völkerrecht müssen einmal<br />

eingegangene Verpflichtungen eingehalten<br />

werden. In diesem Geiste sollten die<br />

Verhandlungen eröffnet werden, denn die Tür<br />

vor der Türkei zu verschließen, würde<br />

bedeuten, die von der Türkei eingegangenen<br />

Verpflichtungen, unsere Werte zu<br />

unterstützen, und ihre während des kalten<br />

Krieges eingegangenen Verpflichtungen zur<br />

Verteidigung Europas und nicht nur der NATO,<br />

zurückzuweisen.


Zu einer Zeit, da sich der islamische Fanatismus<br />

entwickelt und die gemäßigten Kräfte<br />

zurückgedrängt werden, kommt der Türkei<br />

eine äußerst wichtige Rolle zu. Wenn die<br />

Europäische Union die Tür vor der Türkei<br />

verschließt, drohe, wie Antonio TAJANI<br />

fürchtet, ein Sieg der fanatischen Kräfte.<br />

Was die Minderheitenrechte betreffe, so<br />

müsse die Türkei mit ihrem Beitritt zur<br />

Europäischen Union die Verfassung anwenden,<br />

insbesondere Artikel 51, der die Rechte der<br />

Kirchen verteidigt.<br />

Die Werte der Europäischen Union müssten<br />

geachtet werden, und die Türkei müsse sich<br />

ein politisches System geben, das die<br />

Menschen- und Bürgerrechte anerkennt. Nur<br />

unter dieser Voraussetzung könne die Türkei<br />

der Union beitreten. Es wäre jedoch ein Fehler,<br />

bereits heute zu behaupten, dass die Türkei<br />

diese Voraussetzungen nicht einhalten werde.<br />

Die Verhandlungsphase kann möglicherweise<br />

sehr lange dauern. Die Verhandlungen<br />

abzuschließen, bevor sie überhaupt begonnen<br />

haben, wäre falsch und gefährlich für Europa,<br />

da wir dann Gefahr liefen, dieses Land an den<br />

Grenzen Griechenlands und an den Grenzen<br />

des europäischen Mittelmeerraums zu<br />

verprellen.<br />

Im Übrigen hebt Antonio TAJANI hervor, dass<br />

es zwar ein politischer Fehler wäre, die<br />

Eröffnung dieser Verhandlungen zu<br />

verweigern, dass jedoch zugleich die Aufnahme<br />

von Verhandlungen nicht notwendigerweise<br />

bedeutet, dass sie ein positives Ergebnis<br />

bringen.<br />

Ville ITÄLÄ stellt sich zwei Fragen:<br />

Werde nicht, wenn die Verhandlungen erst<br />

einmal begonnen hätten, politischer Druck<br />

ausgeübt werden, um einem Nein zum Beitritt<br />

entgegenzutreten, selbst wenn die Kriterien<br />

nicht voll erfüllt sein sollten?<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

13<br />

Welche Kosten entstünden der Gemeinschaft,<br />

wenn die Verhandlungen in diesem Jahr<br />

beginnen würden, und welches wären dann die<br />

jährlichen Kosten?<br />

Aus der Sicht von Gunnar HÖKMARK, Leiter<br />

der schwedischen Delegation der EVP-ED-<br />

Fraktion werde jede Position, für welche man<br />

sich auch entscheidet, große Auswirkungen<br />

haben, die man jetzt analysieren und<br />

diskutieren müsse.<br />

Die EVP-ED sei eine Partei, die sich häufig auf<br />

die Gründerväter (Schuman, Eisenhower,<br />

Churchill) berufe, weil diese die Kraft hatten,<br />

über die Konflikte hinaus zu blicken. Die<br />

Grundidee der Europäischen Union bestehe ja<br />

gerade darin, Divergenzen zu überwinden und<br />

nicht zuzulassen, dass sie zu Hindernissen<br />

zwischen den Völkern werden. Unter diesem<br />

Blickwinkel müsse man auch den Beitritt der<br />

Türkei sehen.<br />

Gunnar Hökmark führt weiter aus, hinsichtlich<br />

der Grenzen Europas könnte man zwar<br />

geteilter Meinung sein, aber in praktischer<br />

Hinsicht sei die Türkei bereits definiert<br />

worden: wie Antonio TAJANI zu Recht<br />

unterstrichen habe, sei die Türkei zu einem<br />

Eckstein für die Sicherheit Europas geworden.<br />

Die Türken seien nicht wegen ihres atlantischen<br />

Gebarens Mitglied der NATO geworden,<br />

sondern wegen ihres Beitrags zur Sicherheit<br />

Europas. Somit sei die Türkei angesichts der<br />

politischen Entwicklungen und der<br />

Zusammenarbeit in Europa bereits als Mitglied<br />

und Partner akzeptiert.<br />

Die Frage sei nun, ob die Türkei sich zum<br />

Besseren oder zum Schlimmeren hin<br />

entwickelt habe. Wird die Europäische Union,<br />

wenn die Verhandlungen erst einmal eröffnet<br />

sind, in der Lage sein, die Beziehungen<br />

zwischen dem Westen und der islamischen<br />

Welt zu beeinflussen? Und wie sieht es aus,<br />

wenn die Aufnahme der Verhandlungen


verweigert wird? Jede Entscheidung habe ihre<br />

Konsequenzen.<br />

Für Gunnar Hökmark besteht die eigentliche<br />

Frage darin, ob die Europäische Union berufen<br />

ist, die Entwicklung der Gesellschaft nach ihren<br />

Werten in einem Land wie der Türkei und in<br />

anderen Teilen der Region zu unterstützen.<br />

Natürlich werde die Botschaft wichtig sein.<br />

Wird der Beitritt der Türkei auf der<br />

Grundlage der Kriterien von Kopenhagen, wenn<br />

es denn dazu kommt, die Sicherheit, die<br />

Stabilität der EU in diesem Teil der Welt<br />

erhöhen? Wird er die Europäische Union<br />

stärker machen? Wird dieser Wille, die<br />

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu<br />

stärken, positive Auswirkungen auf das<br />

Wirtschaftswachstum haben?<br />

Hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

und der demografischen Probleme sei<br />

hervorzuheben, dass die Türkei eine junge<br />

Bevölkerung und eine arme, aber in starkem<br />

Wachstum begriffene Wirtschaft besitzt.<br />

Wird die Perspektive ihres Beitritts zur EU<br />

eine Unterstützung für die wirtschaftliche<br />

Entwicklung der Türkei sein?<br />

Gunnar Hökmark hat volles Verständnis für<br />

die gegen den Beitritt der Türkei geäußerten<br />

Positionen. Jedoch sollte man seiner Meinung<br />

nach die Situation analysieren und sich dabei<br />

vor Augen führen, dass Eisenhower und<br />

Churchill auf den Plan getreten sind, als in<br />

Europa Hass herrschte, und dass sie vor der<br />

gleichen Notwendigkeit standen,<br />

Feindseligkeiten zu überwinden.<br />

Edgar LENSKI antwortet auf die Frage, ob<br />

die Verhandlungen in eine ablehnende Antwort<br />

münden könnten.<br />

Juristisch gesehen gebe es keinerlei<br />

Verpflichtung, und es scheine durchaus möglich,<br />

dass die Europäische Union am Schluss der<br />

Verhandlungen Nein zum Beitritt sagen könnte.<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

14<br />

Aus politischer Sicht sei das wohl schwieriger.<br />

Da aber das Europäische Parlament im<br />

Erweiterungsprozess ein Wort mitzureden<br />

habe, könne es, wenn die wirtschaftlichen und<br />

politischen Kriterien von Kopenhagen nicht voll<br />

eingehalten seien, kein positives Ergebnis<br />

geben, und die Verhandlungen würden<br />

fortgesetzt. Am Ende würden sie in eine positive<br />

Lösung münden.<br />

Aus der Sicht von Alexandre DEL VALLE<br />

sollte man keine Angst vor den Konsequenzen<br />

einer negativen Antwort haben. Es gebe weder<br />

eine moralische noch eine juristische<br />

Verpflichtung, die Türkei in Europa zu<br />

akzeptieren.<br />

Die Behauptung, dass die Konsequenzen<br />

schrecklich sein könnten, dass die türkischen<br />

Reaktionen unberechenbar seien, dass man<br />

Gefahr laufe, den islamischen<br />

Fundamentalismus oder gar den<br />

Antiokzidentalismus zu fördern, sind in seinen<br />

Augen Argumente, die mehr Zurückhaltung<br />

geboten sein lassen. Es wäre das erste Mal,<br />

dass ein Land für den Fall der Verweigerung<br />

seiner Aufnahme mit ernsten Konsequenzen<br />

droht. Es gehe auch gar nicht darum, sich der<br />

Erpressung zu beugen.<br />

Im Übrigen sei das Argument Pacta sunt<br />

servanta für die Europäische Union nicht<br />

bindend, zumal eine Entschließung des<br />

Europäischen Parlaments von 1987, an die<br />

unlängst im Bericht Arie Oostlander erinnert<br />

wurde, als Voraussetzung für den Beitritt der<br />

Türkei zur Europäischen Union festlegte, dass<br />

sie hinsichtlich der Fragen der Ethik und der<br />

Werte den armenischen Völkermord<br />

anerkennt, dass sie ihre Truppen und ihre<br />

Siedler aus Zypern abzieht, das sie entgegen<br />

jeglicher internationalen Rechtmäßigkeit<br />

besetzt hält, dass sie den Status der<br />

Minderheiten anerkennt und die Verletzung<br />

der Menschenrechte einstellt. Heute befänden<br />

sich noch immer 10 000 politische Gefangene


in türkischen Gefängnissen. Die Strafen bei<br />

Ehrenverbrechen fielen noch immer milder aus<br />

als bei Meinungsvergehen.<br />

Wenngleich es zutreffe, dass die<br />

Verhandlungen einen günstigen Einfluss<br />

ausüben könnten, sei die Türkei doch in äußerst<br />

mächtiges Land, das eifersüchtig über seine<br />

Interessen wacht und von alters her von einem<br />

äußerst virulenten Nationalismus beherrscht<br />

wird.<br />

Alexandre DEL VALLE zeigt Verständnis für<br />

das Argument, dass die Türkei ein Teil Europas<br />

sein müsse, weil sie zur Verteidigung Europas<br />

beitrage. Jedoch zähle dieses Argument nur<br />

hinsichtlich der Werte. Europa bestehe nun<br />

aber nicht ausschließlich aus Werten. Es<br />

besitze zugleich eine Geschichte, eine<br />

Geografie. Man könne eine jahrhundertelange<br />

Geschichte nicht leugnen!<br />

Robert Schuman habe die europäische<br />

Identität und die Definition Europas nicht nur<br />

auf die Tatsache begrenzt, bei der<br />

Verteidigung einiger Länder der freien Welt<br />

gegen den Kommunismus mitgewirkt zu haben.<br />

Das habe auch Japan getan. Solle es deshalb<br />

der Europäischen Union beitreten? Soll<br />

Usbekistan zu Europa gehören, weil es bald<br />

Mitglied der NATO werde, einer Organisation,<br />

die gegen den Warschauer Pakt gegründet<br />

wurde?<br />

Man dürfe die Rolle der Türkei im kalten Krieg<br />

nicht mit einem Beweis für Europäertum<br />

verwechseln! Das sei kein Beweis für<br />

Demokratie, denn zu jener Zeit sei die Türkei<br />

alles andere gewesen als demokratisch. Sie<br />

befand sich wie Pakistan im Rahmen einer<br />

strategisch vollkommen legitimen Allianz, einer<br />

antikommunistischen Allianz, die nichts mit der<br />

Identität Europas zu tun hatte.<br />

Das Argument, bei Nichtaufnahme von<br />

Verhandlungen bestünde die Gefahr, dass die<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

15<br />

Türkei in den islamischen Fundamentalismus<br />

abrutschen könne, sei ebenfalls verständlich,<br />

aber keineswegs bewiesen. Die Türkei sei nur<br />

laizistisch und anti-islamisch, weil die Armee<br />

das Land fest im Griff habe. Wollte man das<br />

kemalistische und militärische Gefüge im<br />

Namen der Kriterien von Kopenhagen auflösen,<br />

so könnte das einen nicht beherrschbaren<br />

Prozess auslösen. Ohne Schutzgitter könnte die<br />

Türkei implodieren!<br />

Jóse Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />

NEYRA verweist darauf, dass er zwar eine<br />

persönliche Meinung zu dieser Frage habe,<br />

aber als Koordinator neutral bleiben möchte.<br />

Seiner Meinung nach sollten mehrere Punkte<br />

klargestellt werden: der Europäische Rat habe<br />

einstimmig beschlossen, der Türkei einen Status<br />

als Kandidat für den Beitritt in die<br />

Europäische Union zu verleihen. Die<br />

Europäische Kommission als Hüterin der<br />

Verträge müsse dem Rechnung tragen. Das<br />

Europäische Parlament habe zwar ein<br />

gesetzmäßiges Recht, sich zu äußern, aber die<br />

Entscheidung liege nicht bei ihm, sondern beim<br />

Europäischen Rat.<br />

Ein weiteres grundlegendes Element dieser<br />

Angelegenheit: das europäische Projekt gründe<br />

sich auf die Werte des Friedens, der<br />

Verständigung und der Solidarität, wie sie die<br />

Gründerväter verfochten haben. Wird die<br />

Türkei in der Lage sein, diese Werte zu<br />

übernehmen?<br />

Es gehe nicht nur darum, ob die Türkei die<br />

Kriterien von Kopenhagen sorgfältig einhalten<br />

werde oder nicht. Vielmehr müsse man auch<br />

prüfen, ob die Kandidatur der Türkei mit den<br />

Werten der Europäischen Union vereinbar ist<br />

oder nicht.<br />

Jóse Ignacio SALAFRANCA SÁNCHEZ-<br />

NEYRA möchte zugleich das Argument<br />

relativieren, dass die Türkei im Falle ihres<br />

Beitritts 80 oder 90 Abgeordnete hätte oder


dass sie das bevölkerungsreichste Land der<br />

Europäischen Union wäre.<br />

Die Vereinigten Staaten machen 3 % der<br />

Weltbevölkerung aus und sind in der Lage, 1/<br />

3 der Güter und Dienstleistungen zu erzeugen.<br />

China mit seinen 1,2 Milliarden Einwohnern und<br />

seinem enormen Wachstumspotenzial erzeugt<br />

nur 3 % der Güter und Dienstleistungen. Das<br />

BSP Russlands ist niedriger als das der<br />

Schweiz.<br />

Kern der Debatte müsste die Definition der<br />

Interessen der Union sein, eine Abwägung des<br />

„Für“ und des „Wider“ dieser Kandidatur und<br />

eine Bewertung der Kosten. Welcher<br />

Orientierung folgt dieses Projekt? Welches<br />

sind die Grenzen der Europäischen Union? Was<br />

wird die europäische Öffentlichkeit von dieser<br />

Erweiterung halten?<br />

Ob dies gefällt oder nicht, die Türkei ist ein<br />

Kandidatenland für die Union. Die Frage ist nun,<br />

ob es sinnvoll ist oder nicht, den Beginn der<br />

Verhandlungen auf unbestimmte Zeit<br />

hinauszuschieben.<br />

Ioannis KASOULIDES, Leiter der<br />

zypriotischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

weist auf ein Dilemma hin.<br />

Im Falle einer negativen Entscheidung<br />

bezüglich der Eröffnung von Verhandlungen<br />

könnte das Ergebnis ein Schwenk der Türkei<br />

in Richtung Fundamentalismus sein.<br />

Im gegenteiligen Falle, wenn die Türkei den<br />

Weg des Beitritts beschreitet, wäre das<br />

Ergebnis, dass die Armee sich früher oder<br />

später gezwungen sähe, sich in die Kasernen<br />

zurückzuziehen und die Rolle des Garanten der<br />

Laizität und des Kemalismus aufzugeben, die<br />

sie heute im konstitutionellen nationalen<br />

politischen Leben spielt.<br />

Charles TANNOCK, Stellvertretender<br />

Vorsitzender des Unterausschusses für<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

16<br />

Menschenrechte ruft den Wortlaut der<br />

Entschließung in Erinnerung, die das<br />

Europäische Parlament im Jahr 1987 zum<br />

Thema des armenischen Völkermords<br />

verabschiedet hat. Kommissar Günter<br />

Verheugen behauptet schamlos, diese Frage<br />

sei nicht mehr aktuell, da seit dem Völkermord<br />

an den Armeniern sehr viel Zeit verstrichen<br />

sei.<br />

Das Argument der Zugehörigkeit der Türkei<br />

zur NATO würde bedeuten, dass die USA und<br />

Kanada in Zukunft ebenfalls den Beitritt zur<br />

Europäischen Union beantragen könnten. Im<br />

Übrigen sei, wie Charles TANNOCK<br />

hervorhebt, die Türkei nicht Mitglied der<br />

NATO, um die westlichen oder christlichen<br />

Werte zu verteidigen, sondern in ihrem<br />

eigenen Interesse: das kemalistische Erbe sei<br />

antikommunistisch, und seinerzeit habe es<br />

innerhalb der Türkei eine kommunistische<br />

Bedrohung gegeben.<br />

Charles TANNOCK spricht der in der Türkei<br />

an der Macht befindlichen Partei AKP den<br />

Charakter der Modernität ab. Eines ihrer Ziele<br />

bestünde darin, den laizistischen Staat zu<br />

zerstören und den Islamismus in der Schule<br />

wiederherzustellen. Premierminister Erdogan<br />

sei ein aus einer Religionsschule<br />

hervorgegangener Imam, der wegen<br />

Verteidigung islamischer Werte vier Monate<br />

im Gefängnis gesessen habe.<br />

Charles TANNOCK verweist ferner auf die<br />

Risiken hinsichtlich der illegalen Zuwanderung<br />

und der terroristischen Infiltration, die mit<br />

der Ausdehnung der Grenzen der Europäischen<br />

Union bis an die Tore Syriens oder des Iran<br />

verbunden wären.<br />

Im Übrigen würden die Kosten dieses Beitritts,<br />

seine Auswirkungen auf die GAP und die<br />

Strukturfonds der Europäischen Union<br />

Schaden zufügen.


Die Türkei sei ein großes Land, das besondere<br />

Beziehungen verdiene, nicht aber den Beitritt<br />

oder die Freizügigkeit.<br />

Jean-Luc DEHAENE bringt seine<br />

Enttäuschung hinsichtlich des Inhalts der<br />

Debatte zum Ausdruck.<br />

In der Einführung zu diesen Studientagen zum<br />

Thema Europa und die Türkei hätte man die<br />

verschiedenen Aspekte dieses Dossiers<br />

entwickeln müssen. Es scheint nun aber, dass<br />

man beabsichtige, einen einseitigen Standpunkt<br />

herauszustellen.<br />

Man habe nicht auf die Geschichte Bezug<br />

genommen, die diesem Dossier<br />

vorausgegangen sei, und die Einführungen<br />

hätten nicht den Verfahren Rechnung getragen,<br />

die derzeit innerhalb der Europäischen Union<br />

bestehen.<br />

Dieses Dossier stünde seit Jahren in Europa<br />

auf der Tagesordnung. Es sei recht gefährlich,<br />

dass die Union als eine Rechtseinheit in ihrem<br />

Vorgehen nicht kohärent sei. Der Europäische<br />

Rat habe die Türkei als Kandidatenland<br />

anerkannt, wenngleich diese Position an einige<br />

Bedingungen gebunden sei. Und das<br />

Europäische Parlament leugne das nicht.<br />

Natürlich müsse man den Kopenhagen-Kriterien<br />

Rechnung tragen, aber im Rahmen des<br />

Verfahrens, man dürfe nicht während des<br />

laufenden Spiels neue Regeln aufstellen.<br />

Georgios PAPASTAMKOS, Vorsitzender des<br />

Gemischten Parlamentarischen Ausschuss EU-<br />

Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien<br />

lenkt den Blick auf die kulturellen, politischen<br />

und wirtschaftlichen Kriterien der türkischen<br />

Kandidatur für den EU-Beitritt.<br />

Über das kulturelle Kriterium sagte Jean<br />

Monnet einmal, wenn er die Stufen der<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

17<br />

Integration noch einmal planen müsste, würde<br />

er mit der Kultur beginnen.<br />

Was aber bedeutet das Wort “europäisch”<br />

eigentlich? Gewiss beinhaltet der Begriff eine<br />

kulturelle Identität, die im Laufe der<br />

Geschichte geprägt wurde. Hat er aber eine<br />

einzige Bedeutung oder hat er inzwischen eine<br />

multikulturellere Bedeutung angenommen?<br />

Europa wurde geschaffen, weiterentwickelt<br />

und verändert durch die Vielfalt miteinander<br />

im Wettbewerb stehender nationaler<br />

Stereotypen. Die einigenden Kräfte im heutigen<br />

Europa sind an einem einmaligen Projekt<br />

beteiligt. Ihr Erfolg wird jedoch von ihrer<br />

Fähigkeit abhängen, die geschichtlichen und<br />

politischen Unterschiede zu überwinden oder<br />

wenigstens zu mildern. Vor diesem<br />

Hintergrund wird die Mitgliedschaft der<br />

Türkei in der Europäischen Union zu einer<br />

teilweisen Verschiebung der geographischen<br />

Grenzen Europas sowie zu einer Veränderung<br />

des historischen Verständnisses seiner Kultur<br />

zur Folge haben. Reicht das geographische<br />

Kriterium aus, um ein Land vom europäischen<br />

Gedanken auszuschließen?<br />

Für Georgios PAPASTAMKOS lautet die<br />

Antwort: Nein. In der Geschichte gibt es keine<br />

Belege für mehr oder weniger entwickelte<br />

kulturelle Identitäten. Gleichzeitig ist das<br />

europäische kulturelle Modell selbsttragend,<br />

souverän und beständig. Allerdings dürfte die<br />

Bereicherung dieses Modells durch ein neues,<br />

“ideologisch belastetes” kulturelles Modell<br />

Spannungen und Kontroversen hervorrufen und<br />

Fragen aufwerfen.<br />

Seiner Ansicht nach wird es keinen Konflikt der<br />

Modelle geben, wenn auch ein Großteil der<br />

europäischen Bürger immer schon sein<br />

Augenmerk auf ein anderes, ebenso<br />

souveränes kulturelles Modell mit seinen<br />

eigenen spezifischen Strukturen und<br />

unabhängigen Standpunkten zu Fragen der<br />

kulturellen Macht innerhalb Europas gerichtet


hat. Nichtsdestoweniger ist Europa ein Akt der<br />

spontanen Zusammenarbeit seiner<br />

Mitgliedstaaten, die als eine demokratisch<br />

legitimierte politische Macht handeln, und das<br />

Ergebnis der bewussten Beteiligung der<br />

Bürger am europäischen Integrationsprozess.<br />

Vor diesem Hintergrund muss jede kulturelle<br />

Anpassung beim Beitritt eines neuen Landes<br />

die folgende Richtung haben: Bewerberland -<br />

EU.<br />

Infolgedessen ist es nicht die Aufgabe<br />

Europas, seine Kultur anzupassen. Vielmehr<br />

muss die Türkei sich den europäischen<br />

Standards anpassen.<br />

Die praktischen und theoretischen Fragen, die<br />

in der Europäischen Union und insbesondere in<br />

der EVP-Fraktion öffentlich debattiert<br />

werden, hätten stattdessen in der Türkei<br />

erörtert werden müssen. Es gibt keinen Grund<br />

dafür, dass diese Fragen innerhalb der<br />

Europäischen Union einen Konflikt auslösen.<br />

Hätten die Diskussionen in der Türkei<br />

stattgefunden, dann hätten wir eine bessere<br />

Kenntnis von den internen kulturellen<br />

Konflikten in der Türkei und könnten besser<br />

einschätzen, ob sie in der Lage sein wird, sich<br />

den europäischen Standards anzupassen.<br />

Es gibt Stimmen in der Europäischen Union, die<br />

die Türkei als einen Markt, als eine Zollunion,<br />

aber nicht als ein neues kulturelles Merkmal<br />

der Europäischen Union betrachten.<br />

Aber ist die Türkei denn ein kulturell<br />

einheitliches Land oder ist sie nicht vielmehr<br />

ein Land mit eigenen inneren Konflikten<br />

zwischen den Kulturen und Zivilisationen?<br />

Werden wir uns denen in der Türkei<br />

anschließen, die gegen Europa sind in dem<br />

Bestreben, ihre traditionellen Strukturen zu<br />

verteidigen, oder sollten wir als eine<br />

demokratische Gesellschaft die proeuropäischen<br />

Kräfte in der Türkei<br />

unterstützen?<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

18<br />

In Bezug auf das politische Kriterium<br />

unterstreicht Georgios PAPASTAMKOS, dass<br />

die Europäische Union definitionsgemäß eine<br />

Union des Rechts, eine Union der Demokratien,<br />

die auf der Rechtstaatlichkeit und der Achtung<br />

der Menschenrechte und der Grundfreiheiten<br />

basiert, ist. Wenn diese Grundprinzipien<br />

lediglich Rhetorik wären, dann könnte die<br />

Türkei oder jeder andere Staat mit<br />

demokratischen Defiziten bedingungslos als<br />

Mitglied aufgenommen werden.<br />

Der demokratische Grundsatz und die<br />

Marktwirtschaft sind konstante Bestandteile<br />

der ‘Konditionalitätsklauseln’ aller europäischen<br />

Außenbeziehungen und sollten umso mehr zu<br />

den von einem beitrittswilligen Land zu<br />

erfüllenden wichtigsten Bedingungen gehören.<br />

Es ist weithin bekannt, welche Konsequenzen<br />

das demokratische Defizit in der Türkei hat:<br />

Militärherrschaft, Verletzung der<br />

Menschenrechte, Missachtung der<br />

Minderheiten, mangelnde Religionsfreiheit,<br />

Truppen, die einen Teil eines anderen EU-<br />

Mitgliedstaates besetzen, und außenpolitische<br />

Kursänderungen bezüglich ihrer Nachbarn<br />

entgegen den Grundsätzen der Europäischen<br />

Union sowie den Regeln des Völkerrechts.<br />

Die unbestrittenen demokratischen<br />

Anpassungen in der Türkei haben sich als<br />

unzureichend erwiesen. Institutionelle<br />

Reformen wurden lediglich auf Drängen<br />

Europas durchgeführt, was dazu führte, dass<br />

gegen den Fortschritt gerichtete Reaktionen<br />

noch heute spürbar sind.<br />

Demokratie und Rechtstaatlichkeit sind<br />

qualitative Größen. Sie sind nicht quantifizierbar<br />

und können nicht von außen aufgezwungen<br />

werden. Unabhängig von seinem Status als<br />

Bewerberland sollte die Türkei bereits<br />

innerhalb eines unbestrittenen demokratischen<br />

Rahmens arbeiten.


Infolgedessen lautet die Frage nicht, ob die<br />

Türkei ein europäisches Land ist, sondern ob<br />

sie ein demokratisches Land ist. Meiner Ansicht<br />

nach hat die Türkei noch einen langen Weg bis<br />

zum Beitritt vor sich.<br />

Reicht allein der Beginn der<br />

Beitrittsverhandlungen aus, damit die proeuropäischen<br />

Kräfte in der Türkei die<br />

Oberhand gewinnen? Hierin liegt das Dilemma,<br />

denn wer kann garantieren, dass sich die<br />

Demokratisierung nach dem<br />

Verhandlungsbeginn beschleunigt?<br />

Hat die Türkei den notwendigen festen<br />

politischen Willen, um dauerhafte interne<br />

politische Reformen durchzuführen? Hat die<br />

Türkei eine bewusste Entscheidung getroffen,<br />

für das Konzept der Europäischen Union eines<br />

gemeinsamen politischen Raums der Gleichheit<br />

der Mitgliedstaaten und der supranationalen<br />

Integration einzutreten?<br />

Wenn wir vermeiden wollen, die Türkei als<br />

nichts anderes als einen Markt zu betrachten,<br />

dann sind dies wichtige Fragen. Die Aussicht<br />

auf den Beitritt der Türkei verschiebt das<br />

geographische Zentrum der Europäischen<br />

Union. Dies war bereits beim Beitritt der<br />

letzten zehn neuen Mitgliedstaaten der Fall<br />

und wird sich mit dem Beitritt Bulgariens und<br />

Rumäniens noch verstärken. Wenn die Türkei<br />

als nächstes Land beitreten wird, werden die<br />

geographischen Grenzen der Europäischen<br />

Union bis an Iran und Irak heranreichen, an<br />

eine Region mit großen politischen Problemen.<br />

Verfügt die Europäische Union über die<br />

konstitutionellen Fähigkeiten, um in regionalen<br />

Krisen, die von internationalem Interesse sind,<br />

zu intervenieren? Die Antwort lautet: Nein.<br />

Das Defizit in der Außenpolitik der<br />

Europäischen Union besteht auch nach der<br />

Annahme des Verfassungsvertrages weiter, es<br />

sei denn, Europa akzeptiert vorab das<br />

strategische Interesse der Türkei, jenseits<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

19<br />

und außerhalb des europäischen Rahmens ein<br />

Mitspracherecht in dieser Region zu haben.<br />

Im Hinblick auf das wirtschaftliche Kriterium<br />

betont Georgios PAPASTAMKOS, dass die<br />

Bewertung des wirtschaftlichen Kriteriums für<br />

den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union<br />

mit geringeren Schwierigkeiten verbunden ist,<br />

weil politische Bewertungen nicht erforderlich<br />

sind.<br />

Trotz einiger Überbleibsel staatlicher Intervention<br />

kann das türkische Wirtschaftssystem,<br />

das sich dem europäischen Wirtschaftsmodell<br />

zunehmend annähert, als „gemischt” bezeichnet<br />

werden. Weitere Anpassungen an das<br />

europäische Modell erfordern hauptsächlich<br />

strukturelle Veränderungen auf dem Gebiet<br />

der staatlichen Beihilfen und der<br />

Subventionen, der Agrarpolitik, der<br />

staatlichen Monopole und Unternehmen, des<br />

gesunden Wettbewerbs und im Allgemeinen<br />

der Rolle des Staates in der Wirtschaft.<br />

In Bezug auf die makroökonomische Leistung<br />

und die wirtschaftliche Stabilität begann die<br />

Türkei im Anschluss an die dramatische Krise<br />

2000/2001, ein umfassendes Anpassungs- und<br />

Stabilisierungsprogramm unter der Aufsicht<br />

des IWF umzusetzen. Die wichtigsten<br />

Kennzeichen dieses Programms sind<br />

Haushaltsdisziplin, Währungsstabilität,<br />

Privatisierung, Reformierung des<br />

Finanzsystems, des Sozialsystems, der<br />

staatlichen Unternehmen und der öffentlichen<br />

Verwaltung. Es besteht Einigkeit darüber, dass<br />

das Programm ein Erfolg gewesen ist. Die<br />

makroökonomischen Indikatoren der Türkei<br />

haben sich bereits beträchtlich verbessert.<br />

Das Haushaltsdefizit, die Staatsverschuldung,<br />

die Inflation und die Zinssätze sind stark<br />

zurückgegangen. Gleichzeitig hatten die<br />

Reformen aufgrund der hohen<br />

Wachstumsraten keine größeren negativen<br />

Auswirkungen auf das Beschäftigungsniveau.<br />

Nunmehr sind kontinuierliche Anstrengungen im<br />

Hinblick auf eine Stabilisierung erforderlich.


Die Türkei benötigt eine gesunde<br />

Volkswirtschaft mit einem berechenbaren und<br />

stabilen Umfeld, das einen Schutz vor neuen<br />

Krisen bietet. Dies wird das Land auf den Weg<br />

hin zu einer kontinuierlichen Entwicklung und<br />

zu einer Minderung der Armut bringen und eine<br />

Konvergenz mit den Kriterien der Europäischen<br />

Währungsunion herbeiführen.<br />

Allerdings geben einige wirtschaftlichen<br />

Aspekte Anlass zu einer gewissen Skepsis.<br />

Ein Problem ist die tiefe Kluft zwischen dem<br />

Entwicklungsniveau der Türkei und dem der<br />

25 europäischen Mitgliedstaaten. Aufgrund<br />

des niedrigen Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts<br />

der Türkei (ca. 29% des EU-Durchschnitts<br />

2003) würde der EU-Beitritt eine Zunahme<br />

der Bevölkerung der Europäischen Union um<br />

17% bedeuten, das BIP der EU würde jedoch<br />

nur um 2% ansteigen. Durch die erheblichen<br />

regionalen Unterschiede zwischen dem Westen<br />

und dem Osten der Türkei (das Pro-Kopf-<br />

Einkommen in der Region Marmara beträgt<br />

153% des türkischen Durchschnitts, während<br />

es sich in Ostanatolien auf nur 28% beläuft)<br />

würde die eventuelle Erweiterung außerdem<br />

gewaltige regionale Unterschiede innerhalb<br />

der Europäischen Union zur Folge haben. Dies<br />

wäre für die Kohäsionspolitik der Europäischen<br />

Union eine riesige Herausforderung, die in ihrer<br />

derzeitigen Form die Mitgliedschaft der<br />

Türkei nicht verkraften könnte.<br />

Das zweite Problem ergibt sich aus der Größe<br />

des türkischen Agrarsektors. In diesem<br />

Sektor sind 32,8% der Erwerbstätigen, d.h.<br />

23,5 Millionen Menschen (2003), beschäftigt,<br />

während es in der EU-25 5,4% bzw. 24,5<br />

Millionen Menschen sind. Die Zahl der<br />

türkischen Bauern ist ebenso hoch wie die Zahl<br />

der Bauern der EU-25. Dies würde die GAP<br />

ernsthaft gefährden. In Anbetracht der<br />

derzeitigen Daten wäre eine gewaltige<br />

Aufstockung ihrer Mittel erforderlich. Die<br />

Auswirkungen auf den Agrarhandel sind<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

20<br />

schwer vorhersehbar, aber es bestehen kaum<br />

Zweifel daran, dass nach der Überwindung der<br />

bestehenden Hindernisse der Handel mit<br />

Agrarerzeugnissen zwischen der Türkei und<br />

der restlichen EU zugunsten der Türkei, die<br />

vergleichsweise niedrige Produktionskosten<br />

hat, erheblich ansteigen würde. Dies könnte im<br />

Agrarsektor der anderen Mitgliedstaaten<br />

einige Anpassungsprobleme verursachen.<br />

Der dritte Punkt schließlich betrifft die<br />

Bevölkerungsdynamik. Die Türkei ist mit einer<br />

Bevölkerung von 71,325 Millionen Menschen<br />

nach Deutschland das zweitgrößte Land in der<br />

EU. Prognosen zufolge wird die Türkei im Jahre<br />

2015 eine Bevölkerung von 82,150 Millionen<br />

(ebenso viele wie Deutschland) und im Jahre<br />

2025 von 88,995 Millionen haben. Dann wird<br />

die Türkei das bevölkerungsreichste Land der<br />

Europäischen Union sein. Eine große<br />

Bevölkerung bei einem geringen Einkommen in<br />

Kombination mit düsteren Aussichten und einer<br />

Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung im<br />

Agrarsektor sind allesamt Faktoren, die eine<br />

massive Abwanderung in andere europäische<br />

Staaten bewirken dürften, hauptsächlich in<br />

diejenigen Länder, in denen es bereits einen<br />

hohen Bevölkerungsanteil türkischer<br />

Zuwanderer gibt, wie in Deutschland, in<br />

Frankreich, in den Niederlanden, in Österreich<br />

und in Belgien). Dies wird großen Druck auf die<br />

nationalen Arbeitsmärkte und Sozialsysteme<br />

ausüben. Allerdings kann diese Entwicklung<br />

durch lange Übergangsfristen für die<br />

Freizügigkeit der Arbeitnehmer und des<br />

Weiteren durch die Schaffung positiver<br />

politischer und wirtschaftlicher Bedingungen<br />

im Herkunftsland, im vorliegenden Fall in der<br />

Türkei, vermieden werden.<br />

Abschließend lässt sich feststellen, dass die<br />

Türkei viele der wirtschaftlichen<br />

Beitrittskriterien für den Verhandlungsbeginn<br />

erfüllt vorausgesetzt, dass sie weiterhin das<br />

Stabilisierungs- und Reformprogramm<br />

umsetzt. Andererseits wird es in der Zukunft<br />

auf der strukturellen Ebene zu schwer


wiegenden Problemen und Herausforderungen<br />

für die Kernpolitiken der Europäischen Union<br />

kommen, und diese erfordern so schnell wie<br />

möglich eine gangbare Lösung.<br />

Was auch immer geschehen mag, der<br />

tatsächliche Beginn der Beitrittsverhandlungen<br />

dürfte sich positiv auswirken.<br />

György SCHÖPFLIN wirft die Frage auf,<br />

inwieweit die Türkei in der Lage sein werde,<br />

die in die Europäische Union abgewanderten<br />

Arbeitnehmer wieder aufzunehmen.<br />

Zu der türkischen Auffassung des Begriffs<br />

der Staatsbürgerschaft vertritt György<br />

SCHÖPFLIN die Auffassung, dass sie nicht auf<br />

einem Gleichheitsprinzip basiere. Es sei<br />

praktisch unvorstellbar, von einem Türken zu<br />

verlangen, dass er jemanden als<br />

gleichberechtigten Staatsbürger akzeptiert,<br />

der nicht türkischsprachig und Moslem ist.<br />

Eine weitere Quelle der Beunruhigung ist, dass<br />

die Türkei ihre imperiale Vergangenheit<br />

weiterhin als ein ruhmreiches Kapitel<br />

betrachtet. Das bringt nicht nur Probleme für<br />

das einstmals besetzte Ungarn und<br />

Griechenland mit sich, sondern auch für<br />

Bulgarien und Rumänien als potenzielle EU-<br />

Mitglieder.<br />

Vom soziologischen Standpunkt her kann ein<br />

großer Teil der türkischen Bevölkerung<br />

vernünftigerweise als „prämodern” bezeichnet<br />

werden, da sie weder die kognitive noch die<br />

intellektuelle oder semantische Fähigkeit<br />

besitzt, die Komplexität der Moderne zu<br />

begreifen. Ihre Integration in das westliche<br />

Europa würde einen gewaltigen sozialen und<br />

soziologischen Kraftaufwand erfordern.<br />

György SCHÖPFLIN ist nicht sicher, dass die<br />

Europäische Union in der Lage wäre, das zu<br />

meistern. Die türkische Elite wiederum ist<br />

stark für die Laizität engagiert. Wird sie aber<br />

die Kraft haben, die Bevölkerung<br />

mitzunehmen?<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

21<br />

Elmar BROK, Vorsitzender des Ausschusses<br />

für auswärtige Angelegenheiten<br />

Elmar BROK (Vorsitzender des Ausschusses<br />

für auswärtige Angelegenheiten) erstattet<br />

Bericht über das Treffen mit dem türkischen<br />

Premierminister Erdogan im Rahmen der<br />

Konferenz der Präsidenten.<br />

Nach seinen Worten sei das Treffen unter ganz<br />

normalen Bedingungen abgelaufen. Einige<br />

kritische Fragen habe es hauptsächlich zum<br />

Verfahren gegeben, das seit Jahren alles<br />

andere als klar sei.<br />

Für die Kandidatenländer müssten die<br />

wirtschaftlichen Kriterien konsequent<br />

berücksichtigt werden. In einigen Fällen sei<br />

das während der gesamten Verhandlungsphase<br />

geschehen. Diese Kriterien müssten jedoch<br />

bereits vor Eröffnung der Verhandlungen<br />

erfüllt sein. Beispiele seien die Slowakei und<br />

die Tschechische Republik. Auf dieses Argument<br />

habe Premierminister Erdogan stets<br />

geantwortet, die Türkei warte seit 40 Jahren<br />

auf eine Antwort, und es sei an der Zeit, diese<br />

Antwort zu geben. Allerdings müssten die<br />

Bedingungen durch die Türkei erfüllt sein. Es<br />

komme nicht auf den Zeitpunkt an, an dem der<br />

Beitrittsantrag gestellt werde, sondern den


Zeitpunkt, an dem die Bedingungen für den<br />

Beitritt erfüllt seien.<br />

Gewiss habe die Türkei in den letzten Jahren<br />

viele Fortschritte auf dem Gebiet der<br />

legislativen Reformen gemacht. Aber<br />

andererseits deuteten doch viele Zeichen<br />

darauf hin, dass diese legislative Arbeit sich<br />

nicht voll in der Realität der Gesellschaft<br />

widerspiegelt.<br />

In diesem Zusammenhang erinnert Elmar<br />

BROK an einige Punkte, die von den<br />

Organisationen zur Verteidigung der<br />

Menschenrechte vorgebracht wurden: mehr als<br />

200 Fälle von Folter und mehr als 500 Fälle<br />

von willkürlichen Verhaftungen im Jahr 2003<br />

machen deutlich, dass den legislativen<br />

Reformen nicht immer konkrete Maßnahmen<br />

folgen.<br />

Ein anderes Beispiel: Im Jahr 2003 erhielten<br />

703 Türken in Deutschland den<br />

Flüchtlingsstatus, da sie aufgrund<br />

unzureichender Rechtsstaatlichkeit in der<br />

Türkei nicht mit einer fairen Behandlung<br />

rechnen konnten. Wenn diesen Personen<br />

tatsächlich auf dieser Grundlage Asylrecht<br />

gewährt wurde, so zeigt das, dass es in der<br />

Türkei keine wirkliche Rechtsstaatlichkeit gibt.<br />

Wenn die Kommission in ihrem Bericht im<br />

Oktober die Vorbehalte nicht ausräumt, die<br />

durch derartige Probleme ausgelöst werden,<br />

ist im Dezember keine positive Entscheidung<br />

zu erwarten, und die Verhandlungen können<br />

nicht eröffnet werden.<br />

Einige Gerüchte besagen, dass die Kommission<br />

in ihrem Bericht erwäge, die Agrarpolitik<br />

aufgrund der Finanzierungsprobleme nicht voll<br />

umzusetzen, oder dass die Freizügigkeit der<br />

Arbeitnehmer mittelfristig nicht umgesetzt<br />

werden solle. Selbst wenn Übergangszeiten<br />

denkbar sind, müssten doch alle EU-Länder<br />

gleiche Rechte und Pflichten haben. Andernfalls<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

22<br />

stünde die Kohärenz der Europäischen Union<br />

auf dem Spiel.<br />

Gewiss besitze die Türkei eine unschätzbare<br />

strategische Bedeutung. In diesem<br />

Zusammenhang müsse alles getan werden, um<br />

eine Situation dauerhafter Spannungen zu<br />

vermeiden, die den Reform- und<br />

Demokratisierungsprozess dieses Landes<br />

gefährden würde. Bestünde nicht, wenn die<br />

Verhandlungen sich wie vorgesehen über 10 bis<br />

15 Jahre erstrecken, die Gefahr, dass diese<br />

lange Wartezeit zu zahlreichen Unsicherheiten<br />

führt? Was würde geschehen, wenn die<br />

Verhandlungen sich noch länger hinziehen oder<br />

wenn ein Referendum das Verfahren zum<br />

Scheitern brächte?<br />

Einige, wie beispielsweise die Polen, sprechen<br />

sich für die Eröffnung der Verhandlungen mit<br />

der Türkei mit Blick auf die Entwicklungen in<br />

der Ukraine aus. Wenn man diesen Blickwinkel<br />

zugrunde legt und dann den Fall Weißrusslands<br />

ins Auge fasst, das keine wirklich<br />

demokratische Führung besitzt, besteht die<br />

Gefahr, dass die Europäische Union an Kohäsion<br />

verliert. Es müssen zahlreiche Fakten<br />

berücksichtigt werden. Große Weltreiche, die<br />

sich auf dem Gipfel ihrer Ausstrahlung<br />

befanden, gerieten bereits an den Rand des<br />

Untergangs, weil es ihnen nicht gelang, ihre<br />

Kohäsion zu wahren.<br />

Nach dem Verständnis von Elmar BROK müsse<br />

die Union eine Gemeinschaft gleichberechtigter<br />

Mitgliedstaaten bleiben, eine Unterteilung in<br />

verschiedene Kategorien sei nicht denkbar.<br />

In den letzten Jahrzehnten hat der Kemalismus<br />

einen Wandlungsprozess in der Türkei<br />

durchlaufen. Ist jedoch die Türkei angesichts<br />

der Schwierigkeiten, die im Falle eines<br />

Regierungswechsels auftreten könnten,<br />

wirklich in der Lage, ihre innere Stabilität über<br />

einen längeren Zeitraum zu wahren? Ist die


soziale und wirtschaftliche Realität des Landes<br />

geeignet, eine solche Stabilität zu sichern?<br />

Abschließend erklärt Elmar BROK, dass nach<br />

dem normalen Verfahren, wenn im Dezember<br />

die Bedingungen nicht als erfüllt angesehen<br />

würden, die Situation nach weiteren zwei<br />

Jahren erneut geprüft werden müsste.<br />

Diese Frist könnte es ermöglichen, in der<br />

Zwischenzeit die Debatte über die<br />

Ausdehnung Europas und die Beteiligung der<br />

Türkei weiter zu führen.<br />

Alejo VIDAL-QUADRAS ROCA,<br />

Vizepräsident des Europäischen Parlaments<br />

zeigt sich enttäuscht vom Verlauf der<br />

Debatte. Alle Teilnehmer hätten im gleichen<br />

Sinne gesprochen, so dass es der Debatte an<br />

der notwendigen Meinungsvielfalt fehlte. Er<br />

widerspricht den Worten von Edgar Lenski und<br />

unterstreicht, dass seiner Auffassung nach die<br />

Tatsache, dass die Türkei 70 Jahre lang<br />

versucht habe, europäisch zu sein, und trotz<br />

aller Schwierigkeiten versucht habe, sich durch<br />

die Übernahme universeller Werte den<br />

offenen Gesellschaften anzunähern, einen<br />

moralischen Wert darstelle, der ebenso<br />

verteidigt werden müsse wie beim Beitritt der<br />

osteuropäischen Länder.<br />

Der Redebeitrag von Alexandre DEL VALLE<br />

habe mehr von einer Propagandaübung an sich<br />

gehabt als von einer wissenschaftlichen<br />

Analyse.<br />

Im Einfluss der Türkei auf den Kaukasus sah<br />

Alexandre DEL VALLE einen Grund zur<br />

Besorgnis. Das Gegenteil könnte hingegen<br />

unterstützt werden: beispielsweise gehören<br />

der Einfluss Spaniens auf Lateinamerika,<br />

Frankreichs auf die frankophonen Länder und<br />

Portugals auf Brasilien als integraler<br />

Bestandteil zu den Aktiva der Union. Wenn ein<br />

beitretendes Land Einfluss über eine so große<br />

Region ausübt, so sei dies ein strategisches Plus<br />

für die Union, und nicht ein Nachteil.<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

23<br />

Im Übrigen schien Alexandre DEL VALLE in<br />

seinem Redebeitrag zu empfehlen, dass der<br />

Einfluss der Armee im türkischen politischen<br />

System beibehalten wird, um Laizität und<br />

Stabilität in der Türkei zu gewährleisten. Nach<br />

Auffassung von Alejo VIDAL-QUADRAS<br />

ROCA ließen sich sicher andere Mittel finden,<br />

um gegen den islamischen Fundamentalismus<br />

zu kämpfen.<br />

Einige empfehlen einen speziellen Status für<br />

die Türkei, um ihr zu ermöglichen, in den Genuss<br />

der wirtschaftlichen Vorteile des großen<br />

Binnenmarktes zu kommen, ohne ihr jedoch<br />

Zugang zu den Institutionen der Europäischen<br />

Union zu gewähren.<br />

Nach Meinung von Alejo VIDAL-QUADRAS<br />

ROCA bestehe da ein ernster Widerspruch<br />

mit den europäischen Ambitionen. Wie soll man,<br />

wenn die Europäische Union berufen ist, sehr<br />

viel mehr zu sein als ein Markt, eine<br />

Wertegemeinschaft, ein ethischer Leuchtturm<br />

für die Welt zu sein, dann einem Land wie der<br />

Türkei, das dazugehören möchte, sagen, es<br />

müsse sich mit einem Europa der Märkte<br />

begnügen!<br />

Für Alejo VIDAL-QUADRAS ROCA ist das<br />

Grundproblem ein ganz anderes. In dem<br />

gegenwärtigen geopolitischen Kontext<br />

herrsche eine nie dagewesene schreckliche<br />

Bedrohung, der Feind sei diffus, fanatisch,<br />

unerbittlich und in der Lage, unserer<br />

Zivilisation und unserem Leben große Schäden<br />

zuzufügen. Die Tatsache, dass die Türkei<br />

Verhandlungen mit der Europäischen Union<br />

aufnimmt, stelle unabhängig vom Ausgang<br />

dieser Verhandlungen ein so mächtiges Signal<br />

für den Triumph bestimmter Werte für die<br />

gesamte islamische Welt dar, dass man es auf<br />

keinen Fall verpassen dürfe.<br />

Albert DESS ist der Auffassung, dass der<br />

Beitritt der Türkei der Anfang vom Ende des<br />

europäischen Vereinigungsprozesses wäre. Er


würde Europa als Wertegemeinschaft<br />

gefährden.<br />

Albert DESS verweist insbesondere auf die<br />

mangelnde religiöse Freiheit und die Lage der<br />

türkischen Frauen. Er dankt der CDU-<br />

Vorsitzenden Angela MERKEL, die den Mut<br />

aufgebracht hat, in die Türkei zu reisen und<br />

sich nicht für den Beitritt, sondern für eine<br />

qualifizierte Partnerschaft auszusprechen. Die<br />

Türkei sei nicht in der Lage, die europäischen<br />

Werte umzusetzen, und werde es noch für<br />

lange Zeit nicht sein.<br />

Ursula STENZEL, Leiterin der<br />

österreichischen Delegation der EVP-ED-<br />

Fraktion unterstreicht, dass die äußerst<br />

kontroverse türkische Frage eine<br />

Entscheidung politischer Art erfordere. Der<br />

Handlungsspielraum sei allerdings sehr eng, da<br />

der Rat sich bereits mehrfach einstimmig<br />

geäußert habe.<br />

Ursula STENZEL stellt fest, dass eine Kluft<br />

zwischen der Realität in der Türkei und den<br />

Arbeiten der Juristen bestehe. Die in Ankara<br />

beschlossenen Reformen würden vielfach nicht<br />

umgesetzt. Sind die türkischen Politiker<br />

wirklich in der Lage, diese Reformen<br />

umzusetzen und bestimmte tief verankerte<br />

Reflexe auszumerzen? Im Rahmen der<br />

Verhandlungen, die in die Erweiterung um die<br />

zehn neuen Mitgliedstaaten mündeten, hat die<br />

Europäische Union nachdrücklich darauf<br />

bestanden, dass die Texte wirklich umgesetzt<br />

werden müssten. Dieses Kriterium müsse auch<br />

für die Türkei gelten, vor allem auf politischer<br />

Ebene.<br />

Aus der Sicht von Ursula STENZEL sollte man<br />

sich keine Illusionen machen, der Beitritt der<br />

Türkei zur Europäischen Union werde sich<br />

schwerlich verhindern lassen. Man müsse<br />

jedoch darauf bestehen, dass der<br />

Verhandlungsprozess transparent verläuft,<br />

und sagen, dass die Verhandlungen nicht<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

24<br />

zwangsläufig in den Beitritt münden werden.<br />

Eine Rückzugslösung müsse möglich sein<br />

Erna HENNICOT-SCHOEPGES legt das<br />

Schwergewicht auf die kulturellen Argumente.<br />

Wie sie hervorhebt, sei es im Wesentlichen der<br />

kulturelle Bruch, der die europäische<br />

Öffentlichkeit beunruhige. Wie will man Europa<br />

auf diesen Bruch vorbereiten? Wie will man<br />

dem Gesetz Vorrang gegenüber dem Glauben<br />

einräumen?<br />

Die Presse enthüllte unlängst, dass in London<br />

die Eröffnung einer islamischen Bank<br />

genehmigt worden sei, die nach der Sharia<br />

funktioniert. Das bedeutet, dass diese Bank<br />

den Anhängern des Islam zinslose Kredite<br />

gewähren kann. Sei das ein Grund, zum Islam<br />

überzutreten? Ist das vereinbar mit den in<br />

der Europäischen Union geltenden<br />

Wettbewerbsregeln?<br />

Renate SOMMER lenkt die Aufmerksamkeit<br />

auf die Tatsache, dass die Türkei keineswegs<br />

auf ein Scheitern der Verhandlungen<br />

eingestellt sei. Die Türkei wolle keinen Beitritt<br />

zweiter Klasse, wie ihn Herr Verheugen<br />

vorgeschlagen habe.<br />

Wollte man der Rede von Premierminister<br />

Erdogan vor der Konferenz der Präsidenten<br />

glauben, so sei die Türkei ein Paradies: die<br />

Religionsfreiheit und die Meinungsfreiheit<br />

seien gewährleistet, die Folter abgeschafft.<br />

Möglicherweise gebe es noch einige Probleme<br />

bezüglich des Minderheitenrechts, aber<br />

früher sei das viel schlimmer gewesen! Wir<br />

wüssten sehr wohl, dass all das nicht wahr ist!<br />

Wenn die Kommission am 6. Oktober ihre<br />

Mitteilung vorlegt, sollte man sich abstimmen.<br />

Die Einleitung der Verhandlungen könne nicht<br />

erfolgen, wenn einige Kriterien nicht erfüllt<br />

seien. Die Einhaltung der Kriterien von<br />

Kopenhagen müsse als Druckmittel dienen.


Bislang seien sie durch die Türkei nicht<br />

umgesetzt worden.<br />

Frau Renate SOMMER besteht ferner darauf,<br />

dass die Eröffnung der Verhandlungen mit der<br />

Türkei ihrem Ergebnis nicht vorgreifen dürfe.<br />

So würde der parallele Aufbau von<br />

Nachbarschaftsbeziehungen der Türkei<br />

gestatten, sich ohne Gesichtsverlust von den<br />

Verhandlungen zurückzuziehen, wenn sie<br />

feststellt, dass sie nicht bereit ist, den acquis<br />

communautaire vollständig zu übernehmen oder<br />

auf den für den EU-Beitritt notwendigen Teil<br />

der nationalen Souveränität zu verzichten.<br />

Als Fazit unterstreicht Edgar LENSKI, dass<br />

es seiner Auffassung nach nicht möglich sei,<br />

eine Ersatzlösung ins Auge zu fassen. Das<br />

wäre nützlich gewesen, aber der Zug sei<br />

bereits abgefahren!<br />

Nach seinem Dafürhalten könne der<br />

Handlungsspielraum sich nur auf die Länge der<br />

Beitrittsverhandlungen erstrecken.<br />

Die Europäische Union habe trotzdem noch eine<br />

wichtige Waffe in der Hand. Für jeden Beitritt<br />

zur Europäischen Union sei die Zustimmung des<br />

Europäischen Parlaments erforderlich. Das<br />

Europäische Parlament könnte sich letztlich<br />

sowohl vom juristischen als auch vom politischen<br />

Standpunkt her immer noch ablehnend äußern,<br />

wenn die Kriterien nicht erfüllt seien.<br />

Alexandre DEL VALLE möchte noch einige<br />

Vorbehalte zu dem Argument äußern, dass die<br />

Türkei seit 70 Jahren bewiesen habe, dass sie<br />

in der Demokratie und der offenen<br />

Gesellschaft verankert sei.<br />

STUDIENTAGE DER EVP-ED-FRAKTION<br />

ZUR TÜRKEI<br />

23.-24. SEPTEMBER 2004<br />

25<br />

In diesen 70 Jahren habe die Türkei 1,5<br />

Millionen Armenier ausgerottet, 2 Millionen<br />

Griechen ins Meer getrieben, Zehntausende<br />

politische Gefangene gemacht und einen<br />

Staatsterror eingeführt, der auch heute in<br />

Kurdistan mit Tausenden Toten noch andauere.<br />

Gewiss sei die Türkei prowestlich gewesen.<br />

Könne man aber sagen, sie habe bewiesen, dass<br />

sie pluralistisch sei, wenn man bedenkt, dass<br />

die Religion auf den Personalausweisen<br />

vermerkt wird, dass Nicht-Sunniten keinen<br />

Zugang zur Verwaltung, zur Armee und zum<br />

höheren öffentlichen Dienst haben und dass die<br />

12 Millionen Aleviten kein Recht auf<br />

Religionsausübung und auch nur die geringste<br />

Anerkennung haben.<br />

Alexandre DEL VALLE ist der Meinung, man<br />

müsse sich in der Debatte von der political<br />

correctness lösen und die Sprache der<br />

Wahrheit sprechen. Abschließend erklärt er,<br />

in der Politik sei die Kunst, Nein sagen zu<br />

können, viel eher ein Zeichen von<br />

Verantwortungsbewusstsein als aus Angst vor<br />

den Konsequenzen Ja zu sagen. Angst sei kein<br />

politisches Handeln.<br />

Nach Meinung von Jacques TOUBON müsse<br />

man von Europa sprechen, wie es sei, und von<br />

dem Europa, das wir wollen, im Verhältnis zur<br />

Türkei wie sie sei.<br />

Vor allem sollten wir uns nicht von Trugbildern<br />

leiten lassen, sondern uns der Wahrheit stellen,<br />

der Wahrheit des europäischen Projekts, das<br />

wir alle wollen, und der Wahrheit der Situation<br />

in der Türkei heute und morgen.<br />

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