Projet_Notre Vision DE
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Unsere <strong>Vision</strong> von Europa 2020<br />
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Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten)<br />
und europäischer Demokraten im Europäischen Parlament<br />
Unsere <strong>Vision</strong> von<br />
Europa 2020<br />
2006<br />
PUBLISHING – BRÜSSEL<br />
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Herausgeber EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament<br />
Vorsitzender Hans-Gert Pöttering<br />
Generalsekretär Niels Pedersen<br />
Verantwortlich Dienststelle Dokumentation - Veröffentlichungen - Forschung<br />
Pascal Fontaine<br />
stellvertretender Generalsekretär<br />
Koordinatoren Andrea Cepová-Fourtoy<br />
ˇ<br />
Emma Petroni<br />
Kooperation Eugenia Bellino<br />
Patricia Halligan<br />
Pascaline Raffegeau<br />
Adresse Europäisches Parlament<br />
60, rue Wiertz<br />
B-1047 Brüssel<br />
Belgien<br />
Telefon + 32 2 283 1293<br />
+ 32 2 284 2284<br />
Internet http://www.europarl.eu.int<br />
E-mail epp-ed@europarl.eu.int<br />
Photos © Europäisches Parlament<br />
© Mediathek der Europäischen Kommission<br />
Beiträge © EVP-ED-Fraktion, Brüssel, 2006<br />
All rights reserved<br />
Layout © Studio Delta<br />
Jean-Claude Grafé (Einband) – Myriam Lequenne<br />
Daniel Van Den Meerssche (Paginierung)<br />
Die Beiträge in diesem Buch spiegeln die Sicht der Autoren wider und nicht<br />
notwendigerweise jene der EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament.<br />
ISBN: 2-8029-0169-9<br />
Editions Delta SA<br />
416, avenue Louise – B-1050 Brüssel – editions.delta@skynet.be<br />
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Inhaltsverzeichnis<br />
Hans-Gert PÖTTERING 9<br />
EINFÜHRUNG: Unsere <strong>Vision</strong> von Europa 2020<br />
1. Roselyne BACHELOT-NARQUIN 17<br />
Dem europäischen Zukunftsgedanken treu bleiben<br />
2. Jan Peter BALKENEN<strong>DE</strong> 25<br />
Europa: Für eine sichere Zukunft müssen wir zurück<br />
zu den Anfängen<br />
3. José Manuel BARROSO 35<br />
Unsere <strong>Vision</strong> von Europa<br />
4. Jacques BARROT 41<br />
Auf dem Weg ins Jahr 2020: Wiederbelebung Europas<br />
5. Simon BUSUTTIL 51<br />
Europas Zukunft gestalten<br />
6. Panayiotis <strong>DE</strong>METRIOU 59<br />
Quo vadis Europa?<br />
7. Armando DIONISI 65<br />
Christentum, Europa und Abendland<br />
8. Valdis DOMBROVSKIS 71<br />
Lettland und Europa für die zukünftigen Generationen –<br />
Wie wird es aussehen?<br />
9. Avril DOYLE 81<br />
Gesundheit – Unsere <strong>Vision</strong> für Europa<br />
Steuerung durch Gesetze oder durch Gerichte?<br />
10. Camiel EURLINGS 91<br />
Den europäischen Traum aufrechterhalten<br />
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INHALTSVERZEICHNIS<br />
11. Jonathan EVANS 99<br />
Europa im Jahr 2020: Die Wirtschaftliche Revolution ist vollendet<br />
12. Benita FERRERO-WALDNER 107<br />
Europa als globaler Partner<br />
13. Ján FIGEL’ 115<br />
Europa – Raum der Hoffnung<br />
14. Vasco GRAÇA MOURA 121<br />
Die neue Dynamik Europas<br />
15. Mathieu GROSCH 127<br />
Die Europäische Integration vor dem Hintergrund<br />
der Globalisierung<br />
16. Gunnar HÖKMARK 133<br />
Europas Erfolge basieren auf dem Mut,<br />
über die Grenzen von heute hinaus zu sehen<br />
17. Piia-Noora KAUPPI 143<br />
<strong>Vision</strong> für Europa 2020<br />
18. Vytautas LANDSBERGIS 151<br />
<strong>Vision</strong>en und Handlungsmöglichkeiten<br />
19. Wilfried MARTENS 155<br />
Die Zukunft der Lissabon-Strategie:<br />
Europa auf den Wachstumspfad bringen<br />
20. Jaime MAYOR OREJA 161<br />
Europa: Eine Geschichte der Freiheit<br />
21. Henryk MUSZYŃSKI 167<br />
Europa im Jahr 2020<br />
22. Markus FERBER und Hartmut NASSAUER 175<br />
Europa als Wertegemeinschaft<br />
23. Ana PALACIO 181<br />
Unsere Sicherheit<br />
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INHALTSVERZEICHNIS<br />
24. Alojz PETERLE 185<br />
<strong>Vision</strong> für ein Europa 2020<br />
25. Zuzana ROITHOVÁ 187<br />
Gemeinsames Erbe, gemeinsame Aufgaben, gemeinsamer Wille<br />
26. Ivo SANA<strong>DE</strong>R 193<br />
Kroatien und Europa im Jahre 2020<br />
27. Jacek Emil SARYUSZ-WOLSKI 201<br />
Europäische Nachbarschaftspolitik<br />
28. Gitte SEEBERG 211<br />
Gemeinsame Werte – Gemeinsame Zukunft<br />
29. Jean SPAUTZ 217<br />
Europatag, 9. Mai 2020<br />
30. Peter ŠŤASTNÝ 227<br />
Ein prosperierendes und sicheres Europa im Jahr 2020<br />
31. Ursula STENZEL 235<br />
Eine realistische Europavision<br />
32. József SZÁJER 241<br />
Eine Gemeinschaft der Gemeinschaften<br />
33. Antonio TAJANI 247<br />
Das Europa, das wir wollen<br />
34. Ioannis M. VARVITSIOTIS 251<br />
Die Epoche der globalen Verflechtung –<br />
Die Ökologie der Kulturen und die Rolle der EU<br />
35. Bernhard VOGEL 257<br />
Europäisches Erbe und europäische Aufgabe –<br />
Europa 2020: Eine Werte- und Kulturgemeinschaft<br />
36. Jan ZAHRADIL 265<br />
Gegenwart und Zukunft der europäischen Integration<br />
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Hans-Gert PÖTTERING<br />
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Unsere <strong>Vision</strong> von Europa 2020<br />
„Where there is no vision, people perish.“<br />
I<br />
Als Jean Monnet 1 im September 1939 mit diesem Bibelzitat sein Memorandum<br />
an Winston Churchill und Franklin Roosevelt schloss, rief er eine alte Weisheit in<br />
Erinnerung: Völker, Nationen, Organisationen, ja selbst Familien – wir alle brauchen,<br />
um dem Leben einen Sinn zu geben, eine <strong>Vision</strong> von der Zukunft. Eine<br />
<strong>Vision</strong> ist nicht einfach ein Bild oder eine bloße Fortschreibung der Gegenwart; eine<br />
<strong>Vision</strong> beinhaltet einen Plan, eine Hoffnung. Ohne Plan und ohne Hoffnung fehlt<br />
uns die Energie, die notwendig ist, um das Leben zu genießen und etwas zu<br />
bewirken.<br />
1939 galt es, die Demokratien zu mobilisieren, um sich auf die gewaltigste<br />
Kriegsanstrengung vorzubereiten, die von Europäern und Amerikanern je unternommen<br />
wurde, um den Albtraum des Nazi-Totalitarismus und des Faschismus zu<br />
überwinden und um die Freiheit und die Menschenrechte wiederherzustellen.<br />
Auch Johannes Paul II. eröffnete den von der kommunistischen Diktatur jahrzehntelang<br />
unterdrückten Völkern Mittel- und Osteuropas eine <strong>Vision</strong> ihres Schicksals<br />
und ihrer Zukunft, als er sie in ihrer Hoffnung bestärkte. Der Glaube an den<br />
Menschen, getragen von der Liebe zur Freiheit und zur Spiritualität, ließ diese<br />
Völker den langen Winter überstehen, der ihnen von der Geschichte aufgezwungen<br />
wurde.<br />
Zur gleichen Zeit hat im Westen unseres Kontinents die gemeinsame <strong>Vision</strong><br />
von Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi 1950 das möglich<br />
werden lassen, was für die Opfer des Krieges unerreichbar schien: Vergebung,<br />
Versöhnung und Brüderlichkeit. Wie es Hannah Arendt in ihrem Buch Vita activa<br />
oder Vom tätigen Leben 2 meisterhaft formulierte, ist das Wunder der Vergebung<br />
als Ausweg aus der Unabänderlichkeit des Getanen eng mit der Fähigkeit verbunden,<br />
als Rettung vor der Unvorhersehbarkeit des Zukünftigen Versprechen abzugeben<br />
und sie zu halten. Die <strong>Vision</strong> von einer besseren Welt, das Versprechen<br />
eines Europas des Friedens und der Toleranz waren die ureigenste Triebkraft und<br />
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HANS-GERT PÖTTERING<br />
der Schlüssel zum Erfolg des Schuman-Plans vom 9. Mai 1950, der die Europäische<br />
Gemeinschaft für Kohle und Stahl ins Leben rief, aus der das politische und institutionelle<br />
System der Europäischen Union hervorgegangen ist.<br />
Jean Monnets <strong>Vision</strong> von 1939, die <strong>Vision</strong> der Gründungsväter der Union von<br />
1950 und die <strong>Vision</strong> von Johannes Paul II., die von den Führern der Solidarnorść<br />
1980, mit Lech Wałęsa an der Spitze, aufgegriffen wurde – sie alle sind Quellen,<br />
aus denen unsere Völker schöpften, um ihre Verzweiflung und Verstörung zu<br />
überwinden und Orte für das Glück zu erobern.<br />
II<br />
„Ohne <strong>Vision</strong> sind die Völker dem Untergang geweiht “. An dieses Zitat wurden<br />
wir auch im Frühjahr 2005 erinnert, als viele Europäer im Zusammenhang<br />
mit der Ratifizierung der Europäischen Verfassung Notsignale aussandten und<br />
Symptome 'kollektiver Ermüdung' zeigten. Steigende Arbeitslosigkeit, Existenzangst,<br />
aufkeimender Populismus, Angst vor Identitätsverlust, Überdruss an übertriebenen<br />
und wirklichkeitsfremden Rechtsvorschriften, die Globalisierung der Wirtschaft<br />
und ihre Folgen für Europa – diese Fragen bewegen heute die Europäer.<br />
Dabei ist in der Union der 25 Mitgliedstaaten mit ihrer immensen historischen<br />
und kulturellen Vielfalt, ihren so unterschiedlichen Traditionen und<br />
Wahrnehmungen die Zahl der Fragen noch weitaus größer. Sie stellen sich im<br />
Norden des Kontinents anders als im Süden, im Osten anders als im Westen. Das<br />
ethnische Gefüge der europäischen Bevölkerung ist so komplex, dass von einem<br />
europäischen Volk nicht die Rede sein kann, nicht einmal von einem öffentlichen<br />
europäischen Raum – trotz der neuen Kommunikationstechniken, die den Austausch<br />
erleichtern und in Realzeit eine Vielzahl von Informationen liefern.<br />
Einen Vorschlag, den die EVP-ED-Fraktion den Europäern am 7. Juni – einige<br />
Tage nach dem 'Nein' im Referendum über die Europäische Verfassung am 29.<br />
Mai in Frankreich und am 1. Juni in den Niederlanden – gemacht hatte, griff der<br />
Europäische Rat am 17. Juni 2005 auf und einigte sich auf eine „Zeit des<br />
Nachdenkens“. Damit wird dem europäischen Aufbauwerk eine demokratische<br />
Atempause gegönnt, die für Foren, Diskussionsveranstaltungen und einen intensiven<br />
Meinungsaustausch genutzt werden kann.<br />
Es ist an der Zeit, dass sich die Europäer besser kennen lernen, denn der historische<br />
Prozess, der vor fünfzehn Jahren – einer halben Generation – zur Niederlage<br />
des Kommunismus und zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums führte,<br />
kam jäh und einschneidend.<br />
Die Erweiterung der EU von 15 auf 25 Staaten innerhalb weniger Jahre ist<br />
zweifellos einer der großartigsten Erfolge, an denen die EVP-ED-Fraktion je maßgeblich<br />
mitgewirkt hat (was übrigens auch für die Einführung des Euro gilt). An<br />
der Verwirklichung des größten politischen und kulturellen Vorhabens dieser Zeit,<br />
nämlich der Einigung Europas in Frieden und Freiheit beteiligt zu sein, ist der<br />
Traum eines jeden Entscheidungsträgers auf unserem Kontinent. Wir waren zugleich<br />
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UNSERE VISION VON EUROPA 2020<br />
aktiv Beteiligte und Augenzeugen einer Bewegung, die schneller verlief, als wir es<br />
uns vorzustellen vermochten. Nur wenige hatten eine große und kühne <strong>Vision</strong>: Das<br />
gemeinsame Engagement von Bundeskanzler Helmut Kohl, von Staatspräsident<br />
François Mitterrand und von Kommissionspräsident Jacques Delors wird in die<br />
Annalen unserer Geschichte eingehen.<br />
Heute haben wir in diesem vereinigten Europa viel voneinander zu lernen.<br />
Die Erfahrungen, welche die Menschen im Osten des Kontinents in den unheilvollen<br />
Jahrzehnten des Kommunismus gemacht haben, unterscheiden sich von<br />
den Erfahrungen Westeuropas, das im Schutz des transatlantischen Schildes seit über<br />
50 Jahren von der Wachstums- und Konsumgesellschaft geprägt wurde. Ich bin<br />
davon überzeugt, dass das reiche geistige und kulturelle Potenzial, über das die<br />
Gesellschaften Mittel- und Osteuropas verfügen, für die Völker Westeuropas eine<br />
enorme Bereicherung darstellen wird.<br />
Kommunikation und verstärkter Gedankenaustausch werden der Schlüssel zu<br />
unserem Erfolg als Europäer auf dem Weg ins Jahr 2020 sein, etwa auf der Ebene<br />
der Kontakte zwischen jungen Menschen (Begegnungen auf Hochschulebene,<br />
Reisen, religiöse und ökumenische Veranstaltungen, Kunstfestivals), als Kontakte<br />
zwischen Städten und Regionen (in Form von Partnerschaften und gemeinsamen<br />
Projekten, auch im karitativen Bereich) oder auch als Kontakte zwischen den<br />
europäischen und den nationalen Institutionen, vor allem zwischen den<br />
Abgeordneten und den gewählten Kommunalvertretern.<br />
Wir müssen einander besser kennen lernen, um uns zu akzeptieren, uns mittels<br />
unserer Unterschiede gegenseitig zu bereichern und die Zukunft gemeinsam<br />
zu gestalten. Das erfordert natürlich Zeit und Geld. Sind wir heute alle davon<br />
überzeugt, dass Europa Frieden bedeutet? Dass jeder Tag, der in den Frieden<br />
investiert wird, die bestmögliche Investition überhaupt ist? Dass aber nationaler<br />
Egoismus, Misstrauen, Überlegenheitsgefühle und Diskriminierungstendenzen<br />
schleichend und unausweichlich zum Konflikt führen, dessen Preis – Leid und<br />
Zerstörung – immer unerträglich hoch ist?<br />
Mit dem Buch Unsere <strong>Vision</strong> von Europa 2020 möchten wir uns als erste<br />
Fraktion im Europäischen Parlament in die demokratische Diskussion einschalten,<br />
die auf das „Versprechen für die Zukunft“ setzt, um die Schwierigkeiten der<br />
Gegenwart und den nagenden Groll der Vergangenheit zu überwinden. Unsere<br />
Fraktion – die als einzige im Europäischen Parlament in allen 25 Mitgliedstaaten<br />
der Union vertreten ist – und die uns nahestehenden oder zu unserer politischen<br />
Familie zählenden politischen Persönlichkeiten haben für das Europa der kommenden<br />
15-20 Jahre nicht nur ein- und dieselbe <strong>Vision</strong>. Das breite Meinungsspektrum<br />
der Parteien, aus denen sich die EVP-ED-Fraktion zusammensetzt, ist gleichermaßen<br />
bekannt wie erwünscht. Wichtig ist aber, was das politische Handeln in den<br />
Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament angeht, dass sich alle über das<br />
Wesentliche einig sind, nämlich die unverrückbare Vorstellung, das alle Menschen<br />
unantastbar und von Geburt an frei sind und dieselben Rechte und Pflichten<br />
gegenüber der Schöpfung haben. Niemand von uns wird den geringsten Abstrich<br />
an diesem Glaubensbekenntnis machen, mit dem alle materiellen Unterschiede, alle<br />
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HANS-GERT PÖTTERING<br />
oberflächlichen und flüchtigen Rivalitäten, alle unterschiedlichen Ansätze überwunden<br />
werden können, um Wirtschaft und Gesellschaft bestmöglich zu gestalten.<br />
An den Menschen glauben, weil der Mensch Mysterium und Hoffnung zugleich<br />
ist; für das Gemeinwohl arbeiten und dabei die Werte bewahren, die in unserem<br />
jüdisch-christlichen Erbe zutiefst verwurzelt sind; sich unermüdlich für die<br />
Durchsetzung von Recht, Solidarität und zwischenmenschlicher Achtung einsetzen –<br />
das sind die Aufgaben, denen sich alle in diesem Buch vertretenen Mitglieder der<br />
EVP-ED-Familie verpflichtet fühlen.<br />
III<br />
Ein solches Erbe fordert unsere Verantwortung als politische Kraft. Bis zum<br />
Jahre 2020 werden die Europäer Stellung beziehen müssen hinsichtlich der<br />
Konsequenzen, die sich – in immer kürzeren Abständen – aus den Fortschritten<br />
der Grundlagenforschung in der Biologie und in der Gentechnik ergeben. Wir<br />
werden ethische Entscheidungen treffen und abwägen müssen zwischen der<br />
Notwendigkeit, der Medizin zur Linderung menschlichen Leidens alle Möglichkeiten<br />
zu eröffnen, und dem Gebot, die Grenzen abzustecken, innerhalb derer wir<br />
Christdemokraten und europäische Demokraten dem Begriff vom Menschen als<br />
Geschöpf Gottes höchste Bedeutung zumessen. Ein solches Abwägen kann nur<br />
demokratisch erfolgen, sollte aber auch durchdrungen sein von der Weisheit geistlicher<br />
Institutionen, mit denen sich die Menschen identifizieren. Die Charta der<br />
Grundrechte, die Teil II des Vertrags über eine Verfassung für Europa bildet, muss<br />
ergänzt werden, um unsere ethischen Werte auch in Anbetracht der Entwicklungen<br />
in der Biotechnologie in den kommenden 15 Jahren berücksichtigen zu können.<br />
Wissenschaft und Technik waren die Triebkräfte der Entwicklung der westlichen<br />
Gesellschaften und ihrer wirtschaftlichen und strategischen Stärke im 19.<br />
und 20. Jahrhundert. In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts werden sich<br />
die Errungenschaften der Forschung und der Informationstechnologie auch auf<br />
anderen Kontinenten ausbreiten, vor allem im bevölkerungsreichen und pulsierenden<br />
Asien. Europa kann sich dem Wettlauf um Produktivität, Kostensenkung und<br />
Mehrung des Wohlstands nicht entziehen.<br />
Unsere <strong>Vision</strong> von Europa im Jahr 2020 basiert auf einer zweifachen Forderung:<br />
— einerseits weltweit dahingehend Einfluss zu nehmen, dass die Naturschätze,<br />
die Umwelt und das ökologische Erbe der Erde – nach unserem Verständnis die<br />
Schöpfung Gottes – nicht durch rücksichtslose Ausbeutung vernichtet werden.<br />
Der steigende Verbrauch von Rohstoffen und Erdöl ist beunruhigend. Er kann<br />
Kriege zur Folge haben, die zunächst über Preise und später vielleicht mit Waffen<br />
ausgetragen werden. Auch die natürliche Knappheit der Ressource Wasser kann<br />
sich durch den Klimawandel sowie den rasanten Anstieg der Bevölkerung zunehmend<br />
verschärfen und wird die strategische Bedeutung des Wassers erhöhen, es<br />
zum Mittelpunkt neuer inner- und zwischenstaatlicher Konflikte werden lassen.<br />
Bei der Lösung dieser Probleme wird unsere Bereitschaft, Frieden zu stiften, in<br />
besonderer Weise herausgefordert werden.<br />
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UNSERE VISION VON EUROPA 2020<br />
Das Überleben der Menschheit wird morgen vielleicht gleichbedeutend sein mit<br />
unserem eigenen Überleben als sehr alte Völker dieses kleinen „Zipfels von<br />
Eurasien“, den Europa darstellt. Wenn Europa in den bestehenden internationalen<br />
Strukturen nicht mit einer Stimme spricht, wäre es dafür mitverantwortlich, falls die<br />
Welt langsam in die Anarchie abdriftet oder erneut Machtkämpfe aufflammen.<br />
Wenn nötig, muss Europa seine Macht dazu nutzen, auf internationaler Ebene das<br />
Entstehen von Regierungsformen zu stärken und zu fördern, die den künftigen<br />
Generationen eine optimale Bewirtschaftung der Ressourcen dieses Planeten<br />
sichern. Diese Forderung zieht die Schaffung einer europäischen politischen<br />
Autorität nach sich, die von den Menschen nachdrücklich legitimiert wird, in deren<br />
Namen handelt und sich auf die Übereinstimmung der Europäer in ihren gemeinsamen<br />
Werten stützt. Bis 2020 müssen wir das Amt eines Präsidenten der<br />
Europäischen Union eingeführt haben, eines Präsidenten, der, ausgestattet mit der<br />
Autorität und dem Mandat der Union, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten<br />
und dem Präsidenten Chinas auf gleicher Augenhöhe begegnet. Aufgrund unserer<br />
im Wesentlichen gleichen Werte bleibt dabei das Bündnis zwischen Europa<br />
und den USA im 21. Jahrhundert von großer Bedeutung.<br />
— andererseits in Forschung und Wissenschaft die personellen und finanziellen<br />
Ressourcen wesentlich zu steigern, die Europa bereitstellt, um im Rennen um<br />
die globale Wettbewerbsfähigkeit weiterhin mithalten zu können. Der „Lissabonner<br />
Prozess“, der im März 2000 vom Europäischen Rat eingeleitet wurde, hatte das<br />
Ziel gesetzt, die Europäische Union bis 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und<br />
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem<br />
Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und<br />
besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“.<br />
Dieser durchaus berechtigte Ehrgeiz würde an Glaubwürdigkeit gewinnen und<br />
die Öffentlichkeit mobilisieren, könnte er sich in jedem Mitgliedstaat auf entsprechende<br />
nationale Maßnahmen stützen, an denen es aber die Regierungen oft noch<br />
mangeln lassen. Unsere Fraktion fordert deshalb, für eine optimale Nutzung der<br />
finanziellen Mittel der Union zu sorgen, damit Wissenschaft und Technik der<br />
Europäer Fortschritte machen und ihre Wirtschaft im globalen Wettbewerb an<br />
Dynamik gewinnt.<br />
2020 sollte die Europäische Union über ein Forschungs- und Entwicklungspotenzial<br />
im Bereich der neuen Technologien verfügen, das mindestens dem der<br />
Vereinigten Staaten von Amerika entspricht. Dafür muss aus dem EU-Haushalt ein<br />
stetig wachsender Anteil bereitgestellt werden, um eine „gegenseitige Befruchtung<br />
der grauen Zellen“ zu gewährleisten und eine Bündelung der Ressourcen zu<br />
ermöglichen.<br />
IV<br />
Unsere moderne Gesellschaft hat eine Phase erreicht, die vom „Prinzip der<br />
Unsicherheit“ geprägt ist. Die Entscheidungsmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt,<br />
die Rahmenbedingungen machen jede Planung ungewiss. Es wird für die<br />
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HANS-GERT PÖTTERING<br />
Politik immer schwieriger, alle Faktoren vorherzusehen, die die Politik eines<br />
Kontinents bestimmen, der mehr und mehr von der Globalisierung beeinflusst<br />
wird.<br />
Nach Auffassung des griechischen Philosophen Epiktet besteht Weisheit darin,<br />
unterscheiden zu können zwischen Dingen, die in unserer Macht stehen, und<br />
denen, die nicht in unserer Macht stehen:<br />
— Wir wollen unseren Einfluss als größte politische Kraft im Europäischen<br />
Parlament zum Nutzen einer Europäischen Union einsetzen, die das institutionelle<br />
System der Gemeinschaft bewahrt, welches mit den Gründungsverträgen geschaffen<br />
wurde. Das Gleichgewicht und der Dialog zwischen einem demokratischen<br />
Europäischen Parlament, einer starken Kommission, die ihre Aufgaben als Garant<br />
der gemeinsamen Interessen der Europäer wahrnimmt, und einem Rat, der die<br />
Staaten zur Festlegung und Anwendung des europäischen Rechts auf nationaler<br />
Ebene verpflichtet, sind unverzichtbar. Dies ist für uns nicht verhandelbar. Die<br />
Rückkehr zum Europa der Achsen und Koalitionen kann nur zu Konfrontation<br />
und in die Sackgasse führen. Wir werden die Achtung des Rechts stets über die<br />
Anwendung von Gewalt stellen, Mehrheitsentscheidungen über den Gebrauch<br />
des Vetos und die Gleichheit zwischen den Staaten über die Neigung zur<br />
Blockbildung. Unsere Union kann nicht überleben, wenn sie hinter die institutionellen<br />
Prinzipien der Gemeinschaft zurückfällt. Eine Rückbildung der Union zu einer<br />
einfachen Freihandelszone wäre die schleichende Rückkehr zu einem Europa des<br />
Populismus und schließlich des Nationalismus, was wir entschieden ablehnen.<br />
— Angesichts der Ungewissheit, aber auch der Chancen, die die Zukunft bietet,<br />
muss Europa bereit sein, zuzuhören und sich in Bescheidenheit zu üben, und<br />
zwar in zwei Richtungen:<br />
– Einerseits innerhalb der Binnengrenzen, die über den Grad der anzustrebenden<br />
Integration und Vergemeinschaftung entscheiden. Jede europäische Gesetzgebung<br />
muss im Hinblick auf Subsidiarität, Kosten-Nutzen-Verhältnis und Zusatznutzen<br />
für den Bürger sorgfältig begründet werden. Wir werden Schritt für Schritt dafür<br />
sorgen, dass der Binnenmarkt optimal funktioniert – zum Vorteil der Verbraucher,<br />
der Beschäftigung, des Wachstums und der nachhaltigen Entwicklung. Aber ist es<br />
überhaupt möglich und wünschenswert, für die kommenden 15 Jahre die endgültige<br />
Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen europäischer und nationaler<br />
Ebene streng festzulegen? Wäre nicht eher Pragmatismus angebracht, wenn man<br />
bedenkt, dass der Aufbau Europas von Anfang an vor allem ein realistischer Prozess<br />
der Anpassung unserer Länder an eine sich unablässig wandelnde Welt gewesen<br />
ist? Ich bin überzeugt, dass jeder Versuch, Europa anhand eines „Idealmodells“<br />
aufzubauen, dass jede systematische Planung, die ohne Rücksicht auf die sich verändernde<br />
Realität unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft durchgesetzt werden<br />
soll, zum Scheitern verurteilt wäre und von der Öffentlichkeit abgelehnt würde.<br />
Die Union des Jahres 2020 muss Qualität über Quantität stellen. Bürokratische<br />
Auswüchse müssen sowohl auf der Ebene unserer Staaten und unserer Regionen<br />
als auch in Brüssel bekämpft werden. Als Europäisches Parlament könnten wir<br />
das geltende Gemeinschaftsrecht mit seinen Verordnungen und Richtlinien inner-<br />
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UNSERE VISION VON EUROPA 2020<br />
halb kürzester Zeit gemeinsam mit Kommission und Rat auf seine Zweckmäßigkeit<br />
und Aktualität hin überprüfen.<br />
– Bei Aussagen über die Funktionsfähigkeit einer bis 2020 auf 28 oder mehr<br />
Mitglieder erweiterten Union stellt sich unwillkürlich die Frage der zukünftigen<br />
Außengrenzen bzw. der Erweiterungsfähigkeit der Union. Ohne Ausweitung<br />
der Mehrheitsentscheidungen im Rat und gleichberechtigter Mitentscheidung des<br />
Europäischen Parlaments besteht die Gefahr einer zunehmenden Lähmung der<br />
Organe der Union.<br />
Die genannte Zahl von 28 Staaten würde neben den gegenwärtig 25 Mitgliedern<br />
noch Bulgarien, Rumänien und Kroatien einschließen. Weitere Balkan-Staaten sollten<br />
schrittweise an die europäischen Strukturen herangeführt werden, mit dem<br />
langfristigen Ziel einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Andere (ost-)<br />
europäische Staaten, darunter beispielsweise die Ukraine, müssen zunächst selbst<br />
nach einer Antwort auf die Frage suchen, ob sie die Voraussetzungen für eine<br />
Annäherung an die Europäische Union – oder gar eine Mitgliedschaft – schaffen<br />
wollen. Mit Russland muss die Europäische Union stabile und geordnete<br />
Sonderbeziehungen anstreben. Mitglied der Europäischen Union kann Russland<br />
nicht werden; es würde mit seiner Größe die anderen Länder dominieren. Aber die<br />
Stabilität und Sicherheit des europäischen Kontinents im 21. Jahrhundert wird auf<br />
den beiden Säulen Europäische Union und Russland und den guten Beziehungen<br />
zwischen ihnen beruhen.<br />
Heute, da Europa an einem Scheideweg steht, stellt sich die Frage: Will man<br />
nicht nur eine wirtschaftliche oder sich aus sicherheitspolitischen Erwägungen<br />
erweiternde Union, sondern auch eine politische mit einer eigenen Europäischen<br />
Verfassung? Dann müssen künftigen Beitrittsentscheidungen auch solche Überlegungen<br />
zugrunde gelegt werden. Beispielsweise würde sich der Charakter der<br />
Europäischen Union durch einen Beitritt der Türkei nicht nur entscheidend ändern,<br />
sondern die Europäische Union würde in absehbarer Zeit dadurch auch in geographischer,<br />
politischer, kultureller und finanzieller Hinsicht überfordert. Die<br />
Grenzen der Gemeinschaft würden verlagert und Beitrittsforderungen anderer<br />
Staaten folgen. Vor allem würde der Beitritt der Türkei die Gemeinschaft "überdehnen",<br />
das heißt, die identitätsstiftende Kraft, das Gemeinsame, das die Europäer<br />
Verbindende könnte verloren gehen.<br />
Der Türkei und anderen – europäischen – Ländern könnte als Alternative zur<br />
Mitgliedschaft in der Europäischen Union eine „privilegierte Partnerschaft“ angeboten<br />
werden, um ihre demokratische Stabilität und ihre wirtschaftliche Entwicklung<br />
zu fördern. Das setzt seitens der Union voraus, dass sie tatsächlich in der Lage ist,<br />
finanzielle und technische Hilfe zu leisten, um die innere Sicherheit und die<br />
Modernisierung des gesamten Kontinents zu gewährleisten. Beispielsweise müssen<br />
wir in unser aller Interesse den Ausbau der kontinentalen Verkehrs- und<br />
Energienetze fördern und gemeinsam den Kampf gegen Terrorismus, Kriminalität<br />
und illegale Einwanderung führen.<br />
Die beiden zuletzt genannten Aspekte – Terrorismus und Immigration – erfordern<br />
von uns eine neue Perspektive für unsere Beziehungen mit dem Mittelmeer-<br />
15
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 16<br />
HANS-GERT PÖTTERING<br />
Raum, unserem wichtigen Nachbarn. Uns verbinden Geschichte, Handel und auch<br />
Migration. Der Barcelona-Prozess als umfassendes Konzept der Zusammenarbeit<br />
und der gleichberechtigten Teilhabe zwischen der Europäischen Union und den<br />
südlichen und östlichen Mittelmeer-Anrainern wird an Bedeutung gewinnen mit<br />
dem Ziel, Frieden, Stabilität und Wohlstand im Mittelmeer-Raum zu sichern – durch<br />
Verringerung der Armut, Schaffung eines Raums gemeinsamen Wohlstands und<br />
gemeinsamer Werte, stärkere wirtschaftliche Integration und verstärkte politische<br />
und kulturelle Beziehungen mit den an die erweiterte Europäische Union angrenzenden<br />
Nachbarregionen.<br />
Der politische Dialog Europa-Mittelmeer soll helfen, eine Antwort auf die Frage<br />
zu finden, wie wir den Terrorismus durch eine Politik der Verständigung der<br />
Kulturen im Keim ersticken können und durch eine konstruktive Zusammenarbeit<br />
dem Terror den Nährboden entziehen können. Dabei spielt der Dialog mit dem<br />
Islam eine entscheidende Rolle. Der Islam prägt die Menschen und die Kultur des<br />
Mittelmeer-Raumes. Wir müssen versuchen, durch eine Politik der Verständigung<br />
einen "clash of civilizations " zu verhindern, und zwar auf beiden Seiten des<br />
Mittelmeers: durch einen Beitrag zu mehr Wohlstand in ihrer Heimat müssen wir<br />
jungen Menschen eine Perspektive auf Arbeitsplätze und einen Anreiz geben, in<br />
Ihrer Heimat zu bleiben. Denen, die nach Europa gekommen sind und noch in einer<br />
geordneten Entwicklung kommen werden, müssen wir eine Integration bei uns<br />
ermöglichen.<br />
Am Ende dieser Einleitung zu einem Buch, das dazu beitragen soll, den europäischen<br />
Bürgern unsere politischen Ziele für Europa zu erläutern, steht mein<br />
Wunsch, damit auch einen Beitrag zur Wiederherstellung des unverzichtbaren<br />
Vertrauens zwischen der Öffentlichkeit, den Bürgern, den treibenden Kräften der<br />
Gesellschaft und der Jugend einerseits sowie den Organen der Union und den<br />
auf europäischer Ebene organisierten politischen Kräften wie der EVP-ED-Fraktion<br />
andererseits zu leisten. Nur mit Vertrauen und der Wiederaufnahme dieses Dialogs<br />
hat das historische Vorhaben der notwendigen Einigung unseres europäischen<br />
Kontinents Aussicht auf Erfolg.<br />
Es freut mich, dass alle von uns angesprochenen Persönlichkeiten einen Beitrag<br />
zu diesem Werk beigesteuert haben. Die Liste der Verantwortungsträger, die in<br />
diesem Buch zu Wort kommen, ihr Engagement und ihr Ideenreichtum erfüllen<br />
unsere politische Familie mit Stolz. Ihnen gilt mein Dank und den Lesern der<br />
Wunsch, dass diese Initiative unserer Parlamentsfraktion gut aufgenommen werden<br />
möge als Beweis unserer Absicht, die öffentliche Diskussion über Europa zu<br />
bereichern.<br />
1 Jean MONNET, Memoiren eines Europäers, München, 1980.<br />
November 2005<br />
2 Hannah ARENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, 1981.<br />
16
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Roselyne BACHELOT-NARQUIN<br />
Mitglied der französischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Dem europäischen Zukunftsgedanken treu bleiben<br />
Plenarsaal des Europäischen Parlaments, 9. Mai 2020<br />
Für die Einberufung der feierlichen Sitzung des Europäischen Konvents, auf<br />
der die Rechtsgültigkeit der Änderung des Grundgesetzes der Union – des<br />
Verfassungsvertrags für Europa – bestätigt werden sollte, hatte die Präsidentin<br />
der Europäischen Union im Jahr 2020 das symbolträchtige Datum des 9. Mai<br />
gewählt. Vom Präsidium aufgefordert, das Wort zu ergreifen, erläutert die<br />
Präsidentin im Namen der Staats- und Regierungschefs die Gründe für diese<br />
außerordentliche Sitzung: Es gehe darum, wie der neue, von der Union im<br />
Rahmen der Weltorganisation für Handel und nachhaltige Entwicklung (WOHNE)<br />
ausgehandelte internationale Vertrag berücksichtigt werden soll. Erstmalig tritt<br />
ein Europäischer Konvent auf Initiative einer internationalen Bewegung und<br />
nicht auf Ersuchen einer europäischen Staatengruppe oder einer europäischen<br />
Petition mit den Unterschriften von einer Million Bürgern zusammen.<br />
Danach spricht der Präsident der Europäischen Kommission zu den<br />
Konventsmitgliedern – europäischen und nationalen Abgeordneten. Als Hüterin<br />
der Verfassung und des allgemeinen gemeinschaftlichen Interesses befürwortet<br />
die Kommission diesen bedeutenden innovativen Akt in der Verfassungsgeschichte<br />
Europas. Der ehemalige konservative Ministerpräsident Norwegens, auf den das<br />
Referendum zum EU-Beitritt seines Landes zurückgeht, beginnt aus gegebenem<br />
Anlass seinen Beitrag mit einer Würdigung der „Gründerväter“, darunter Robert<br />
Schuman, dessen inzwischen an allen Schulen des Kontinents immer wieder<br />
zitierten Worte er in Erinnerung ruft: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden<br />
ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.<br />
Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation<br />
leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen [...]<br />
Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine<br />
einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die<br />
17
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 18<br />
ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN<br />
zunächst eine Solidarität der Tat schaffen“. Anschließend zeichnet der<br />
Kommissionspräsident ein kompromissloses Bild der schwerwiegenden diplomatischen<br />
Probleme in den Vereinten Nationen und in der WOHNE, denn die<br />
Verschlechterung der Umweltsituation, die Verschmutzung des Weltraums und<br />
die damit einhergehenden Schwierigkeiten beeinträchtigen den freien Verkehr<br />
von Personen, Waren und Dienstleistungen. Das Verdienst Europas in Partnerschaft<br />
mit Russland und der Türkei ist es, dass in einer gemeinsamen Erklärung der<br />
Wille zur Unterzeichnung dieses neuen Vertrags bekräftigt wurde, mit dem neue<br />
Umweltstandards eingeführt werden sollen. Europa möchte mit der Übernahme<br />
dieses internationalen Rechts in sein Verfassungsrecht beispielgebend sein, nachdem<br />
der heftige Konflikt, zu dem es in diesem Zusammenhang zwischen China<br />
und den USA gekommen war, ausgeräumt werden konnte. Die im Umfeld von<br />
Präsident Deng sehr einflussreichen chinesischen Neoimperialisten lehnen es ab,<br />
sich diesen Regelungen unterzuordnen, indem sie einerseits geltend machen,<br />
dass die Umweltverschmutzungen weitgehend vom Westen herrühren, und sich<br />
andererseits weigern, ein internationales Gesetz anzuerkennen, das dem derzeit<br />
für anderthalb Milliarden Einwohner der Bundesrepublik China geltenden Gesetz<br />
übergeordnet sein soll. Präsident George Prescott Bush, der Neffe des ehemaligen<br />
Präsidenten und erster Präsident spanischer Herkunft in der Geschichte der<br />
USA, der vom gesamten, im Mercosur vereinten Lateinamerika unterstützt wird,<br />
setzt sich aktiv für die Ratifizierung des Vertrags ein, muss jedoch mit der deutlichen<br />
Feindseligkeit des mehrheitlich republikanischen Kongresses fertig werden.<br />
Anschließend erhalten die einzelnen Fraktionsvorsitzenden des Konvents das<br />
Wort, wobei jeder seine Meinung zum Ausdruck bringt und die ihm gebotene<br />
Tribüne nutzt, um die Bilanz der Veränderungen zu ziehen, die sich in den 15 Jahre<br />
nach der bedeutsamen Krise im Jahr 2005 vollzogen haben.<br />
— Die griechische Vorsitzende der EVP-Fraktion (Europäische Volkspartei)<br />
würdigt besonders Russland und die Türkei für den gemeinsamen Standpunkt,<br />
den sie in Partnerschaft mit der EU zum Vertrag der WOHNE vertreten haben<br />
und der es dem eurasischen Kontinent erlaubt, den Kompromiss mit einer gewichtigeren<br />
Stimme zu vertreten. Die EVP-ED-Vorsitzende nimmt dies zum Anlass,<br />
um das umfassende Bündnis zwischen den drei Zivilisationen und die friedliche<br />
Regelung zu würdigen, die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Erdogan und seinem<br />
griechischen Amtskollegen Karamanlis anlässlich der bedeutsamen<br />
Begegnung am Bosporus im Jahr 2009 konzipiert worden war. Dieser Kompromiss,<br />
der ursprünglich aufgrund der unüberwindlichen technischen und politischen<br />
Probleme des EU-Beitritts der Türkei als Erfolg versprechende und konstruktive<br />
Alternative galt, der gleichwohl über eine einfache „privilegierte Partnerschaft“<br />
hinausging, mit der keine ausreichend soliden institutionellen Bindungen zustande<br />
kamen, ermöglichte es durch die Modernisierung der ehemaligen Institution<br />
des Europarates, den in seiner damaligen Form bestehenden europäischen<br />
Kontinent um das umfassende Bündnis der drei großen Zivilisationen des eurasischen<br />
Kontinents zu bereichern. Zu lange hatte die politische Klasse Europas<br />
18
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<strong>DE</strong>M EUROPÄISCHEN ZUKUNFTSGEDANKEN TREU BLEIBEN<br />
versucht, die beiden Europa – das kontinentale, von Beziehungen auf<br />
Regierungsebene geprägte Europa des Europarates und die Europäische Union<br />
mit ihrer gemeinschaftlichen Ausrichtung – gegeneinander auszuspielen, ohne zu<br />
begreifen, dass sie sich in Wirklichkeit ergänzten und zwei Seiten eines gleichen<br />
Ziels, eines gleichen Projekts und einer gleichen Hoffnung waren, nämlich die<br />
Menschen zu einen. Die Verhandlungen des Jahres 2009 brachten neben der<br />
endgültigen Regelung der Zypernfrage auch die Antwort auf die Erwartungen<br />
Russlands, das nach dem Niedergang des Sowjetregimes auf der Suche nach seinem<br />
Platz war und ausgeglichene und konstruktive Beziehungen zu seinen<br />
Nachbarn in der Europäischen Union und nicht selten sogar zu seinen Partnern<br />
der GUS (Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten) anstrebte. Mit dem neuen<br />
Vertrag des Europarates, einer modernisierten Fassung des Vertrags von 1949,<br />
wurden übrigens die neuen Institutionen mit weiter reichenden Kompetenzen ausgestattet.<br />
Über die Bekämpfung des Terrorismus, die Verbreitung von<br />
Massenvernichtungswaffen und die Schwerkriminalität hinaus verfolgte das kontinentale<br />
Europa energie- und umweltpolitische Ziele, wobei diese Bereiche aufgrund<br />
der grenzüberschreitenden Wirkung von Umweltverschmutzungen miteinander<br />
verknüpft sind.<br />
In wesentlichen Punkten der Debatte kommen die Abgeordneten der EVP<br />
überein, für den Vorschlag zu stimmen, mit Ausnahme einer Minderheit, die sich<br />
gegen den Gedanken wehrt, nicht institutionelle, sondern materiell-rechtliche<br />
Vorschriften zur Verfassungsnorm zu erheben. Schließlich hatten die<br />
Europaabgeordneten nach langen Debatten im Pöttering-Saal ihrer Vorsitzenden<br />
das klare Mandat zur Unterstützung der EU-Präsidentschaft erteilt. Der überaus<br />
dynamische Vorsitzende der ebenfalls im Konvent vertretenen britischen konservativen<br />
Partei hatte versprochen, im Rat der Republikanischen Partei der USA<br />
mit allem Nachdruck aufzutreten, wo er demnächst als Abgeordneter sprechen<br />
solle, um zu versuchen, den Kongress zu beeinflussen.<br />
— Der britische Vorsitzende der PS<strong>DE</strong>-Fraktion (Partei der Europäischen<br />
Sozialdemokraten) würdigt nachdrücklich den ehemaligen Premierminister Tony<br />
Blair. Aufgrund des Vorrangs, der vor 15 Jahren unter seiner Führung der Energie,<br />
Forschungs- und Weltraumpolitik eingeräumt wurde, sah sich nämlich die EU in<br />
die günstige Lage versetzt, die Ziele der Minderung von Umweltverschmutzungen<br />
zu erfüllen. Unabhängigkeit im Energiebereich ist im 21. Jahrhundert gleichbedeutend<br />
mit der Unabhängigkeit im Agrarsektor im 20. Jahrhundert. Die europäische<br />
Politik hatte durch eine drastische Reduzierung der Verwendung fossiler<br />
Energiequellen, die Neubelebung der Atombranche auf der Grundlage der<br />
Forschungsarbeiten mit dem ITER-Reaktor, durch die Modernisierung des bestehenden<br />
Atomkraftwerksparks, den verstärkten Einsatz erneuerbarer und alternativer<br />
Energien wie Biokraftstoffe sowie die Steuerung des Verbrauchs durch eine<br />
wirksame Energieeffizienzpolitik Weitblick bewiesen. Die Europäische Union<br />
erwarb Verdienste als Weltraum-Großmacht, indem sie sich für die<br />
Vergemeinschaftung der entsprechenden nationalen Programme und die<br />
19
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 20<br />
ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN<br />
Entwicklung aktiver Partnerschaften mit Russland und der Türkei entschied. Der<br />
Fraktionsvorsitzende beglückwünscht die europäischen Raumfahrer, die sich<br />
neben einem Russen und einem Türken auf eine Mars-Mission vorbereiten.<br />
Abschließend begrüßt er die Einheit des eurasischen Kontinents und den<br />
Kompromiss, der zwischen den 35 Staats- und Regierungschefs in der<br />
Europäischen Union erzielt wurde. Überdies bringt die PS<strong>DE</strong>-Fraktion die Überzeugung<br />
zum Ausdruck, dass die neuen Grenzen der Europäischen Union, die<br />
mit der letzten EU-Erweiterung um die bis dahin außerhalb der Union stehenden<br />
Republiken des ehemaligen Jugoslawiens im Jahr 2018 auf symbolträchtige Weise<br />
100 Jahre nach dem selbstmörderischen ersten Weltkrieg in Europa gezogen wurden,<br />
endgültig sind und von einem ausgewogenen Verhältnis zeugen.<br />
— Der Vorsitzende der Fraktion der Liberalen (EL<strong>DE</strong>) stellt die Menschenrechtsfrage<br />
an den Anfang seiner Ansprache. Menschenrechte sind überaus wichtig<br />
und die Suche nach einem Kompromiss mit China darf nicht als Alibi dienen,<br />
um die in diesem Land beobachteten häufigen Angriffe auf die entstehende<br />
Demokratie zu kaschieren. In diesem Zusammenhang wurde es durch die<br />
Regelung der institutionellen Frage möglich, den Einfluss der EU auf der internationalen<br />
Bühne zu verankern. Mit einem europäischen Sitz im UN-Sicherheitsrat<br />
ist die europäische Außenpolitik heute wirklich integriert, wobei die ehemaligen<br />
ständigen europäischen Mitglieder nach wie vor präsent sind. Der Vorsitzende<br />
der liberalen Fraktion verweist darauf, dass seine Fraktion häufig zu den<br />
Vordenkern gehört habe, wenn es darum ging, die Gründungsdokumente der<br />
Europäischen Union auf den neuesten Stand zu bringen. Heute werde durch die<br />
vorliegenden Dokumente die Rechtmäßigkeit Europas in zweifacher Hinsicht<br />
bestätigt – als Union der Nationen und als Bürgerunion. In diesem Zusammenhang<br />
habe die dringend erwartete Reform des institutionellen Dreiecks – Parlament, Rat<br />
und Kommission – die Sanierung dieser Institutionen ermöglicht.<br />
Das Europäische Parlament zählt 700 Europaabgeordnete, die nach einem<br />
einheitlichen Gesetz gewählt werden.<br />
Der Rat der EU und der Europarat haben sich vereinigt und bilden nunmehr<br />
einen Rat der Staaten unter einheitlichem Vorsitz, wobei die Abstimmung mit<br />
qualifizierter Mehrheit zur Regel geworden ist, während Verfassungsänderungen<br />
bei gemeinsamen Politikbereichen einer noch darüber hinausgehenden Mehrheit<br />
bedürfen.<br />
Die Europäische Kommission umfasst 12 Mitglieder, die von assoziierten delegierten<br />
Kommissionsmitgliedern unterstützt werden. Sie ist dem Europäischen<br />
Parlament gegenüber verantwortlich.<br />
Der Vorsitzende der Liberalen bringt den Wunsch zum Ausdruck, auf lange<br />
Sicht bei der Einbindung bestimmter Politikbereiche noch weiter gehen zu können,<br />
räumt jedoch ein, dass zweifellos eine Pause erforderlich ist, um Störungen<br />
in der Art zu vermeiden, wie sie Europa vor 15 Jahren derart aus dem<br />
Gleichgewicht gebracht haben.<br />
— Die Co-Sprecherin der Fraktion der Grünen verweist auf den überaus gro-<br />
20
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 21<br />
<strong>DE</strong>M EUROPÄISCHEN ZUKUNFTSGEDANKEN TREU BLEIBEN<br />
ßen Rückstand, der in den vergangenen 20 Jahren trotz aller Appelle seitens der<br />
Grünen im Bereich der Bekämpfung des Treibhausgaseffekts und der<br />
Klimaänderungen zu verzeichnen ist. Ihr Angriff richtet sich direkt gegen die<br />
sozialdemokratischen und konservativen europäischen Regierungsparteien, die<br />
sie beschuldigt, die Probleme nicht richtig eingeschätzt und die Atomkraftwerksbranche<br />
wiederbelebt zu haben. Im Jahr 2019 kam es erneut zu Naturkatastrophen<br />
großen Ausmaßes mit Überschwemmungen, die Tausende Todesopfer forderten.<br />
Die italienische Abgeordnete verweist darauf, dass diese Umweltanomalien<br />
vor einem Hintergrund stattfinden, der durch Wassermangel und<br />
Wasserverschmutzung und die Verdrängung traditioneller landwirtschaftlicher<br />
Kulturen durch GVO-Pflanzen geprägt ist, die in der EU inzwischen auf mehreren<br />
Millionen Hektar angebaut werden, die Verbrauchergesundheit bedrohen<br />
und Gewinne generieren, die amerikanischen Investmentfonds zugute kommen,<br />
während die europäischen Rentner zusehen müssen, wie ihre Einkommen<br />
schrumpfen.<br />
— Der slowakische Vorsitzende der UEN-Fraktion (Union für das Europa der<br />
Nationen) kündigt an, dass seine Fraktion keine Abstimmungsanweisungen geben<br />
wird. Die Vertreter der nationalen Rechten, die hinsichtlich der Stichhaltigkeit<br />
der unterbreiteten Verfassungsänderungen geteilter Meinung sind, verfügen somit<br />
über eine unbeschränkte Abstimmungsfreiheit und können ihrem Gewissen entsprechend<br />
entscheiden. Dennoch identifiziert sich die Fraktion nicht mit der<br />
Einführung eines Rechts, das auf dem Gedanken der internationalen Gemeinschaft<br />
beruht und unmittelbar in das Recht der regionalen politischen Gemeinschaften<br />
überführt werden kann. Die UEN setzt sich für eine Solidarität ein, die die multipolare<br />
Welt reflektiert, so wie sie ist, und die auf der Zusammenarbeit und nicht<br />
auf der Integration der verschiedenen Pole beruht. Der Fraktionsvorsitzende<br />
spricht auch über seine Zweifel hinsichtlich des Inhalts der zur Verfassungsnorm<br />
erhobenen Regeln, u.a. beim Vorsorgegrundsatz, und deren Auswirkungen auf die<br />
Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Schließlich bringt der aus<br />
Bratislava stammende Fraktionsvorsitzende seine ganz persönliche Meinung verbunden<br />
mit dem Wunsch zum Ausdruck, Europa möge wieder an die <strong>Vision</strong><br />
einer Diplomatie anknüpfen, wie sie von Václav Havel erstmals in seiner historischen<br />
Rede vor der französischen Nationalversammlung im Jahr 1999 konzipiert<br />
worden war . Im Sinne dieses großen Dramatikers und ehemaligen<br />
Präsidenten der Tschechoslowakischen und später der Tschechischen Republik<br />
kann die „Vorstellung einer Verantwortung für die Welt“, die er den Europäern<br />
wünscht, sich nicht zu einer Form eines europäischen Imperialismus entwickeln.<br />
Diese Vorstellung beinhaltet sogar das ganze Gegenteil, denn ihr geht es darum,<br />
ein Beispiel zu geben, in aller Demut den Weg zu weisen, „das Kreuz der Welt<br />
auf seine Schulter zu laden“. Abschließend fordert der Europaabgeordnete den<br />
alten Kontinent auf, vor allem gründlich über sein Gesellschaftsmodell nachzudenken,<br />
damit es als Beispiel dienen kann, anstatt zu versuchen, neue weltweit<br />
geltende rechtliche und materielle Zwänge mit höchst ungewissen Auswirkungen<br />
21
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 22<br />
ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN<br />
festzulegen. Die Europäer dürfen vor den wirklichen Gründen von Auseinandersetzungen<br />
auf internationaler Ebene nicht davonlaufen, deren Quelle unsere kollektiven<br />
Irrtümer und ein schrankenloser Individualismus sind. Daher schließt<br />
der Fraktionsvorsitzende seine Ansprache mit der Verlesung eines Auszugs aus<br />
der Rede von Václav Havel vor dem Europäischen Parlament am 16. Februar<br />
2000, dessen Empfehlungen von damals immer noch weitgehend aktuell sind: „An<br />
dieser Zeitenwende ist es meines Erachtens Aufgabe Europas, mutig über die<br />
Ambivalenz seiner Rolle in der Welt nachzudenken, zu verstehen, dass wir die<br />
Welt nicht nur die Menschenrecht gelehrt, sondern ihr auch den Holocaust<br />
gebracht haben, dass wir sie nicht nur geistig in die industrielle Revolution und<br />
die Informationsgesellschaft geführt, sondern auch dazu getrieben haben, im<br />
Namen der Anhäufung materieller Reichtümer die Natur zu misshandeln, Raubbau<br />
an ihren Ressourcen zu betreiben und die Luft zu verschmutzen... Bescheidenheit,<br />
Entgegenkommen, Freundlichkeit, die Achtung vor dem, was wir nicht verstehen,<br />
das tiefe Gefühl der Solidarität mit den Anderen, die Achtung alles Andersartigen,<br />
die Bereitschaft, Opfer zu erbringen oder gute Taten zu vollbringen, die erst in<br />
der Ewigkeit belohnt werden, in der uns allezeit ganz leise im Unterbewusstsein<br />
begleitenden Ewigkeit: dies alles sind Werte, auf denen das europäischen<br />
Einigungswerk beruhen könnte und sollte.“<br />
— Im Namen der GUE (Vereinigte Europäische Linke) greift die französische<br />
Fraktionsvorsitzende die EVP-Führung an, gegen die der Vorwurf der Hörigkeit<br />
gegenüber dem Großkapital besteht, und verweist auf die Marx’sche Prophezeiung<br />
der Selbstzerstörung. Ihr Beitrag wird von heftigen Pfiffen begleitet. Sie schließt<br />
vorzeitig ab, denn sie wird ihrerseits von den Mitgliedern des Flügels der<br />
Globalisierungsgegner ihrer eigenen Fraktion angegriffen, die sie überkommenen<br />
Denkens und der Unfähigkeit bezichtigen, die verschiedenen Strömungen der<br />
GUE zusammen zu bringen. Die französische Abgeordnete wiederum kontert<br />
mit Anschuldigungen eines unverantwortlichen Revisionismus. Als das allgemeine<br />
Durcheinander seinen Höhepunkt erreicht, flüchtet sich die Fraktion in die<br />
Stimmenthaltung, bezüglich derer man berechtigte Zweifel haben kann, ob sie den<br />
Sieg des Kapitalismus ins Wanken zu bringen vermag.<br />
— Der Redner der Fraktion Unabhängigkeit und Demokratie widersetzt sich<br />
leidenschaftlich der Abänderung der Europäischen Verfassung. Der isländische<br />
Europaabgeordnete sieht in diesem Verweis auf die WOHNE eine Unterordnung<br />
des europäischen Rechts unter das internationale Recht, das auf keinem politischen<br />
Zugehörigkeitsgefühl, wie es zu einer Nation oder – in geringerem Maße – zur<br />
Europäischen Union bestehen könnte, basiere. Mit dem Ergebnis der als undurchsichtig<br />
und technokratisch qualifizierten Verhandlungen würden sich die Bürger<br />
einer Gefahr aussetzen, wenn sie ein anderes als das europäische und das nationale<br />
Recht anerkennen.<br />
— Für die Fraktionslosen spricht ein unabhängiger bosnischer Abgeordneter.<br />
Die Abgeordneten dieser Nationalität, die als Letzte zur EU hinzugekommen sind<br />
und sich daher besonders beeindruckt und besonders aufmerksam zeigen, wer-<br />
22
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<strong>DE</strong>M EUROPÄISCHEN ZUKUNFTSGEDANKEN TREU BLEIBEN<br />
den stets mit grenzenlosem Respekt angehört. Der an die Spitze einer Liste von<br />
Philosophen und Verantwortlichen von Vereinigungen für die Versöhnung gewählte<br />
Abgeordnete hat Verständnis für das Anliegen seiner Kolleginnen und Kollegen,<br />
sich an eine nicht weit zurückliegende Zeit zu erinnern, da die Union unter der<br />
Last gescheiterter Referenden und der anschließenden erheblichen politischen<br />
Meinungsverschiedenheiten zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Krieges auf dem<br />
Gebiet der heutigen Bundesrepublik Mesopotamien ins Wanken geriet. Der<br />
Parlamentarier hat Verständnis dafür, ist aber unentschlossen. Angehöriger eines<br />
gepeinigten Volkes, das zusätzlich darunter litt, dass es keine eigene Identität<br />
besaß, ruft er unter dem Beifall der anderen Fraktionen dazu auf, den Blick auf<br />
die Zukunft und die neuen Herausforderungen zu richten, anstatt ständig dem<br />
Reflex der Heraufbeschwörung der Vergangenheit zu erliegen, als noch alles<br />
Trennende zwischen den Europäern bestand. Der Abgeordnete, der muslimischen<br />
Glaubens ist, findet weder in unserer Geschichte, noch in der Geschichte<br />
Bosniens die Aufforderung zur Einheit vor. Nur die Zukunft und gemeinsame<br />
Projekte könnten den europäischen Kontinent zusammenschweißen. Dann stellt<br />
der europäische Abgeordnete die Frage, ob man sich immer noch auf die<br />
Gründerväter berufen und mehr noch, ihren Empfehlungen folgen solle. Er gibt<br />
auch gleich die Antwort, wobei er von Otto von Habsburg unterstützt wird, der<br />
in den Mémoires d'Europe schrieb „Wer nicht weiß, woher er kommt, kann auch<br />
nicht wissen, wohin er geht, weil er nicht weiß, wo er steht!“, und einige Zeilen<br />
später weiter sinngemäß differenzierte „die Geschichte darf als Ratgeber dienen,<br />
aber niemals Tyrann sein“.<br />
Fünfzehn Jahre zuvor, im Jahr 2005, erlebte die Europäische Union eine<br />
schwere politische Krise, die zu einer allmählichen Schwächung der Europäischen<br />
Kommission und einer Lähmung ihrer Funktionsfähigkeit führte. Diese Krise<br />
zeigte sich noch deutlicher nach dem Scheitern des französischen Referendums<br />
über die Europäische Verfassung am 29. Mai. Es gab zahlreiche Politiker, die<br />
nicht ohne Grund die Auflösung der europäischen Zukunftsvision zugunsten<br />
einer einfachen Freihandelszone ohne wirkliche politische Ziele befürchteten.<br />
Damit wäre nicht nur der Plan der Gründerväter zunichte gemacht worden, sondern<br />
viel sicherer noch die Fähigkeit der europäischen Völker, ihre Interessen und<br />
Werte sowie ihre Lebensweise in der Welt des Jahres 2020 zu vertreten. Aber die<br />
schlimmsten Befürchtungen müssen nicht unbedingt wahr werden und das politische<br />
Leben ist kein ruhig dahin fließender Fluss. Der Gang der Geschichte<br />
bringt viele Herausforderungen mit sich und bietet den Verantwortungsträgern<br />
Europas zahllose Gelegenheiten, wieder an die gemeinschaftlichen Ziele anzuknüpfen,<br />
sodass die Zweifel und Bedenken des Jahres 2005 seinerzeit genutzt werden<br />
konnten, um neu Atem zu holen und den Beweis anzutreten, dass Europa<br />
im Herzen der Bürger verwurzelt ist. Was können die Abgeordneten der EVP-ED-<br />
Fraktion und ihre führenden Persönlichkeiten tun, um dem europäischen<br />
Zukunftsgedanken treu zu bleiben?<br />
23
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ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN<br />
Stefan Zweig, derjenige unter unseren Schriftstellern des 20. Jahrhunderts,<br />
der dem europäischen Gedanken am meisten verbunden war, gibt uns in seiner<br />
Biografie des Erasmus die Antwort: „Immer werden jene vonnöten sein, die auf<br />
das Bindende zwischen den Völkern jenseits des Trennenden hindeuten und im<br />
Herzen der Menschheit den Gedanken eines kommenden Zeitalters höherer<br />
Humanität gläubig erneuern“.<br />
September 2005<br />
1 „Pour une politique post-moderne“ (Für eine postmoderne Politik), Reden 1992-1999,<br />
Übersetzung aus dem Tschechischen von Jan Rubes. Verlag L'Aube, „Monde en cours.<br />
Intervention“.<br />
24
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 25<br />
Jan Peter BALKENEN<strong>DE</strong><br />
Ministerpräsident der Niederlande<br />
Europa: Für eine sichere Zukunft<br />
müssen wir zurück zu den Anfängen<br />
Einleitung: globale Herausforderung<br />
Ende vergangenen Jahres veröffentlichte das Goldman Sachs Global Research<br />
Centre eine Studie mit dem schönen Titel The Path to 2050. Forscher sagen in dieser<br />
Studie voraus, wie sich die Weltwirtschaft in den kommenden Jahrzehnten entwickeln<br />
wird. Diese Prognose fällt spektakulär aus. Innerhalb der Weltwirtschaft<br />
wird eine drastische Schwerpunktverlagerung stattfinden. Von den derzeitigen<br />
sechs wirtschaftlichen Großmächten – USA, Japan, Deutschland, Frankreich,<br />
Großbritannien und Italien – werden in einigen Jahrzehnten nur noch zwei zu<br />
den ersten sechs gehören, und zwar die USA und Japan. Die europäischen Länder<br />
werden ihren Rang an China, Indien, Brasilien und Russland abtreten müssen. In<br />
zwölf Jahren wird China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt besitzen und<br />
bis voraussichtlich 2040 die USA als größte Wirtschaftsmacht eingeholt haben.<br />
Nun sind Prognosen natürlich stets mit vielen Unwägbarkeiten behaftet. Die<br />
Wirklichkeit sieht letzten Endes häufig anders aus. Die Forscher von Goldman<br />
Sachs sind die Ersten, die dies einräumen. Sie weisen ausdrücklich auf die<br />
Unsicherheiten in ihren Modellen hin. Beispielsweise setzen sie voraus, dass die<br />
aufstrebenden Volkswirtschaften ihre Wachstumspolitik unvermindert fortsetzen<br />
werden.<br />
Wenn wir etwa China und Indien betrachten, wird diese Voraussetzung vorerst<br />
mehr als erfüllt. 2050 scheint heute noch in weiter Ferne zu liegen. Der<br />
Schein trügt jedoch.<br />
2050 ist das Jahr, in dem sich unsere Kinder auf ihre Rente vorbereiten und<br />
unsere Enkelkinder Familien gründen. Ist dieser Zeitpunkt noch weit entfernt?<br />
Meiner Ansicht nach nicht.<br />
Uns stehen gravierende Veränderungen bevor; in der Wirtschaftskraft der<br />
Länder und der Regionen, in den Handels- und Investitionsströmen, im<br />
Kapitalverkehr, in der Verbreitung von Wissen und Wohlstand in der Welt. Dabei<br />
25
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 26<br />
JAN PETER BALKENEN<strong>DE</strong><br />
spreche ich hier nur von den wirtschaftlichen Veränderungen. Unsere gesamte<br />
politische und kulturelle Orientierung könnte einen Wandel erfahren. Daher geht<br />
es um viel mehr als nur um ein Fließband, das von Rotterdam nach Shanghai verlagert<br />
wird. Oder eine IT-Abteilung, die von Amsterdam nach Neu Delhi umzieht.<br />
Dass die Welt sich ändert, wissen wir genau, wir wissen nur nicht genau, wie.<br />
Wie stark wird Europa in einigen Jahrzehnten sein? Dabei geht es nicht in erster<br />
Linie um unsere wirtschaftliche Machtposition. Es geht darum, ob die Menschen<br />
in Europa sich künftig ein gutes Leben aufbauen können und ob es ein soziales<br />
Netz für diejenigen geben wird, die darauf angewiesen sind. Wohlgemerkt: Dies<br />
ist alles andere als selbstverständlich.<br />
Wird Europa in einigen Jahrzehnten stark und flexibel genug sein, um sich<br />
auf Veränderungen einzustellen? Um neue Chancen beim Schopf zu ergreifen<br />
und Bedrohungen abzuwehren? Welche Rolle wird die Europäische Union dabei<br />
spielen?<br />
Das Wesen der Union liegt darin, dass sie sich grenzüberschreitenden<br />
Problemen stellt. Hier stehen wir nun vor einem „grenzüberschreitenden Problem“<br />
par excellence bzw., positiver formuliert, einer „grenzüberschreitenden<br />
Herausforderung“. Nach meiner Überzeugung können die Länder Europas nur<br />
gemeinsam eine hinreichende sozialökonomische Dynamik und Spannkraft hervorbringen,<br />
um in der sich rasch verändernden Welt weiterhin den eigenen<br />
Wohlstand und Solidarität garantieren zu können. Das geht sicherlich nicht von<br />
allein. Daran wird hart gearbeitet werden müssen. Unser Wohlstand, unsere<br />
sozialen Einrichtungen für diejenigen, die diese wirklich benötigen, unsere<br />
Wehrhaftigkeit in einer im raschen Wandel befindlichen Welt – all dies sind Dinge,<br />
die wir nur sicherstellen können, wenn wir europäische Lösungen für unsere<br />
Probleme finden. Und wenn wir der EU wirklich die Chance geben, als<br />
Wirtschaftsgemeinschaft aufzutreten – nach innen und nach außen.<br />
Dazu müssen „Institutionen und Politik an die strukturellen Veränderungen<br />
angepasst werden“. Die Einstellung „nach dem Konjunkturtief wird schon alles<br />
von allein besser“ hilft daher nicht weiter. Es wird Zeit, dass Europa sich aus<br />
dem Sessel der Bequemlichkeit erhebt.<br />
Lissabon-Strategie muss ihre Unverbindlichkeit verlieren<br />
Nun mangelt es bestimmt nicht an Plänen und Strategien. Wir alle sind mit der<br />
Lissabon-Strategie vertraut. Woran es vorerst noch mangelt, ist der Wille, die festgelegten<br />
Strategien auch tatsächlich umzusetzen.<br />
Damit spielt Europa ein gefährliches Spiel. Die Union setzt auf diese Weise ihre<br />
eigene Lebensfunktion – ihre spezifische Wertschöpfung – aufs Spiel. Gerade<br />
bei den Dingen, die nur im europäischen Rahmen eine Chance auf Gelingen<br />
haben, müssen wir den Mut haben, unser Wollen in die Tat umzusetzen, wie<br />
schwierig die dafür erforderlichen Maßnahmen auch sein mögen. Dabei denke<br />
ich nicht nur an die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, sondern auch an die<br />
26
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EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU <strong>DE</strong>N ANFÄNGEN<br />
Reform der Sozialversicherungssysteme und an den Aufbau einer soliden Basis<br />
für die Alterssicherung. Hierbei stoßen wir auf ein verzwicktes Problem, betrifft<br />
doch ein großer Teil der internationalen Lissabon-Agenda wirtschaftliche Reformen,<br />
die von den Regierungen der Einzelstaaten durchgeführt werden müssen.<br />
Wir in den Niederlanden arbeiten daran. Wir reformieren das Sozialversicherungs-<br />
und das Gesundheitssystem, um sie für die Zukunft zu erhalten. Wir flexibilisieren<br />
den Arbeitsmarkt. Nicht um Menschen einfacher entlassen zu können,<br />
sondern um mehr Menschen Lohn und Brot zu bringen. Tatsache ist, dass die<br />
Arbeitslosenquote der EU 9,1 % beträgt. Die USA, die einen flexibleren<br />
Arbeitsmarkt haben, stehen mit 5,6 % weitaus besser da. Nicht umsonst ist die amerikanische<br />
Wirtschaft erheblich schneller als die europäische in der Lage, sich<br />
von einer wirtschaftlichen Rezession zu erholen.<br />
Im Allgemeinen kommen Reformen in Europa – insbesondere in den „alten“<br />
Mitgliedstaaten – nur mühsam in Gang. Den europäischen Bestrebungen und<br />
Absprachen haftet eine gewisse Unverbindlichkeit an, die für die Zukunft der<br />
450 Millionen europäische Bürgern fatale Folgen haben könnte.<br />
Die Europäische Union ist keine Meisterin im Verändern bestehender Gefüge,<br />
Strukturen und Systeme. Wir neigen bisweilen dazu, uns am Vorhandenen festzuklammern<br />
wie ein Schwimmer an einer undichten Luftmatratze. Doch wohin<br />
führt uns das, wenn die Strömung immer stärker wird?<br />
Was gebraucht wird, ist politischer Schneid. An diesem politischen Schneid<br />
mangelt es dem neuen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso jedenfalls<br />
nicht. In seinen Vorschlägen für die Reform der Lissabon-Strategie beweist er<br />
Leidenschaft, aber auch Realitätssinn. Er spricht die Mitgliedstaaten auf ihre<br />
Verantwortung an. Ihnen wird mehr Freiheit bei der Umsetzung ihrer<br />
Reformagenda eingeräumt, jedoch auch mehr Nachdruck auf die Umsetzung<br />
getroffener Vereinbarungen gelegt. Barroso ist überzeugt, dass Lissabon nur dann<br />
einen glaubwürdigen Start haben kann, wenn wir eine Partnerschaft bilden. Eine<br />
Partnerschaft aus den Mitgliedstaaten, den Sozialpartnern und der Kommission.<br />
Die Kommission zeigt sich uneingeschränkt bereit, das ihre zu tun.<br />
Barroso geht mit Fug und Recht davon aus, dass es zur Lissabon-Agenda<br />
keine aussichtsreiche Alternative gibt, wenn wir in Europa nachhaltiges Wachstum<br />
wollen.<br />
Unsere Aufgabe ist es, den nationalen Politikern und der Bevölkerung unseres<br />
Landes deutlich zu machen, was das bedeutet, nämlich Erneuerung unserer<br />
alten vertrauten Gefüge und Systeme. Das ist nicht einfach, denn es umfasst<br />
Maßnahmen, die für die Bürger kurzfristig wenig attraktiv sind.<br />
Die Politiker müssen demnach – um mit Franz Walter zu sprechen - angeben,<br />
„wohin die Reise gehen soll, wo sich das gelobte Land am Ende der Wüste aus<br />
Sparsamkeit, Einschränkungen, Verzicht und Abbau befindet, wie es dort aussieht<br />
oder auch nur: aussehen sollte“.<br />
Um diese Frage direkt zu beantworten: zu einem starken, sicheren und soli-<br />
27
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 28<br />
JAN PETER BALKENEN<strong>DE</strong><br />
darischen Europa für unsere Kinder und Enkelkinder und für uns selbst. Dorthin<br />
geht die Reise. Wir müssen den Mut haben zuzugeben und deutlich zu machen,<br />
dass die Entscheidung für das Kurzfristige auf die Entscheidung für eine<br />
Verliererstrategie hinausläuft, die strukturelles Wachstum untergräbt und die<br />
Bürger der Union schon bald verletzlich in einer sich rasch verändernden Welt<br />
zurücklässt.<br />
Was können wir tun, um dies zu verhindern?<br />
Erstens: Die Regeln des Binnenmarkts und der Währungsunion fest in der<br />
Hand halten. Sie bilden die Basis für unseren Wohlstand. Die Wahrung dieser<br />
Regeln muss noch immer täglich erkämpft werden. Es ist von größter Wichtigkeit,<br />
dass die Europäische Kommission als Hüterin des gemeinsamen, gemeinschaftlichen<br />
Interesses hier standhaft bleibt.<br />
Zweitens muss auch der Europäische Rat dem Wirtschaftswachstum erheblich<br />
mehr Aufmerksamkeit schenken. Was mich betrifft, ist das wirtschaftliche<br />
Wachstumsvermögen Europas bei jedem Halbjahres-Treffen ein wichtiger Punkt<br />
für den Europäischen Rat, d.h. nicht nur beim Frühjahrs-, sondern auch beim<br />
Herbstgipfel. Für die niederländische Präsidentschaft galt dies ebenfalls. Die<br />
Stärkung unserer Volkswirtschaften ist eine Kernaufgabe Europas.<br />
Drittens müssen wir uns vor Augen halten, dass wir ein Problem mit der<br />
Rechenschaft über die Ausführung der gemeinsamen Politik haben. Wir gehen<br />
zwar Verpflichtungen ein, brauchen jedoch nirgendwo Rechenschaft über die<br />
Umsetzung dieser Versprechen abzulegen. Die Mitgliedstaaten untereinander<br />
sind häufig nicht zu Peer-pressure bereit. Aber auch von den nationalen<br />
Parlamenten geht zu wenig Druck aus. Möglicherweise ist dies ja der mangelnden<br />
Transparenz des Prozesses geschuldet. Es gibt zu viele verschiedene<br />
Berichterstattungsmechanismen. Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats<br />
sind zum Teil sehr umfangreich. Verantwortlichkeiten sind auf mehrere Räte und<br />
Minister verteilt. Die Vorschläge der neuen Kommission enthalten kreative und<br />
kühne Anregungen, wie sich die Transparenz und die Rechenschaftspflicht innerhalb<br />
der Lissabon-Strategie verbessern ließe. Es kommt eine Vereinheitlichung von<br />
Leitlinien und Berichterstattungsmechanismen. Dies fördert gleichzeitig eine stärkere<br />
Verknüpfung mit den politischen Gestaltungs- und Verantwortungsprozessen<br />
auf nationaler Ebene.<br />
Viertens müssen wir neue Wege suchen, wie die Kommission die<br />
Mitgliedstaaten bei der Umsetzung wirtschaftlicher Reformen unterstützen kann.<br />
Kampf gegen den Terrorismus: Zusammenarbeit ist bittere Notwendigkeit<br />
Das Wesen der Union besteht darin, dass sie grenzüberschreitende Probleme<br />
anpackt. Dies gilt nicht nur für die Beseitigung von Hindernissen für ein nachhaltiges<br />
Wirtschaftswachstum. Es gilt auch für die Sicherheit. Sicherheit ist die<br />
Kernaufgabe Nummer eins der Regierung. Die Bürger Europas erleben immer<br />
mehr am eigenen Leibe, dass Kriminalität und Terrorismus grenzüberschreitend<br />
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EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU <strong>DE</strong>N ANFÄNGEN<br />
sind. Sie erwarten, dass die Europäische Union entschlossen und effizient darauf<br />
reagiert. Ein Gefühl der Sicherheit ist für die Bürger in dieser Zeit der offenen<br />
Grenzen dringlicher denn je. Die Menschen verstehen und akzeptieren es nicht,<br />
wenn Verbrecher aufgrund fehlender Koordination in Europa davonkommen oder<br />
wenn sie sich ihrer Bestrafung durch Flucht in ein anderes EU-Land entziehen.<br />
In den kommenden Jahren müssen wir alles daransetzen, die Zusammenarbeit<br />
zu verstärken und die Lücken im justiziellen Netz zu schließen. Ein freies, offenes<br />
und sicheres Europa kann es nicht geben ohne ein hohes Maß an Übereinstimmung<br />
darüber, was in unserer Rechtsgemeinschaft zulässig ist und was nicht,<br />
und über das Vorgehen gegen Menschen, die diese Grenzen überschreiten. Es ist<br />
daher unverzichtbar, unsere Strafrechtssysteme aufeinander abzustimmen. Die<br />
langfristige Lebensfähigkeit der Union hängt zu einem erheblichen Teil von der<br />
Frage ab, ob uns das gelingt.<br />
Ich begreife sehr wohl, dass hier an ein heikles Thema gerührt wird. Die<br />
Mitgliedstaaten sind bisweilen stark ihren nationalen Eigenheiten in den Bereichen<br />
Justiz und Polizei verhaftet. Man nehme als Beispiel nur die niederländische<br />
Drogenpolitik. Wir dürfen unsere Traditionen nicht einfach so in Frage stellen.<br />
Lücken im Europäischen justiziellen Netz, die eine Gefahr für die Bürger der<br />
Union darstellen, müssen jedoch geschlossen werden, insbesondere und an erster<br />
Stelle die Lücken, die dem Terrorismus und dem organisierten Verbrechen<br />
Vorschub leisten. So kann die Politik in Sachen Koffieshops zwar vielleicht noch<br />
als eine Angelegenheit der Niederlande betrachtet werden, doch müssen wir<br />
gegen den internationalen Drogenhandel wirklich gemeinsam vorgehen.<br />
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Drogenhandel, ebenso wie der Menschenund<br />
Waffenhandel, eine wichtige Finanzierungsquelle für den Terrorismus ist.<br />
Um den internationalen Terrorismus wirksam bekämpfen zu können, ist es von<br />
wesentlicher Bedeutung, einen Überblick zu haben, wer und was die<br />
Außengrenzen der Union passiert. Eine stärkere Überwachung dieser<br />
Außengrenzen – insbesondere der neuen Grenzen im Osten der Union – ist dringend<br />
erforderlich. Dies muss auf kluge Weise geschehen, die Handelsströme<br />
zwischen der EU und ihren Handelspartnern dürfen nämlich nicht behindert und<br />
verzögert werden. Geschwindigkeit und Qualität müssen Hand in Hand gehen.<br />
Die USA wenden 15 Milliarden Dollar für die Verstärkung ihrer Grenzkontrollen<br />
auf und investieren stark in biometrische Techniken und automatisierte Systeme.<br />
Im Vergleich dazu steht Europa kümmerlich da. Auch auf diesem Gebiet reagieren<br />
wir nicht hinreichend adäquat auf die veränderte Welt um uns herum.<br />
Zusammenhalt an den Grenzen: innen und außen<br />
Außer im Sicherheitsbereich müssen wir auch auf dem Gebiet Asyl und<br />
Migration unsere Zusammenarbeit deutlich intensivieren. Die Freizügigkeit von<br />
EU-Bürgern ohne Kontrollen an den Binnengrenzen bedeutet nämlich auch<br />
Freizügigkeit von Asylsuchenden und legalen wie illegalen Einwanderern.<br />
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Ein Beispiel: Neuere Zahlen belegen, dass 7 % der Personen, die Asyl in<br />
einem Mitgliedstaat beantragen, dies bereits zu einem früheren Zeitpunkt in<br />
einem anderen EU-Land getan haben. Für Asylsuchende in den Niederlanden<br />
liegt dieser Prozentsatz bei 13.<br />
Fortwährende Politikkonkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich<br />
Asyl, Migration und Rückkehrpolitik ist kein gangbarer Weg. Das sind eben die<br />
Probleme, bei denen die EU ihren Mehrwert unter Beweis stellen muss. Es wurden<br />
bereits beachtliche Fortschritte erzielt. So haben wir in Europa Mindestnormen<br />
für Asylverfahren vereinbart. Das reicht jedoch noch nicht aus. Vielleicht ist das<br />
ein Blick weit voraus, doch wir müssen zu einem gemeinsamen Asylverfahren<br />
kommen – mit Zulassungskriterien, die von allen EU-Ländern unterschrieben<br />
und angewandt werden, und zu einer gemeinsamen Rückkehrpolitik.<br />
Langfristig setzt dies unter anderem den Aufbau gemeinsamer<br />
Auffangeinrichtungen für Flüchtlinge und die Registrierung von Asylsuchenden<br />
auf EU-Ebene voraus. Es bedeutet auch eine europäische Finanzierung der<br />
Asylpolitik und europäische Vereinbarungen über die Verteilung zugelassener<br />
Flüchtlinge. Nur mit einer intensiven Grenzüberwachung in Kombination mit<br />
einem europäischen Asyl- und Migrationskonzept können wir die illegale<br />
Einwanderung in Europa bekämpfen.<br />
Europa als Wertegemeinschaft<br />
JAN PETER BALKENEN<strong>DE</strong><br />
Die Union ist mehr als ein wirtschaftliches Projekt. Sechzig Jahre nach dem<br />
D-Day ist sie noch immer ein Projekt von Respekt, Freiheit und Solidarität, das<br />
weiter an Breite und Tiefe gewinnt.<br />
Die inhaltliche Rückbesinnung auf die Werte, die uns Europäer verbinden,<br />
ist meiner festen Überzeugung nach entscheidend für die Lebenskraft und die<br />
Tatkraft der Europäischen Union. Sie ergibt sich aus der historischen Dimension<br />
der europäischen Zusammenarbeit. Und sie ist erforderlich, wenn wir in die<br />
Zukunft blicken.<br />
Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Unsere Gemeinschaft ist<br />
das Produkt großer religiöser und philosophischer Traditionen. Die Ideen der<br />
Klassiker, das Christentum, das Judentum, der Humanismus und die Aufklärung<br />
haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Auch der Dialog mit der islamischen<br />
und arabischen Kultur hat zu unserer Identität beigetragen. Der Zweite<br />
Weltkrieg hat uns die Bedeutung eines gemeinsamen Wertesystems nachhaltig vor<br />
Augen geführt. Im zerrissenen und verarmten Europa sehnten sich die Menschen<br />
nach Frieden, Freiheit, Stabilität und einer neuen Chance auf Wohlstand.<br />
Die Begründer der europäischen Integration – Monnet, Schuman, Adenauer,<br />
De Gasperi und andere – begriffen, dass diese Ideale nur durch eine Bündelung<br />
und Verflechtung der praktischen Interessen der Länder Europas erreichbar sein<br />
würden. Jean Monnet nannte dies in seinen Memoiren „la solidarité de fait“.<br />
Damit wollte er sagen, dass eine Gemeinschaft nicht durch freundschaftliche<br />
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EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU <strong>DE</strong>N ANFÄNGEN<br />
Gefühle entsteht. Monnet drehte diesen Satz um: Gerade die gemeinschaftliche<br />
Zusammenarbeit erzeugt die Freundschaft.<br />
So errichteten die Gründerväter das empfindliche Haus des Friedens auf einem<br />
Fundament von Kohle und Stahl.<br />
In der Verfassung werden die Werte genannt, auf die sich die Union gründet:<br />
Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit<br />
und Wahrung der Menschenrechte. Dort heißt es: „Diese Werte sind allen<br />
Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus,<br />
Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet“. Diese<br />
gemeinsamen Werte sind der Zement zwischen den Steinen des immer größer werdenden<br />
europäischen Gebäudes. Sie sind das Bindemittel zwischen Regierungen,<br />
die begreifen müssen, dass es nicht vernünftig ist, nur an den eigenen Interessen<br />
festzuhalten, wenn das gemeinsame Interesse gerade eine gemeinschaftliche<br />
Strategie erfordert. Als Partner in der Europäischen Union sollten wir nämlich<br />
nicht im Wettbewerb stehen, sondern uns gegenseitig ergänzen. Je größer das<br />
Bewusstsein für gemeinsame Werte ist, desto größer kann die politische<br />
Entschlusskraft der Europäischen Union sein.<br />
Bauen an Europa nur möglich mit Menschen, die sich als Europäer fühlen<br />
Mit der neuen Verfassung wird Europa unbestreitbar klarer, effizienter und<br />
demokratischer.<br />
Ist das jedoch ausreichend? Wie sorgen wir dafür, dass der europäische Bürger<br />
den Nutzen Europas weiterhin vor erkennt und sich dem europäischen Gedanken<br />
nicht entfremdet?<br />
Entscheidend ist, dass wir jederzeit deutlich machen, welchem Zweck Europa<br />
dient. Nämlich dem, für die Bürger notwendige Dinge zu tun, bei denen die einzelne<br />
Länder aus eigener Kraft überfordert wären. Ich erwähnte bereits das strukturelle<br />
Wirtschaftswachstum und die Sicherheit. Die einzelstaatlichen Politiker<br />
müssen den Mut haben, sich hierzu klar zu äußern. Sie müssen den Wählern<br />
deutlich machen, dass dabei nur ein europäischer Ansatz Erfolg verspricht und<br />
dass die Übertragung bestimmter Befugnisse und Verantwortlichkeiten auf die<br />
Union unverzichtbar ist.<br />
„Aber Europa ist so kompliziert“, hört man dann oft. „Die Bürger verstehen<br />
das nicht.“ Ist das wirklich so? Viele Dinge sind gerade dank Europa einfacher<br />
geworden. Niemand wünscht sich die Zeit zurück, als wir noch 25 nationale<br />
Zollverordnungen hatten. Wir erreichen auch sehr konkrete Dinge gemeinsam.<br />
Derzeit sind gut 1,8 % des BIP der Europäischen Union dem Funktionieren des<br />
Binnenmarkts zuzuschreiben. Damit einhergegangen ist die Schaffung von 2,5<br />
Millionen Arbeitsplätzen. So gibt es noch weit mehr Beispiele für Ergebnisse, die<br />
wir Europa zu verdanken haben und die den Menschen sehr gut zu erklären<br />
sind.<br />
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JAN PETER BALKENEN<strong>DE</strong><br />
Gemeinsam nur das, was gemeinsam erfolgen muss<br />
Um die grenzüberschreitenden Probleme, von denen die Bürger unmittelbar<br />
betroffen sind, wirksam anpacken zu können, müssen wir uns für ein starkes<br />
föderales Europa entscheiden, das mit einem starken gemeinschaftlichen Motor<br />
ausgestattet ist.<br />
Dazu gehört jedoch, dass die Union nicht zu hoch pokert, indem sie sich um<br />
Dinge kümmert, die die Länder, Regionen, Gemeinden oder Bürger sehr gut<br />
selbst entscheiden können. Wenn etwas Irritationen und Misstrauen bei den<br />
Menschen hervorruft, dann dies. Wenn Europa sich zu sehr aufdrängt, wird bei<br />
den Menschen Ablehnung wach, und die Unterstützung für die europäische<br />
Zusammenarbeit – die von so entscheidender Bedeutung ist – bricht weg. Wir müssen<br />
weg von der zwangsweisen Politikgestaltung in Brüssel in Bereichen, in<br />
denen die Brüsseler Einmischung nicht angebracht ist.<br />
Europa gründet sich auf das christdemokratische Prinzip, dass das, was nahe<br />
an den Menschen geregelt werden kann, nicht aus der Ferne entschieden werden<br />
darf (Subsidiarität). Bisher ist das Protokoll über die Anwendung der<br />
Grundsätze der Subsidiarität im Vertrag von Amsterdam jedoch zu sehr toter<br />
Buchstabe geblieben. Die neue Verfassung enthält konkrete Ansatzpunkte für<br />
die Parlamente der Einzelstaaten, um diese Subsidiarität notfalls zu erzwingen. Es<br />
ist wichtig, dass wir dies fest in der Hand behalten. Begrüßenswert wäre eine<br />
Zulässigkeitsdebatte im Rat, bevor dieser sich mit dem Inhalt einer Gesetzesvorlage<br />
der Kommission beschäftigt. In einer solchen Debatte müsste die Kernfrage lauten,<br />
ob die Vorlage in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsgrundsatz steht.<br />
Die Frage dieses Buches ist: Wie funktioniert Europa in etwa zwanzig Jahren?<br />
Präsentiert sich die Union dann als starker Herkules oder als Koloss auf tönernen<br />
Füßen? Ist es mit so vielen Ländern und so vielen nationalen und regionalen<br />
Interessen möglich, gemeinsam in Bewegung zu bleiben? Oder wird die<br />
Union auseinander fallen?<br />
Rasch fallen Begriffe aus dem Radrennsport wie „Spitzengruppe“, „Peloton“<br />
oder „Nachzügler“. An ein solches Europa glaube ich nicht. Solange die<br />
Mitgliedstaaten der Union untereinander Ballotage betreiben, ist das Projekt<br />
Europa zum Untergang verurteilt. Um den Begriff „Spitzengruppe“ kreisen jedoch<br />
auch viele Missverständnisse. Spitzengruppen abzulehnen bedeutet noch nicht,<br />
dass Ländergruppen nicht gemeinsam Ansätze für Erneuerung geben können.<br />
Sie bezeichne ich nicht als Spitzengruppe, sondern als Vorhut, die unbekanntes<br />
Terrain für andere erkundet. Solange derartige Gruppen keine exklusiven<br />
Gesellschaften bilden, können sie eine treibende Kraft in Europa sein. Also: Jeder,<br />
der teilnehmen will, muss teilnehmen können.<br />
Im kommenden Jahrzehnt wird diese Art von Zusammenarbeit – die von der<br />
Verfassung auch ermöglicht wird – eine immer wichtigere Rolle spielen. Vor<br />
allem vom Standpunkt der Dynamik aus ist das zu begrüßen. Es ist nämlich nicht<br />
auszuschließen, dass man sonst mit 25, 28 oder mehr Ländern an Geschwindigkeit<br />
32
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und Beweglichkeit verliert. Die europäische Integration kennt bereits gute Beispiele<br />
für eine verstärkte Zusammenarbeit. Man denke nur an die Eurozone oder das<br />
Schengen-Gebiet. Wir werden erleben, dass um Länder mit spezifischem<br />
Sachverstand oder komparativen Vorteilen neue Gruppen entstehen werden.<br />
Beispielhaft wäre hier die Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten, wie<br />
Entwicklungszusammenarbeit, Steuern, Umwelt oder Sicherheit, zu nennen.<br />
Übrigens erwarte ich auch zahlreiche Erneuerungsimpulse von den neuen<br />
Mitgliedstaaten. Wenn man sieht, wie viel Erfahrung die Länder in Mittel- und<br />
Osteuropa mit der Reform ihrer wirtschaftlichen Struktur haben, kann man daraus<br />
Hoffnung für die anderen Mitgliedstaaten schöpfen. In den neuen Mitgliedstaaten<br />
steckt eine große wirtschaftliche „Zugkraft“.<br />
Zusammenfassung<br />
EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU <strong>DE</strong>N ANFÄNGEN<br />
Europa muss zurück zur Basis und stärker von dieser Basis aus operieren.<br />
Warum haben wir mit der europäischen Integration begonnen? Um Frieden,<br />
Freiheit und Sicherheit zu garantieren und um Wohlstand für die heutige wie<br />
künftige Generationen zu erreichen. Das sind Dinge, die kein Land im Alleingang<br />
realisieren kann.<br />
Daher müssen wir die europäische Zusammenarbeit auf diesen Gebieten kräftig<br />
vorantreiben.<br />
Aus diesem Grunde gilt es das institutionelle Gleichgewicht in der Union zu<br />
bewahren und darüber zu wachen. Wenn die großen Länder der Verlockung<br />
nachgeben, das Spiel an sich zu ziehen, wird in Europa eine Desintegration einsetzen.<br />
Also müssen wir in die Zukunft schauen und mit unseren langfristigen<br />
Zielsetzungen Ernst machen. Übermäßige Einmischung im Verein mit mangelnder<br />
Tatkraft auf Gebieten, wo ein gemeinsames Vorgehen dringend erforderlich<br />
wäre, untergräbt nicht nur das Vertrauen der Bürger in Europa, sondern setzt<br />
die unmittelbare Zukunft der europäischen Bürger aufs Spiel.<br />
Wer Europa eine Zukunft geben will, muss zurück zu den Absichten und<br />
Gedanken der Anfänge.<br />
33<br />
März 2005
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José Manuel BARROSO<br />
Präsident der Europäischen Kommission<br />
Unsere <strong>Vision</strong> von Europa<br />
Es bestehen wohl kaum Zweifel daran, dass die Errungenschaften der<br />
Europäischen Union während der letzten 50 Jahre außerordentlich sind.<br />
Möglicherweise wären selbst ihre visionärsten Gründungsväter, insbesondere diejenigen,<br />
welche zu Beginn die Widerstände gegen den Prozess erlebten, erstaunt<br />
über das Europa der Gegenwart. Die Flexibilität der Methode und der sektorspezifische<br />
Ansatz, die zunächst nur als zweitbeste Strategie galten, haben sich als<br />
Schlüssel zum Erfolg erwiesen. Wenn wir uns ansehen, was wir seither erreicht<br />
haben, beeindruckt uns vor allem der schiere Umfang dessen, was in so relativ<br />
kurzer Zeit geschehen ist. Die Überwindung der Ost-West-Teilung und die einheitliche<br />
Währung sind nur zwei Beispiele aus jüngster Zeit für dieses viel umfassendere<br />
Projekt, auf das wir alle stolz sind. Das Europa der Gegenwart lebt in Frieden,<br />
genießt Wohlstand, weist eine kulturelle Vielfalt auf, leistet Hilfe und wird (hoffentlich)<br />
bald über seine erste Verfassung verfügen. Die Verfassung stellt einen weiteren<br />
großen Schritt voran dar. Sie wird für mehr Demokratie sorgen, indem sie<br />
die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente und des Europäischen Parlaments stärkt;<br />
sie wird für mehr Transparenz, eine stärkere Mitwirkung der Bürger und einen<br />
weiter gefassten Dialog mit der Zivilgesellschaft sorgen, und sie wird die Kohärenz<br />
und Effizienz unseres auswärtigen Handelns stärken.<br />
Dies mag außerordentlich sein, ist aber nach wie vor erst der Anfang. Es wäre<br />
nicht nur naiv, sondern auch gefährlich für das gesamte Projekt, käme man zu dem<br />
Schluss, dass sich diese Entwicklung automatisch fortsetzt und die erwarteten<br />
Ergebnisse mit sich bringt. Die Erfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart<br />
lehren uns doch, wie flüchtig und anfällig die Projekte des Menschen sind, und<br />
diese Regel gilt auch für das Projekt „Europa“. Die Kommission ist weit davon entfernt<br />
zu glauben, dass wir mit dieser Erweiterung und möglicherweise einer neuen<br />
Verfassung unser Ziel erreicht oder anstehende Probleme gelöst haben. Vielmehr<br />
hat sie sich einem längerfristigen, schwieriger zu erreichenden Ziel verschrieben,<br />
nämlich die Unterstützung der Europäer zu gewinnen. Der Rückgang der Beteiligung<br />
an den Europawahlen, die negativen Ergebnisse von Meinungsumfragen, das<br />
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JOSÉ MANUEL BARROSO<br />
Entstehen und Erstarken politischer Gruppierungen, die gegen Europa gerichtet<br />
sind, sowie schlichte Gleichgültigkeit zeigen uns, dass die größte Herausforderung<br />
der Gegenwart innerhalb der Grenzen der Union besteht und ihre eigentlichen<br />
Akteure betrifft: ihre Bürger. Deren Mangel an Sympathie kommt nicht von ungefähr,<br />
sondern ist das Ergebnis der sich täglich vor ihnen auftürmenden<br />
Schwierigkeiten, einem Gefühl der Unsicherheit und fehlenden Perspektiven. Brüssel<br />
ist immer noch weit weg, der Nutzen der Union wird zumeist nicht wahrgenommen,<br />
und ihre Arbeit wird als Einmischung, wenn nicht gar als feindseliges Handeln<br />
angesehen. Viele Bürger sind der Meinung, dass sich das Europa der Gegenwart nicht<br />
in die richtige Richtung bewegt.<br />
Wie können wir diese Entwicklung umkehren?<br />
– Die Strategie, die wir unterstützen, besteht darin, die Ängste der Menschen zu zerstreuen.<br />
– Das vorrangige Ziel, das wir anstreben, ist der langfristige Wohlstand.<br />
– Die Grundlage für diesen Neubeginn besteht in unserem nicht ausgeschöpften<br />
Potenzial.<br />
Kürzer gesagt: Wir mögen dieses Europa, und wir müssen jetzt dafür sorgen, dass<br />
es zeigt, was in ihm steckt. Ich habe dies die 'Europäische Erneuerung' genannt. Sie<br />
ist von entscheidender Bedeutung für unsere Zukunft und erfordert einen umfassenden<br />
Ansatz, der für die komplexen Herausforderungen einer im raschen Wandel<br />
begriffenen Welt zweckdienlich ist. Am Anfang steht hierbei das von Überzeugung<br />
getragene Engagement, unsere Volkswirtschaften zu unterstützen, effizienter zu<br />
werden, und sie zu ermutigen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Mehr denn je müssen<br />
wir uns jetzt mit dem Bestreben auseinandersetzen, das dynamische Wachstum<br />
vor dem Hintergrund ungünstiger Konjunkturbedingungen wieder anzukurbeln.<br />
Die Globalisierung rückt Europa in eine zunehmend wettbewerbsorientierte<br />
Weltwirtschaft, während aufgrund der alternden Bevölkerung in naher Zukunft auf<br />
zwei erwerbstätige Personen eine Person im Ruhestand entfallen wird. Diese<br />
Variablen allein stellen den Kern unseres Wirtschaftsmodells in Frage und bedrohen<br />
die Nachhaltigkeit unserer Wohlfahrtsprogramme. Es sind genau diese<br />
Herausforderungen, die die Union aufgreifen muss, wenn sie das Vertrauen ihrer<br />
Bürger (zurück-)gewinnen will.<br />
Um das vordringlichste Problem unserer Zeit anzugehen, hat die Kommission<br />
in erster Linie eine weit reichende Partnerschaft für Europa gefordert, in der sich die<br />
Organe der EU, die Mitgliedstaaten und Sozialpartner gemeinsam für eine ehrgeizige<br />
Strategie einsetzen. Dies gilt insbesondere für das Europäische Parlament und<br />
dessen politische Fraktionen: Die Kommission hat sich verpflichtet, dem Parlament<br />
monatlich einen vorläufigen Plan der vorgeschlagenen, in Vorbereitung befindlichen<br />
Rechtsakte vorzulegen, und einen auf die bestmögliche Umsetzung des<br />
Legislativprogramms ausgerichteten Dialog zu beginnen. Darüber hinaus – und<br />
dies ist noch wichtiger – hat die Kommission die Initiative ergriffen und unabhängig<br />
von methodischen Vorgaben ein Bündel von Prioritäten, die zu verfolgen sind,<br />
und eine klare Strategie, die umzusetzen ist, benannt: Dies ist unsere <strong>Vision</strong> davon,<br />
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UNSERE VISION VON EUROPA<br />
wie die Union 2010 aussehen soll. Mit unserem kombinierten Ansatz wollen wir ein<br />
stärkeres Wachstum fördern und neue Arbeitsplätze schaffen, aber die sozialen<br />
Grundlagen des europäischen Wirtschaftsmodells erhalten. Daher baut dieser Ansatz<br />
auf die zusammenhängenden und sich gegenseitig verstärkenden Ziele des<br />
Wohlstands, der Solidarität und der Sicherheit auf.<br />
Wohlstand: Bereits im Jahr 2000 griffen wir in der Lissabonner Strategie mit<br />
großer Hoffnung und viel Ehrgeiz die Herausforderung auf, die das Thema<br />
„Wohlstand“ mit sich bringt, und versprachen, die EU bis zum nächsten Jahrzehnt<br />
zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum zu machen. Das Ergebnis dieser Initiative<br />
sollte nicht unterschätzt werden: In den meisten Mitgliedstaaten sind Reformen in<br />
die Wege geleitet worden, einige Märkte wurden weiter liberalisiert, während die<br />
Erweiterung dazu beigetragen hat, neue Möglichkeiten für Investoren zu schaffen.<br />
Diese Bemühungen haben sich jedoch nicht als Wendepunkt erwiesen. Ein neues<br />
Konzept für Wachstum sollte auf einem gesunden makroökonomischen Umfeld, einer<br />
stabilen Währung, mehr Unternehmertum und einer besseren Regulierung aufbauen.<br />
Zu diesem Zweck benötigen wir für die Lissabonner Strategie einen unverbrauchten<br />
Neustart sowie einen erheblichen Einsatz, um ihre überfrachtete Agenda<br />
zu verkleinern und für eine sachgerechte Koordinierung zu sorgen. Erstens sollten<br />
Ziele einer rigorosen Neuausrichtung von Prioritäten folgen, so dass der Weg für<br />
neues Wachstum und neue Arbeitsplätze frei ist. Zweitens sollten die Mitgliedstaaten<br />
die wichtigsten Befürworter dieser Strategie werden und sich bemühen, die breite<br />
Öffentlichkeit über diese Herausforderungen zu informieren. Die Lissabon-Strategie<br />
sollte zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Debatte auf einzelstaatlicher<br />
Ebene werden. Drittens und letztens sollte ein vereinfachtes, klareres<br />
Berichtswesen vorgesehen werden, um den Prozess verständlicher zu gestalten.<br />
Wenn man diese weiter gefassten Ziele vor Augen hat, so können die Bedenken<br />
wegen der angeblich Starrheit des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht isoliert<br />
angegangen werden, sondern müssen in eine kohärente Strategie zur Erneuerung<br />
der Lissabonner Strategie eingebettet sein. Es gibt zahlreiche, gut begründete<br />
Forderungen nach Reformen, jedoch nur im Zusammenhang mit unseren langfristigen<br />
Zielen kann ein dauerhaftes Engagement zugunsten bedeutender wirtschaftlicher<br />
Reformen garantiert werden. In den Schlüsselsektoren sollten Forschung und<br />
Innovation gefördert werden. Die Wirtschaft von Heute braucht kostspielige, langfristige<br />
Investitionen, die Europa tätigen muss. Unsere Konzentration auf Arbeitsplätze<br />
und Wachstum bliebe rein rhetorisch, würde sie nicht durch konkrete Bemühungen<br />
um Investitionen in den Bereichen, die das Rad antreiben und die Grundlage hierfür<br />
bilden, untermauert. Daher stehen Forschung und Entwicklung ganz oben auf<br />
der Liste. Die Mitgliedstaaten sollten mehr Mittel für die Forschung vorsehen, da diese<br />
für die Art einer gerechten und integrativen Gesellschaft, die wir schaffen möchten,<br />
nach wie vor zu gering sind. Auch die Dienstleistungsmärkte können einen wertvollen<br />
Beitrag zur Ankurbelung von Beschäftigung und Wachstum leisten: Sie sollten<br />
zu einem wichtigeren Bestandteil unseres Binnenmarktes werden.<br />
Seiner Geschichte folgend, darf sich das heutige Europa nicht von seiner Berufung<br />
zurückziehen, die Kluft zwischen den armen und den reichen Teilen seines<br />
37
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 38<br />
JOSÉ MANUEL BARROSO<br />
Hoheitsgebietes zu verkleinern, und sollte daher seine Verpflichtung zur Erreichung<br />
von Solidarität erneuern. Neue Maßnahmen zur Kohäsionspolitik dürften besser<br />
geeignet sein, um das Wachstum zu fördern und gleichzeitig den benachteiligten<br />
Gebieten und Gruppen zu helfen. Diese Bemühungen sollten auch darauf ausgerichtet<br />
werden, eine neue Sozialagenda zu unterstützen, so dass die wirtschaftliche<br />
durch die soziale Solidarität ergänzt wird, auch zwischen den Generationen. Auch<br />
der Schutz der Umwelt, der sorgfältige Umgang mit unserem Reichtum an Ressourcen<br />
und die Erforschung der Möglichkeiten für alternative Energien tragen zum Aufbau<br />
von Solidarität mit den neuen Generationen bei. Wachstum und Solidarität schließen<br />
sich nicht gegenseitig aus: Wir versuchen, ersteres anzukurbeln, um Mittel zur<br />
Finanzierung von letzterem zu gewinnen. Dies ist der Kern unseres Wirtschaftsmodells,<br />
und wir müssen uns bemühen, seine Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Solidarität<br />
sollte aber nicht auf das Gebiet innerhalb unserer Grenzen beschränkt sein: Im<br />
Rahmen einer neuen Migrationspolitik sollten wir nach Wegen suchen, um die<br />
Lebensbedingungen von Zuwanderern zu verbessern, und gleichzeitig deren jeweilige<br />
Rechte und Pflichten umreißen.<br />
Auch die beispiellosen Ereignisse der vergangenen fünf Jahre schließlich haben<br />
dazu beigetragen, dass das Erfordernis, die Sicherheit der Bürger zu garantieren, in<br />
der Agenda der Union einen höheren Stellenwert erhalten muss. Die Aufhebung der<br />
nationalen Grenzen in einer erweiterten EU hat unvermittelt neue Möglichkeiten für<br />
Freizügigkeit, Verkehr und Austausch geschaffen. Dies hat wiederum rigorose<br />
Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung des organisierten Verbrechens<br />
erforderlich gemacht, wodurch unsere bestehenden Vorstellungen von Sicherheit und<br />
Bedrohung erheblich verändert oder gar durch neue abgelöst wurden. Nur in einem<br />
vollständig integrierten Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit können wir<br />
auf die Herausforderungen dieser neuen Belange reagieren. In weiterem Sinne<br />
müssen wir jedoch die sonstigen Bedrohungen der Sicherheit (Naturkatastrophen,<br />
Krisen im Gesundheitswesen oder Gefährdungen der Energieversorgung) auch auf<br />
europäischer Ebene angehen, da sich die Union in einer besseren Position befindet,<br />
um Anstrengungen zu koordinieren und rasch zu reagieren.<br />
Wenn man von Sicherheit spricht, ist es inzwischen auch überaus wichtig, dass<br />
die Union ihre Aufmerksamkeit nicht auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt, sondern<br />
ihre Bemühungen auch aktiv und stetig auf die übrige Welt richtet. Die Grenzen<br />
innerhalb der EU existieren nicht mehr, aber auch ihre Außengrenzen büßen nach<br />
und nach den größten Teil ihres Zwecks ein: Willkürliche gewählte Beispiele für dieses<br />
wesentlich umfassendere Phänomen sind die Internationalisierung der<br />
Volkswirtschaften und das Entstehen von Cybergesellschaften. Unter diesen<br />
Umständen müssen die herkömmlichen Instrumente zur Überwachung von<br />
Hoheitsgebieten einfach versagen, und die Vorstellung einer sich selbst genügenden<br />
Insel des Friedens ist nur ein Wunschtraum. Internationales Engagement im Rahmen<br />
einer multilateralen Strategie und getreu dem Mandat der Vereinten Nationen – das<br />
ist der richtige Weg für Europa, um seine Meinung und sein Gewicht geltend zu<br />
machen. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass sich in unseren<br />
Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika seit Beginn des Jahres eine<br />
38
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 39<br />
UNSERE VISION VON EUROPA<br />
positivere Stimmung verbreitet: Die stärkere Orientierung an unseren gemeinsamen<br />
Werten und die intensivere Zusammenarbeit bei der Verfolgung unserer jeweiligen<br />
außenpolitischen Ziele sind notwendig, um das Beste aus unserer engen<br />
Partnerschaft und gemeinsamen <strong>Vision</strong> zu machen. Es gibt keine Alternative: Für<br />
uns beide bestehen die gleichen Gefahren, wir benötigen beide die Unterstützung<br />
des anderen, wir erkennen beide den Nutzen unseres Bündnisses. Der Besuch des<br />
amerikanischen Präsidenten George W. Bush symbolisiert einen Wendepunkt in<br />
den transatlantischen Beziehungen.<br />
Wegen unseres Ansehen und unserer Position in der Welt haben wir auch die<br />
Aufgabe, unsere Sichtweise zu erweitern und aktiv zu werden, um unsere <strong>Vision</strong><br />
auch in anderen Gebieten dieses Planeten zu beschließen, darzulegen und umzusetzen.<br />
Uns stehen multilaterale und bilaterale Kanäle zur Verfügung, um die nachhaltige<br />
Entwicklung zu fördern, und wir sollten in unserem außenpolitischen Handeln<br />
der Überzeugung folgen, dass nur aktives Engagement Sicherheit und Stabilität garantieren<br />
kann. Afrika ist ein anschauliches Beispiel: Wie können wir seinen Niedergang<br />
umkehren? Wie können wir unsere abgestimmten Bemühungen optimieren, um<br />
seine Entwicklung voranzubringen? Und wie sieht es mit unserem langfristigen<br />
Engagement für diesen Kontinent aus? Die gleichen Sorgen und Ziele gelten für eine<br />
erfolgreiche Nachbarschaftspolitik: Nun, da die größte Erweiterung der Union<br />
Wirklichkeit geworden ist, sollte das auswärtige Handeln Europas zum Ziel haben,<br />
die Beziehungen zu unseren Nachbarn zu intensivieren und zu konsolidieren.<br />
Darüber hinaus hat die kürzliche Tsunami-Katastrophe ganz deutlich die Vorteile<br />
einer gemeinsamen Reaktion Europas gezeigt. Statt diesen Ansatz auf außergewöhnliche<br />
Umstände und schwere Krisen zu beschränken, werden wir daran arbeiten,<br />
diese Strategie zum Standardverfahren für alle internationalen Herausforderungen zu<br />
machen, ob nun nie dagewesene Ereignisse oder alltägliches Geschehen. Abgesehen<br />
vom Aspekt der Sicherheit ist es auch für den Handel von grundlegender Bedeutung,<br />
wenn man Akteur auf der Weltbühne ist. Europa sollte erkennen, dass sein<br />
Wettbewerbspotenzial die Nutzung der Gelegenheiten ermöglicht, die sich durch die<br />
Globalisierung ergeben. Wir müssen unsere Vorzüge kennen und die internationale<br />
Offenheit zu unseren Gunsten nutzen. Europas strategische Beziehungen zu den traditionellen<br />
Handelspartnern sollten ausgebaut und bei neuen Partner entwickelt werden,<br />
insbesondere auf dem asiatischen Markt.<br />
Der Aufbau eines stärkeren und wohlhabenderen Europas geht jedoch über die<br />
Notwendigkeit hinaus, sich in verschiedenen Bereichen mit mehr Entscheidungskraft<br />
und größerer Abstimmung einzubringen. Er verlangt auch eine bessere Methodik.<br />
Zwar hat man in den letzten zehn Jahren sehr viel unternommen, um eine bessere<br />
Transparenz herzustellen, doch das reicht noch nicht aus, um den politischen<br />
Prozess in jeder Hinsicht verständlich zu machen. Abgesehen von der zwingend erforderlichen<br />
Vereinfachung, zu der die neue Verfassung erheblich beitragen wird, gibt<br />
es nach wie vor zu viele Verfahren und Einrichtungen, was die Rechenschaftspflicht<br />
und die Nachprüfbarkeit durch die Öffentlichkeit erschwert. Wenn diese<br />
Grundvoraussetzungen nicht gegeben sind, kann sich das Interesse der Bürger<br />
Europas daran, zu verstehen, mitzuwirken und letztendlich zu entscheiden, wohl<br />
39
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 40<br />
JOSÉ MANUEL BARROSO<br />
kaum einstellen. Besser wäre es, die Kommunikationsstrategie so zu gestalten, dass<br />
Europa auf der nationalen Ebene vermehrt in Erscheinung tritt, um so eine echte,<br />
vielleicht auch kritische Debatte über das Handeln der Union zu fördern. Dabei<br />
kommt den politischen Parteien Europas sicher eine führende Rolle zu, und wir<br />
begrüßen die Bemühungen, die diese während der letzten Europawahlen unternahmen,<br />
um ihre jeweilige <strong>Vision</strong> der Wählerschaft nahe zu bringen. Dieses Engagement<br />
sollte beibehalten und während der gesamten Wahlperiode gefestigt werden.<br />
Europa sollte auch seine Grenzen erkennen. Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip<br />
sollte Europa handeln, wenn seine Bemühungen einen Mehrwert für eine<br />
alternative Maßnahme einer nationalen oder subnationalen Behörde bedeuten. Ist<br />
diese Voraussetzung erfüllt, dann ist unser Eingreifen gerechtfertigt und willkommen;<br />
andernfalls ist unser Handeln unangebracht und sollte systematisch unbeachtet<br />
bleiben.<br />
Die neue Verfassung, wenn und falls sie ratifiziert wird, wird dann noch deutlicher<br />
machen, dass die Legimitation der Union auf ihren Mitgliedsaaten und ihren<br />
Völkern beruht. Die Union respektiert die jeweilige nationale Souveränität und<br />
erweitert daher die Zuständigkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten wie auch die<br />
Rechte und Pflichten ihrer Bürger.<br />
Die Europäische Union des 21. Jahrhunderts ist eine Realität, die vor 50 Jahren<br />
vielleicht niemand voraussehen konnte: 25, demnächst 27 oder 28 Länder, die wirklich<br />
vereint sind und zusammenarbeiten! Die erweiterte Union wird großer<br />
Koordinierungs-bemühungen und eines großen politischen Gewichts bedürfen,<br />
um erfolgreich eine echte europäische Politik zu betreiben. Hierüber dürfen wir<br />
jedoch auf gar keinen Fall vergessen, dass die Mitgliedstaaten der Union souveräne<br />
Nationen sind. Wir müssen daher <strong>Vision</strong>, Ausgewogenheit und Realitätssinn<br />
kombinieren. Die Tatsache, dass die meisten Dinge nicht auf europäischer Ebene<br />
erledigt werden können und sollten, mindert nicht die Stärke der Union, im Gegenteil!<br />
Betrachten wir zum Beispiel das zentrale Projekt, dass diese Kommission sich zu<br />
Eigen gemacht hat: die Lissabon-Strategie wieder mit Leben zu erfüllen und zum<br />
Erfolg zu führen. Wir haben uns weitgehend für einen Bottom-up-Ansatz entschieden,<br />
und zwar einfach deshalb, weil der Löwenanteil dessen, was getan werden<br />
muss, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Dies zu ignorieren oder zu versuchen,<br />
von oben herab Entscheidungen aufzuzwingen, die möglicherweise von<br />
Land zu Land variieren müssen, und dann denen die Schuld zu geben, die sich<br />
nicht an die vorgegebene Linie halten, kann nur zu Scheitern führen.<br />
Wenn man diese Warnungen beachtet, ist Europe in der Lage, zu führen: Wir verfügen<br />
über solide Grundlagen, um weltweit wirtschaftlich zu konkurrieren, wir<br />
genießen einen Ruf, der uns in der Weltpolitik Respekt verschafft, und wir haben<br />
einen Fahrplan aufgestellt, der unseren ehrgeizigen Zielen gerecht wird. Alles, was<br />
wir brauchen, ist eine gemeinsame Strategie, ein gemeinsames Engagement zur<br />
Verfolgung unserer gemeinsamen Ziele, und die feste Entschlossenheit, nicht zu<br />
zögern und zu zaudern.<br />
40<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 41<br />
Jacques BARROT<br />
Vizepräsident der Europäischen Kommission<br />
Auf dem Weg ins Jahr 2020: Wiederbelebung Europas<br />
Für die europäischen Bürger stellt das Jahr 2005 in vielerlei Hinsicht einen entscheidenden<br />
Wendepunkt dar. Im Jahr 2004 erfuhr die Europäische Union eine<br />
nie dagewesene Erweiterung, so dass die Spaltungen des 20. Jahrhunderts der<br />
Vergangenheit angehören. Die neuen, mit dem Vertrag von Nizza eingesetzten<br />
Institutionen, eine neue Kommission mit 25 Mitgliedern, ein neues Europäisches<br />
Parlament erfüllen diese neue Union der 25 im Alltag mit Leben. Des Weiteren<br />
stellt die Europäische Verfassung die Erfüllung eines politischen Traums und<br />
einen einmaligen Fortschritt dar und wird diesem erweiterten Europa ein neues<br />
Gesicht geben: Zum ersten Mal geben sich auf ein und demselben Kontinent<br />
Staaten unter Beibehaltung ihrer Souveränität eine gemeinsame Verfassung, die<br />
für alle gilt, sowie gemeinsame politische Entscheidungsmechanismen und von<br />
allen vertretene Werte. Inmitten der Kampagne für die Ratifizierung dieses grundlegenden<br />
Textes werden die <strong>Vision</strong> und die Zukunft, die wir Europa geben wollen,<br />
zu einer wichtigen Herausforderung. Eine der immer wiederkehrenden<br />
Fragen ist die nach den Grenzen Europas: über die physischen Grenzen hinaus<br />
gilt es das wieder zu finden, was den europäischen Traum, die europäische<br />
Identität und die Zukunft, die wir ihr geben wollen, ausmacht.<br />
Die äußersten Grenzen Europas<br />
Die Frage, wo die äußersten Grenzen Europas liegen, ist nicht nur von der<br />
Geografie her und auch nicht ausschließlich von der Identität her zu beantworten.<br />
Natürlich stellt sich die Frage, welche Länder berufen sind, Teil Europas zu werden,<br />
und welche nicht. Darüber hinaus sind die Grenzen aber auch zeitlich bedingt:<br />
Sie haben mit der Zeit zu tun, die einerseits die Europäische Union für die<br />
Vollendung ihres politischen Aufbauwerks braucht, und andererseits mit der Frist,<br />
die die Kandidatenländer benötigen, um sich zufrieden stellend zu integrieren.<br />
Die Definition der Grenzen Europas ist wesentlich für die Auffassung von<br />
41
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 42<br />
JACQUES BARROT<br />
der europäischen Identität. Manche heben häufig den Charakter einer nicht greifbaren<br />
Evidenz einer europäischen Identität hervor, die es erst zu schaffen gelte.<br />
Ich glaube im Gegenteil dazu, dass diese Identität existiert, dass sie bereits in<br />
den Anfängen der Europäischen Union präsent war: Die Erklärung zur europäischen<br />
Identität, die die Mitgliedstaaten am 14. Dezember 1973 verabschiedet haben, formuliert<br />
dies ganz klar. Dort heißt es, dass diese Vielfalt der Kulturen im Rahmen<br />
ein und derselben europäischen Zivilisation, diese Verbundenheit zu gemeinsamen<br />
Werten und Prinzipien, diese Annäherung der Lebensauffassungen, dieses<br />
Bewusstsein, gemeinsam spezifische Interessen zu haben, und diese<br />
Entschlossenheit, am europäischen Aufbauwerk mitzuwirken, den eigenständigen<br />
Charakter und die Eigendynamik der europäischen Identität begründen. Die<br />
Eigenständigkeit und die Einzigartigkeit der Europäischen Union beruht vor allem<br />
auf diesem freiwilligen Bekenntnis zu einem politischen Ideal und einer<br />
Wertegemeinschaft über die nationalen Identitäten hinaus. Dieser europäische<br />
Wille stützt sich natürlich auf gemeinsame historische Fundamente: die Beiträge der<br />
griechisch-römischen Zivilisation, die jüdischen und arabischen Einflüsse, das mittelalterliche<br />
Christentum haben ein und denselben europäischen Raum geprägt. Die<br />
Renaissance und der Humanismus, die Aufklärung waren Höhepunkte, zu denen<br />
die Europäer sich bewusst waren, dass sie dieselben Hoffnungen, dieselben<br />
Auseinandersetzungen, dieselben Bezugspunkte teilten. Galileo Galilei, Sokrates,<br />
Leonardo da Vinci oder auch Erasmus sind Teil eines europäischen Gedächtnisses,<br />
und ihre Forschungen, ihre Werke fanden Widerhall weit über ihre nationalen<br />
Grenzen hinaus. Nicht zufällig wollte die Europäische Union in so ambitionierten<br />
Vorhaben wie dem europäischen Satellitensystem Galileo, der Entwicklung<br />
einer europäischen Studentengemeinschaft (Programm Sokrates/Erasmus) oder<br />
der europäischen Berufsbildung (Leonardo Da Vinci) auf diese Weise jene großen<br />
europäischen Persönlichkeiten ehren. Der Glaube an die Vernunft, der Wille,<br />
die Menschenwürde in den Mittelpunkt der Politik zu rücken, sind große gemeinsame<br />
Ideen aller Europäer, die es ermöglicht haben, demokratische Institutionen<br />
aufzubauen, die Grundrechte und die Sicherheit jedes Einzelnen zu wahren. Und<br />
die Verfassung mit der einbezogenen europäischen Charta der Grundrechte, die<br />
allen gleiche politische und soziale Rechte garantiert, sowie die Erweiterung der<br />
Befugnisse von Eurojust zeugen von dieser humanistischen <strong>Vision</strong> als Herzstück<br />
der europäischen Dynamik.<br />
Die Frage der Grenzen ist in diesem Zusammenhang von besonderer Brisanz.<br />
Wenngleich die Dynamik und der Wille, bestehende Grenzen zu überwinden,<br />
Bestandteil des europäischen Geistes sind, muss man sich doch Grenzen setzen,<br />
um diese Energie vor Zersplitterung zu bewahren. Über das von der Verfassung<br />
bewirkte Zusammenrücken um die Werte der Union hinaus muss man sich über<br />
die tatsächlichen Motivationen jedes Einzelnen vergewissern. Alle Erweiterungen<br />
in der Vergangenheit beweisen dies: Der Beitritt zur Europäischen Union bedeutete<br />
stets sehr viel mehr als den Beitritt zum Binnenmarkt und das Aufholen wirtschaftlicher<br />
Rückstände. Die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung kon-<br />
42
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 43<br />
AUF <strong>DE</strong>M WEG INS JAHR 2020: WIE<strong>DE</strong>RBELEBUNG EUROPA'S<br />
kretisiert den Traum von einem wirklichen politischen Europa, das von Anbeginn<br />
des europäischen Aufbauwerkes an präsent war, und dieser grundlegende Text<br />
hat einen wesentlich tieferen historischen Sinn als die bloße Marktöffnung. Es ist<br />
sehr viel leichter, eine Freihandelszone oder eine Zollunion zu schaffen, als sich<br />
über die Existenz von europäischen Küstenwachen oder eine europäische polizeiliche<br />
Zusammenarbeit zu verständigen. Um des Gelingens des europäischen<br />
Projekts willen muss man heute bei jeder Prüfung eines neuen Beitritts noch<br />
mehr als in der Vergangenheit den daraus resultierenden Nutzen für die Union<br />
insgesamt, der über die bloßen nationalen Interessen der ihr angehörenden<br />
Länder hinausgeht, im Auge haben.<br />
Die geografische Auffassung von den Grenzen der Europäischen Union muss<br />
diese neuen Gegebenheiten berücksichtigen, die den Sinn des Beitritts beeinflussen.<br />
Die Europäische Union muss dabei auf pragmatische Weise vorgehen. Die<br />
Osterweiterung Europas würdigte die Wiedervereinigung und die Rückkehr der<br />
einst von kommunistischen Regimes unterdrückten Länder zur Demokratie: Ost<br />
und West können nun wieder in die gleiche Richtung blicken. Für künftige<br />
Erweiterungen müssen in erster Linie Kriterien festgelegt werden, die es den neu<br />
beitretenden Ländern ermöglichen, zu ermessen, was der Beitritt zu einer politischen<br />
Union bedeutet, und die sämtliche rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen<br />
Errungenschaften der Europäischen Union bewahren. Von lebenswichtiger<br />
Bedeutung ist dabei, sich davon zu überzeugen, dass die <strong>Vision</strong> und der<br />
Sinn, den man Europa geben möchte, von allen geteilt wird, um ein<br />
Auseinanderplatzen und ein Scheitern zu vermeiden. Angesichts der Vielfalt der<br />
Situationen und der Bestrebungen eines Jeden, scheint es mir zunehmend erforderlich<br />
zu sein, dass man eine Antwort findet, die weniger einschneidend ist als<br />
der volle und uneingeschränkte Beitritt oder seine Ablehnung, und dabei hat<br />
der Verkehrssektor eine Rolle zu spielen.<br />
Als Vizepräsident der Europäischen Kommission, der für den Verkehrsbereich<br />
zuständig ist, möchte ich unterstreichen, welch hervorragendes Instrument der<br />
Verkehrssektor für den europäischen Zusammenhalt darstellt. Die<br />
Transeuropäischen Verkehrsnetze tragen, indem sie beispielsweise Lyon mit<br />
Budapest und Ljubljana verbinden, zu einer besseren Integration des europäischen<br />
Raumes bei. Indem sie die Abstände verringern, helfen sie auch mit, die<br />
„mentalen Barrieren“ zwischen den Europäern abzubauen. Die Errichtung dieser<br />
Verkehrsnetze zur Anbindung der Nachbarländer erleichtert auch den Zugang<br />
der Europäer zu diesen Märkten und lässt diese Länder von der<br />
Anziehungswirkung der europäischen Wirtschaft profitieren. Gute Verkehrsverbindungen,<br />
Handelsaustausch und eine entsprechende Nachbarschaftspolitik<br />
können diesen benachbarten Ländern, die von den positiven Auswirkungen des<br />
europäischen Aufbauwerks profitieren wollen, ohne sich auf das mit dem Beitritt<br />
verbundene politische Projekt einlassen zu wollen, eine Perspektive bieten.<br />
43
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Gegen ein altes Europa: Streben nach Wettbewerbsfähigkeit<br />
Abgesehen von den Werten und der Ausrichtung, die wir Europa geben wollen,<br />
kommt es darauf an, Europa zu einer Region der Innovation zu machen und<br />
den künftigen Generationen die Mittel zu hinterlassen, um dies zu erreichen.<br />
1. Die Strategie von Lissabon<br />
JACQUES BARROT<br />
Die Halbzeitüberprüfung der Strategie von Lissabon ist Teil dieses Konzepts. Im<br />
März 2000 wurde mit der Strategie von Lissabon eine große Ambition verkündet:<br />
Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.<br />
Fünf Jahre später sind die Ergebnisse nicht auf der Höhe dieses ehrgeizigen Ziels:<br />
Im Jahr 2004 lag die Wachstumsrate des realen BIP in der EU-25 bei 2,3 %, gegenüber<br />
4,4 % in den USA. Die Produktivität der Arbeitskräfte pro Arbeitsstunde ist in<br />
Europa immer noch niedriger als in den USA: einem Indexwert von 100 in der EU-<br />
15 steht ein Wert von 113,7 in den USA gegenüber. Zudem belaufen sich die europäischen<br />
Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Jahr 2003 für die EU-15 auf<br />
kaum 2 % des BIP, gegenüber 2,7 % in den USA und 3 % in Japan.<br />
Also machten sich eine bessere Abstufung der Prioritäten und eine rationellere<br />
Gestaltung der Strategie von Lissabon erforderlich. Künftig kommt es darauf<br />
an, ein vorrangiges Ziel festzulegen: mehr Wachstum und mehr qualifiziertere<br />
Arbeitsplätze, um eine nachhaltigere Wettbewerbsfähigkeit unter Einbeziehung<br />
der sozialen Dimension zu entwickeln. Die Wettbewerbsfähigkeit ist von einer<br />
Fülle von Faktoren abhängig, deshalb sieht ein Aktionsplan etwa 200 konkrete<br />
Aktionen in zehn Politikbereichen vor (Binnenmarkt, Öffnung der Märkte,<br />
Rechtsvorschriften, Infrastruktur, Forschung, Industrie, Beschäftigung, berufliche<br />
Bildung, allgemeine Bildung). Allerdings ist der Erfolg dieses für die europäische<br />
Wirtschaft erforderlichen Programms aus meiner Sicht vor allem von drei Faktoren<br />
abhängig.<br />
Einer der wichtigsten Hebel sind Investitionen in Forschung und Entwicklung:<br />
So hat sich die Union das Ziel gesetzt, den für diesen Bereich aufgewendeten<br />
Anteil des BIP bis zum Jahr 2010 auf 3 % des europäischen BIP zu erhöhen.<br />
Weitere Mittel zur Förderung der europäischen Forschung sind die Gründung<br />
eines europäischen Instituts für Technologie und technologischer Plattformen<br />
sowie die Bereitstellung von Kofinanzierungen der Union zur Entwicklung umweltfreundlicher<br />
Technologien. Deshalb hat die Europäische Union weiterhin beschlossen,<br />
eine Finanzierungsanstrengung im Rahmen des 6. Rahmenprogramms für<br />
Forschung und Entwicklung (FTE-Rahmenprogramm) zu unternehmen, die sich auf<br />
17,5 Mrd. Euro für den Zeitraum 2002-2006 beläuft. Schließlich hat die Kommission<br />
im Rahmen der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 ebenfalls 10 Milliarden jährlich<br />
für Forschungszwecke beantragt.<br />
Der Dienstleistungssektor, der 71 % der Bruttowertschöpfung und 69,2 % der<br />
Beschäftigung der erweiterten Union ausmacht, ist der Sektor, der am meisten<br />
44
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 45<br />
AUF <strong>DE</strong>M WEG INS JAHR 2020: WIE<strong>DE</strong>RBELEBUNG EUROPA'S<br />
Arbeitsplätze schafft und am besten geeignet ist, einen Beitrag gegen die<br />
Arbeitslosigkeit zu leisten. Deshalb ist die Öffnung des Dienstleistungsmarktes<br />
erforderlich: Sie wird es ermöglichen, dass der Dienstleistungsverkehr zunimmt, dass<br />
die Verbreitung der Dienstleistungen erleichtert wird und dass Arbeitsplätze entstehen.<br />
Allerdings verlangen einige Sektoren (Verkehr, audiovisueller Sektor,<br />
Gesundheitsbereich) einen spezifischen Ansatz, und das Prinzip der Anwendung<br />
des Rechts des Herkunftslandes darf nicht zu Sozialdumping und unlauterem<br />
Wettbewerb führen. Schließlich gilt es, die Spezifik der Gemeinwohlverpflichtungen<br />
zu berücksichtigen: Die Aufrechterhaltung eines Universaldienstes von hoher<br />
Qualität und die Wahrung des sozialen und territorialen Zusammenhalts der erweiterten<br />
Union sind wesentliche Ziele für ein Europa im Dienste der Bürger. Die<br />
Strategie von Lissabon muss also eindeutig als die Herstellung eines Gleichgewichts<br />
zwischen Marktöffnung und öffentlichen Dienstleistungen konzipiert werden.<br />
Der Erfolg der Strategie von Lissabon und der damit verbundenen Maßnahmen<br />
hängt nicht allein von den europäischen Institutionen ab, sondern von der<br />
Mobilisierung aller. Einer der Gründe für das Ausbleiben des Erfolgs der Strategie<br />
von Lissabon liegt in der unzureichenden Umsetzung der auf Gemeinschaftsebene<br />
festgelegten Orientierung durch die nationalen Behörden. Erforderlich wären eine<br />
echte Aneignung dieses Dokuments sowie eine Überwachung der Ergebnisse.<br />
Von besonderem Nutzen wird ein Vergleich der Leistungen der Mitgliedstaaten<br />
sein. Es geht nicht darum, abstrakte Ziele auf sehr unterschiedliche nationale<br />
Situationen zu übertragen, sondern die Mitgliedstaaten in die Verantwortung zu nehmen,<br />
indem sie aufgefordert werden, ihre Erfolge in einigen Schlüsselbereichen vorzustellen.<br />
Dabei könnte es sich beispielsweise um die Schaffung von Arbeitsplätzen,<br />
die FuE-Ausgaben oder die Investitionen in Infrastrukturen handeln. Voraussetzung<br />
für die Aneignung durch die Mitgliedstaaten ist auch eine größere Einbeziehung<br />
der nationalen Parlamente und der Gebietskörperschaften. Außerdem ist die<br />
Einbeziehung der Zivilgesellschaft von Bedeutung. Unter diesem Blickwinkel stellt<br />
die Jugend eine vorrangige Zielgruppe dar, vor allem die Frage des Eintritts in das<br />
Erwerbsleben: Es sei daran erinnert, dass Ende 2004 in der EU-25 18,2 % der<br />
Jugendlichen von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Das von J. Figel’ vorgeschlagene<br />
Instrument (eine Charta anstelle eines Pakts), bei dem alle Partner (Hochschulen,<br />
Unternehmen usw.) in eine große europäische Initiative zugunsten der Jugend<br />
eingebunden werden, wird die Eingliederung der Jugendlichen in den Arbeitsmarkt<br />
fördern. Schließlich sollen die Unternehmen nicht nur die letztlich Begünstigten der<br />
Strategie von Lissabon sein, sondern auch vollwertige Akteure. Es gilt, die Strategie<br />
von Lissabon aus den Büros der Beamten herauszuholen und sie Sektor für Sektor<br />
mit den Akteuren vor Ort zu konkretisieren. Das setzt voraus, dass regelmäßige<br />
Treffen zwischen europäischen Institutionen, Mitgliedstaaten und Unternehmen<br />
stattfinden, um Bilanz über den Fortgang der Projekte zu ziehen. Im Verkehrssektor<br />
könnte ein solches Treffen die Form eines großen jährlichen Mobilitätsforums<br />
haben.<br />
45
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JACQUES BARROT<br />
2. Der Verkehrssektor als wesentliches Element der Strategie von Lissabon<br />
und der europäischen Wettbewerbsfähigkeit:<br />
Während es immer dringlicher wird, die Union mit leistungsfähigen<br />
Verkehrsinfrastrukturen auszustatten, um ihr Wachstumspotenzial zu entwickeln,<br />
ist die Erfolgsbilanz des transeuropäischen Verkehrsnetzes in den letzten zehn<br />
Jahren doch eher bescheiden. In zehn Jahren wurde nur ein Drittel der vorgesehenen<br />
Investitionen realisiert. Das heißt, bei dem gegenwärtigen Tempo würde man<br />
noch 20 Jahre brauchen, um diese Projekte abzuschließen. Die größten Rückstände<br />
sind im Wesentlichen bei den grenzüberschreitenden Verbindungen zu verzeichnen,<br />
was paradox ist, handelt es sich doch hierbei um die Streckenabschnitte mit<br />
dem höchsten „europäischen Mehrwert“.<br />
Diese Situation ist der Wettbewerbsfähigkeit der Union insgesamt sehr abträglich,<br />
denn das Fortbestehen von Verkehrsengpässen und fehlenden<br />
Verbindungsstücken auf den wichtigsten transeuropäischen Strecken bringt hohe<br />
staubedingte Kosten mit sich, abgesehen von den Kosten infolge der<br />
Umweltverschmutzung und der Unfälle als Begleiterscheinungen. Im Jahr 2020<br />
werden die staubedingten Kosten sich auf ca. 1 % des Gemeinschafts-BIP belaufen.<br />
Nach Studien der Kommission würde die Realisierung des Transeuropäischen<br />
Verkehrsnetzes es ermöglichen einen Wachstumszuwachs von ca. 0,2 bis 0,3<br />
Prozentpunkten des Bruttoinlandsprodukt zu erreichen, was einem Potenzial von<br />
einer Million neu geschaffenen ständigen Arbeitsplätzen entspräche. Darüber<br />
hinaus würde die Realisierung des TEN eine Verringerung der Treibhausgasemissionen<br />
von etwa 4 % ermöglichen, womit die Union den Zielen des Kyoto-Protokolls<br />
näher käme.<br />
Vor nunmehr zehn Jahren haben wir die Barrieren für den freien Personen- und<br />
Güterverkehr aus dem Wege geräumt. Durch unser fehlendes Engagement und den<br />
fehlenden politischen Willen, unsere Union mit den unerlässlichen<br />
Verkehrsinfrastrukturen auszustatten, schaffen wir nicht nur neue physische<br />
Barrieren, sondern untergraben vor allem die Fundamente des Wachstums und<br />
der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union, die wir aufzubauen versuchen.<br />
Die Anstrengungen, die in anderen Bereichen unternommen werden, um den<br />
Lissabon-Prozess wieder in Gang zu bringen, werden nur Sinn haben, wenn die<br />
betroffenen Akteure sich mutig zu ihren Ambitionen bekennen und die Union<br />
mit den für ihre Weiterentwicklung erforderlichen Infrastrukturen ausstatten.<br />
Um mit den unendlichen Listen unausgeführter Projekte Schluss zu machen, sehe<br />
ich konkret fünf Bedingungen, die es zu erfüllen gilt, wenn wir unsere Ambitionen<br />
im Bereich der Verkehrsinfrastrukturen realisieren wollen. Erstens gilt es die<br />
Mittelausstattung des TEN-Haushalts in Höhe von 20,3 Mrd. Euro für sieben Jahre<br />
einzuhalten, die von der Kommission vorgeschlagen und durch das Europäische<br />
Parlament unterstützt wurde. Es sei daran erinnert, dass aus diesem Haushalt ehrgeizige<br />
Projekte finanziert werden, wie SESAM oder ERTMS, die es ermöglichen<br />
werden, Engpässe im Luftraum und auf der Schiene zu bekämpfen und die damit<br />
46
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 47<br />
AUF <strong>DE</strong>M WEG INS JAHR 2020: WIE<strong>DE</strong>RBELEBUNG EUROPA'S<br />
verbundenen Verluste an Wettbewerbsfähigkeit zu verringern. Ebenso wird Galileo<br />
mit der Entwicklung eines unabhängigen europäischen Satellitennavigationssystems<br />
Zeugnis von der Exzellenz der europäischen Forschung ablegen. Für dieses<br />
Satellitenpositionierungssystem wird es verschiedene Anwendungen geben, die<br />
allen zugute kommen: Galileo wird die Entwicklung des intelligenten<br />
Straßenverkehrs deutlich beschleunigen und durch eine bessere Lokalisierung ein<br />
effizienteres Verkehrsmanagement auch im Luft- und Eisenbahnverkehr ermöglichen.<br />
Bei einer Verringerung der von der Kommission geforderten Haushaltsmittel<br />
werden solche Entwicklungen unmöglich sein. Die zweite Bedingung ist, dass<br />
rasch eine Einigung über die Überarbeitung der Richtlinie „Eurovignette“ erzielt wird.<br />
So würde beispielsweise die Genehmigung einer Erhöhung der Mautgebühren<br />
auf den Alpenautobahnen um mindestens 25 % zusätzliche Einnahmen ermöglichen,<br />
um beispielsweise die Finanzierung der Tunnel am Mont Cenis und am<br />
Brenner abzudecken. Die dritte Bedingung ist die Koordinierung der Durchführung<br />
der vorrangigen Projekte. Folglich werde ich in Kürze der Kommission vorschlagen,<br />
sechs „europäische Koordinatoren“ mit anerkanntem Gewicht und anerkannten<br />
Kompetenzen für sechs grenzüberschreitende prioritäre Projekte zu<br />
benennen. Die vierte Bedingung ist die Entwicklung von innovativen<br />
Finanzierungsinstrumenten und Finanzkonstruktionen von der Art „Öffentlichprivate<br />
Partnerschaft“: Die Kommission (mein Kollege Joaquín Almunia und ich<br />
selbst haben intensiv daran gearbeitet) wird im Laufe des Monats März die Schaffung<br />
eines Garantieinstruments vorschlagen, das aus Mitteln des europäischen TEN-<br />
Haushalts für den Zeitraum 2007-2013 finanziert wird und dazu bestimmt ist, die<br />
Risiken abzudecken, die in den ersten Jahren nach Inbetriebnahme der<br />
Infrastrukturen bestehen. Schließlich gehört zum Verkehrssektor wie zu jeder anderen<br />
Gemeinschaftspolitik, dass die Mitgliedstaaten ihre finanziellen Verpflichtungen<br />
einhalten. Der europäische Haushalt ist nicht die einzige Quelle zur Finanzierung<br />
des transeuropäischen Verkehrsnetzes und darf auf keinen Fall an die Stelle der<br />
finanziellen Anstrengungen der betroffenen Mitgliedstaaten treten, die eine unerlässliche<br />
Voraussetzung für die Freigabe der europäischen Mittel sind. Ich bin ein<br />
strenger Finanzverwalter. Nur ausgereifte Projekte, für die die Mitgliedstaaten ihr<br />
entschlossenes Engagement zur Realisierung der Infrastruktur bis 2020 beweisen,<br />
können Mittelzuweisungen aus dem TEN-Haushalt erhalten.<br />
3. Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts:<br />
Die Erneuerung der Strategie von Lissabon und die Entwicklung des<br />
Verkehrswesens schließt die Festlegung eines wachstumsfreundlicheren Rahmens für<br />
die Haushaltsdisziplin ein, ohne die Währungsstabilität der Union in Frage zu stellen.<br />
So geht es bei der Debatte über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts<br />
nicht nur darum, sich arithmetischen Kriterien anzupassen, sondern einen Weg zu<br />
finden, um die Früchte des Wachstums besser zur Vorbereitung der Zukunft zu nutzen,<br />
um in Zeiten der Flaute über Handlungsspielräume zu verfügen und den künftigen<br />
Generationen gesunde öffentliche Finanzen zu hinterlassen.<br />
47
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 48<br />
Der derzeitige Zustand der europäischen öffentlichen Finanzen ist weit entfernt<br />
von den Zielen, die bei der Annahme der einheitlichen Währung im Vertrag<br />
von Maastricht festgelegt wurden: Die öffentliche Verschuldung lag im Jahr 2003<br />
bei 63,3 % des BIP in der EU-25 und 64,3 % des BIP in der EU-15. In der Eurozone<br />
war das Schuldenniveau mit 70,7 % noch besorgniserregender, obwohl es sich<br />
doch dabei um die Länder handelt, die das größte Interesse daran haben, den<br />
Stabilitäts- und Wachstumspakt als Garanten für die Stabilität ihrer Währung einzuhalten.<br />
Die Lage verschlechtert sich aber weiter mit einem durchschnittlichen<br />
Defizit von – 2,7 % in der Eurozone und – 2,8 % in der EU-25.<br />
Die Änderung der Anwendungsmodalitäten des Pakts müsste also mehr<br />
Flexibilität in Krisenzeiten ermöglichen und zugleich die Mitgliedstaaten dazu<br />
anhalten, in Zeiten des Wachstums ihre Schulden abzubauen und ihre öffentlichen<br />
Finanzen zu sanieren. Nur unter dieser Voraussetzung können wir den künftigen<br />
Generationen mit Blick auf das Jahr 2010 die finanziellen Mittel hinterlassen,<br />
die es ihnen erlauben, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und eine<br />
langfristige Stabilität des Euro zu sichern.<br />
Der Platz Europas in der Welt<br />
JACQUES BARROT<br />
Auf dem internen Markt wettbewerbsfähig zu sein, wird den europäischen<br />
Bürgern mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze bringen, zugleich aber Europa<br />
dabei helfen, sich auf internationaler Ebene zu behaupten.<br />
Die europäischen Handelserfolge sind die erste Illustration der Vorteile Europas.<br />
Als erste Handelsmacht in der Welt mit etwa 20 % des Welthandels und weltweit<br />
wichtigster Exporteur von Dienstleistungen (mit 324 Mrd. Euro im Jahr 2002, das<br />
sind 25,8 % der Exporte weltweit) konnte die Europäische Union den Nachweis<br />
erbringen, dass die Methode, die darin bestand, sich zusammenzuschließen, um<br />
eine gemeinsame Handelspolitik zu betreiben und die Märkte zu öffnen, sich<br />
bewährt hat. Das Vorgehen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten<br />
innerhalb der Welthandelsorganisation und die bilateralen Abkommen zwischen<br />
der Europäischen Union und anderen Ländern (USA, Kanada usw.) sowie regionalen<br />
Zonen (Mittelmeerländer, Asien, Golfstaaten, AKP-Länder) kam den europäischen<br />
Exporten in hohem Maße zugute. Bis 2010 besteht eine der Ambitionen<br />
darin, es den Europäern zu ermöglichen, dass sie weiterhin von den Vorteilen der<br />
Liberalisierung des Handels dank der Fortsetzung der multilateralen Verhandlungen<br />
innerhalb der Welthandelsorganisation profitieren. Der Erfolg der bilateralen<br />
Abkommen im Verkehrsbereich ist Teil dieser Entwicklung: Die Wiederbelebung<br />
der „Open Sky “-Luftverkehrsabkommen mit den USA, China und Russland wird es<br />
den europäischen Fluggesellschaften ermöglichen, Aktivitäten auf diesen Märkten<br />
zu entwickeln und besser von den weltweiten Auswirkungen der Zunahme des<br />
Handels zu profitieren.<br />
Wenn auch die Marktöffnung positive Auswirkungen hat, so erfordern doch<br />
bestimmte Sektoren, vor allem der Kultur- und der Gesundheitsbereich, einen<br />
48
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 49<br />
AUF <strong>DE</strong>M WEG INS JAHR 2020: WIE<strong>DE</strong>RBELEBUNG EUROPA'S<br />
spezifischen Ansatz. Dies findet Berücksichtigung im Allgemeinen Übereinkommen<br />
über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), das auf der Ebene der<br />
Welthandelsorganisation ausgehandelt wurde. Solidarität muss auch künftig<br />
Bestandteil der Handelspolitik bleiben: Die Abkommen von Cotonou vom 23.<br />
Juni 2000 und das Allgemeine Präferenzsystem symbolisieren diese gegenseitige<br />
Hilfe gegenüber Ländern mit geringem Einkommen.<br />
Die Europäische Union ist bereits heute ein wichtiger Akteur im Bereich der<br />
Entwicklung. Im Jahr 2001/2002 machte die von den Mitgliedstaaten und der<br />
Europäischen Kommission aufgebrachte öffentliche Entwicklungshilfe 19.143 Mio.<br />
Dollar aus, davon stammten 5.213 Mio. Dollar von der Europäischen Kommission.<br />
In 20 Ländern (darunter Afghanistan, Elfenbeinküste, Burundi, Ruanda, Osttimor)<br />
macht die europäische Hilfe mehr als 50 % der insgesamt geleisteten Hilfe aus. Im<br />
humanitären Bereich hat das europäische Amt für humanitäre Hilfe, ECHO, im<br />
Jahr 2004 mehr als 570 Mio. Euro zur Verfügung gestellt, sei es als Hilfe für Länder<br />
nach Konflikten, Flüchtlingshilfe oder Hilfe nach Naturkatastrophen. Diese<br />
Antworten müssen noch vertieft werden, vor allem im Lichte der dramatischen<br />
Ereignisse in Südostasien, um eine reaktionsschnellere Hilfe und eine bessere<br />
Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen. Dieses Vorgehen muss<br />
mit den bestehenden internationalen Institutionen (Vereinte Nationen, Institutionen<br />
von Bretton Woods) koordiniert werden, innerhalb derer, wann immer möglich,<br />
eine bessere Konzertierung zwischen den Mitgliedstaaten anzustreben ist.<br />
Die Europäische Union könnte sich auch stärker in die Lösung bestimmter<br />
Konflikte einbringen und nach außen das Friedensmodell propagieren, das zu<br />
erreichen ihr im Innern gelungen ist. Operationen wie Artemis in der<br />
Demokratischen Republik Kongo, EUFOR (Althea) in Bosnien und Herzegowina,<br />
EUPOL-Kinshasa, Concordia in Mazedonien sind europäische Beiträge zur Erhaltung<br />
des Friedens, die vertieft und auf andere Teile der Welt ausgeweitet werden sollten.<br />
Solche Aktionen werden durch die Europäische Verfassung beträchtlich erleichtert<br />
werden, die einen europäischen Außenminister einsetzen und die Fälle erweitern<br />
wird, in denen die Europäische Union militärisch intervenieren kann, und<br />
die mittelfristig die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Verteidigung<br />
vorsieht, sobald der Europäische Rat dies beschlossen hat.<br />
Schließlich muss die Europäische Union sich bis zum Jahr 2010 um ausgewogenere<br />
Beziehungen zu den USA auf dem Gebiet der Außenpolitik bemühen. Der<br />
Europabesuch von Präsident George W. Bush kann aus dieser Sicht die erste<br />
Etappe einer Annäherung und gemeinsamer Überlegungen zu bestimmten Fragen<br />
darstellen. Die Wiederaufnahme der „Open Sky “-Verhandlungen wird ein erster<br />
konkreter Ausdruck dieser neuen Beziehung im Bereich des Luftverkehrs sein.<br />
Wenngleich die europäische Identität an die Grenzen gebunden ist, die Europa<br />
sich geben wird, so hängt sie doch vor allem von dem Gesicht ab, das wir Europäer<br />
dem Europa von morgen geben wollen: das Gesicht eines wettbewerbsfähigen<br />
und ambitionierten Europas, das das Potenzial und die Kreativität der Jugend nutzbar<br />
macht, und eines Europas, das seinen Platz nach außen stärker behauptet,<br />
49
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 50<br />
JACQUES BARROT<br />
nämlich den eines Kontinents, dem es nach Jahrhunderten von Bruderkriegen<br />
gelungen ist, Frieden zu erlangen und ein in der Welt einzigartiges politisches<br />
Projekt zu entwickeln.<br />
50<br />
Februar 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 51<br />
Simon BUSUTTIL<br />
Leiter der maltesischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Europas Zukunft gestalten<br />
Von der Vergangenheit zu reden ist leicht, weil viel über sie bekannt ist. Sich<br />
die Zukunft vorzustellen ist schwierig, hier ist alles unbekannt. Dennoch haben<br />
Zukunftsvisionen in der Politik – und nicht zuletzt in der Geschichte der europäischen<br />
Einheit – stets eine wichtige Rolle gespielt. Die Schuman-Erklärung war<br />
eine solche Zukunftsvision: Ihre unmittelbaren Aufgaben waren leicht zu verstehen.<br />
Ihr längerfristiges Ziel, die Erreichung einer Europäischen Föderation,<br />
war nur in Umrissen in weiter Ferne auszumachen. Und doch sind mit ihrer Hilfe<br />
Entwicklungen in Gang gesetzt und der Lauf der Dinge beeinflusst worden.<br />
Da wir nichts Genaues über die Zukunft wissen, können wir uns ihr nur<br />
anhand gegenwärtiger Trends nähern. Und doch ist Nachdenken über die Zukunft<br />
kein utopisches Ausweichen vor drängenden Problemen der Gegenwart. Es ist<br />
vielmehr die nützliche Kunst, zu versuchen, den Gang künftiger Entwicklungen<br />
zu beeinflussen, soweit uns dies möglich ist, denn Überraschungen und ungeplante<br />
Ereignisse wird es immer geben. Zugleich ist es eine Möglichkeit, gegenwärtigen<br />
Schwierigkeiten Alternativen gegenüberzustellen. Letzten Endes ist es ein<br />
kreativer Akt. Aber trotz der vielen Vorteile ist der Blick in die Zukunft nicht sehr<br />
beliebt bei Politikern, die ihre Tätigkeit oft im Bismarckschen Sinne als „Kunst des<br />
Möglichen“ verstehen. Diese Haltung verrät natürlich Anpassung an das Gegebene<br />
und Scheu vor Veränderung. Ich möchte deshalb den Förderern dieses Buches<br />
danken, die mir Gelegenheit geben, an diesem fantasievollen Projekt mitzuwirken,<br />
das versucht, ein Bild von der Zukunft zu malen.<br />
Die Diskussion „einer <strong>Vision</strong> für Europa 2020“ erfordert eine Definition von<br />
Europa und seinen äußersten Grenzen. Bis zum Jahr 2020 wird die EU aller<br />
Wahrscheinlichkeit nach bereits die Türkei und die Ukraine und vielleicht noch<br />
weitere Staaten aufgenommen haben. Die Grenzen Europas zu diskutieren ist<br />
weder leicht noch eindeutig. Wo man die europäische Grenze auch zieht, es<br />
wird immer willkürlich sein und nie wird man es allen Recht machen können.<br />
Wenn wir Europa jedoch anhand von Geografie, Kultur und seinen Grundwerten<br />
51
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 52<br />
SIMON BUSUTTIL<br />
definieren, gelingt es uns schon, eine bessere Vorstellung von Europa zu entwickeln,<br />
wohl wissend, dass die „idealen“ Grenzen Europas stets unklar bleiben werden.<br />
Ich stimme zu, dass die EU an einem gewissen Punkt zu wachsen aufhören<br />
und sich festigen muss. Aufgrund seiner territorialen Ausdehnung und Vielfalt<br />
besteht bereits jetzt die Gefahr, dass Probleme von „Gigantismus“ auftreten, nämlich<br />
viele Bürger das Gefühl haben, sich weit weg vom Zentrum der Ereignisse<br />
zu befinden, und bei der Anbindung der entlegensten Ecken an jene Orte, an<br />
denen Entscheidungen getroffen werden, Kommunikationsprobleme auftreten. Von<br />
daher würde ich die Vermutung wagen, falls und wenn es der EU gelungen sein<br />
wird, die Türkei und die Ukraine sowie vielleicht einige kleinere Staaten einzugliedern,<br />
wozu Länder wie die Moldau und Belarus im Osten, Island und<br />
Norwegen im Norden gehören könnten, hätte sie ihre Möglichkeiten weitestgehend<br />
ausgeschöpft. Alles darüber hinaus würde die Gefahr des Zerfalls in sich<br />
bergen. Wichtig für die Stärkung des Zusammenhalts der Union sind nicht die physischen<br />
Grenzen, sondern vielmehr die Grundwerte Demokratie, Menschenrechte<br />
und Rechtsstaatlichkeit sowie eine gemeinsame <strong>Vision</strong> von der Rolle der EU in<br />
der Welt, die als gemeinsames Band die unterschiedlichen Mitgliedstaaten zusammenhalten.<br />
Ein solches Europa könnte der Kernpunkt eines „Großeuropa“ werden,<br />
das Russland als Partner ebenso einschließt wie andere benachbarte Staaten.<br />
Es wird auch Brennpunkt einer stärkeren Partnerschaft im Mittelmeerraum sein.<br />
In fünfzehn Jahren wird sich die europäische Landschaft erheblich verändert<br />
haben. Die EU wird aller Wahrscheinlichkeit nach gewachsen sein. Ich nehme an,<br />
dass die „Wissensgesellschaft“ bis dahin konkrete Gestalt angenommen haben<br />
wird. Das Rätsel der europäischen Wettbewerbsfähigkeit ist bis dahin zufrieden<br />
stellend gelöst. In Verbindung mit einer sichereren Umwelt und entsprechenden<br />
Verbesserungen im Gesundheitswesen würde dies die Voraussetzungen für eine<br />
spürbar höhere Lebensqualität der Mehrheit der Bürger Europas schaffen.<br />
Soziologisch betrachtet wird sich Europa ebenfalls verändert haben: Seine<br />
Bevölkerung ist gealtert. Wenn wir die gegenwärtige Geschwindigkeit des technologischen<br />
Wandels zugrunde legen, steht zu erwarten, dass sich auch die<br />
Lebensweise drastisch verändert haben wird.<br />
Es wäre jedoch falsch, Europas materiellen Fortschritt als vorherbestimmte<br />
lineare Entwicklung zu betrachten. So liegen die Dinge nicht, und die Gefahr<br />
eines Rückschlags ist immer gegeben. Politiken können misslingen, das passiert<br />
sogar recht häufig, und wenn wir uns zu ehrgeizige Ziele setzen, riskieren wir,<br />
diese nicht zu erreichen. Deshalb müssen sie ständig überprüft werden.<br />
Europa expandiert und arbeitet daran, seinen inneren Zusammenhalt zu stärken;<br />
daher besteht immer die Gefahr, dass es zu sehr mit sich selbst beschäftigt<br />
ist und nur nach innen schaut. Um dieser Gefahr entgegenzusteuern, hat die EU<br />
ihre Nachbarschaftspolitik ins Leben gerufen, die zwar noch ganz am Anfang<br />
steht, aber trotzdem in den unmittelbaren Nachbarstaaten der Union auf großes<br />
Interesse stößt.<br />
In einer globalen Welt wie der unseren wäre es jedoch kurzsichtig, nicht über<br />
52
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 53<br />
EUROPAS ZUKUNFT GESTALTEN<br />
die unmittelbare Nachbarschaft hinauszublicken. Tatsächlich haben weitaus mehr<br />
verhängnisvolle Risiken für die Stabilität der Union ihren Ursprung jenseits dieser<br />
Nachbarstaaten. Die Union muss hierauf reagieren, vielleicht mit mehr<br />
Nachdruck als bisher.<br />
Die von jenseits unserer europäischen Nachbarn ausgehenden Herausforderungen<br />
sind bedrohlich, weil technischer Fortschritt und die Revolution in der<br />
Telekommunikation die Entfernungen verringert haben.<br />
Zu den größten Herausforderungen gehören meiner Ansicht nach:<br />
Erstens, die Ziele der Millenniumserklärung. Immer wieder wird beklagt, sie<br />
würden nicht erreicht. Es wurden Schritte eingeleitet, das Problem der globalen<br />
Erwärmung anzugehen, aber das Kyoto-Protokoll kratzt nur ein wenig an der<br />
Oberfläche. Es wäre schlecht, wenn es Zufriedenheit statt erneuter Anstrengungen<br />
nach sich zöge, der globalen Erwärmung Einhalt zu gebieten. Ich bin sicher,<br />
dass die globale Erwärmung auch in fünfzehn Jahren noch ein Thema sein wird.<br />
Dann ist da die Gefahr einer HIV-Pandemie: Die UNO möchte, dass in diesem<br />
Jahr 10 Milliarden und im kommenden Jahr 15 Milliarden Dollar zur<br />
Bekämpfung dieser Krankheit ausgegeben werden. Man schätzt jedoch, dass es<br />
im laufenden Jahr nur etwa 4,7 Milliarden Dollar sein werden. Da sich Europa auf<br />
weitere Erleichterungen bei Flugreisen einstellt und dies für die nächsten beiden<br />
Jahrzehnte kennzeichnend sein wird, muss es sich selbst noch besser auf die<br />
Abwehr der damit einhergehenden Gefahren wie einer eventuellen Zunahme<br />
übertragbarer Krankheiten vorbereiten, wie der jüngste Ausbruch der asiatischen<br />
Geflügelpest zeigte.<br />
Wir können das Schuldenproblem nicht ignorieren: Die 38 am stärksten verschuldeten<br />
Länder schulden ihre Rückzahlungen nicht anderen Staaten, sondern<br />
multilateralen Organisationen wie der Weltbank und dem Internationalen<br />
Währungsfonds. Dieses Jahr haben die G-7 einen Schuldenerlass zugesagt – wir<br />
müssen dafür sorgen, dass dieser auch eintritt. Der Schuldenerlass ist nur Teil der<br />
Gleichung, es müssen Entwicklungsressourcen mobilisiert werden, um diesen<br />
Ländern zu Wachstum zu verhelfen. Auch die drängenden Fragen von Demokratie<br />
und verantwortungsvoller Staatsführung sind für die Verbesserung der<br />
Entwicklungsaussichten unverzichtbar. Das Analphabetentum in den<br />
Entwicklungsländern muss bekämpft und die Anstrengungen zur Überwindung der<br />
Zweiteilung der Welt hinsichtlich der Beherrschung der Informationstechnologien<br />
müssen verdoppelt werden. Ebenso wichtig ist es, dafür zu sorgen, dass<br />
Regierungen die Bodenschätze ihres Landes zum Wohle ihrer Bürger einsetzen –<br />
hierbei denke ich insbesondere an Rohölprodukte in Afrika – und die so gewonnenen<br />
Einnahmen nicht in dubiosen Projekten verschwenden, wenn nicht gar<br />
durch blanke Korruption einbüßen. Die moderne Technik rückt all diese Aufgaben<br />
in den Bereich des Möglichen.<br />
Sie fragen sich vielleicht, warum die EU hier Verantwortung übernehmen soll.<br />
Ich möchte betonen, dass all diese Probleme die hierfür zur Verfügung stehenden<br />
Ressourcen der EU übersteigen. Die EU muss ferner alles vermeiden,<br />
53
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 54<br />
SIMON BUSUTTIL<br />
was den Anschein erweckt, sie verstünde sich als „Heilsbringerin“ oder wolle<br />
versuchen, Dinge im Alleingang zu tun. In vielen Fällen ist ihr eigenes gutes<br />
Beispiel, nämlich Friede, Wohlstand und Stabilität auf dem europäischen Kontinent,<br />
wirksamer als alle diplomatischen Vertretungen und Demarchen. Ein Rückzug<br />
von der Welt in Isolationismus, wenn er denn möglich wäre, kommt für die EU<br />
nicht in Betracht.<br />
Zum Glück denkt auch niemand daran.<br />
Die EU erkennt, dass die Erweiterung ihr neue Fähigkeiten verliehen hat,<br />
und damit einhergehend eine neue Rolle. Diese Rolle muss verantwortungsvoll<br />
ausgefüllt werden. Ein kurzer Ausflug in die Welt der internationalen Beziehungen<br />
in fünfzehn Jahren macht deutlich, was ich meine:<br />
Die EU wird einer von vielleicht nicht mehr als sechs Akteuren sein, die weltweit<br />
eine Rolle spielen können. Dazu werden die USA und Nordamerika, China,<br />
Indien, Japan und eventuell eine Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten<br />
gehören. Wenn sich die Zahl der Akteure, die tatsächlich Einfluss nehmen können,<br />
so drastisch verringert, müsste es theoretisch leichter sein, weltweite Fragen<br />
gemeinsam anzugehen. Doch es werden neue Konflikte und Gefahren auftauchen.<br />
Es wird ein Wettlauf um Märkte und die immer knapper werdenden materiellen<br />
Ressourcen und Energievorräte einsetzen, um schnelles Wirtschaftswachstum<br />
voranzutreiben. Man muss nur einige der jüngsten Entwicklungen nehmen, um<br />
nahe liegende Schlussfolgerungen ziehen zu können: Die erfreuliche dynamische<br />
Entwicklung in Regionen außerhalb Europas und Nordamerikas, insbesondere<br />
in Asien, hat auch eine Kehrseite, nämlich die gestiegene Nachfrage nach<br />
Rohöl sowie Preiserhöhungen, was die Ökonomien destabilisiert. Außerdem hat<br />
eine weltweite Verlagerung der Produktion nach Asien stattgefunden, was die<br />
wirtschaftliche Situation anderer Regionen beeinträchtigt. Tatsächlich könnte der<br />
Kampf um die knappen ökonomischen Ressourcen – mehr noch als der Kampf<br />
der Kulturen – internationale Turbulenzen nach sich ziehen, weshalb multilaterale<br />
Institutionen natürlich nach Wegen zur friedlichen Lösung solcher Konflikte<br />
suchen.<br />
Deshalb sind Überlegungen, wie in den nächsten fünfzehn Jahren in den<br />
Entwicklungsländern verantwortungsvolle Staatsführung erreicht und die hierzu<br />
erforderlichen Institutionen aufgebaut werden können, keinesfalls von weit hergeholt,<br />
sondern dringend geboten. Auch auf die Gefahr hin, dass man mir vorwirft,<br />
neuen Imperialismus zu schüren – die Schaffung von Institutionen für weltweite<br />
verantwortungsvolle Staatsführung in so vielen Bereichen kommt praktisch<br />
der Errichtung eines „globalen Staates“ gleich, was Fragen aufwirft und heftige<br />
Gefühle auslöst. Natürlich stellt die Verwendung des Begriffs „Staat“ hier nur eine<br />
Annäherung dar, weil es ein treffenderes Wort noch nicht gibt. Beim Aufbau weltweiter<br />
Institutionen hat Europa anderen Staaten eine Menge zu bieten. Die EU<br />
als Union von Staaten mit dynamischen und immer effektiveren Institutionen –<br />
die unablässig nach Konsens streben – eignet sich gut als Vorbild für die Schaffung<br />
ähnlicher Einrichtungen auf regionaler Ebene, die lokale Bedingungen und glo-<br />
54
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EUROPAS ZUKUNFT GESTALTEN<br />
bale Institutionen gleichermaßen berücksichtigen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg<br />
entstandenen internationalen Organisationen sind für die internationale<br />
Gemeinschaft hilfreich gewesen, sie sind jedoch nicht in der Lage, den<br />
Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Die Institutionen der EU, die<br />
die Zusammenarbeit auf zwischenstaatlicher Ebene durch überstaatliche<br />
Institutionen ergänzen, wozu ein Gerichtshof und ein direkt gewähltes Parlament<br />
ebenso gehören wie gemeinsame Rechtsvorschriften aller Mitgliedstaaten, bieten<br />
ein sowohl einzigartiges als auch solides Vorbild, das in abgeänderter Form<br />
die Sache der verantwortungsvollen Staatsführung weltweit voranbringen könnte.<br />
Eine Reform des Systems der Vereinten Nationen muss deshalb versuchen, über<br />
die Entscheidung, welche Länder einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat haben<br />
sollten, hinauszugehen und einen ganzheitlicheren Blick auf die vielen Agenturen<br />
und Organisationen zu entwickeln, die eingerichtet wurden, um sich für ein<br />
gemeinsames Ziel enger zusammenzuschließen.<br />
Deshalb hilft die Aufgabe der Schaffung einer stärkeren und einheitlicheren<br />
EU Europa bei seiner Vorbereitung auf eine Rolle in der Weltpolitik mit mehr<br />
Durchsetzungsvermögen, wobei es den besten Beweis dafür liefert, dass freiwillige<br />
Zusammenschlüsse von Staaten auf der Grundlage demokratischer Prinzipien<br />
und gemeinsamer Ziele und Werte sowie von Rechtsstaatlichkeit die besten<br />
Bedingungen für Frieden und Wohlstand schaffen. Die EU kann nur dann eine<br />
entscheidende Rolle in internationalen Angelegenheiten spielen, wenn sie die<br />
Herausforderungen und ihre Verantwortung erkennt, wenn es ihr gelingt, ihre<br />
Einheit und ihren Zusammenhalt zu stärken und wenn sie entschlossen und<br />
rechtzeitig handeln kann. Ich hoffe, die Ratifizierung des Entwurfs der Verfassung<br />
für Europa wird den notwendigen Rahmen für rechtzeitige Entscheidungen schaffen.<br />
Deshalb hat die kurzfristige Priorität der Gewährleistung ihrer Ratifizierung<br />
für uns mehr als nur lokale Bedeutung. Sie wird die Art der Rolle Europas in<br />
der Welt bestimmen. Jedoch ist es für die Union auch wichtig, besser vorbereitet<br />
zu sein, um auf internationaler Ebene mutigere und kreativere Entscheidungen<br />
zu treffen.<br />
Europas größte Stärke beruht zunächst einmal auf seiner grundlegenden<br />
Entscheidung, Gewalt nicht als wichtigstes politisches Mittel einzusetzen. Weder<br />
nutzt Europa regionale Rivalitäten aus noch schürt es lokale Konflikte, um zu<br />
teilen und zu herrschen. Eine Politik der Machtbalance wird nicht angestrebt.<br />
Stattdessen setzt Europa auf Wirtschaftshilfe, Zugang zu seinen Märkten, die<br />
Bereitstellung von Fachwissen und den ständigen Dialog mit all seinen Nachbarn.<br />
Wenn gegenübergestellt wird, was „gefällt“ und was „nicht gefällt“, wird der<br />
Erfolg der EU vielfach mit demselben Maßstab gemessen wie der von<br />
Nationalstaaten. So wird Europas Unentschlossenheit im Handeln beklagt, die<br />
Tatsache, dass niemand für die EU insgesamt spricht sowie die Tendenz der<br />
Mitgliedstaaten, in wichtigen Fragen viele unterschiedliche Meinungen zu vertreten.<br />
Der Spruch, die Union sei „wirtschaftlich ein Riese, politisch hingegen<br />
ein Zwerg“ scheint so einleuchtend, dass sich eine Diskussion darüber erübrigt.<br />
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SIMON BUSUTTIL<br />
Die Europäische Verfassung wird hoffentlich viele dieser Unzulänglichkeiten<br />
beseitigen. Allerdings ist die EU weder daran interessiert eine Supermacht im<br />
herkömmlichen Sinne zu sein, noch strebt sie nach Hegemonie, vielmehr geht es<br />
ihr darum, den weltweiten Konsens zu befördern.<br />
Die Welt kennt zahllose Beispiele für die Sinnlosigkeit von Krieg oder dem<br />
Einsatz militärischer Mittel zur Beseitigung von – realem oder empfundenem –<br />
Unrecht. Deutlich wurde dies im Irak, in Tschetschenien, im Nahen Osten, auf<br />
dem Balkan, in Sri Lanka, im Kongo, in Ruanda, Haiti und an zahllosen anderen<br />
Orten. Gleichzeitig wird nichtmilitärischer Druck auf Schurkenstaaten nicht länger<br />
vom Tisch gewischt. Jüngste Beispiele von Staaten, die „aus der Kälte kommend“<br />
ihre schwierige Rehabilitation in der internationalen Gemeinschaft angehen,<br />
sind ein gutes Zeichen dafür, dass friedliche Bemühungen ebenfalls<br />
erfolgreich sind: Sie brauchen nur mehr Zeit, Beharrlichkeit und Geduld. Weitere<br />
Anhaltspunkte aus dem Bereich der Nachbarschaftspolitik der EU zeigen auch:<br />
Die Grenzen der Demokratie sind vorgerückt und schließen jetzt Länder wie<br />
Georgien und die Ukraine ein; in der arabischen Welt gibt es eine wiedererwachende<br />
Demokratie. Arabische Intellektuelle und die Medien fordern uneinsichtige<br />
Regierungen heraus, die Reformen blockieren und Veränderungen unterdrücken.<br />
Die Wahlen in Palästina, die Entschlossenheit, mit der die Wähler im Irak<br />
dem Terror trotzten, um ihr Wahlrecht auszuüben, die Protestbewegung im<br />
Libanon und die vor kurzem angekündigten Verfassungsänderungen in Ägypten<br />
sind nur Symptome einer breiteren Bewegung, die unter der scheinbar verkrusteten,<br />
starren Oberfläche von Europas Nachbargesellschaften brodelt.<br />
Europa hat in den Beziehungen zu seinen Nachbarn stets auf Dialog gesetzt<br />
und muss diesen verstärkt anbieten. Wenn ich fünfzehn Jahre in die Zukunft blicke,<br />
sehe ich ein Europa, das mehr Ideen anbietet: Was kann in diesen Nachbarstaaten<br />
getan werden, um den Wandel zu fördern? Europa kann auch ihren technologischen<br />
Bedürfnissen nach Lösung von Problemen wie dem Vordringen der Wüste<br />
und Wassermangel Rechnung tragen. Es kann ihnen helfen, ihre Landwirtschaften<br />
zu revolutionieren und die Nahrungsmittelproduktion zu erhöhen. Es kann, wie<br />
in der Vergangenheit bereits geschehen, diesen Staaten helfen, ihre Reformen<br />
im Sinne verantwortungsvoller Staatsführung vergleichend zu bewerten. Es kann<br />
seine Bemühungen verstärken, sie bei der Schaffung besserer Gesetze zu unterstützen,<br />
um Bürokratie und Korruption abzuwehren und ein effizientes und<br />
unabhängiges Gerichtswesen aufzubauen. Europa kann sie dabei unterstützen,<br />
rentable Kommunikationsnetze einzurichten, die Menschen und Märkte besser<br />
untereinander verbinden. Weiterhin kann die EU auch an der Mobilisierung von<br />
Kapital für ihre Nachbarregion mitwirken. Sie hat ihnen in Fragen der Erzielung<br />
nachhaltiger Entwicklung und Effizienz bei der Energienutzung und Erhaltung von<br />
Ressourcen viel zu bieten.<br />
Der Erfolg wird sich nicht von selbst einstellen, und Europas Nachbarn müssen<br />
für das Projekt der Modernisierung gewonnen werden, indem man sie als<br />
ebenbürtige Partner behandelt. Man muss sogar sagen, so wichtig es für die EU<br />
56
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 57<br />
EUROPAS ZUKUNFT GESTALTEN<br />
ist, nachdrücklicher auf der Umsetzung politischer und wirtschaftlicher Reformen<br />
in ihren Nachbarstaaten zu beharren, noch wichtiger ist es, Länder, die sich dieser<br />
Herausforderung stellen, zu belohnen, indem sie mehr und mehr als gleichgestellte<br />
Partner behandelt werden.<br />
Dies erfordert natürlich ein neues Herangehen an die Art und Weise, in der<br />
die EU ihre Nachbarschaftspolitik gestaltet. Dieses Jahr ist für die Einleitung dieses<br />
Prozesses ein günstiger Augenblick, da wir den 10. Jahrestag der Partnerschaft<br />
Europa-Mittelmeer begehen. Die rohstoffreichen Länder des südlichen<br />
Mittelmeerraumes, durch die praktisch undurchdringliche Sahara vom Rest Afrikas<br />
abgeschnitten, schätzen ihre Bindungen zur EU ebenso, wie die EU die<br />
Beziehungen zu ihnen. Wir müssen den Dialog zu gemeinsam interessierenden<br />
Fragen und gemeinsamer Sicherheit für alle in der Region intensivieren. Ohne nach<br />
wie vor bestehende Herausforderungen wie Terrorismus oder die Weitergabe<br />
von Massenvernichtungswaffen, illegale Einwanderung und andere derartige<br />
Fragen aus den Augen zu verlieren, muss an beiden Seiten der Küste begonnen<br />
werden, aktiv über globale Partnerschaften wie auch neue gemeinsame Initiativen<br />
nachzudenken.<br />
Kurz und gut, die Reform der südlichen Länder ist schon deshalb ein erstrebenswertes<br />
Ziel, weil sie das Wohlergehen der Bürger aller Länder verbessert, darüber<br />
hinaus ist sie aber auch wichtig, weil sie die Möglichkeit zu konzertierterem<br />
Vorgehen auf internationaler Ebene bietet.<br />
Um all dies zu erreichen, ist ein entscheidender Aspekt zu beachten, den die<br />
EU erkannt hat und an dem sie arbeitet, nämlich die Tatsache, dass sich ihre<br />
Ausgangsposition in der globalen Wirtschaft verändert hat. Das Erstarken Chinas<br />
zu einer Weltwirtschaftsmacht, die niedrigere Arbeitskosten mit einem höheren<br />
Grad an technischer Innovation und Know-how verbinden kann, führt noch zu<br />
einer Verschärfung des Problems. Wenn die EU ihre Position in der<br />
Wertschöpfungskette behaupten will, muss sie von den Produkten, denen sie<br />
einstmals ihre Stellung verdankte, wegkommen und sich stärker auf Erzeugnisse<br />
und Dienstleistungen mit höherem Mehrwert konzentrieren. Sie muss also ihre<br />
Forschung und Entwicklung wie auch ihre Innovationsfähigkeit stärken. Hierzu<br />
gehören eine bessere Koordinierung und Vernetzung von Forschungseinrichtungen<br />
ebenso wie höhere Investitionen in wissenschaftliche Forschung und Innovation.<br />
Das bedeutet auch, dass wir unsere Bildungssysteme auf den Prüfstand stellen und<br />
stärker auf Naturwissenschaften ausrichten müssen.<br />
Natürlich werden sich die Erfolge dieser Umorientierung erst allmählich und<br />
auf längere Sicht einstellen. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass eine<br />
so gravierende Reorientierung auf Wissenschaft und Innovation in unseren<br />
Gesellschaften zahlreiche ethische und moralische Fragen aufwirft. In der<br />
Vergangenheit ging es bei solchen ethischen Fragen um Evolution, später um<br />
Abtreibung und Sterbehilfe. Diese moralischen Fragen haben immer noch hohen<br />
Stellenwert, der Übergang zur wissensbasierten, naturwissenschaftlich ausgerichteten<br />
Gesellschaft wird jedoch zahlreiche weitere Fragen aufwerfen, weil die<br />
57
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 58<br />
SIMON BUSUTTIL<br />
Wissenschaft auf Fragen des „Seins“ keine wirklichen Antworten geben kann.<br />
So berühren zum Beispiel die Fortschritte auf dem Gebiet der Genetik wichtige<br />
ethische Fragen: Wie weit darf der Mensch gehen, wenn er in den natürlichen<br />
Prozess der menschlichen Reproduktion eingreift, wo liegen die Grenzen?<br />
Wenn also Europa seine Anstrengungen auf wissenschaftlichem Gebiet verdoppelt,<br />
gehe ich davon aus, dass es auch Antworten geben oder zumindest<br />
unser Wissen in ethischen Fragen zu Problemen der Innovation und wissenschaftlichen<br />
Forschung vertiefen muss, da sonst die Gefahr einer Unterminierung<br />
der humanistischen Werte unserer Gesellschaften droht.<br />
Heute in fünfzehn Jahren wird sich Europa der äußeren Form, seiner<br />
Produktion und dem Grad seiner Einheit nach verändert haben, nicht jedoch in<br />
seiner Vielfalt. Es wird in einer veränderten Welt leben, in der die Kräfte der<br />
Globalisierung und die Verbindungen zwischen Ländern und Völkern enorm<br />
zugenommen haben.<br />
Daraus werden neue Chancen erwachsen, aber auch neue Aufgaben.<br />
Europas Rolle in der Welt wird weitgehend davon abhängen, wie es ihm<br />
gelingt, sich den neuen Bedingungen anzupassen und zu erkennen, wo es sich<br />
positionieren will. Sie wird auch davon abhängen, wie erfolgreich Europa nutzbringende<br />
Bündnisse mit anderen Akteuren, insbesondere seinen Nachbarländern,<br />
schmieden kann. An der Spitze einer solchen Koalition kann Europa dann als<br />
Koordinator eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Globalisierung übernehmen.<br />
Geschehen kann dies im Rahmen neuer globaler Institutionen, die wiederum<br />
auf den Erfahrungen heute tätiger internationaler Organisationen sowie den<br />
im Laufe der Zeit von der EU selbst erworbenen praktischen Erfahrungen mit<br />
transnationaler Integration und Überstaatlichkeit aufbauen.<br />
Bei alledem ist äußerst wichtig, dass die EU nicht das Image einer Supermacht<br />
anstrebt, sondern vielmehr weiterhin auf sein bewährtes Konzept von Dialog<br />
und Konsensbildung vertraut.<br />
So sollte sich Europa den globalen Herausforderungen stellen.<br />
58<br />
Mai 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 59<br />
Globalisierung<br />
Panayiotis <strong>DE</strong>METRIOU<br />
Mitglied der zyprischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Quo vadis Europa?<br />
Wir leben im Jahrhundert der Globalisierung. Jeder Staat und jede Gesellschaft,<br />
in welcher Region der Erde auch immer, ist direkt oder indirekt von allen wichtigen<br />
Ereignissen auf der Welt betroffen. In unserem, dem 21. Jahrhundert, ähnelt<br />
die Welt mit ihren Staaten zunehmend einem System kommunizierender Röhren.<br />
Der Bürger des einzelnen Staates wird immer mehr zum Weltbürger.<br />
Probleme der Umweltverschmutzung und der Migrationsströme, die sich weiter<br />
verschärfen, erlangen globale Dimensionen. Wissen, Informatik und<br />
Automatisierung bestimmen zunehmend die Entwicklung und den Forschritt in<br />
dieser neuen Welt. Der Dogmatismus weicht dem rationellen Denken. Ideologien<br />
trennen die Menschen nicht länger unüberbrückbar voneinander, und die<br />
Auffassungen über verschiedene politische, soziale und wirtschaftliche Fragen<br />
sind zunehmend weniger durch Vorurteile geprägt. Der Anthropozentrismus<br />
bestimmt alle Seiten des modernen politischen Lebens. Der Mensch rückt zunehmend<br />
ins Zentrum des gesellschaftlichen Ganzen. Die durch den Tsunami angerichteten<br />
Zerstörungen zeigen, dass auch die Sorge umeinander und die Solidarität<br />
miteinander globale Ausmaße annehmen.<br />
Im globalen Umfeld des 21. Jahrhunderts hat die Europäische Union die historische<br />
Aufgabe, ihre entscheidende Rolle im Weltgeschehen zu bestimmen.<br />
Die Europäische Union muss das Weltgeschehen entscheidend prägen und dabei<br />
den Menschen und seine Werte, d. h. die Quintessenz der europäischen Idee, in<br />
den Mittelpunkt stellen.<br />
Historische Mission der EU<br />
Um ihrer historischen Mission gerecht zu werden, muss die Europäische<br />
Union in diesen ersten Jahren des neuen Jahrhundert ein festes Fundament für<br />
59
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 60<br />
ihr Aufbauwerk errichten. Die Erweiterung der Europäischen Union ist begrüßenswert,<br />
doch ohne Vertiefung wird es ihr an historischer Substanz fehlen. Und die<br />
Vertiefung lässt sich wirksam und tiefgreifender durch die Ratifizierung der<br />
Verfassung für Europa voranbringen. Dieser höchst bedeutsame politische Akt ist<br />
der Prüfstein dafür, ob es gelingt, die Zukunft Europas zu sichern.<br />
Die Europäische Union entstand als rein wirtschaftlicher Zusammenschluss und<br />
entwickelte sich innerhalb eines halben Jahrhunderts zu einer politischen Union.<br />
Diese Entwicklung hält bis heute an. Europa ist dazu bestimmt, sich aus einem<br />
ausschließlich zwischenstaatlichen Bündnis in eine Union der Staaten und Bürger<br />
zu entwickeln. Ob dies nun als Entwicklung zum Föderalismus bezeichnet wird<br />
oder anders, ist nicht von Bedeutung. Wichtig ist, dass heute und auch in Zukunft<br />
auf die europäische Integration hingearbeitet wird.<br />
Die <strong>Vision</strong> der europäischen Bürger darf sich nicht an geografischen Kriterien<br />
orientieren, sondern muss inhaltlich ausgerichtet sein und sich auf gemeinsame<br />
Werte stützen. Wie weit Europa im geografischen Sinne reicht, muss jedoch<br />
irgendwann festgelegt werden. Die Europäische Union hat sich bisher ohne<br />
Vorurteile und ohne vorgefasste, starre Beschlüsse entwickelt. In den kommenden<br />
zwei oder drei Jahren muss jedoch die Frage beantwortet werden, wie weit<br />
die Grenzen der Europäischen Union reichen können und was für eine<br />
Europäische Union wir anstreben. Eine privilegierte Beziehung kann in diesem<br />
Zusammenhang eine Alternative zu einer ungewissen Erweiterung sein.<br />
Die politische Kultur der Europäischen Union wirkt schon jetzt über ihre geografischen<br />
Grenzen hinaus und beeinflusst die benachbarten Regionen und die<br />
ganze Welt. Ist dies bereits eine weltweite qualitative Erweiterung ? Menschenrechte,<br />
Demokratie und das Legalitätsprinzip, die die drei Eckpunkte für das Wirken der<br />
Europäischen Union bilden, sind gleichzeitig Kompass und Maßstab für das korrekte<br />
Funktionieren jedes modernen Staates.<br />
Die politische Kultur der EU<br />
PANAYIOTIS <strong>DE</strong>METRIOU<br />
Der multikulturelle und multinationale Charakter der Europäischen Union<br />
gibt ihr die Möglichkeit, den Grundsatz der Toleranz, der Achtung der Unterschiede<br />
und der Zusammenarbeit der Staaten, Nationen und Bürger zu entwickeln und<br />
weiter zu festigen. Die Europäische Union muss ihre Katalysatorrolle bei der<br />
Lösung von nationalistischen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfen verstärken,<br />
damit die friedliche Koexistenz sowohl auf nationaler als auch auf sozialer<br />
und individueller Ebene zur Regel wird.<br />
Toleranz, Konvergenz und Kompromissfähigkeit, die drei Hauptmerkmale<br />
der Union, müssen als Regeln für das Wirken der Europäischen Union weiter<br />
gestärkt werden. Der Ausgleich der nationalen, wirtschaftlichen und klassenbezogenen<br />
Interessen bietet eine realistische Möglichkeit, wie diese hochkomplexe<br />
Union funktionieren kann. Wenn sich die Europäische Union auf internationaler<br />
Ebene und jeder einzelne Mitgliedstaat auf europäischer und innerstaatlicher<br />
60
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 61<br />
Ebene für die europäischen Grundsätze und Werte einsetzt, dann wird die Zukunft<br />
Europas auf eine sichere und solidere Grundlage gestellt.<br />
Unsere Vorstellungen für die Zukunft der Europäischen Union und für die<br />
Rolle, die sie auf internationaler Ebene spielen muss, dürfen nicht von Eigennutz<br />
geprägt sein. Wir wollen die Union weder zu einer politischen Supermacht noch<br />
zu einem Wirtschaftsgiganten machen, dem es nur um die Befriedigung der eigenen<br />
Interessen geht. Die Union hat eine weltweite historische Mission. Die<br />
Europäische Union ist keine Reinkarnation eines untergegangenen Imperiums, und<br />
sie knüpft auch nicht an ein politisches oder wirtschaftliches Gebilde aus der<br />
Vergangenheit der Weltgeschichte an. Unsere <strong>Vision</strong> der Europäischen Union ist<br />
nicht einseitig, sie ist komplex und umfassend. Sie beinhaltet wirtschaftliche,<br />
politische, kulturelle, soziale, ökologische und technische Aspekte und stellt<br />
dabei stets den Menschen in den Mittelpunkt.<br />
Die EU auf der internationalen Bühne<br />
Die Beziehungen der Europäischen Union zu den Vereinigten Staaten von<br />
Amerika müssen ausdrücklich und eindeutig auf die Prinzipien der<br />
Gleichberechtigung und der fairen Zusammenarbeit gegründet sein. Die<br />
Europäische Union will nicht in Konkurrenz, sondern in einen Wettbewerb<br />
mit den USA treten. Im Bereich der Außenpolitik müssen die Europäische<br />
Union und die USA einander ergänzen. Die Europäische Union strebt keine<br />
Konflikte mit anderen Akteuren auf internationaler Ebene an. Sie will die ehrliche<br />
Zusammenarbeit, auch mit Russland und den arabischen Ländern sowie<br />
mit allen Ländern des Fernen Ostens, Asiens und Afrikas. Im Rahmen einer<br />
ehrlichen Zusammenarbeit und der Verständigung mit allen Völkern kann und<br />
muss die Europäische Union bei der wirksamen Prävention und Bekämpfung<br />
des Terrorismus vorangehen und dabei vor allem die Ursachen dieses<br />
Phänomens beseitigen.<br />
Lebensqualität<br />
QUO VADIS EUROPA?<br />
Die Verbesserung der Lebensqualität der europäischen Bürger und die<br />
Schaffung weltweiter Modelle für funktionierende Gesellschaften und Staaten<br />
bilden den Rahmen unserer Bestrebungen für Europa. Die nachhaltige<br />
Entwicklung, die wichtigste Priorität der erweiterten Europäischen Union, darf nicht<br />
nur ein Schlagwort sein, sondern muss zu unserem zentralen strategischen Ziel<br />
werden – zu einem Ziel, das sowohl auf gemeinschaftlicher wie auf nationaler<br />
Ebene methodisch und planvoll umgesetzt wird. Der wirtschaftliche Zusammenhalt<br />
im Rahmen des Ziels der nachhaltigen Entwicklung muss zu einem wesentlichen<br />
Bestandteil der europäischen Politik werden. Ziel ist die kontinuierliche<br />
Verbesserung des Lebensstandards und des Wohlergehens der europäischen<br />
Bürger und die ständige Verbesserung ihrer Lebensqualität.<br />
61
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 62<br />
Wirtschaft<br />
Wenn die Wirtschaft auf einem festen Fundament ruht, wird die Europäische<br />
Union die erforderliche Dynamik entwickeln können, um im weltweiten<br />
Wettbewerb eine Führungsrolle einzunehmen. Dazu ist es aber nötig, dass sich<br />
die Europäische Union von veralteten und überkommenen Gewohnheiten und<br />
anachronistischen Regeln im Hinblick auf die Struktur und das Wachstum der<br />
Wirtschaft befreit. Inzwischen ist anerkannt, dass sich die Dynamik einer modernen<br />
Wirtschaft aus Forschung, Bildung und Wissen speist, und auf diese Aspekte<br />
müssen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sowie alle Unternehmer<br />
und die anderen Sozialpartner ihre Aufmerksamkeit richten. Die Union muss<br />
dem erstickenden Druck in Wirtschaft und Handel entrinnen, der von konkurrierenden<br />
Wirtschaften ausgeübt wird, und eine führende Rolle in der Entwicklung<br />
der Technik und bei Entwicklung und der Neustrukturierung der großen wie<br />
auch der mittleren und kleinen Unternehmen spielen.<br />
Bildung<br />
Früher herrschte die Auffassung, Investitionen in die Bildung hätten keinen<br />
direkten Einfluss auf die Produktivität. Heute ist man dagegen völlig gegensätzlicher<br />
Meinung. Zum Glück hat man in der Europäischen Union inzwischen<br />
begriffen, dass die Bildung über die intellektuelle, psychische und ästhetische<br />
Entwicklung des Menschen hinaus auch direkt zur wirtschaftlichen Entwicklung<br />
einer organisierten Gesellschaft beiträgt. Die Mitgliedstaaten der Union dürfen<br />
ihre Bildungsausgaben deshalb nicht länger kürzen, wie es in einigen europäischen<br />
Staaten leider der Fall ist, sondern müssen vielmehr den Anteil des BIP, der<br />
für Bildungszwecke aufgewandt wird, schrittweise erhöhen. Die Europäische<br />
Union muss eine Gemeinschaftspolitik umsetzen, was den Mindestanteil der<br />
Bildungsausgaben am BIP betrifft. Die Bildung ist der Eckpfeiler des Fortschritts,<br />
und Ziel der Union muss es sein, sie zur obersten Priorität ihrer Politik zu machen.<br />
Das lebenslange Lernen darf nicht länger nur ein wohlklingendes Schlagwort<br />
sein, sondern muss lebendige Praxis werden. Die Europäische Union muss grundlegende<br />
und tiefgreifende Reformen vornehmen und die Bildungsprogramme<br />
auf gesamteuropäischer Ebene ständig modernisieren.<br />
Soziale Gerechtigkeit<br />
PANAYIOTIS <strong>DE</strong>METRIOU<br />
In der Europäischen Union kann nicht von sozialer Gerechtigkeit die Rede sein,<br />
solange es in der Beschäftigung, im Sozialschutz und im Gesundheitswesen<br />
Mängel und Unzulänglichkeiten gibt, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar<br />
sind. Die sozialen Modelle, die sich in der Europäischen Union herausbilden<br />
werden, müssen für den Bürger ein Mindestmaß an sozialem Schutz und an<br />
sozialen Rechten gewährleisten und festgelegte Mindestleistungen und -ansprü-<br />
62
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 63<br />
che umfassen. Das damit zusammenhängende ernste soziale Problem der<br />
Einwanderung und des politischen Asyls muss von der Union human und rational<br />
gelöst werden. Vor allem jedoch muss die Union die Ursachen dieses Problems,<br />
nämlich Armut und Arbeitslosigkeit, bekämpfen.<br />
Zur Entwicklung der sozialen Solidarität und des Zusammenhalts in jedem<br />
Mitgliedstaat der Europäischen Union müssen europäische Programme zur<br />
Stärkung der sozialen Rolle der Mitgliedstaaten mit beschränkten wirtschaftlichen<br />
Möglichkeiten aufgelegt und umgesetzt werden. Durch kontinuierliche und<br />
intensive gemeinschaftliche Bemühungen kann ein Ausgleich des Pro-Kopf-<br />
Einkommens zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten erzielt werden. Auf diese<br />
Weise lässt sich vermeiden, dass Staaten mit verschiedenen Geschwindigkeiten<br />
und europäische Bürger verschiedener Klassen, je nach Nationalität, existieren.<br />
Es geht nicht nur darum, dass die europäische Integration überhaupt funktioniert,<br />
sie muss auch so tiefgreifend sein, dass jeder europäische Bürger unabhängig<br />
von seiner Nationalität davon profitiert.<br />
Umwelt<br />
Wenn wir wirklich meinen, dass Europa eine weltweite Mission hat und globale<br />
Verantwortung trägt, dann darf auch der Umweltschutz nicht vergessen werden.<br />
Der Schutz unserer natürlichen Umwelt und des Gleichgewichts des Ökosystems,<br />
in dem der Mensch als einziges vernunftbegabtes Wesen auf unserem<br />
Planeten lebt, ist eine weitere wichtige Priorität der Europäischen Union. Die<br />
Europäische Union muss weltweiter Vorkämpfer für den Schutz der Umwelt sein.<br />
Der Schaden, den die Umweltverschmutzung vor allem infolge der industriellen<br />
Entwicklung auf unserem Planeten anrichtet, wird das Leben des Menschen auf<br />
der Erde bedrohen und unsere Welt unbewohnbar machen, wenn wir dem nicht<br />
Einhalt gebieten. Die Europäische Union muss sich weltweit an vorderster Stelle<br />
für den Schutz der Umwelt einsetzen.<br />
Europäische Verfassung<br />
QUO VADIS EUROPA?<br />
Die Werte und Ziele der Europäischen Union sowie die Politik, die die Union<br />
in den einzelnen Fragen verfolgt, sind umfassend in der europäischen Verfassung<br />
niedergelegt. Besonderes Gewicht weist der historische Verfassungstext jedoch der<br />
Frage der Demokratie und der Menschenrechte zu. Die Errungenschaften Europas,<br />
die bewahrt und noch ausgebaut werden müssen, sind darauf zurückzuführen,<br />
dass die Staaten und die Bürger eine besondere Sensibilität für die demokratischen<br />
Institutionen und die individuellen Rechte und Freiheiten entwickelt haben.<br />
An diesen Punkten dürfen unter keinen Umständen Abstriche gemacht werden.<br />
Weil sich Europa dem Legalitätsprinzip und den individuellen Rechten verpflichtet<br />
fühlt, müssen wir möglicherweise höhere Kosten für die Bekämpfung des<br />
Terrorismus und des organisierten Verbrechens tragen, doch darf Europa des-<br />
63
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 64<br />
halb diese ihm zugrunde liegenden Prinzipien nicht missachten. Die Europäische<br />
Union muss noch deutlicher zum Leuchtturm werden, der in alle Gegenden<br />
unserer Erde das Licht der ewigen menschlichen Werte und Ideale aussendet.<br />
Europäische Integration<br />
PANAYIOTIS <strong>DE</strong>METRIOU<br />
Die Integration Europas wird vollendet werden, wenn jeder europäische<br />
Bürger über seine nationale Identität hinauswächst und auch als Bürger eines<br />
vereinten Europa handelt. Die Europäische Union muss Programme entwickeln,<br />
vor allem im Bereich der Bildung, und eine gesamteuropäische Politik umsetzen,<br />
die das europäische Bewusstsein bei ihren Bürgern stärkt.<br />
Unsere europäische <strong>Vision</strong> trägt globale Züge. Wir wollen eine starke und<br />
glaubwürdige Europäische Union aufbauen, die auf internationaler Ebene ein<br />
erstklassiger Partner ist. Die Europäische Union kann und muss zu einem Faktor<br />
der Stabilität werden, Gerechtigkeit und Sicherheit gewährleisten und zum effizientesten<br />
Bewahrer und Förderer des Friedens auf unserem Planeten werden.<br />
Die europäischen Werte sind ihr Speer und ihr Schild. Sie sind die Grundlage<br />
für die Existenz der Union. Sie sind der Kompass des Lebens.<br />
64<br />
Januar 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 65<br />
Armando DIONISI<br />
Leiter der italienischen UDC-SVP Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Christentum, Europa und Abendland<br />
In seinen Betrachtungen aus dem Jahr 1946 erklärte der Katholik Romano<br />
Guardini, einer der bedeutendsten Exponenten der europäischen Kultur des zwanzigsten<br />
Jahrhunderts, in Anbetracht der Katastrophe, in die die totalitären Ideologien<br />
den Kontinent gestürzt hatten: „Wenn Europa auch in Zukunft noch existieren soll,<br />
wenn die Welt Europa weiter brauchen soll, muss es seine durch die Gestalt Christi<br />
determinierte geschichtliche Einheit bewahren; muss es sich mit neuer Ernsthaftigkeit<br />
zu dem entwickeln, was es von seinem wahren Charakter her ist. Wenn Europa<br />
von dieser Grundlage abgeht, hat das, was dann noch davon übrig ist, keine große<br />
Bedeutung mehr 1 .“ Diese christliche Einschätzung Europas wird auch von der einsichtigen<br />
weltlichen Kultur anerkannt.<br />
Sergio Romano, einst NATO-Botschafter und Lehrkraft an den Universitäten<br />
Berkeley und Harvard und an der Bocconi-Univerität Mailand, hat kürzlich festgestellt:<br />
„Europa und Christentum sind zwei voneinander untrennbare Begriffe mit<br />
einer langen gemeinsamen Geschichte, und es ist unmöglich, die Geschichte des einen<br />
ohne die des anderen zu erzählen... Schon Croce hat gesagt, dass die rationalistische<br />
Strömung des Christentums den Boden bereitet habe für die Philosophie der<br />
Aufklärung und in der Politik für die Demokratie mit deren Hang zu Gleichheit und<br />
Ausgleich. Das Christentum hat im Leben des Abendlands den Begriff der Erwartung<br />
eingeführt und der europäischen Zivilisation neben zusammengehörigen Begriffen<br />
wie Dekadenz und Fortschritt auch den Begriff der Geschichte als kontinuierliche<br />
menschliche Schöpfung gebracht 2 .“<br />
Diese Einschätzung bringt so wie die vielen anderen, die sich hier zitieren ließen,<br />
die Notwendigkeit zum Ausdruck, dass der Aufbau Europas über die engen Grenzen<br />
eines allein auf das internationale Gleichgewicht ausgerichteten geopolitischen<br />
Konzepts hinausgeht und die Inhalte einer politischen <strong>Vision</strong> annimmt, die sich auf<br />
Freiheit und Demokratie nach christlichem Vorbild gründet.<br />
Namentlich dieser Gedanke ermöglichte es in der Nachkriegszeit, die ersten entscheidenden<br />
Schritte auf dem langen Weg zur europäischen Einigung zu gehen.<br />
65
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 66<br />
ARMANDO DIONISI<br />
Der sicherlich schwere Anfang wurde nichtsdestotrotz geprägt durch die geistige<br />
Stärke von Denkern und Politikern, die frei von jedem nationalistischen Beigeschmack,<br />
ohne ideologisches Gepräge, jedoch in dem konkreten Wissen um die geschichtlichen<br />
Wurzeln Europas ein sicheres und effizientes „Direktorium“ gebildet haben, das<br />
in kürzester Zeit einen Weg zurücklegte, der mit dem Zustandekommen der<br />
Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bei einem politischen Ergebnis angelangt<br />
wäre, von dem wir heute vielleicht noch weit entfernt sind.<br />
Adenauer, de Gasperi und Schuman, alle drei Christdemokraten, entwickelten konkret<br />
eine Perspektive der endgültigen Überwindung nationalistischer Hürden und<br />
zogen einen Schlussstrich unter die ideologischen Konflikte, die in der Geschichte<br />
der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so große Bedeutung hatten.<br />
Die Bestärkung dieser Perspektive erfordert eine nachdrückliche Konsolidierung<br />
des Fundaments der europäischen Ideale, was ohne Verbindung mit den natürlichen<br />
Grundwerten nicht möglich ist.<br />
An erster Stelle stehen die Menschenwürde und die Menschenrechte, die die<br />
Grundlage der Rechtsprechung bilden und die aus eigenem Recht heraus bestehen,<br />
durch den Gesetzgebers stets zu respektieren sind und von ihm von vornherein als übergeordnete<br />
Werte vorgegeben sind 3 .<br />
Die Menschenwürde, die nach christlicher Auffassung als Garant wahrer Freiheit<br />
auf unveränderlichen Werten beruht, wird heute durch Machenschaften der<br />
Wissenschaft bedroht, die von starken neuen Kreisen aus Wirtschaft und Geschäftswelt<br />
unterstützt werden.<br />
Auf der Ebene der wesentlichen Aspekte des sozialen Lebens schließen sich Ehe<br />
und Familie an, die Grundzelle des sozialen Aufbaus und der auf unserem Kontinent<br />
verankerten Tradition, die im Christentum vom biblischen Glauben her geformt ist.<br />
Ein Aufgeben dieser Werte hätte schwerwiegende Auswirkungen auf das<br />
Menschenbild und das Schicksal des Menschen.<br />
Und schließlich stellt auch die Frage der Religion und der Meinungsfreiheit –<br />
als höchstes Gut und Grundlage jedes Elements der Toleranz und Freiheit im<br />
Allgemeinen – einen Grundpfeiler der europäischen Gesellschaft dar.<br />
Diese natürlichen Grundwerte sind nicht so vollständig und wahrheitsgetreu in<br />
die Verfassung eingeflossen, wie es sich die Christliche Gemeinde Europas gewünscht<br />
hätte. Dies gilt vor allem für den Hinweis auf die jüdisch-christlichen Wurzeln, auf<br />
den auch der Heilige Vater besonderen Wert legte und zu dem er sogar ein wichtiges<br />
Apostolisches Schreiben („Ecclesia in Europa“) herausgab.<br />
Es versteht sich von selbst, dass dies nicht als Ausdruck des Pochens auf eine<br />
Vorrangstellung verstanden werden sollte, sondern vielmehr als Erwiderung auf eine<br />
sehr missverständliche Tendenz, in deren Rahmen der Multikulturalität der Vorrang<br />
vor jedem Wert eingeräumt wird. Hierzu hat Kardinal Ratzinger, dem wir auch den<br />
Hinweis auf die vorgenannten natürlichen Werte verdanken, festgestellt: „Die immer<br />
wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage<br />
an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen 4 .“<br />
66
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 67<br />
CHRISTENTUM, EUROPA UND ABENDLAND<br />
Zu den Risiken und Gefahren der Multikulturalität und der notwendigen<br />
Positionierung Europas im Rahmen der Konfrontation und Begegnung mit anderen<br />
Zivilisationen und mit der Existenz immer größerer religiöser und kulturellen Gruppen<br />
in der eigenen Gesellschaft als Folge massiver Zuwanderungswellen besonders eindrucksvoll<br />
geäußert hat sich Edgar Morin: „Für uns geht es um die Übernahme von<br />
Denkweisen, die sich von den europäischen, denen ,mit europäischer Seele‘, unterscheiden<br />
und die von neuen Gesprächspartnern in den europäischen Kulturdialog<br />
eingebracht werden. Die Begegnung mit einer starken fremden Kultur oder Zivilisation<br />
stellt vor die Alternative, diese zu assimilieren oder selbst assimiliert zu werden. Der<br />
Hang zur Assimilation anderer setzt eine kulturelle Vitalität voraus, die ihrerseits<br />
bestimmte wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen hat. Für diese Assimilation<br />
unverzichtbar sind das Bewahren und die Rückkehr zu den Ursprüngen 5 .“ Nun<br />
darf diese Notwendigkeit zur Integration der in Europa „einfallenden“, Kulturen<br />
nicht auf eine Beseitigung der Unterschiede hinauslaufen, die im Gegenteil ungemein<br />
wichtige Komponenten für eine solche Erneuerung der europäischen Kultur darstellen,<br />
die geschichtlich betrachtet ein Charakteristikum des Kontinentallimes war.<br />
Wie der bekannte Philosoph H. G. Gadamer einmal sinngemäß ausgeführt hat, dürfe<br />
ein derart verwurzelter Pluralismus von Kulturen, Sprachen und historischen<br />
Schicksalen nicht ausgelöscht werden. Vielmehr könne die Aufgabe darin bestehen,<br />
im Innern einer zur Gleichschaltung tendierenden Gesellschaft eine<br />
Schatzkammer der Regionen und einzelnen Gruppen und ihrer Lebensstile aufzubauen.<br />
Das Fehlen der Vaterlandes, eine Gefahr der modernen Industriegesellschaft,<br />
treibe den Menschen zur Suche nach einer „Heimat“. Zu welchen Konsequenzen<br />
werde das führen? Man sollte sich davor hüten, das Nebeneinander von Unterschieden<br />
in einen falschen Geist der Toleranz oder, besser gesagt, in ein falsches Konzept<br />
der Toleranz umzusetzen. Es sei ein weit verbreiteter Fehler zu meinen, Toleranz bestehe<br />
darin, auf die eigenen Eigenarten zu verzichten, bei der Betrachtung des Anderen<br />
sich selbst auszulöschen 6 .<br />
Dieses „Sich-selbst-Auslöschen“ in Anbetracht des Anderen kommt zustande<br />
durch eine Sicht der Geschichte und der Werte, für die keine Notwendigkeit einer<br />
Identität besteht. Giovanni Reale, Philosophiehistoriker mit dem Spezialgebiet Antike<br />
Philosophie an der Universität Vita Salute S. Raffaele in Mailand, hat ganz richtig<br />
festgestellt: „Hinter der Erklärung, alle Werte seien gleich, verbirgt sich die Aufhebung<br />
der Werte. Die unterschiedlichen Kulturen wären alle gleich; [...] keine könnte mehr<br />
Wert haben als eine andere, weil nämlich keine einen eigenen Wert hätte, oder es<br />
wären, genauer gesagt, alle ohne Wert, weil die Werte ihre ontologische Realität<br />
verloren hätten 7 .“<br />
Dieses Herausreißen der Werte aus ihrer ontologischen Realität – oder eben die<br />
Dechristianisierung der modernen Gesellschaft, wie sie in Europa vonstatten geht –<br />
kann als Nihilismus definiert werden – er ist ein Übel, das an den Grundpfeilern<br />
der europäischen Realität rüttelt.<br />
Auf diese Weise würde sich die europäische Identität auf die Tatsache gründen,<br />
dass es außer einem allgemeinen Kosmopolitismus keine ideellen Grundsätze gibt.<br />
67
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ARMANDO DIONISI<br />
Diese kulturelle und politische Richtung, der heute vor allem die linken Parteien<br />
unseres Kontinents anhängen, führt dazu, dass sich Europa der Wirklichkeit, des<br />
Hier und Heute weniger bewusst ist. Es hat eine Zukunftsvorstellung Verbreitung<br />
gefunden, die von irgendjemandem der „europäische Traum“ genannt worden ist:<br />
Im Rahmen dieser Vorstellung wird es für möglich gehalten, dass Europa sich in<br />
seiner kontinentalen Hülle abschottet wie auf einer friedlichen Insel – und das alles<br />
vor einem konfliktgeladenen Hintergrund, der nach dem 11. September durch den<br />
Angriff des islamischen Terrors auf das Abendland an Dramatik gewonnen hat.<br />
Europa, oder zumindest ein Teil davon, kultiviert die Illusion, von dieser<br />
Herausforderung verschont bleiben zu können. Vielleicht hält man ja die Thesen<br />
des Philosophen Fukujama für richtig, wonach das Ende der Geschichte angebrochen<br />
sei, das wäre jedoch das Ende der Geschichte Europas.<br />
Nun definieren sich die kulturellen und politischen Lager, die am stärksten auf<br />
die These des Multikulturalismus pochen und dazu beigetragen haben, dass die<br />
Erarbeitung einer im christlichen Sinne gehaltenen Definition der europäischen<br />
Wurzeln abgelehnt wird, selbst als das „neue Europa“ im Gegensatz zum „alten<br />
Europa“. Diese grundsätzliche Unterscheidung war außerdem bezeichnend für diejenigen,<br />
die ein aktives Eingreifen für notwendig erachteten, was im schlimmsten Fall<br />
auch das Konzept eines gerechten Krieges gegen den Terrorismus einschloss, aber<br />
auch diejenigen, die gegen eine Intervention der USA im Irak zur Zerschlagung der<br />
Saddam-Hussein-Diktatur waren und damit einem extremen Pazifismus das Wort<br />
redeten.<br />
In angemessenere politische Worte gefasst, scheint sich eine Unterscheidung<br />
herauszubilden zwischen einem Europa, das sich aus Gründen seiner westlichen<br />
Identität grundsätzlich an die USA gebunden fühlt, und einem Europa, das eine<br />
Funktion des Zurückdrängens und der Abgrenzung von Amerika entwickelt oder,<br />
kurz gesagt, ein Europa, das sich als Gegenpol zu der einpoligen Welt präsentiert,<br />
in der die USA den Ton angeben.<br />
Die Entscheidungen, die Europa in den nächsten Jahren zu treffen hat, sind ideeller<br />
und politischer Natur. So oder so muss entschieden werden, ob Europa<br />
Bestandteil des Abendlands bleibt – dies gilt sowohl für den Aufrechterhaltung seiner<br />
christlichen Identität als auch hinsichtlich seiner Bereitschaft, die Herausforderung<br />
durch den Terrorismus anzunehmen und zur Verteidigung und Bekräftigung der<br />
Demokratie anzutreten, und darüber hinaus muss auch über den Fortbestand der<br />
Allianz mit den USA und die Fortsetzung der gemeinsamen Entscheidungsfindung<br />
mit ihnen entschieden werden.<br />
Sollte sich die Europäische Union von dieser Perspektive abwenden, würde der<br />
derzeit weltweit bestehende Konflikt zum Ende des Projekts Europa und zu immer<br />
häufigeren unabhängigen Entscheidungen einzelner Staaten führen, das haben die<br />
letzten Jahre gezeigt. Dennoch schließt auch Robert Kagan, einer der besorgtesten<br />
US-amerikanischen Beobachter der politischen Beziehungen zwischen Amerika und<br />
Europa, sein bekanntestes Werk Of Paradise and Power mit den Worten: „Es ist<br />
schon wahr, dass die Vereinigten Staaten und Europa im Grunde eine Reihe west-<br />
68
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CHRISTENTUM, EUROPA UND ABENDLAND<br />
licher Werte gemeinsam haben. Sie verfolgen mehr oder weniger die gleichen humanitären<br />
Ziele, auch wenn sie derzeit ein enormer Machtunterschied trennt.Vielleicht<br />
ist der Glaube, dass ein klein wenig an gegenseitigem Verständnis noch viel ausrichten<br />
könnte, nicht allzu naiv-optimistisch.“<br />
Februar 2005<br />
1 Romano GUARDINI, Europa, compito e destino, Brescia, 2004, p. 61.<br />
2 Sergio ROMANO, Europa, storia di un’ idea, Milan, 2004, p. 63.<br />
3 G. HIRISCH in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12 octobre 2000.<br />
4 J. RATZINGER, Europa, Milan, 2004, p. 28.<br />
5 E. MORIN, Penser l’Europe, Paris, 1987.<br />
6 H.G. GADAMER, L'héritage de l'Europe, Paris, 1996, pp. 43-44.<br />
7 G. REALE, Radici culturali e spirituali dell’Europa, Milan, 2003, p. 155.<br />
8 R. KAGAN, Of Paradise and Power, New York, 2004, p. 117.<br />
69
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70
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Valdis DOMBROVSKIS<br />
Leiter der lettischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Lettland und Europa für die zukünftigen Generationen –<br />
Wie wird es aussehen?<br />
Die Europäische Union im Jahr 2020. Lettland wird bereits über fünfzehn<br />
Jahre Mitglied der Europäischen Union sein. Das ist eine ebenso lange Zeit, wie<br />
sie für Lettland seit der Wiedererlangung seiner staatlichen Unabhängigkeit im<br />
Jahre 1990 vergangen ist. Wie wird Lettland nach diesem weiteren Schritt in<br />
Richtung eines demokratischen Staates und einer Wohlstandsgesellschaft aussehen?<br />
Wie wird das Europa des Jahres 2020 aussehen?<br />
Da sich die Entwicklung der Europäischen Union und Lettlands in den<br />
nächsten Jahren immer stärker wechselseitig beeinflussen wird, suche ich die<br />
Antworten auf diese beiden Fragen zusammen.<br />
In der dynamischen Welt von heute ist es schwer und oft sogar unmöglich,<br />
die Entwicklung auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technologie auch<br />
nur für wenige Jahre vorauszusagen. Überraschungen halten auch die kulturellen<br />
und geistigen Prozesse der Gesellschaft bereit, und Naturkatastrophen<br />
sowie durch den Menschen verursachte Katastrophen lassen sich ebenso wenig<br />
vorhersehen.<br />
Dennoch zeichnen sich heute sowohl auf globaler als auch auf europäischer<br />
Ebene Entwicklungstendenzen ab, die sich fortsetzen werden, und die<br />
Herausforderungen, auf die die Europäische Union in den nächsten zehn Jahren<br />
gewollt oder ungewollt reagieren muss, treten immer deutlicher zutage.<br />
Wie schnell diese Reaktion kommt und wie sie aussieht, hängt von der<br />
Fähigkeit der Europäischen Union ab, einen gemeinsamen Aktionsplan zu erarbeiten<br />
und die Mitgliedstaaten zu dessen Umsetzung zu mobilisieren.<br />
71
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 72<br />
VALDIS DOMBROVSKIS<br />
1. Möglichkeiten der Erweiterung und Herausforderungen für die<br />
Europäische Union<br />
Auch wenn die konkrete Zahl der Mitgliedstaaten und Grenzen der EU des<br />
Jahres 2020 heute noch nicht bekannt sind, lässt sich mit großer Sicherheit sagen,<br />
dass die Europäische Union im Jahr 2020 anders aussehen wird als heute.<br />
Außer für Bulgarien und Rumänien, die die Schwelle zur EU als erste im Jahr<br />
2007 überschreiten werden, liegt dieser Schritt auch für Kroatien zum Greifen<br />
nahe, während die anderen Balkanstaaten etwas weiter davon entfernt sind<br />
und die Türkei schon lange darauf wartet. Die Ukraine und die Republik<br />
Moldau schauen ebenfalls voller Hoffnung in Richtung EU. Würden z. B.<br />
Norwegen und die Schweiz ihren Wunsch nach einem Beitritt kundtun, wäre<br />
ihre Aufnahme keine Angelegenheit von Jahren.<br />
Wenn wir uns anschauen, wie sich Lettland in Richtung Europäische Union<br />
bewegt hat, so waren fünfzehn Jahre für das Land eine ausreichende Zeit, um<br />
sich von einer Sowjetrepublik zu einem Mitgliedstaat der EU zu entwickeln.<br />
Keiner der oben genannten Staaten muss theoretisch einen längeren Weg<br />
zurücklegen, denn in allen herrscht mehr oder weniger schon das Prinzip der<br />
Marktwirtschaft und der politischen Demokratie.<br />
Die fortgesetzte Erweiterung der Europäischen Union ist eine der größten<br />
Herausforderungen, der sich die Europäische Union stellen muss.<br />
Einerseits ist es die historische Möglichkeit zur Erweiterung der Grenzen<br />
der Europäischen Union, die heute eine günstige geopolitische Situation Europas<br />
und damit den Wunsch fast aller europäischen Staaten nach einem Beitritt zur<br />
Europäischen Union entstehen lässt. Andererseits ist es die Notwendigkeit, die<br />
Europäische Union als ein Staatenbündnis zu erhalten, das sich auf einheitliche<br />
Prinzipien stützt und operativ verwaltet werden kann.<br />
Der künftige Erweiterungsprozess muss proportional zur Vertiefung der<br />
Integration verlaufen, wobei die Handlungsfähigkeit der Institutionen der<br />
Europäischen Union verstärkt werden muss.<br />
Ist die fortgesetzte Erweiterung der Europäischen Union für Lettland vorteilhaft<br />
und in welchem Umfang ?<br />
Vom politischen Standpunkt ist die Erinnerung für uns als neuer Mitgliedstaat<br />
noch sehr lebendig; wir verstehen den Wunsch der neuen Beitrittskandidaten<br />
nach Aufnahme in die Europäische Union und sympathisieren mit ihnen.<br />
Bedenkt man jedoch den möglichen wirtschaftlichen Erfolg und die Verluste<br />
durch die fortgesetzte Erweiterung der Europäischen Union, so wird unsere<br />
Position weitgehend davon abhängen, wie schnell Lettland ein entsprechend<br />
hohes wirtschaftliches Entwicklungsniveau erreicht, dass wir mit den potenziellen<br />
Mitgliedstaaten nicht mehr auf dem Markt billiger Arbeitskräfte, billiger<br />
Waren und Dienstleistungen konkurrieren müssen.<br />
72
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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN<br />
Die Aussicht auf Neuankömmlinge in der Europäischen Union ist ein guter<br />
Anreiz, der es Lettland nicht erlaubt, untätig zu bleiben, und es anspornt, sich<br />
schneller zu entwickeln und so weit wie möglich in die Europäische Union<br />
zu integrieren.<br />
Auch wenn wir auf der Liste zahlreicher Wirtschaftsindikatoren wie<br />
Bruttoinlandsprodukt und Gehälter am unteren Ende der EU-Mitgliedstaaten rangieren,<br />
dicht gefolgt von den potenziellen neuen Mitgliedstaaten, so besteht<br />
unser gegenwärtiger Vorteil doch in dem Mitgliedsstatus.<br />
Die Antwort Lettlands auf die Herausforderung der EU-Erweiterung könnte<br />
demzufolge lauten: politische Sympathien für die potenziellen neuen<br />
Mitgliedstaaten bei gleichzeitiger Beibehaltung der gegenwärtigen wirtschaftlichen<br />
Entwicklungsdynamik Lettlands sowie Nutzung der Möglichkeiten als<br />
Mitgliedstaat, sich weiter in die Europäische Union zu integrieren.<br />
2. Verschlechterung der demografischen Situation und deren Einfluss auf<br />
Wirtschaft und Gesellschaft<br />
Eine weitere wesentliche Herausforderung sowohl für Europa als auch für<br />
Lettland ist die Verschlechterung der demografischen Situation. Hier ist die<br />
Zukunft bereits in der derzeitigen Altersstruktur und den Entwicklungstendenzen<br />
in diesem Bereich zu erkennen.<br />
Die Gesellschaft Europas altert, die Zahl der Einwohner, die nicht mehr im<br />
erwerbsfähigen Alter sind, nimmt zu, die Zahl der Kinder und Jugendlichen geht<br />
zurück. Diese demografische Tendenz kann sich sehr negativ auf die Wirtschaft<br />
Europas auswirken. Die Einwohnerzahl Lettlands schrumpft bereits seit Beginn<br />
des letzten Jahrzehnts ständig.<br />
Sinkt der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung, gehen auch die Ersparnisse<br />
und die Ressourcen für Investitionen zurück, was wiederum zur Verringerung<br />
des Wachstumstempos des Bruttoinlandsprodukts führen kann. Schätzungen von<br />
Experten des Internationalen Währungsfonds zufolge kann Europa in den<br />
nächsten Jahrzehnten durch die Verschlechterung der demografischen Situation<br />
jährlich bis zu 0,4 % des Bruttoinlandsprodukts einbüßen. Bedenkt man, welch<br />
große Streitigkeiten über den EU-Haushalt allein der Rückgang des<br />
Bruttoinlandsprodukts um ein Zehntel Prozent auslöst, so sind das beachtliche<br />
Beträge, zurzeit mindestens 40 Milliarden Euro jährlich.<br />
Durch die Alterung der Gesellschaft verringert sich auch die Einkommenssteuergrundlage,<br />
während die Ausgaben im sozialen Bereich und der medizinischen<br />
Versorgung beträchtlich steigen, wodurch sich das Problem des<br />
Haushaltsdefizits verschärft, das in den letzten Jahren bereits im Zusammenhang<br />
mit dem EU-Stabilitätspakt zutage getreten ist.<br />
Die Europäische Union sucht schon heute nach Lösungen, um die negati-<br />
73
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 74<br />
VALDIS DOMBROVSKIS<br />
ven Auswirkungen der demografischen Situation abzuwenden. So werden<br />
Maßnahmen im Rahmen der Lissabonner Strategie und anderer programmatischer<br />
Dokumente umgesetzt: Heraufsetzen des Rentenalters, lebenslange<br />
Bildung, Einbindung der Frauen in den Arbeitsmark sowie direkte Maßnahmen<br />
zur Verbesserung der demografischen Situation wie Geburtenförderung. Auf<br />
wirtschaftlichem Gebiet könnte der demografische Einfluss durch ein rascheres<br />
Wachstum der Arbeitsproduktivität verringert werden.<br />
Gleichzeitig sucht der europäische Arbeitsmarkt, ohne die Ergebnisse dieser<br />
Politik abzuwarten, selbst nach Lösungen, die nicht immer den langfristigen<br />
Entwicklungsinteressen entsprechen, wie zum Beispiel der Import von<br />
Arbeitskräften, der das Defizit auf dem Arbeitsmarkt zwar kurzfristig deckt,<br />
jedoch viele andere Probleme verschärft.<br />
Können die „alten“ Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Arbeitskräfteproblem<br />
noch weitgehend durch den „Import“ von Arbeitskräften aus dem<br />
neuen Mitgliedstaaten lösen, so wird sich die Situation auf diesem Gebiet in den<br />
folgenden Jahrzehnten ändern.<br />
Durch die Verringerung des Lohn- und Gehaltsgefälles werden die Arbeitskräfte<br />
aus Osteuropa die Motivation zur Arbeit im Westen zumindest für solche Arbeiten<br />
verlieren, wie sie sie gegenwärtig zum großen Teil ausführen. Das Arbeitskräftedefizit<br />
wird auch in den Staaten, einschließlich Lettland, wachsen, die gegenwärtig<br />
Arbeitskräfte zur Verfügung stellen, und so die Arbeitsmarktsituation und das<br />
Immigrationsproblem in diesen Staaten verschärfen.<br />
Wegen des hohen Durchschnittsverdienstes und des hohen Niveaus der<br />
sozialen Garantien in der Europäischen Union wird dieser Arbeitsmarkt auch<br />
in den kommenden Jahrzehnten für andere Regionen der Welt attraktiv bleiben.<br />
Somit lässt sich vorhersehen, dass sich die demografische Entwicklung und<br />
die Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten Jahrzehnten weiterhin<br />
günstig auf den Arbeitskräfteimport auswirken, die Probleme des Nebeneinanders<br />
verschiedener Nationalitäten und Religionen in der Europäischen Union<br />
jedoch deutlicher zutage treten lassen, woraus sich die nächste große<br />
Herausforderung ergibt.<br />
3. Europäische Identität, gemeinsame Werte, Nebeneinanderbestehen verschiedener<br />
Nationalitäten und Religionen<br />
Schon heute gestalten sich die Beziehungen zwischen den verschiedenen<br />
Nationen und Nationalitäten nicht immer reibungslos und friedlich. Sollten<br />
sich diese Probleme bei einer Verschärfung der nationalen und religiösen<br />
Konflikte weiter zuspitzen, können sie viele andere Fragen überschatten.<br />
Diese Schwierigkeiten lassen sich weder allein durch die strikte Wahrung<br />
der Rechte und Freiheiten des Einzelnen noch durch die Einschränkung die-<br />
74
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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN<br />
ser Rechte und Freiheiten lösen. Auch strengere Immigrationsbestimmungen verringern<br />
sie nicht. Erforderlich ist ein starkes, attraktives europäisches<br />
Identitätsmodell, das sich nicht nur auf die Wohlstandsideologie, d. h. auf eine<br />
Art „amerikanischen Traum in europäischer Ausführung“ stützt, sondern auch<br />
auf ein Gefühl gemeinsamer europäischer Werte. Je attraktiver und „moderner“<br />
diese europäische Identität sein wird, desto stärker tritt die Kraft und<br />
Bedeutung anderer Identitäten im europäischen Leben in den Hintergrund und<br />
desto besser verläuft die Integration. Das ist nicht nur die Aufgabe der<br />
Institutionen der Europäischen Union, sondern auch eine Frage der breiten<br />
kulturellen und geistigen Initiative.<br />
Selbstverständlich ist die europäische Identität keine abstrakte „innere<br />
Identität aller EU-Mitgliedstaaten“, sondern eine Wechselwirkung und Synthese<br />
sowohl der kulturellen und historischen Erfahrungen als auch der Religionen.<br />
4. Wirtschaftliche Entwicklung, Steuern und Energiewirtschaft<br />
Die zunehmende Integration auf wirtschaftlichem Gebiet bildete schon seit<br />
den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft die Grundlage für die europäische<br />
Integration, und sie tut es auch heute noch. Diese Tendenz wird sich mit<br />
der Vervollkommnung der institutionellen Grundlage des Binnenmarktes, der<br />
schrittweisen Beseitigung der Barrieren für die Unternehmertätigkeit innerhalb<br />
der Europäischen Union und der Unterstützung der weniger entwickelten<br />
Regionen aus EU-Mitteln fortsetzen.<br />
Die Europäische Union konnte das wirtschaftliche Entwicklungstempo im<br />
Jahr 2004 zwar deutlich steigern und erreichte ein Wachstum von 2,6 %, die<br />
Weltwirtschaft entwickelte sich im vergangenen Jahr jedoch fast doppelt so<br />
schnell und erreichte ein Wachstum von 5 %. Kennzeichnend für die vergangenen<br />
Jahre ist, dass nicht wie früher nur die USA oder Ostasien, sondern<br />
Staaten in verschiedenen Regionen der Welt – in Südamerika, Russland, den übrigen<br />
GUS-Staaten und sogar in Afrika – die treibende Kraft der internationalen<br />
Entwicklung sind.<br />
Deshalb muss Europa, das nach der Erweiterung seine Position als eines der<br />
größten wirtschaftlichen Zentren der Welt gefestigt hat, auf dem Gebiet der<br />
globalen Konkurrenz auf neue Herausforderungen reagieren, möglicherweise<br />
auch auf Probleme der politischen Koordinierung im globalen Maßstab, was im<br />
Rahmen des Modells der drei Wirtschaftszentren einfacher war.<br />
Allerdings kann und muss die Europäische Union, was das Wachstum des<br />
Bruttoinlandsprodukts anbelangt, zumindest in den kommenden Jahrzehnten<br />
nicht mit den Entwicklungsländern konkurrieren.<br />
Entscheidend ist für die Europäische Union, unter Wahrung des erreichten<br />
Niveaus der Wirtschaftsentwicklung und des Wohlstands die ausgeglichene,<br />
75
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 76<br />
VALDIS DOMBROVSKIS<br />
harmonische wirtschaftliche Entwicklung fortzuführen und die hohen<br />
Qualitätsanforderungen, das Niveau der sozialen Sicherheit sowie die<br />
Umweltstandards beizubehalten.<br />
Der Vorteil der Europäischen Union besteht in der hohen Lebensqualität, die<br />
mit Hilfe eines institutionellen Systems, wenn nötig auch auf Kosten der kurzfristigen<br />
wirtschaftlichen Effektivität, garantiert wird.<br />
Es sind die derzeitigen und die zukünftigen neuen Mitgliedstaaten, die zur<br />
dynamischen Entwicklung der Europäischen Union beitragen. Für Lettland,<br />
dessen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung zurzeit nur 42 % des<br />
Durchschnitts der Europäischen Union beträgt, reicht eine langsame Entwicklung<br />
nicht aus, für uns ist das Wachstumstempo sehr wichtig.<br />
Durch Ausnutzung des Potenzials des gemeinsamen Marktes der<br />
Europäischen Union und der EU-Fonds hat Lettland die Möglichkeit, das<br />
Durchschnittsniveau der EU zu erreichen, was jedoch ernsthafte Anstrengungen<br />
über mehrere Jahre erfordert. Selbst nach sehr optimistischen Prognosen wird<br />
Lettland das Durchschnittsniveau der EU nicht eher als in 15 Jahren erreichen.<br />
Lettland muss seine inneren Wachstumsressourcen aktivieren, indem es den<br />
Anteil an Waren und Leistungen mit höherer Umsatzsteuer steigert, die innovativen<br />
und wissenschaftlichen Ressourcen, die in unserem Land noch nicht<br />
genügend in den wirtschaftlichen Kreislauf eingebunden sind, stärker einsetzt<br />
und auch das Potenzial seiner Regionen nutzt. Das ist keine neue Erkenntnis,<br />
sondern diese Entwicklungsrichtungen sind bereits Bestandteil mehrerer, in<br />
Lettland erarbeiteter Strategien. Eine wesentliche Aufgabe wird für die kommenden<br />
Jahre darin bestehen, nach der Aufnahme in die Europäische Union nicht<br />
nachzulassen und alle staatlichen Institutionen, einschließlich der<br />
Selbstverwaltungen, die die Wirtschaftspolitik umsetzen, sowie die<br />
Unternehmerkreise und die Gesellschaft für die Erreichung dieses Ziels zu<br />
mobilisieren.<br />
Von den Bereichen, die in den nächsten 15 Jahren auf der wirtschaftlichen<br />
Tagesordnung der Europäischen Union stehen werden, seien zwei hervorgehoben:<br />
die Steuern und die Energiewirtschaft.<br />
Steuern. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da es für Lettland von entscheidender<br />
Bedeutung ist, das rasche Wirtschaftswachstum fortzuführen und ein<br />
dynamisches, investitionsfreundliches Wirtschaftsklima aufrechtzuerhalten,<br />
kann sich das Land nicht für eine Harmonisierung der direkten Steuern in der<br />
Europäischen Union einsetzen.<br />
Mit gleich hohen Steuern können wir das Abwandern der Investitionen aus<br />
den alten in die neuen Mitgliedstaaten nicht verhindern, durch eine<br />
Verschlechterung des Investitionsklimas in den neuen Mitgliedstaaten würden<br />
wir jedoch erreichen, dass die Investitionen außerhalb der Europäischen Union<br />
76
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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN<br />
in den USA, in Asien und anderen europäischen Staaten getätigt werden und<br />
die EU als Ganzes ihre Wettbewerbsfähigkeit einbüßt. In diesem Fall wären<br />
alle die Verlierer: sowohl die neuen Mitgliedstaaten, in denen sich das<br />
Wachstumstempo verringern würde, als auch die alten Mitgliedstaaten, die<br />
mehr Mittel investieren müssten, um einen wirtschaftlichen und sozialen<br />
Ausgleich innerhalb der Europäischen Union zu erzielen.<br />
Ein der Wirtschaftsentwicklung und Investitionsbereitschaft förderliches<br />
System direkter Steuern in den neuen Mitgliedstaaten ist ein gemeinsamer<br />
Gewinn für die Europäische Union, da es eine schnellere Angleichung des<br />
wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus sowie Investitionen nicht nur aus den<br />
EU-Mitgliedstaaten sondern auch vom globalen Markt begünstigt.<br />
Dennoch müssten die Staaten der Europäischen Union langfristig über eine<br />
höhere Besteuerung von Verbrauchsressourcen, einschließlich Energieressourcen<br />
und andere Naturressourcen, nachdenken, um durch eine solche Politik den<br />
Anteil erneuerbarer Energieressourcen an der gemeinsamen Energiebilanz zu<br />
erhöhen und eine nachhaltige umweltfreundliche Wirtschaftspolitik zu fördern.<br />
Die Energiewirtschaft ist seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts<br />
besonders in der an Energieressourcen armen Europäischen Union ein überaus<br />
wichtiger Bereich und wird es auch weiterhin bleiben. Auch wenn die<br />
Preissteigerungen für Erdöl Europa heute weit weniger Sorgen bereiten, ist<br />
das Problem der Versorgungssicherheit und der Konkurrenz des Imports von<br />
Energieressourcen vor allem in den neuen Mitgliedstaaten der EU weiterhin<br />
aktuell.<br />
Auf dem Elektrizitätsmarkt der baltischen Staaten vollzieht sich in diesem<br />
Jahrzehnt die Liberalisierung des Marktes unter den Bedingungen einer drastischen<br />
Verringerung der Produktionskapazitäten durch Abschalten des<br />
Atomkraftwerks Ignalina und der alten Blocks des Wärmekraftwerks Narva in<br />
Estland, in dem Brennschiefer als Energiequelle genutzt wird. Sollten die baltischen<br />
Staaten keine neuen Kapazitäten für die Stromerzeugung erschließen<br />
und ihre Elektrizitätsnetze nicht an die Netze der übrigen EU-Mitgliedstaaten<br />
angeschlossen werden, wird die Abhängigkeit der baltischen Staaten von<br />
Russland in diesem Sektor zunehmen.<br />
Eine mögliche langfristige Lösung für eine höhere Versorgungssicherheit<br />
der baltischen Staaten könnte der Bau eines neuen Atomkraftwerks nach den<br />
Sicherheitsstandards der EU sein. Eine solche Politik würde auch den<br />
Anforderungen des Kyoto-Protokolls über die Begrenzung des<br />
Schadstoffausstoßes zur Reduzierung des Treibhauseffekts – das Problem der<br />
gegenwärtigen Wärmekraftwerke – entsprechen.<br />
Die Liberalisierung des Erdgasmarktes in Lettland ist angesichts der technischen<br />
Abhängigkeit des Landes von den russischen Erdgasimporten, d. h. von<br />
77
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 78<br />
VALDIS DOMBROVSKIS<br />
der Gasprom als Monopolunternehmen, nur durch Umsetzung alternativer<br />
Gasversorgungsprojekte möglich. Solche Projekte lassen sich nur mit vereinten<br />
Kräften, mit der Hilfe der Europäischen Union realisieren, da die Frage der<br />
Versorgungssicherheit und der Ausweitung des Energieimports auch für die<br />
übrigen Staaten Osteuropas aktuell ist. Obwohl es im Moment kein konkretes<br />
Projekt gibt, kann davon ausgegangen werden, dass die Tendenzen in der<br />
Energiepreisentwicklung diese alternativen Gasversorgungsvarianten schrittweise<br />
auch wirtschaftlich günstiger machen. Ein liberalisierter Energiemarkt<br />
in Osteuropa ist nicht nur im Strom-, sondern auch im Gassektor ein Ziel, das<br />
bis zum Jahr 2020 erreicht werden kann.<br />
5. Entwicklung von Wissenschaft und Technologie<br />
Die Entwicklung dieses Bereichs ist am wenigsten vorhersehbar, obwohl<br />
er große Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und anderen<br />
Prozesse hat. Bis jetzt hat die Europäische Union, die diese Prozesse allgemein<br />
und nicht unter dem Gesichtspunkt einzelner Wirtschaftszweige und<br />
Bereiche bewertete, vorwiegend auf die globalen Herausforderungen auf dem<br />
Gebiet von Wissenschaft und Technologie reagiert.<br />
So stellte die Lissabonner Strategie zum großen Teil eine Antwort auf den<br />
raschen Vorstoß der USA bei neuen Technologien zur Jahrtausendwende dar.<br />
In den kommenden 15 Jahren reicht ein solches Herangehen nicht aus,<br />
wenn die Europäische Union weltweit führend sein will. Es genügt nicht, die<br />
fundamentalen Wissenschaften und das Bildungssystem zu vervollkommnen,<br />
obwohl dies ohne Zweifel sehr wichtig ist. Die Europäische Union muss nicht<br />
nur auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technologie, sondern auch in anderen<br />
Bereichen selbst Prioritäten setzen, indem sie diese Herausforderungen<br />
gegenüber der Welt formuliert und sich somit Vorteile im globalen Maßstab<br />
sichert.<br />
Das verlangt auch eine verstärkte Koordinierung bei der Ausarbeitung der<br />
Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten in den verschiedenen<br />
Bereichen.<br />
Geopolitik, Demografie, europäische Identität, Wirtschaft sowie Wissenschaft<br />
und Technologie stehen im Hinblick auf unser Europa 2020 in einem wechselseitigen<br />
Zusammenhang.<br />
Langfristige Lösungen auf einem einzelnen Gebiet sind ohne Berücksichtigung<br />
der Entwicklungsprozesse in anderen Bereichen nicht möglich. Nur<br />
eine ausgeglichene und nachhaltige Entwicklung kann zur Lösung dieses<br />
Problems beitragen.<br />
Auf der Ebene der Mitgliedsländer und der Institutionen der Europäischen<br />
Union muss das demokratische Umfeld für die Lösung von Problemen erhalten<br />
bleiben, bildet es doch die Gewähr dafür, dass bei der Entwicklung Europas<br />
78
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 79<br />
LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN<br />
alle Gebiete berücksichtigt werden und nicht nur ein einzelnes Problem hervorgehoben<br />
wird, während alle anderen außer Acht gelassen werden.<br />
Der Diskussionsgeist, die gemeinsame Wertvorstellung, die Möglichkeit zur<br />
Verwirklichung einer gemeinsamen Politik und Lettland als Mitglied der<br />
Europäischen Union sind von ebenso großer Bedeutung wie die Chancen des<br />
Marktes und die Finanzmittel, die uns durch diese Mitgliedschaft zur Verfügung<br />
stehen.<br />
79<br />
März 2005
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80
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 81<br />
Avril DOYLE<br />
Leiterin der irischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Gesundheit – Unsere <strong>Vision</strong> für Europa.<br />
Steuerung durch Gesetze oder durch Gerichte?<br />
Eine gute Gesundheitsversorgung gehört zum Kern unserer Zivilisation. Sie<br />
ist ein so wesentlicher Bestandteil des europäischen Modells, dass sie als selbstverständlich<br />
angesehen wird. Jedoch wurde bis vor kurzem, bis zur<br />
Veröffentlichung der Mitteilung der Kommission über die gesundheitspolitische<br />
Strategie der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 2000 und den daran<br />
anschließenden Reflexionsprozessen, das Gesundheitswesen auf europäischer<br />
Ebene noch nicht systematisch in Angriff genommen. Obwohl ihr im Vertrag der<br />
Auftrag übertragen wurde im Gesundheitsbereich eine Rolle zu spielen, hat<br />
die Gemeinschaft die politischen Entscheidungen weitgehend allein den<br />
Mitgliedstaaten und, als deren Vertreter, dem EuGH überlassen. Jetzt ist der<br />
Zeitpunkt gekommen, das Thema direkt anzugehen und die Gesundheitsversorgung<br />
so in das abgeleitete Gemeinschaftsrecht aufzunehmen, dass umfassend<br />
gezeigt wird, welch zentrale Rolle die Gesundheit sowohl in wirtschaftlicher<br />
und sozialer als auch kultureller Hinsicht im Leben unserer Bürger spielt. Es ist<br />
an der Zeit, dass die Gesundheitspolitik durch Gesetze und nicht durch Gerichte<br />
gesteuert wird.<br />
Recht auf Gesundheitsversorgung ist im Vertrag verankert<br />
Gemäß EG-Vertrag ist „bei der Festlegung und Durchführung aller<br />
Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen […] ein hohes Gesundheitsschutzniveau“<br />
sicherzustellen.<br />
Darüber hinaus wurde das Gesundheitswesen als Bereich, in dem die Union<br />
beschließen kann, eine Koordinierungs-, Ergänzungs -oder Unterstützungsmaßnahme<br />
durchzuführen, in den neuen Verfassungsvertrag aufgenommen. Der Verfassungsvertrag<br />
nennt ferner als eines der drei grundlegenden Ziele der Union, dass „das<br />
Wohlergehen ihrer Völker“ gefördert wird.<br />
Durch die Aufnahme der Charta der Grundrechte der Union in den<br />
81
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AVRIL DOYLE<br />
Verfassungsvertrag wurden auch das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche<br />
und geistige Unversehrtheit gestärkt.<br />
Der Verfassungsvertrag liefert eine klare Beschreibung der Zuständigkeiten<br />
der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, sodass die Sorge, Brüssel könne die<br />
nationalen Zuständigkeiten beschneiden, nicht länger als Gegenargument für<br />
konzertierte Maßnahmen auf EU-Ebene angeführt werden kann. Wir benötigen<br />
ein effektives und praktisches Gleichgewicht zwischen der Gemeinschaft und<br />
den Mitgliedstaaten, das auf klaren und unmissverständlichen rechtlichen<br />
Grundlagen aufbaut. Es ist an der Zeit, dass wir die Verantwortung unserer<br />
Mitgliedstaaten für die Bereitstellung einer allgemein zugänglichen, nachhaltigen<br />
und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung festlegen und den<br />
„Mehrwert“ nutzen, den die Koordinierung auf EU-Ebene für den<br />
Gesundheitsbereich darstellen kann.<br />
Welche Rolle kann die EU in der Gesundheitspolitik spielen?<br />
Die EU hat in erster Linie die Aufgabe, die Bürger zu schützen. Die<br />
Gemeinschaft kann und sollte einen „Mehrwert“ erbringen, indem sie die<br />
Forschung fördert, Informationen für die Bürger und die Akteure des<br />
Gesundheitswesens bereitstellt; die bewährtesten Praktiken ermittelt; die<br />
Koordinierung und den Dialog zwischen den Mitgliedstaaten erleichtert;<br />
Partnerschaften mit Akteuren der Zivilgesellschaft begünstigt; Stärken und<br />
Schwächen in den Gesundheitssystemen feststellt; Synergieeffekte fördert und<br />
Hindernisse beim Zugang zu medizinischer Versorgung beseitigt. Die Gemeinschaft<br />
hat gute Chancen, aus den Entwicklungen Nutzen zu ziehen, sich auf internationaler<br />
Ebene Wissen und Fachkenntnisse zu erschließen und ihre externen und<br />
internen Politikbereiche an die bewährtesten Praktiken der WHO anzupassen.<br />
Die in der erweiterten Union bestehenden Diskrepanzen bei der Ausstattung<br />
mit Kapazitäten erfordern eine Verstärkung der länderübergreifenden Verwaltung<br />
von Gesundheit und Gesundheitsfürsorge durch die Gemeinschaft, insbesondere<br />
im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Problemen.<br />
Speziell für die Bekämpfung länderübergreifender Gesundheitsprobleme wie<br />
der Begegnung der Gefahr, die von epidemischen Infektionskrankheiten und<br />
mit der Nahrungskette verbundenen Vorfällen ausgeht, ist die Gemeinschaft sehr<br />
gut platziert. Ausbrüche von BSE und Maul- und Klauenseuche und die von<br />
SARS und Geflügelpest ausgehende Bedrohung haben allesamt, und diese<br />
Erfahrung mussten wir erst machen, die dringende Notwendigkeit koordinierter<br />
aktiver Präventivmaßnahmen im Gesundheitsbereich aufgezeigt.<br />
Die Errichtung mehrerer EU-Agenturen in diesem Bereich, d. h. des<br />
Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten<br />
(ECDPC), der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und der<br />
Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), ist eine zu begrüßende und notwendige<br />
Entwicklung, jedoch können diese Agenturen ohne eine klare<br />
82
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 83<br />
GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA<br />
Gemeinschaftspolitik und die nötigen zu ihrer Unterstützung bereitgestellten<br />
Mittel nicht richtig funktionieren.<br />
Durch die Integration des Gesundheitsaspekts in alle Gemeinschaftspolitiken,<br />
die Durchführung von umfassenden Bewertungen der gesundheitlichen<br />
Auswirkungen aller EU-Rechtsakte sowie durch die Förderung einer gesunden<br />
Lebensweise kann die EU die notwendige Plattform für gemeinsames<br />
Denken bieten.<br />
Die allgemeinen verhaltensabhängigen, sozialen und ökologischen Faktoren,<br />
die die Gesundheit beeinflussen, können auf Gemeinschaftsebene optimal behandelt<br />
werden, indem ein solcher ganzheitlicher, der Zersplitterung entgegengesetzter<br />
Ansatz gewählt wird. Die ganze Palette der unterschiedlichen Bereiche, die<br />
von der REACH-Chemikalienpolitik über die Verkehrspolitik und die<br />
Rechtsvorschriften über Arbeitsbedingungen bis hin zu den einzelstaatlichen<br />
Umwelt- und Raumplanungspolitiken reichen, wirkt sich direkt oder indirekt auf<br />
die Gesundheit aus.<br />
Die EU darf nicht unsystematisch und engstirnig an das Thema Gesundheit<br />
herangehen oder versuchen, die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der<br />
Gesundheitsdienstleistungen in verschiedene Bereiche aufzuteilen oder sie voneinander<br />
abzutrennen. Sämtliche Gesundheitssysteme in der Union weisen trotz<br />
ihrer Unterschiede hinsichtlich Organisation, Struktur und Finanzierungsweise<br />
die gemeinsamen Grundsätze Solidarität, Gerechtigkeit und allgemeine<br />
Zugänglichkeit auf.<br />
In der Gesundheitspolitik laufen eine Reihe von Kernwerten und -zielen der<br />
EU zusammen: marktorientierter Wettbewerb und soziale Solidarität; unveräußerliche,<br />
vom Staat garantierte Menschenrechte und die Freiheit, die<br />
Wahlmöglichkeit und die Verantwortung der einzelnen Bürger... Die Geschichte<br />
hat uns gezeigt, dass zu einfache und manichäische Unterscheidungen keine<br />
Grundlage für gutes Regieren schaffen. Schwarz-Weiß-Denken ist nur insofern nützlich,<br />
als es uns ermöglicht, die Fragen klar zu identifizieren. Wir dürfen diese<br />
künstlichen Aufspaltungen nicht mit unvereinbaren politischen Optionen verwechseln<br />
– bei ihnen handelt es sich lediglich um Instrumente zur<br />
Entscheidungsfindung. Wir stehen vor der Herausforderung, einen kohärenten und<br />
in die Praxis umsetzbaren europäischen Ansatz für Gesundheitsfragen zu entwickeln,<br />
der den von Grund auf komplementären Charakter dieser Kernwerte und<br />
-ziele zusammenfasst.<br />
Auswirkungen der Überalterung Europas auf die Gesundheit<br />
Der vielleicht dringendste Grund für eine strukturelle und förmliche<br />
Koordinierung im Gesundheitssektor ist die Überalterung der europäischen<br />
Bevölkerung – die so genannte „Vergreisung Europas“. Die Europäische Union<br />
steht vor einem beispiellosen demografischen Wandel, der sich massiv auf die<br />
gesamte Gesellschaft auswirken wird. Die Zahlen in dem von der Kommission<br />
83
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 84<br />
vorgelegten Grünbuch „Demografischer Wandel“ zeigen, dass im Jahr 2030 zwei<br />
Erwerbstätige (zwischen 15 und 65 Jahren) für einen Nichterwerbstätigen (von<br />
über 65 Jahren) aufkommen müssen. In der Union leben dann 18 Millionen<br />
Kinder und Jugendliche weniger als heute.<br />
Wenn die EU im Jahr 2050, wie Eurostat prognostiziert, statt der heutigen<br />
14,8 Millionen, 38 Millionen Menschen über 80 Jahren zählen wird, ist ein bedeutender<br />
Anstieg der Ausgaben im Gesundheitswesen – laut dieser Prognosen um<br />
mindestens 2,7 % des BIP – unvermeidbar. Das Verhältnis von abhängigen jungen<br />
und alten Menschen gegenüber Erwerbstätigen wird von 49 % im Jahr 2005<br />
auf 66 % im Jahr 2030 zunehmen. Um den Verlust der Erwerbstätigen auszugleichen,<br />
werden wir eine Beschäftigungsquote von über 79 % brauchen. Um dies<br />
zu erreichen, werden jedoch mehr Frauen – die traditionellen Betreuer älterer<br />
Menschen – erwerbstätig müssen, und ein größerer Anteil der Langzeitbetreuung<br />
wird folglich dem Staat zufallen.<br />
Wenn die niedrigen Geburtenraten in den 25 Mitgliedstaaten mit eingerechnet<br />
werden, sieht der Abhängigenquotient langsam Besorgnis erregend aus. Im Jahr 2003<br />
war die Geburtenrate in der EU auf 1,48 gesunken und lag somit unter der für die<br />
Reproduktion der Bevölkerung erforderlichen Marke von 2,1 Kindern pro Frau.<br />
Im Vergleich hierzu wird die US-Bevölkerung zwischen 2000 und 2025 um 25,6 %<br />
wachsen. Diese Zahl stellt den EU-Durchschnitt der 25 Mitgliedstaaten dar, und<br />
hinter ihr verbergen sich sehr unterschiedliche, z. T. beunruhigende Tendenzen<br />
in einigen Ländern, insbesondere den neuen Mitgliedstaaten, wo die Geburtenraten<br />
stark im Sinken begriffen sind. Lettland beispielsweise wies einen natürlichen<br />
Bevölkerungsrückgang (die Differenz zwischen der Anzahl der Lebendgeburten<br />
und der Anzahl der Sterbefälle innerhalb eines Jahres) von – 4,9 auf, während<br />
Irland, ein Land mit vergleichbarer Bevölkerungszahl, eine natürliche Wachstumsrate<br />
von 8,2 verzeichnete. Wenn wir die Herausforderungen berücksichtigen, denen<br />
sich die neuen Mitgliedstaaten bereits stellen müssen, um ihre Gesundheitssysteme<br />
zu reformieren und zu modernisieren, wird klar, dass die Lage kritisch ist. Wir<br />
müssen nun für die Zukunft planen, indem wir auf Gemeinschaftsebene einen<br />
kohärenten Rahmen für das Gesundheitswesen bereitstellen.<br />
Beitrag der Gesundheit zur Wirtschaft<br />
AVRIL DOYLE<br />
Für die europäische Wirtschaft wird der Gesundheitsbereich immer wichtiger.<br />
So wendet die EU einen ständig steigenden Anteil des BIP für die Gesundheit<br />
auf: 8,6 % ist der derzeitige Durchschnitt der EU-15, wobei die neuen<br />
Mitgliedstaaten im Durchschnitt 5,8 % ausgeben. Für die USA lautet die Ziffer: 14,6<br />
% des BIP. Durch die Bevölkerungsalterung, die oft sehr kostspielige Entwicklung<br />
von medizinischen Technologien und Behandlungsmethoden und die sich daraus<br />
ergebenden steigenden Erwartungen wird diese Zahl wahrscheinlich bedeutend<br />
ansteigen.<br />
Die Frage ist nicht, wie viel wir ausgeben, sondern wie wir es am besten ein-<br />
84
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 85<br />
GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA<br />
setzen können. Die gemeinschaftliche Gesundheitspolitik kann viel dazu beitragen,<br />
diese schwierigen Fragen, zu denen die Themen rund um die beste<br />
Managementpraxis und das seit jeher bestehenden Spannungsfeld zwischen<br />
Verwaltungskosten und der Erbringungen der Leistungen vor Ort gehören, zu<br />
beantworten. Eine zunehmende finanzielle Unterstützung oder „Geld in das<br />
Gesundheitssystem zu pumpen“ ist keine Lösung. Wieder einmal müssen wir<br />
aufpassen, Mittel und Zweck nicht miteinander zu verschmelzen.<br />
Es müssen Maßnahmen getroffen werden, um festzustellen, wie man diese<br />
Mittel am besten einsetzt, um eine flexible, auf den Patienten ausgerichtete<br />
Gesundheitsversorgung zu entwickeln, die dem Bedürfnis und Recht eines jeden<br />
europäischen Bürgers, Zugang zu den besten medizinischen Behandlungsmethoden<br />
zu haben, nachkommt. Die Zusammenstellung vergleichbarer Daten auf EU-<br />
Ebene und die Förderung des Informationsaustauschs sind Grundvoraussetzungen<br />
für eine verbesserte Bereitstellung medizinischer Leistungen.<br />
Systeme zur objektiven Beurteilung der Qualität des Gesundheitswesens, wie<br />
internationale Zulassungssysteme, müssen geprüft und genutzt werden, um den<br />
Verbrauchern zu helfen, sich in den besten Einrichtungen behandeln zu lassen.<br />
Dies wird die Entscheidungsmöglichkeiten der Verbraucher verbessern, einen<br />
verantwortungsbewussten Wettbewerb zwischen den Gesundheitseinrichtungen<br />
fördern und einen Wettstreit um die Spitzenposition auslösen. Die Mitgliedstaaten<br />
müssen auf diese Weise unterstützt und ermutigt werden, voneinander zu lernen,<br />
um, insbesondere vor dem Hintergrund eines sich wandelnden demografischen<br />
Gleichgewichts, die Ausgaben im Gesundheitswesen so gut wie möglich<br />
einzusetzen.<br />
Wir müssen einen Paradigmenwechsel in unserer Sicht der Gesundheitspolitik<br />
einleiten und die offenkundige Tatsache akzeptieren, dass die Gesundheit keineswegs<br />
eine unberechenbare finanzielle Belastung darstellt, sondern ein Motor<br />
für Wirtschaftswachstum und nachhaltige Entwicklung ist und als der Schlüssel<br />
für das Erreichen der Lissabon-Ziele erkannt werden sollte, Europa bis 2010 zu<br />
dem wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.<br />
Die WHO hat einen direkten Zusammenhang zwischen der Lebenserwartung<br />
bei der Geburt und dem Wirtschaftswachstum festgestellt. Ihren Schätzungen<br />
zufolge führt ein Anstieg der Lebenserwartung bei der Geburt um 10 % zu einem<br />
Anstieg des Wirtschaftswachstums um 0,35 % pro Jahr.<br />
Umgekehrt stellen Erkrankungen eine erhebliche Bremse für Produktivität<br />
und Wettbewerbsfähigkeit dar. Schätzungen der Kosten, die von einigen größtenteils<br />
vermeidbaren Krankheiten verursacht werden, sprechen für sich. Die jährliche<br />
durch Atemwegserkrankungen verursachte volkswirtschaftliche Belastung<br />
der EU beträgt beispielsweise über 100 Milliarden Euro, und für die Behandlung<br />
von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die Haupttodesursache in Europa, werden<br />
sogar 135 Milliarden ausgegeben. Allein die Kosten für die seelische Gesundheit,<br />
einschließlich der Bewältigung von Stress, Ängsten und Depressionen, werden<br />
auf 3-4 % des BIP geschätzt. Die volkswirtschaftliche Belastung durch Krankheiten<br />
85
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 86<br />
AVRIL DOYLE<br />
schlägt sich in hohen volkswirtschaftlichen Kosten für Arbeitsunfähigkeit, Ersatz<br />
am Arbeitsplatz und Produktivitätseinbußen bis hin zur Frühverrentung nieder.<br />
Europa verliert mehr als 500 Millionen Arbeitstage pro Jahr durch mit der Arbeit<br />
verbundene Gesundheitsprobleme.<br />
Gesundheitsfaktoren und Lebensführung<br />
Bei Investitionen muss mehr Wert auf die Verhütung von Krankheit gelegt<br />
werden, statt allein auf die Behandlung ihrer Auswirkungen. In der EU gehen fast<br />
10 % der behinderungsbereinigten Lebensjahre (DALY) durch Krankheiten verloren,<br />
die mit der Lebensführung zusammenhängen und mit Fettleibigkeit, übermäßigem<br />
Alkoholgenuss und Tabakkonsum verbunden sind. Schlechte Ernährung<br />
(4,5 %), Fettleibigkeit (3,7 %) und Bewegungsmangel (1,4 %) sind verantwortlich<br />
für eine erhebliche Minderung der Lebensqualität unserer Bürger und stellen<br />
eine bedeutende Gefahr für die Produktivität dar. Unsere Investitionen werden<br />
sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch was die Verbesserung der<br />
Lebensqualität unserer Bürger angeht bedeutend mehr Früchte tragen, wenn wir<br />
uns den Faktoren zuwenden, die für das Erkranken ausschlaggebend sind.<br />
Natürlich muss der Einzelne das Recht behalten, über seine Lebensführung zu<br />
bestimmen, und es ist nicht die Aufgabe der Europäischen Union, das Privatleben<br />
ihrer Bürger zu steuern. Es gibt jedoch zahlreiche Bereiche, in denen der Einzelne<br />
dazu ermutigt werden kann, sich für eine gesündere Lebensweise zu entscheiden.<br />
Hierzu sind die Faktoren zu bestimmen und herauszustellen, die zum<br />
Entstehen von Krankheiten beitragen.<br />
Tabakkonsum ist ein offensichtlicher Fall für eine konzertierte Aktion. Den<br />
Tabakkonsum zu reduzieren, sollte das Ziel jeder Gesundheitspolitik auf<br />
Gemeinschaftsebene sein. Zusätzlich zur Verschlechterung der Gesundheit und<br />
der Lebensqualität – Tabakkonsum ist verantwortlich für eine von drei<br />
Krebserkrankungen – stellen Lungenkrankheiten eine volkswirtschaftliche<br />
Belastung von über 100 Milliarden Euro pro Jahr dar. Initiativen der Mitgliedstaaten<br />
zur Abschreckung vom Tabakkonsum in öffentlichen Räumen sollten sorgfältig<br />
beobachtet werden, und Beispiele bester Vorgehensweisen sollten verbreitet werden,<br />
sobald sich Erfolge, aber auch Gefahren auf dem Weg dahin, abzeichnen.<br />
Die Europäer sind die größten Trinker weltweit. Alkohol ist in vielen Bereichen<br />
sehr stark kulturell verankert, obwohl unverantwortliches Trinkverhalten eine<br />
der Hauptursache für Gesundheitsprobleme und soziale Missstände ist. Die<br />
Gesamtbelastung durch Krankheit, Verletzung und vorzeitigen Tod (vor dem 65.<br />
Lebensjahr eintretender Tod), die auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind,<br />
beträgt zwischen 8 % und 10 %. Exzessiver Alkoholkonsum ist nicht nur ein in<br />
der Jugend auftretendes Phänomen, sondern besonders bei jungen Erwachsenen<br />
weit verbreitet. Unverantwortlicher Alkoholkonsum, mit allen daraus entstehenden<br />
sozialen Problemen wie gewalttätiges und unsoziales Verhalten und Zerrüttung<br />
von Familien, sollte in den Mitgliedstaaten durch Kampagnen thematisiert wer-<br />
86
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GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA<br />
den, die durch das auf Gemeinschaftsebene größer werdende Bewusstsein unterstützt<br />
werden.<br />
Ernährung ist eine wesentliche Gesundheitsdeterminante. Fettleibigkeit ist<br />
ein Faktor, der zur Verschärfung der Symptome zahlreicher Krankheiten beiträgt.<br />
Die Verbreitung von Typ-2-Diabetes, die heutzutage fast ein Zehntel der<br />
Bevölkerung betrifft, steht, so wie auch zahlreiche Herz-Kreislauf-Erkrankungen,<br />
in direkter Verbindung mit den Ernährungsgewohnheiten. Herzkrankheiten, die<br />
für fast die Hälfte aller Todesfälle verantwortlich sind, bilden die Haupttodesursache<br />
in Europa. Die EU muss sich darauf konzentrieren, den Bürgern die Informationen<br />
zu geben, die sie benötigen, um die Risiken zu mindern, die sie durch ihre tägliche<br />
Ernährung eingehen. Die besten Ergebnisse können erzielt werden, indem<br />
man junge Menschen aufklärt, bevor sich lebenslange schlechte Gewohnheiten<br />
herausgebildet haben. Auch hier müssen wir sorgfältig zwischen der Unterrichtung<br />
der Bürger einerseits und der Bemutterung und Einmischung in die Wahlfreiheit<br />
der Verbraucher andererseits unterscheiden. Jeder Mensch trifft letzten Endes die<br />
Entscheidung und trägt die Verantwortung für seine eigene Lebensführung.<br />
Es wird nie möglich sein, die menschliche Natur gesetzlich zu regeln, und<br />
Bürger dazu ermutigen, ihre Lebensführung grundlegend und dauerhaft zu ändern<br />
und ein gesunderes, aktiveres Leben zu führen, ist ein Unterfangen, für das mehr<br />
Anreize als Strafen nötig sein werden.<br />
Sektor der medizinischen Versorgungsleistungen<br />
Immerhin 10 % der Erwerbstätigen in Europa arbeiten mittelbar oder unmittelbar<br />
für die Erbringung medizinischer Leistungen. Von 1995 bis 2001 wurden<br />
im Gesundheitsbereich über zwei Millionen Stellen geschaffen. Bei der Betrachtung<br />
von Gesundheitsdienstleistungen dürfen wir unseren Blick nicht einengen, da<br />
sie sich qualitativ von anderen Dienstleistungen unterscheiden und mehr als nur<br />
finanziellen Gewinn erbringen.<br />
Der beste Weg, das Wachstumspotenzial des Gesundheitssektors zu erhöhen,<br />
ist eine Steigerung des Wettbewerbs, stets unter der Bedingung, dass die Sicherheit<br />
des Patienten das Hauptanliegen bleibt. Die Frage der besseren Regulierung ist<br />
im Gesundheitssektor von größter Wichtigkeit, wenn wir die Erleichterung der<br />
Patientenmobilität, der beruflichen Mobilität, des grenzüberschreitenden Erwerbs<br />
von Gesundheitsleistungen und der Bereitstellung von Dienstleistungen miteinander<br />
in Einklang bringen möchten. Eine bessere Koordinierung der einzelstaatlichen<br />
Gesundheitspolitiken ist eine unumgehbare Grundvoraussetzung für<br />
ein stärkeres Zusammenwachsen des europäischen Sektors der medizinischen<br />
Versorgungsleistungen. Angesichts des gemeinwirtschaftlichen Elements in diesem<br />
Sektor und angesichts der Patientenrechte handelt es sich um einen<br />
Wirtschaftsbereich, der klarer geregelt werden muss als andere. Das bedeutet, an<br />
dem Grundprinzip festzuhalten, dass es Rechtsvorschriften geben muss, dass sie<br />
einfach, unzweideutig, gründlich überprüft und mit einer Bewertung der Risiken<br />
87
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 88<br />
und Gesundheitsauswirkungen versehen sein müssen. Im Zuge der Überprüfung<br />
unserer Rechtsvorschriften auf ihre Tauglichkeit für den Lissabon-Prozess werden<br />
auch die Rechte der Patienten deutlicher herausgestellt und die Patienten<br />
befähigt, von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Gleichzeitig wird es immer<br />
Einzelfälle geben, bei denen die Notwendigkeit besteht, einen Regressanspruch<br />
für fehlgeschlagene Behandlungen geltend zu machen. Die verschiedenen<br />
Krankenversicherungssysteme der Mitgliedstaaten, die Vielfalt der<br />
Berufshaftpflichtversicherungssysteme, die unterschiedlichen Ansätze in Bezug auf<br />
Haftung und ärztliche Kunstfehler, ganz zu schweigen von der Verantwortung für<br />
die Nachsorge, die innerhalb der Union existieren, müssen alle neu bewertet<br />
und „in Paketen gebündelt“ werden, um das Zusammenwirken der verschiedenen<br />
Systeme im Interesse der Patienten zu gewährleisten. Eine allgemeine<br />
Dienstleistungsrichtlinie ist meiner Meinung nach nicht das geeignete<br />
Rechtsinstrument, um einen Binnenmarkt für Gesundheitsdienstleistungen zu<br />
erzielen und sämtliche notwendigen Vorkehrungen für die Patientenmobilität<br />
innerhalb der EU zu treffen.<br />
Die wirtschaftlichen Aspekte der medizinischen Versorgung können nicht isoliert<br />
betrachtet werden. Sie stehen im Mittelpunkt einer Verbindung von gleichermaßen<br />
bedeutenden moralischen und ethischen Aspekten. Dieser alles umfassende<br />
Charakter von Gesundheit muss in Rechtsinstrumenten zum Ausdruck<br />
gebracht werden, um den Sektor der medizinischen Versorgungsleistungen effektiver<br />
zu gestalten und vollständig in den Binnenmarkt zu integrieren. Dazu sind<br />
eine allgemeinere Sichtweise und ein umfassenderer Ansatz als in der<br />
Vergangenheit erforderlich. Damit die beiden Ziele, eine Überschneidung und<br />
Verdoppelung von Rechtsvorschriften zu vermeiden und durch einen stabilen<br />
Rechtsrahmen Rechtssicherheit zu schaffen, erreicht werden können, muss die<br />
Hochrangige Gruppe für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung<br />
einen kohärenten Ansatz wählen. Wenn wir es nicht schaffen, unsere<br />
Rechtsvorschriften, soweit sie die Gesundheit berühren, vollständig zu überprüfen,<br />
könnte dies weit ernstere Auswirkungen als rein finanzielle Verluste haben.<br />
Die Methodik für die Prüfung der gesundheitlichen Auswirkungen sollte vervollkommnet<br />
und dann auf alle Rechtsvorschriften der Gemeinschaft angewandt<br />
werden. Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Kommission demnächst eine<br />
Richtlinie über die Erbringung medizinischer Leistungen in Betracht zieht?<br />
Gesundheit und Forschung<br />
AVRIL DOYLE<br />
Das europäische Modell der Wettbewerbsfähigkeit basiert auf einer<br />
Wissensgrundlage. Der Schwerpunkt muss stärker auf medizinische Ausbildung,<br />
berufliche Weiterbildung und angesichts des chronischen Mangels an medizinischem<br />
Personal überall in der EU auf Investitionen in Humanressourcen gelegt werden.<br />
Eine verbesserte berufliche Mobilität ist unverzichtbar, um die Verbreitung<br />
der besten medizinischen Methoden und Verfahren zu garantieren. Die berufli-<br />
88
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 89<br />
che Mobilität sollte durch ein weit reichendes System für Informationsaustausch<br />
und die EU-weite automatische Anerkennung medizinischer Fachrichtungen<br />
durch die lang erwartete Richtlinie über die Anerkennung beruflicher<br />
Befähigungsnachweise so transparent und einfach wie möglich gestaltet werden.<br />
Als logische Konsequenz wird die berufliche Mobilität die Ausarbeitung<br />
spezifischer Rechtsvorschriften für Gesundheitsdienstleistungen beschleunigen,<br />
nicht zuletzt, um der Abwanderung hochqualifizierter Personen und dem Druck<br />
auf das Gesundheitsbudget der Mitgliedstaaten entgegenzuwirken, der sich aus<br />
der Abwanderung hoch qualifizierter Ärzte, Krankenschwestern und anderer<br />
Mediziner aus ihrem Herkunftsland in Mitgliedstaaten mit besseren Arbeitsbedingungen<br />
und Gehältern ergeben kann. Die Mitgliedstaaten haben ein berechtigtes<br />
Interesse daran, eine koordinierte Aktion zu fördern, um sicherzustellen, dass<br />
sich die Investitionen, die sie im Bereich der medizinischen Ausbildung getätigt<br />
haben, für sie auszahlen. Die Zusammenarbeit zwischen nationalen Behörden und<br />
Programmen für lebenslanges Lernen, die soweit wie möglich angeglichen wurden,<br />
muss garantiert werden, um EU-weit höchste Standards aufrechtzuerhalten.<br />
Forschungsinvestitionen im Gesundheitsbereich sollten sowohl auf einzelstaatlicher<br />
als auch auf Gemeinschaftsebene gestärkt werden, um das Potenzial<br />
für Wachstum und eine verbesserte Bereitstellung von dem neuesten Stand der<br />
Technik entsprechenden Behandlungstechnologien zu erhöhen. Es sollten finanziell<br />
gut ausgestattete „Referenzzentren“, insbesondere Fachkrankenhäuser und<br />
Forschungsinstitute, die Vorreiter für medizinische Innovation sein werden, errichtet<br />
werden. Eine verbesserte Patientenmobilität wird den Nutzen solcher medizinischer<br />
Exzellenzzentren maximieren und für Größenvorteile sorgen.<br />
Die Finanzierung des siebten Forschungsrahmenprogramms sollte bedeutend<br />
angehoben und auf Haushaltslinien für Forschungsarbeiten im Gesundheitsbereich<br />
großes Gewicht gelegt werden, um diesen Sektor in das in der Übereinkunft von<br />
Barcelona festgelegte Ziel, 3 % des BIP für die Forschung aufzuwenden, aufzunehmen.<br />
Wir sind noch weit davon entfernt, dieses Ziel zu erfüllen. Die<br />
Mitgliedstaaten sowie private und gewerbliche Einrichtungen sollten sich ebenfalls<br />
an der Forschung im Bereich Medizintechnik und ihrer Entwicklung beteiligen,<br />
um Europa zu einer Hochburg der Innovation zu machen.<br />
Schlussfolgerung<br />
GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA<br />
Gesundheitsdienstleistungen sind unentbehrliche Dienstleistungen und nicht<br />
rein wirtschaftliche Tätigkeiten. Der Grundsatz des allgemeinen Zugangs zu hochwertigen,<br />
aber finanziell tragbaren medizinischen Leistungen muss auf EU-Ebene<br />
aufrechterhalten und in einem umfassenden und gut durchdachten Rechtsrahmen<br />
verankert werden. Im Idealfall sollten diese Leistungen dem Patienten möglichst<br />
wohnortnah bereitgestellt werden. Die Nutzung von Behandlungsmöglichkeiten<br />
in einem anderen Land ist jedoch ein Recht, das die Patienten problemlos wahrnehmen<br />
können müssen, ohne die Hilfe von Gerichten in Anspruch zu nehmen.<br />
89
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 90<br />
AVRIL DOYLE<br />
Diese Mobilität, so begrenzt sie auch sein mag, müsste zu einer Erhöhung der<br />
Versorgungsstandards im Herkunftsland des Patienten führen, denn das ist das<br />
eigentliche Ziel. Die Schwerpunktverschiebung von der Behandlung zur Vorsorge,<br />
indem an den für die Entstehung von Krankheiten verantwortlichen Faktoren<br />
angesetzt wird, vermeidet unnötiges Leid und erspart der Staatskasse Ausgaben<br />
für Behandlungen, die vermieden werden können. Die Beteiligung öffentlicher<br />
und privater Akteure und öffentlich-privater Partnerschaften an Investitionen<br />
wird die Wettbewerbsfähigkeit stärken und die Qualität der medizinischen<br />
Versorgung verbessern. Diese Initiativen müssen im Rahmen des sozialen Pfeilers<br />
der Lissabon-Agenda durch Unterstützung und Dialog auf Gemeinschaftsebene<br />
gefördert werden. Ohne Wirtschaftswachstum werden wir das Niveau der<br />
Investitionen im Gesundheitsbereich, das erforderlich sein wird, um die<br />
Herausforderung einer alternden Gesellschaft zu bewältigen, nicht halten können.<br />
Wirtschaftswachstum und soziale Solidarität schließen sich nicht gegenseitig aus,<br />
sondern sind zwei Seiten derselben Münze.<br />
90<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 91<br />
Camiel EURLINGS<br />
Leiter der niederländischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Den europäischen Traum aufrechterhalten<br />
Als Schuljunge erlebte ich den Fall der Berliner Mauer mit. Überall in<br />
Mitteleuropa lebte die Zivilgesellschaft durch mutig und konkret handelnde<br />
Bürger wieder auf, die sich nach Demokratie und Freiheit sehnten, von der<br />
Samtenen Revolution in Prag bis hin zu den Unabhängigkeitsbestrebungen von<br />
Letten und Esten. Was viele mutige Menschen in Polen ausgelöst hatten, erwies<br />
sich als unaufhaltsam. Es wurde eine Bürgerbewegung, von unten, die imstande<br />
war, nationale Grenzen und Sprachunterschiede zu überwinden. Eines war mir<br />
und den Gefährten aus meiner Generation völlig klar geworden: das Europa vor<br />
diesem Zeitpunkt, die Welt der 80er Jahre und früher, sie gehörte der Vergangenheit<br />
an.<br />
Was dafür an ihre Stelle treten würde, konnten wir Schüler und Studenten<br />
von damals schwerlich erahnen. Nur vage Konturen und idealistische Perspektiven<br />
konnte man damals noch wahrnehmen. Wer hätte zu diesem Zeitpunkt daran<br />
denken können, dass der Traum Robert Schumans und Jean Monnets von<br />
Versöhnung zwischen Staaten sich nicht nur in Westeuropa verwirklichen würde,<br />
sondern auch einmal den Rest unseres Kontinents umfassen sollte? Dass schon<br />
innerhalb eines Jahres die Wiedervereinigung Deutschlands eine Tatsache sein<br />
würde, ohne dass ein Schuss entlang der so schwer bewachten Grenze fiel? Dass<br />
die durch den Vertrag zwischen Hitler und Stalin einverleibten und geknechteten<br />
baltischen Völker in einigen Jahren wieder frei sein würden? Dass ein dissidenter<br />
Bühnenautor aus dem Gefängnis auf den Präsidentenstuhl in Prag kommen<br />
würde? Dass Bürger mit orangenen Schals und Zelten auf dem großen Platz<br />
endlich auch faire Wahlen in Kiew erzwingen würden?<br />
Tiefgreifend veränderte Rahmenbedingungen<br />
Der Schüler aus dem Limburgischen Valkenburg von 1989 schreibt nun dieses<br />
Essay aus dem Europäischen Parlament, in dem Menschen aus 25 Nationen<br />
zusammenarbeiten und versuchen, einem neuen Europa mit Höhen und Tiefen<br />
91
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CAMIEL EURLINGS<br />
Gestalt zu verleihen. Das Europa „15 Jahre danach“ ist für jemand, der auf jene<br />
Wochen des Mauerfalls zurückblickt, nicht mehr erkennbar. Nicht nur geographisch<br />
und politisch, sondern auch nicht erkennbar in der Entwicklung, vor der dieses<br />
Europa in den kommenden 15 Jahren, mit Blick auf das Jahr 2020, steht.<br />
Der gesamte Rahmen in Bezug auf Europa, auf die durch die Zusammenarbeit<br />
gebotenen Möglichkeiten sowie auf die weltweiten Bedingungen, innerhalb dessen<br />
die EU funktionieren muss, hat sich grundlegend verändert. Damit ist es<br />
zugleich ebenso unlogisch wie riskant geworden, die – sowohl mentalen als<br />
auch politischen – Reaktionen und die Prämissen der Vergangenheit vor 1989<br />
weiterhin der zukünftigen Entwicklung aufoktroyieren zu wollen und diese<br />
dadurch zu verzerren. Es ist unser Auftrag als Christdemokraten – die die<br />
Wegbereiter der Europäischen Zusammenarbeit waren - uns innerhalb der veränderten<br />
Gesellschaft mit voller Kraft einzusetzen, um das Haus Europa, den<br />
Traum Schumans, Monnets und De Gasperis weiter zu verwirklichen. Dies ist<br />
vielleicht keine leichte, aber doch eine dankbare und inspirierende Aufgabe.<br />
Betrachten wir einmal genauer einige dieser großen Umwälzungen und völlig<br />
veränderten Bezugsrahmen:<br />
Die Sowjetunion war die größte Militärmacht in Europa, das Gefängnis dutzender<br />
Völker und Nationen, das stark koloniale Züge trug. Nicht nur sie ist verschwunden,<br />
sondern die unterdrückten Völker im damaligen Imperium sind nunmehr<br />
freie Demokratien geworden. Die „Kastanienrevolution“ in der Ukraine im<br />
Herbst 2004 hat diese beispiellose historische Tatsache noch einmal unterstrichen.<br />
Kein europäisches Volk lässt sich seines Existenzrechts und der Perspektive<br />
auf einen pluralistischen Rechtsstaat, auf eine demokratische Zivilgesellschaft<br />
sowie auf Religions- und Meinungsfreiheit berauben. Und kein einziges europäisches<br />
Volk lässt geschehen, dass eine solche pluriforme Kultur durch<br />
Gewaltandrohung und Intoleranz wieder zunichte gemacht wird. Imperialistische<br />
und hegemonistische Tendenzen haben unter uns keinen Platz mehr. Darin liegt<br />
der Kern des gemeinsamen Engagements, dem wir als Europäer verpflichtet sind<br />
und das wir in der Zukunft aufrechterhalten müssen, nämlich: nicht Unterdrückung,<br />
Intoleranz und Machtdenken, sondern gegenseitiger Respekt und Gleichheit zwischen<br />
Staaten und Völkern als zentrales Element unserer Zusammenarbeit.<br />
Eine weitere beispiellose Veränderung gegenüber den vergangenen 15 Jahre<br />
ist Folgende:<br />
Das EMS (Europäisches Währungssystem) war damals der Versuch, die verschiedenen<br />
nationalen Geldsysteme und Münzeinheiten in der Europäischen<br />
Gemeinschaft zu koordinieren. Das EMS verschwand nicht nur ziemlich ruhmlos<br />
als eine Art Zwischenetappe der Wirtschafts- und Währungspolitik; das<br />
Ersetzen dieses Systems durch den Euro und die Eurozone als neuen Fokus<br />
der wirtschaftspolitischen Integration hat Europas Position auf den Weltmärkten<br />
deutlich verstärkt. Darüber hinaus hat dieser weitere monetäre Integrationsprozess<br />
der wirtschaftlichen Entwicklung der EU mehr Richtung verliehen. Mit ihm wird<br />
ein präzises und konkretes Instrument geboten, das die Politiker mehr oder<br />
weniger zu Abwägungen aus strategischer Sicht „zwingt“, die über die frühere<br />
92
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 93<br />
nationale Wirtschaftseinheit oder den früheren einzelstaatlichen Horizont für<br />
die längerfristige Politik hinausgehen.<br />
Er bildet gleichsam eine Art „interne Globalisierung“ innerhalb der EU,<br />
wodurch alle Mitgliedstaaten der Union ihre eigene Wohlstandsentwicklung<br />
unverbrüchlich auf die längerfristigen Entwicklungen der Gesamtheit sowie auf<br />
die Fragen und Herausforderungen, die diese wiederum an jeden von ihnen<br />
stellen, ausrichten. Die erste kohärente Formulierung dieser neuen Wirklichkeit<br />
war die so genannte „Lissabon-Strategie“. Die neue Kommission unter José<br />
Manuel Barroso hat dieses Konzept präzisiert, und ich hoffe, dass auf nationaler<br />
Ebene die Politiker unter Druck gesetzt werden, für ihr jeweiliges Land die<br />
maximalen Anstrengungen zu unternehmen, um die Lissabon-Strategie umzusetzen.<br />
„Naming and shaming“ derjenigen, die untätig oder erfolglos bleiben,<br />
kommt dann noch nachdrücklich auf die Tagesordnung. Die Staats- und<br />
Regierungschefs, die diesen Aspekt aus dem kohärenten Ansatz dieser Strategie<br />
verschwinden lassen wollen, haben sich damit hoffentlich selbst einen<br />
Bumerangeffekt zum Geschenk gemacht.<br />
Als dritte stark veränderte Rahmenbedingung ist die internationale Sicherheit<br />
zu nennen.<br />
Die Spaltung Europas in Ost und West machte unseren Teil der Welt zum<br />
potenziellen Schlachtfeld von Weltmächten, gleichsam nach der Maxime aus<br />
dem 18. Jahrhundert „Chez vous, sur vous, sans vous “, nach der über die Lage<br />
meines eigenen Landes, der Niederlande, auf der Weltkarte von damals entschieden<br />
wurde. Auf diese Weise wurde bis 1989 Weltpolitik in Europa und<br />
auf dem Rücken der Europäer betrieben, vor allem derer im Osten.<br />
Durch die frühere weltweite militärische Konfrontation bewirkte in einer<br />
„bipolaren Machtstruktur“ jeder Schritt, jede Aktion oder Nachlässigkeit einer der<br />
beiden Supermächte, wo auch immer auf der Welt, eine Gegenreaktion der<br />
anderen vor Ort oder genau auf einem ganz anderen „global hotspot “ (globalen<br />
Brennpunkt). Es war normal, dass zum Beispiel Spannungen im<br />
Zusammenhang mit den Zugangswegen in der ehemaligen DDR zum damals freien<br />
West-Berlin eine direkte Auswirkung auf die Situation betreffend Kuba oder<br />
an der türkisch-russischen Grenze im Kaukasus hatten.<br />
Mit dem Zerfall der Sowjetunion hat sich die Sicherheitspolitik nicht nur von<br />
der bipolaren Struktur des Machtgleichgewichts zwischen den Supermächten<br />
gelöst. Auch die internationale Sicherheitspolitik ist zu einer viel größeren<br />
Herausforderung geworden. Neue Elemente wie Demographie und<br />
Migrationsbewegungen werden in die Sicherheitsfragen miteinbezogen. Dies<br />
gilt ebenso für die unheilvollen Verbindungen, die zwischen den weltweiten<br />
kriminellen Organisationen mit ihren finanziellen Verzweigungen und dem<br />
Terrorismus entstanden sind.<br />
„Soft power“ als starke Kraft<br />
<strong>DE</strong>N EUROPÄISCHEN TRAUM AUFRECHTERHALTEN<br />
Die Risiken der „failed states“ und das Chaos beim Regieren ganzer Regionen<br />
in verschiedenen Erdteilen sind darüber hinaus in den vergangenen Jahren immer<br />
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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 94<br />
CAMIEL EURLINGS<br />
deutlicher geworden. Ohne die Implosion Afghanistans unter den Taliban und das<br />
maliziöse Regime im Sudan wäre der Aufbau von Bin Ladens Netzwerken nicht<br />
möglich gewesen. Gleichzeitig muss man sich grundsätzlich darüber im Klaren<br />
sein, dass mit dem Aufbau von Al-Qaida der Terror endgültig globalisiert worden<br />
ist. Dies lässt sich schon allein daraus schließen, dass die Hamburger<br />
Technikstudenten, die den Anschlag am 11. September 2001 planten und ausführten,<br />
sowohl in Afghanistan, Pakistan, Spanien als auch in Florida Kontakte zu<br />
Bin Laden herstellten und an allen diesen Stellen logistische Vorbereitungen für<br />
ihre Tat trafen.<br />
Die weltweiten sozioökonomischen, kulturellen und institutionellen<br />
Entwicklungen dieser Regionen der „failed States “ bilden daher mit die Grundlage<br />
für ein neues Konzept der Inhalte der internationalen Sicherheitspolitik und dessen,<br />
was sie umfassen sollte. Sowohl zur Vermeidung von Konflikten und zur<br />
Demokratisierung als auch zum Aufbau der Zivilgesellschaften in diesen Regionen<br />
könnte sich die „soft power “ Europas als eine der weltweit stärksten Kräfte erweisen,<br />
zumal uns dies jetzt wohlgemerkt von Außenministerin Rice vor Augen<br />
gehalten wird, weil sie sich vielleicht besser als andere darüber informiert hat, wie<br />
sehr ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Machtentfaltung der Amerikaner<br />
und dem Beitrag Europas in der Welt genau zu dieser Art von sehr komplexen<br />
Merkmalen der Sicherheitspolitik notwendig geworden ist. Reaktionen wie in<br />
der Vergangenheit, auch die eines linksgerichteten Antiamerikanismus, sind daher<br />
kaum sinnvoll und unproduktiv.<br />
Am Schnittpunkt der europäischen Geschichte<br />
Bei den gigantischen Entwicklungen, die Europa und die ganze Welt während<br />
der letzten 15 Jahre durchgemacht haben, könnte sich der Gedanke aufdrängen,<br />
dass die größten Veränderungen nun hinter uns liegen, dass die Erweiterung der<br />
Europäischen Union nun weitestgehend abschlossen und dass der Traum<br />
Schumans und Adenauers realisiert ist. Politiker, die diesem Gedanken nachhängen,<br />
tun gut daran, ihrer Anhängerschaft zuzuhören. Zu ihrem Schrecken werden<br />
sie feststellen, dass viele europäische Bürger ganz und gar nicht vom<br />
Europäischen Projekt begeistert sind. Dass in den meisten Ländern bei jeder<br />
Europawahl wieder weniger Menschen ihre Stimme abgeben. Dass zum Beispiel<br />
bei Volksbefragungen über die Europäische Verfassung ein wesentlicher Teil der<br />
Bevölkerung dagegen stimmt. Dass nationalistische Tendenzen wieder immer<br />
häufiger aufkommen.<br />
Für diesen paradoxen Gegenstrom gibt es viele Gründe. Die Errungenschaften<br />
der EU werden von den Menschen schon ganz schnell für selbstverständlich<br />
gehalten. Mein jüngster Bruder kann sich an Grenzkontrollen nicht mehr erinnern.<br />
Mein jüngster Neffe musste beim Passieren der Grenze noch nie Geld tauschen.<br />
Ein anderer Grund besteht darin, dass die EU-Erweiterung nicht mit einer ausreichenden<br />
Vertiefung, einer Verstärkung der EU-Beschlussfassung einhergegangen<br />
ist. Ein Gefühl der Entsagung, das Menschen bei einer immer größeren und somit<br />
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<strong>DE</strong>N EUROPÄISCHEN TRAUM AUFRECHTERHALTEN<br />
nicht greifbaren Union haben können, wird auf diese Weise nicht ausreichend<br />
durch ein immer energischeres und sichtbareres Handeln der EU kompensiert.<br />
Ich bin überzeugt davon, dass die Europäische Union nur dann ein bleibender<br />
Erfolg sein kann, wenn eine ausreichende Unterstützung und Begeisterung<br />
aus der Bevölkerung vorhanden sind. Studie für Studie belegt deutlich das zwiespältige<br />
Gefühl der Bürger im Jahr 2005: auf der einen Seite besteht der starke<br />
Wille, zu Europa zu gehören; auf der anderen Seite betrachtet man die europäischen<br />
Einrichtungen als zu unsichtbar, zu bürokratisch und zu weit entfernt.<br />
Während der nächsten Jahre wird sich zeigen, welches Gefühl überwiegt.<br />
Manche wie der ehemalige EU-Kommissar Bolkestein sehen ein negatives Szenario<br />
voraus: Europa wird seiner Meinung nach nicht in der Lage sein, an Kraft zu<br />
gewinnen, es wird sich vor allem auf eine weitere Erweiterung ausrichten und<br />
wird infolgedessen zu einer Zusammenarbeit hauptsächlich auf wirtschaftlicher<br />
Ebene verwässern.<br />
Herausforderungen für die Christdemokraten in der Zukunft<br />
Wir als Christdemokraten dürfen dieses negative Szenario in der Zukunft nicht<br />
Wirklichkeit werden lassen. Dazu gilt es, dass wir eine Reihe von Maßnahmen<br />
mit Elan angehen:<br />
1. Wir müssen die Vorteile des beispiellosen Tempos, in dem der Integrationsprozess<br />
in Europa in der alltäglichen Realität verläuft, viel deutlicher benennen.<br />
Auf diese Weise werden falsche und zu Unrecht hemmende politische Wege und<br />
bürokratische Mechanismen vermieden, die sowohl für Europa und den Wohlstand<br />
als auch die Sicherheit in Europa mehr hinderlich als förderlich sind. Das ist auch<br />
eine hilfreiche Maßnahme dagegen, dass Populisten auf der Grundlage falscher<br />
Tatsachen eine Antistimmung erzeugen können.<br />
Ein anschauliches Beispiel für den ersten Punkt habe ich neulich auf der<br />
Wirtschaftsseite verschiedener Zeitungen gefunden. Während zahlreiche Anti-<br />
Europäer in den Niederlanden den Eindruck entstehen lassen, dass die neuen<br />
Mitgliedstaaten vor allem viel Geld kosten, erwies sich Folgendes: Seit der<br />
Erweiterung der Union auf 25 Mitgliedstaaten hat sich mit keiner Region der Welt<br />
der Export und Handel der Niederlande so stark entwickelt wie mit den neuen<br />
Mitgliedstaaten. Die wirtschaftliche Erholung, die in unserem Land nach einer<br />
Reihe sehr schwerer Jahren 2005 spürbar eingesetzt hat, scheint gerade auf solche<br />
positiven Entwicklungen im Export und in den Handelsbeziehungen zurückzuführen<br />
zu sein. Die neuen Chancen, die die erweiterte Union bietet, sind erkennbar.<br />
Sie bieten Möglichkeiten für größeren Wohlstand, mehr Arbeit und eine<br />
intensivere Zusammenarbeit, woraus die Mitgliedstaaten gemeinsam und jeder<br />
für sich einen Nutzen ziehen. Hieraus geht wiederum hervor, wie wesentlich es<br />
im nationalen Interesse der Niederlande und der einzelnen Mitgliedstaaten liegt,<br />
dass wir den Prozess der Integration und der Zusammenarbeit, wo es möglich<br />
ist, fördern. Der Wegfall von Schranken fördert den Handel und die Innovation in<br />
der Wirtschaft und auch jetzt zeigt sich wieder, dass diese Entwicklung schnel-<br />
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CAMIEL EURLINGS<br />
ler erfolgt, als viele vorher dachten. Der rasch zunehmende Umfang der<br />
Handelsbeziehungen mit den neuen Mitgliedstaaten verdeutlicht dies noch einmal.<br />
Daher ist es richtig, dass wir weiterhin unnötige bürokratische Mechanismen<br />
oder Vorschriften außer Kraft setzen, die oft eine Folge von Abstimmungen über<br />
Details bei europäischen Vereinbarungen sind, und die Durchführung innerhalb<br />
der Mitgliedstaaten regeln. Dies ist ein Beispiel für einen Kurs, den wir in Europa<br />
gemeinsam einschlagen und durchsetzen müssen, weil es nicht effektiv ist, wenn<br />
jeder auf eigene Faust handelt. Allzu oft stellt sich nämlich heraus, dass diese<br />
Hindernisse und Bürokratie zugleich auf den verschiedenen Ebenen von<br />
Durchführungsbestimmungen und Vorschriften wirksam sind, und daher ist es notwendig,<br />
dass auf diesen verschiedenen Ebenen gleichzeitig vorgegangen wird.<br />
2. Da die EU sich auf 25 Mitgliedstaaten erweitert hat, müssen wir den Mut<br />
besitzen, unsere Union auch wirklich zu vertiefen. Europa wird besonders die<br />
Probleme energischer angehen müssen, die durch unsere offenen Binnengrenzen<br />
nicht mehr auf nationaler Ebene gelöst werden können. Zu denken ist beispielsweise<br />
an die Bekämpfung der Bedrohung durch den Terrorismus, der grenzüberschreitenden<br />
(Drogen)Kriminalität, aber auch des auftretenden<br />
Menschenhandels zwischen den Mitgliedstaaten durch eine übereinstimmende<br />
europäische Asylpolitik. Europa gewinnt auf diese Weise nicht nur an<br />
Glaubwürdigkeit, weil für konkrete Probleme der Bürger eine wirksame europäische<br />
Lösung gefunden wird. Es wird auch vermieden, dass eine so positive Sache<br />
wie offene Grenzen beim durchschnittlichen Europäer einen negativen<br />
Beigeschmack hervorruft, weil diese Grenzen zwar für die Bürger und somit<br />
auch Kriminelle offen sind, aber nur unzureichend für Polizei und Justiz. Dadurch<br />
haben die offenen Grenzen bis zu diesem Zeitpunkt nachweislich zu größerer<br />
Unsicherheit in den Grenzgebieten geführt.<br />
Die Ratifizierung der Europäischen Verfassung ist hierfür ein bedeutender<br />
erster Schritt, aber nicht mehr als das. Nach Inkrafttreten der Verfassung müssen<br />
wir bei der Verstärkung der Vorgehensweise auf europäischer Ebene weiter voranschreiten,<br />
zum Beispiel auf dem Gebiet der Sicherheit und Terrorbekämpfung. Für<br />
keinen Bürger gibt es eine verständliche Erklärung dafür, dass selbst nach den<br />
Anschlägen in New York und Madrid Informationen über mögliche Anschläge<br />
noch immer nicht automatisch zwischen den Sicherheitsdiensten der<br />
Mitgliedstaaten ausgetauscht werden. Dies erfolgt nicht, obwohl sich bei beiden<br />
Anschlägen herausgestellt hat, dass vorher relevante Informationen in anderen<br />
Ländern vorlagen. Dies erfolgt nicht, obwohl nach beiden Anschlägen im Rat<br />
Justiz und Inneres beschlossen wurde, dass der Informationsaustausch in Zukunft<br />
automatisch und einwandfrei verlaufen soll. Solange Stolz und Machismus nationaler<br />
Sicherheitsdienste einen höheren Stellenwert als der maximale Schutz der<br />
Bürger haben, hat Europa als Einheit ein ernsthaftes Glaubwürdigkeitsproblem.<br />
Die gleiche Herausforderung existiert beim Umgang mit Terrororganisationen.<br />
Zwar gibt es eine europäische Liste mit Terrororganisationen. Es besteht aber<br />
ein Himmel weiter Unterschied, wie Mitgliedstaaten die auf dieser Liste aufgeführten<br />
Vereinigungen behandeln. Daher kann es vorkommen, dass eine Organisation<br />
96
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<strong>DE</strong>N EUROPÄISCHEN TRAUM AUFRECHTERHALTEN<br />
wie die ETA, die seit Jahrzehnten Tod und Verderben verbreitet, in manchen<br />
Mitgliedstaaten verboten ist und mit aller Macht bekämpft wird, während sie in<br />
anderen Mitgliedstaaten frei demonstrieren und sich manifestieren kann. Derartige<br />
unterschiedlicher Umgangsweisen sind nicht nur ein Beweis für den Mangel an<br />
Solidarität untereinander, sondern bringen in einer Union ohne Binnengrenzen<br />
auch die Sicherheit des Einzelnen unnötig in Gefahr. Eine europäische Liste mit<br />
Terrororganisationen kann nur dann Glaubwürdigkeit erlangen, wenn ein Eintrag<br />
auf dieser Liste zu einem deutlichen Verbot und einer Verfolgung überall auf<br />
dem Gebiet der Europäischen Union führt.<br />
Schließlich ist es auch fraglich, ob die heutige durch einzelne Mitgliedstaaten<br />
bestimmte Politik der Visavergabe weiter fortgeführt werden kann. Wie effektiv<br />
ist es denn, dass die Europäische Union mit Russland über die zukünftige Visa-<br />
Regelung verhandelt, obwohl einige Schengen-Mitgliedstaaten bilateral bereits<br />
zu visumfreien Vereinbarungen übergegangen sind? Und wie sozial ist es, dass,<br />
während man beispielsweise in den Niederlanden die notwendige, aber schwere<br />
Entscheidung trifft, Wirtschaftsflüchtlinge in ihr Herkunftsland abzuschieben,<br />
die spanische Regierung beschließt, mit einem Schlag etwa einer Million illegaler<br />
Einwanderer einen spanischen und somit einen EU-Pass auszustellen? Und<br />
wie förderlich ist es der Akzeptanz offener Binnengrenzen, dass ein Land wie<br />
Portugal energisch versucht, die illegale Einwanderung zu bekämpfen, aber<br />
anschließend Gefahr läuft, von einer Flutwelle illegaler Arbeiter beispielsweise<br />
aus der Ukraine überschwemmt zu werden, weil die deutsche Regierung ihnen<br />
auf unberechtigte Weise zu Touristenvisa verholfen hat?<br />
3. Unsere Union muss schließlich auch durch ihr Auftreten in den übrigen<br />
Teilen der Welt weitaus größere Kritik einstecken. Als Auslandssprecher im nationalen<br />
Parlament habe ich hautnah erfahren, wie tief unsere Gesellschaft bei der<br />
Frage über den Irakkrieg gespalten war. Was jedoch bei allen Diskussionen<br />
gewiss gleichermaßen auffiel, war, dass sowohl Befürworter als auch Gegner in<br />
einem Punkt einer Meinung waren: Durch die große Spaltung zwischen den<br />
Mitgliedstaaten hatte Europa kaum einen Einfluss auf den Verlauf der Dinge.<br />
Es ist höchste Zeit, dass die Europäische Union bei der Außenpolitik mit einer<br />
Stimme spricht. Dies wirkt sich nicht nur positiv auf die Glaubwürdigkeit der<br />
Union gegenüber ihren Bürgern aus, sondern bietet uns auch die Gelegenheit,<br />
entscheidenden Einfluss auszuüben. Dieser letzte Punkt ist von noch größerer<br />
Bedeutung, da wir als EU spezifische Qualitäten einzubringen haben. An dieser<br />
Stelle sollte man ebenfalls an die von mir erwähnte „soft power “ unserer Union<br />
denken. Besonders unsere Ausrichtung auf Kernpunkte wie Menschenrechte,<br />
Demokratie und Zivilgesellschaft in unserer Außenpolitik kann ihren Mehrwert<br />
beweisen.<br />
Dieser Fokus ist nicht nur in der Politik, die auf weit entfernte Länder gerichtet<br />
ist, wichtig. Namentlich auch die Einwohner von Nachbarländern der<br />
Europäischen Union, die noch nicht in völliger Freiheit und Demokratie leben,<br />
verdienen unsere Unterstützung. Immer wieder werden wir den Mut haben müssen,<br />
die Regierungen dieser Länder auf ihre Pflicht gegenüber ihren Bürgern<br />
97
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CAMIEL EURLINGS<br />
anzusprechen und bereitwillige Politiker dort kräftig zu unterstützen. Und wir<br />
werden dabei hauptsächlich aus gemeinsamen Motiven heraus handeln müssen.<br />
Auf der Grundlage eines konstruktiven Dialogs, bei dem die Interessen beider<br />
Seiten berücksichtigt werden, kann die Europäische Union nämlich einen Erfolg<br />
bei der Verbesserung der Menschenrechte zum Beispiel in Russland erzielen.<br />
Aber wenn im gleichen Augenblick einzelne EU-Mitgliedstaaten ihren eigenen Weg<br />
gehen, wie Bundeskanzler Schröder, der den russischen Präsidenten Putin mit den<br />
Worten empfängt „Ihr Land ist eine lupenreine Demokratie“, dann reichen die<br />
Anstrengungen Europas längst nicht für den optimalen Erfolg aus.<br />
Was für unsere Nachbarländer im Allgemeinen gilt, gilt mit noch größerem<br />
Nachdruck für die Länder, die die Absicht haben, irgendwann Mitglied der Union<br />
zu werden. Während die größte Herausforderung in der Zukunft in einer Vertiefung<br />
unserer Werteunion liegen sollte, wäre es nicht nur für die Einwohner der Türkei,<br />
sondern auch für die zukünftigen Kandidatenländer selbst schlecht, wenn sie<br />
nicht den Mut besäßen, an den Kopenhagen-Kriterien als nicht verhandelbaren<br />
Bedingungen für den Beitritt festzuhalten. Ferner könnte dadurch die<br />
Verwirklichung einer stärkeren und solideren Union selbst zu einer unrealisierbaren<br />
Utopie werden.<br />
Weiter in Europa zu investieren, bedeutet in uns selbst zu investieren<br />
Es ist unglaublich, was der Traum bedeutender Christdemokraten wie Schuman,<br />
Monnet, Adenauer und De Gasperi bewirkt hat. Dafür gebührt Ihnen Dankbarkeit.<br />
Gleichzeitig müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass Europa noch in weiter<br />
Ferne liegt. Derselbe Mut, den die Gründerväter hatten, als sie die ersten<br />
Schritte in Richtung einer Zusammenarbeit unternahmen, muss uns<br />
Christdemokraten heute dazu veranlassen, die erweiterte Union weiter zu stärken:<br />
sie stärker zu machen bei der Bewältigung grenzüberschreitender Herausforderungen;<br />
sie eindeutiger darzustellen bei ihrer Positionierung gegenüber dem Rest<br />
der Welt. Vor allem müssen wir mit diesen Taten gegenüber den Bürgern beweisen,<br />
dass Bundeskanzler Kohl Recht hatte. Er hielt den Mitgliedstaaten der EU vor<br />
Augen, dass Investitionen in Europa Investitionen in sie selbst und ihre eigenen<br />
Einwohner sind.<br />
Auf diese Weise können wir dafür sorgen, dass Europa nicht nur für die<br />
Bürger existiert, die Zeiten des Krieges und einen Mangel an Demokratie in<br />
Europa erlebt haben, sondern auch für die jüngeren Bürger, für die das Leben in<br />
der EU selbstverständlich erscheint. Denn nur, wenn die Europäische Union in<br />
den Herzen lebt, wird der Europäische Traum Wahrheit.<br />
Ich halte es für ein Privileg, aus dem Europäischen Parlament ein Scherflein<br />
dazu beizutragen. Ich bin stolz darauf, dies von einer Partei aus tun zu können,<br />
die den Grundstein für das heutige Europa gelegt hat.<br />
98<br />
September 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 99<br />
Jonathan EVANS<br />
Leiter der britischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament 2001-2004<br />
Europa im Jahr 2020:<br />
Die Wirtschaftliche Revolution ist vollendet<br />
Vor zwanzig Jahren war Europa ein geteilter Kontinent, der in zwei hochgerüstete<br />
gegnerische Blöcke gespalten war. Westeuropa war eine Gemeinschaft der<br />
freien Völker mit pluralistischen Demokratien und freien Märkten, in der Wohlstand<br />
herrschte. Osteuropa war eine vom kommunistischen Totalitarismus unterjochte<br />
Region mit marxistischen Kommandowirtschaften, in der relative Armut herrschte.<br />
Wie sehr hat sich die Welt doch in dieser verhältnismäßig kurzen geschichtlichen<br />
Zeitspanne verändert. Mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen beruht<br />
unser Kontinent heute weitgehend auf einer liberalen Demokratie, offenen<br />
Marktwirtschaften und relativem Wohlstand. Wir sind noch dabei, uns auf den<br />
Umfang und die Größenordnung des Wandels einzustellen. Die Wiedervereinigung<br />
Europas ist eines der großen politischen Ereignisse unserer Zeit, und das<br />
Wiederaufleben demokratischer Ideale in Mittel- und Osteuropa hat weltweit<br />
Zeichen gesetzt.<br />
Mit der Erweiterung der Europäischen Union um die ehemals kommunistischen<br />
Staaten Mittel- und Osteuropas hat sich ein von meiner Partei lange gehegter<br />
Wunsch erfüllt. In den kommenden Jahren werden wir die Frage erörtern und entscheiden,<br />
welche weitere Ausdehnung sich die EU vornehmen kann. Einige würden<br />
gern eine endgültige Grenze Europas unter Ausschluss der Türkei und anderen<br />
Ländern festlegen. Andere hingegen setzen sich nachdrücklich dafür ein, die<br />
EU-Außengrenzen auszudehnen, um Sicherheit und Stabilität zu stärken. Dies<br />
wird für das kommende Jahrzehnt und darüber hinaus einer der Schlüsselfaktoren<br />
für die Entwicklung der Union sein. Ich für meinen Teil sehe große Vorteile in<br />
einer Aufnahme der Balkanstaaten, der Türkei und der Ukraine. Diese Länder sind<br />
von maßgeblicher strategischer Bedeutung. Die Türkei strebt seit langem an,<br />
Mitglied der Europäischen Union zu werden, und die Ukraine entwickelt sich<br />
möglicherweise zu einem wichtigen Bindeglied in den Beziehungen zwischen der<br />
Europäischen Union und Russland.<br />
Die Festlegung der EU-Außengrenzen ist nur eine der großen Herausforderungen,<br />
denen sich Gesetzgeber und Politiker in den nächsten zwanzig Jahren<br />
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JONATHAN EVANS<br />
stellen müssen. Eine weitere Bewährungsprobe wird darin bestehen, abzustecken,<br />
wie die Europäische Union aussehen wird, der die Türkei und die Ukraine<br />
möglicherweise beitreten werden. Wird sie sich weiterhin zu der politischen<br />
Union entwickeln, auf die die Europäische Verfassung abzielt? Oder wird die<br />
Verfassung als historisches Artefakt, als Vermächtnis hochfliegender föderalistischer<br />
Ambitionen enden? Wenn diese Veröffentlichung in Druck geht, haben die<br />
Menschen Europas ihre Entscheidung über dieses Unterfangen noch nicht getroffen.<br />
Eines ist jedoch klar. Die Auseinandersetzung darüber, ob die EU zu einer<br />
politischen Union werden oder im Wesentlichen eine Partnerschaft von<br />
Nationalstaaten bleiben soll, wird nicht auf Großbritannien begrenzt bleiben. Ich<br />
bin stets der Ansicht gewesen, dass in einer Union von dreißig oder mehr<br />
Nationalstaaten dem Wunsch nach gemeinsamem Handeln als Ausgleich die<br />
Beibehaltung wesentlicher Elemente staatlicher Souveränität der Nationalstaaten<br />
entgegensetzt werden muss. Ob die Verfassung in ihrer heutigen Form der<br />
Angelpunkt für die langfristige Zukunft Europas sein wird, bleibt zu bezweifeln.<br />
Die Rolle der Europäischen Union auf der Weltbühne ist eine weitere wichtige<br />
Herausforderung, der wir uns in Zukunft zu stellen haben werden. Es gibt<br />
zwei Denkschulen, die – so befürchte ich – die Amtszeit von Präsident Bush<br />
lange überdauern werden. Der ersten zufolge ist es dringend erforderlich, dass<br />
Europa in zunehmendem Maße als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten<br />
agiert. Der Oberlehrer dieser speziellen Schule ist Frankreich, während das<br />
Vereinigte Königreich sowie einige der ost- und mitteleuropäischen Länder die<br />
Opposition zu den französischen Ambitionen anführen. Die britische Denkschule<br />
vertritt den Standpunkt, dass Europa nicht darauf hoffen kann, der Militärmacht<br />
der USA ebenbürtig zu werden, und dass die transatlantische Partnerschaft zutiefst<br />
im europäischen Interesse liegt. Ich bekenne mich schuldig, ein Absolvent der<br />
britischen Schule zu sein, und zwar nicht, weil ich glaube, die USA hätten das<br />
Recht, von Europa zu erwarten, dass es mit jedem Abenteuer, auf dass sie sich<br />
einlassen, konform geht. Vielmehr behalte ich die langfristigen Perspektiven der<br />
internationalen Beziehungen im Auge. In zwanzig Jahren werden sich in anderen<br />
Teilen der Welt neue strategische Bündnisse herausgebildet haben. China z.<br />
B. entwickelt sich nicht nur zu einem wirtschaftlichen Riesen, sondern auch zu<br />
einer militärischen Supermacht. Die Europäer und die Amerikaner werden einander<br />
brauchen, um die Stabilität auf ihren eigenen Kontinenten, aber auch in den<br />
Teilen der Welt zu stärken, in denen neue Bedrohungen für unsere Sicherheit entstehen<br />
werden.<br />
All diese Herausforderungen sind miteinander verwoben. Sicherheit und<br />
Stabilität auf dem europäischen Kontinent können nicht ohne ein politisches<br />
System, das der demokratischen Kontrolle unterliegt und Akzeptanz genießt,<br />
bzw. nicht ohne ein umfassenderes Bewusstsein dafür gefestigt werden, wie wir<br />
uns am besten über unserer Grenzen hinaus gegen Bedrohungen verteidigen<br />
können. Die Geschichte zeigt jedoch, dass der Schlüssel für die Art und Weise,<br />
wie sich Gesellschaften entwickeln, im wirtschaftlichen Bereich liegt. Wohlstand<br />
ist die Grundlage der Stabilität der Demokratie und der friedlichen Koexistenz zwi-<br />
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EUROPA IM JAHR 2020: DIE WIRTSCHAFTLICHE REVOLUTION IST VOLLEN<strong>DE</strong>T<br />
schen Staaten und Blöcken. Die Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion<br />
lag im Scheitern ihres Wirtschaftssystems. Auch der Fall der Berliner Mauer war<br />
ein Zeugnis für ein korruptes und ineffizientes Wirtschaftssystem, das Millionen<br />
Europäer zu relativer Armut verurteilte. Dagegen könnte der Vormarsch des chinesischen<br />
Wirtschaftswunders sehr wohl zu einer noch nicht voraussagbaren Art<br />
von politischer Reform führen. Es wird angenommen, dass der Zustand der<br />
Wirtschaft bei Wahlen stets eine ausschlaggebende Rolle spielt. Im Verlauf der<br />
Geschichte hat der wirtschaftliche Wandel oder die Forderung danach Revolutionen<br />
und politische Reformen ausgelöst. Im Kontext der Europäischen Union, so wie<br />
sie sich möglicherweise im Jahr 2020 darstellt, wird meines Erachtens die wirtschaftliche<br />
Leistungsfähigkeit des Kontinents maßgeblichen Einfluss darauf haben,<br />
in welcher Art von EU wir dann leben werden.<br />
Eine wirtschaftliche Revolution<br />
Für die britischen Konservativen liegt der große Nutzen des europäischen<br />
Experiments in der Aussicht auf Freihandel und wachsenden Wohlstand. Mit dem<br />
politischen Projekt tut sich unser nationales Bewusstsein jedoch schwerer.<br />
Ungeachtet der Skepsis meines Landes gegenüber den Vorteilen einer größeren<br />
politischen Union sind wir uns jedoch der Tatsache bewusst, dass Europa für das<br />
Vereinigte Königreich einen enormen wirtschaftlichen Nutzen haben kann. Auf die<br />
Probe gestellt wird dieses Bewusstsein in jüngster Zeit allerdings, wenn es in den<br />
Diskussionen der Politiker und sonstigen politischen Akteure um das Ausmaß<br />
des wirtschaftlichen Niedergangs Europas geht. Europa befindet sich in einer<br />
Phase des tief greifenden wirtschaftlichen Wandels. In vielen Ländern der ehemaligen<br />
EU-15 lässt sich die Herausforderung des wirtschaftlichen Wandels eher<br />
als Gefahr in den Köpfen der Menschen beschreiben. Die Politiker der Rechten<br />
und der Linken haben nach meinem Dafürhalten nach die „Sehprüfung“ nicht<br />
bestanden. In zu vielen Staaten Europas geht es vor allem darum, die wirtschaftliche<br />
und soziale Nachkriegsordnung im Sinne der kurzfristigen politischen<br />
Zweckmäßigkeit zu schützen.<br />
In den neuen Mitgliedstaaten hingegen wird das Tempo der Wirtschaftsreform,<br />
obwohl diese oftmals eine schmerzliche Erfahrung darstellt, weitgehend als Chance,<br />
ja als Notwendigkeit begriffen. Ihr Streben nach einer wettbewerbsfähigen<br />
Steuerpolitik, flexiblen Arbeitsmärkten, einer soliden mikroökonomischen Reform<br />
und offenen Märkten war eine Inspiration für diejenigen unter uns, die sich für die<br />
im Großbritannien der 1980er Jahre von den Konservativen auf den Weg gebrachte<br />
wirtschaftliche Revolution stark gemacht hatten. Die Lehre, die die westeuropäischen<br />
Länder von ihren Nachbarn lernen können, besteht darin, dass Halbheiten<br />
bei den Reformen lediglich den relativen Niedergang verlängern. Bekanntermaßen<br />
ist es zwar leicht, über Reformen zu reden, aber schwierig, sie umzusetzen.<br />
Viele von uns hatten gehofft, dass der Gipfel von Lissabon im Jahr 2000 einen<br />
Wendepunkt in der wirtschaftlichen Ausrichtung der EU darstellen würde. Damals<br />
war die Bühne dafür bereitet, ein neues Denken auf den Weg zu bringen und mit<br />
101
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JONATHAN EVANS<br />
althergebrachten Vorgehensweisen aufzuräumen. Das hatten wir zumindest<br />
geglaubt. Nach der Hälfte der Laufzeit des „Lissabonner Prozesses“ im Jahr 2005<br />
wurde schmerzlich klar, dass die wirtschaftliche Bilanz weit hinter den festgelegten<br />
Zielen zurückblieb. Mit seinem unstillbaren Drang nach Innovation und<br />
Flexibilität, der weit größer ist als auf dieser Seite des großen Teichs, konnte<br />
Amerika seinen Vorsprung vor den europäischen Volkswirtschaften halten.<br />
Unterdessen setzten China und Indien, die zusammen mehr als zwei Milliarden<br />
Einwohner haben, ihren phänomenalen Wirtschaftsaufschwung fort. Der größte<br />
Teil Europas verharrte in Stagnation und klammerte sich an die verzweifelte<br />
Hoffnung, sich weiterhin auf das vermeintlich bewährte wirtschaftliche Rezept verlassen<br />
zu können. Schließlich ging es uns ja nicht schlecht, oder?<br />
Europa befindet sich gegenüber anderen Wirtschaftsblöcken in einer prekären<br />
Lage. In der Nachkriegszeit wurde ein hohes und im Wesentlichen dauerhaftes<br />
Wirtschaftswachstum in den meisten europäischen Ländern als gegeben hingenommen.<br />
Der wachsende Wohlstand schien selbstverständlich zu sein. So<br />
hielten es viele für logisch, die Arbeitszeit zu verkürzen, den immer höheren<br />
Lebensstandard zu genießen, früh in Rente zu gehen, ohne sich über die Kosten<br />
dieser Privilegien übermäßig Sorgen zu machen. Aber die Dinge haben sich<br />
geändert, und die angenehmen Tage sind lange vorbei.<br />
Was hat sich geändert? Erstens haben die Länder von Asien bis Südamerika<br />
Reformen durchgeführt, die ihnen einen Konjunkturaufschwung ermöglichten, der<br />
vor nur 20 Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Wie bereits erwähnt, liegen China<br />
und Indien in Führung und treiben Wirtschaftsreformen in einer für den Zuschauer<br />
atemberaubenden Größenordnung voran. Sie sind zielstrebig bei ihren<br />
Innovationsbemühungen und rigoros beim Abbau von Bürokratismus, der die<br />
unternehmerische Initiative beeinträchtigt. Das Ergebnis ist ein Boom der<br />
Binneninvestitionen in einem nie dagewesenen Ausmaß. Unterdessen hat Europa<br />
gegenüber anderen Industrieländern an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt.<br />
Amerikanische und australische Unternehmen sind in Ländern mit flexibleren<br />
Arbeitsmärkten und einem unternehmerfreundlicheren Umfeld tätig als ihre europäischen<br />
Mitbewerber. Ich habe den Eindruck, dass die moderne Europäische<br />
Union von einer im Wesentlichen sozialdemokratischen Philosophie geprägt ist,<br />
die nach wie vor selbst in den Ansichten von politischen Parteien der rechten Mitte,<br />
nicht nur der Linken, fortbesteht. Kernstück dieser Philosophie ist die selbstgefällige<br />
Auffassung, dass das sozialdemokratische Europa ein „zivilisierterer“ Ort<br />
ist als der „Wilde Westen“ des amerikanischen Kapitalismus.<br />
Zweitens hat Europa zwar innovative Weltklasseunternehmen wie Nokia und<br />
Glaxo SmithKline aufzuweisen, aber allzu oft haben wir es nicht fertig gebracht,<br />
uns die technologischen Revolutionen voll und ganz zunutze zu machen. Es ist<br />
augenfällig, dass Europa Silicon Valley nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen<br />
hat, und dass die amerikanischen Universitäten bei allen Bewertungen<br />
Spitzenpositionen einnehmen. Indien hat die Gelegenheiten, die sich im Zuge der<br />
Revolution der elektronischen Kommunikation boten, mit einem Eifer ergriffen,<br />
den kaum jemand vorausgesagt hätte. Wir müssen unseren Einsatz jedoch nicht<br />
102
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EUROPA IM JAHR 2020: DIE WIRTSCHAFTLICHE REVOLUTION IST VOLLEN<strong>DE</strong>T<br />
nur in den neuen Branchen erhöhen: Im Bereich der Automobilherstellung z. B.<br />
erzielt Japan hervorragende Ergebnisse, und während Volkswagen und Fiat mit<br />
ihren Problemen zu kämpfen haben, steht Toyota bereit, General Motors als<br />
weltweit führendes Unternehmen zu überholen.<br />
Drittens hat sich die Überalterung beschleunigt. Dass wir länger leben, ist<br />
eine wunderbare Sache, aber wir sind jetzt schon soweit, dass wir genauso lange<br />
wirtschaftlich abhängig sind – während der Kindheit, der Ausbildung bzw. des<br />
Ruhestands – wie wir wirtschaftlich produktiv sind. Der moderne europäische<br />
Wohlfahrtsstaat wurde zu einer Zeit entworfen, in der man davon ausging, dass<br />
wir unser Rentnerdasein etwa zehn Jahre lang genießen. Jetzt aber dauert die<br />
Vollzeitausbildung länger, wir gehen früher in Rente – oftmals bereits im fünften<br />
Lebensjahrzehnt – und leben länger. Außerdem haben wir immer höhere<br />
Erwartungen an das Gesundheitssystem. Ohne Renten- und Gesundheitsreform<br />
müssen unsere Kinder für all dies aufkommen, aber leider bekommen wir ja<br />
nicht genug Kinder. Um die Reproduktion der Bevölkerung zu gewährleisten,<br />
müsste jede Familie im Durchschnitt 2,1 Kinder haben, aber in vielen europäischen<br />
Ländern ist dies nicht der Fall: So liegt die Geburtenrate in Spanien und in Italien<br />
eher zwischen 1,2 und 1,3 und beträgt im EU-Durchschnitt 1,4 bis 1,5.<br />
Was also zu tun? Erstens muss Europa die Wirtschaftreform mit dem Eifer des<br />
Bekehrten vorantreiben. Wenn eine realistische Aussicht dafür bestehen soll,<br />
dass das „Europa 2020“ die Wirtschaftsmacht ist, die es gern sein möchte, muss<br />
ein tiefgreifender und anhaltender Wandel im politischen Denken erfolgen. Die<br />
Debatte darüber, wie in diesem Bereich Fortschritte erzielt werden können, ist<br />
glücklicherweise bereits im Gange. Statt die Sache aber als spannende<br />
Herausforderung anzunehmen, wird sie nach wie vor eher als unangenehme<br />
Aufgabe betrachtet. In gewisser Weise erinnert die große Debatte über die<br />
Wirtschaftsreform, die europaweit stattfindet, an die Diskussionen im Vereinigten<br />
Königreich in den 1970er und 1980er Jahren, als der vermeintlich endgültige<br />
Niedergang Großbritanniens von einer visionären konservativen Regierung abgewendet<br />
wurde, die sich selbst das scheinbar unmögliche Ziel setzte, das Vereinigte<br />
Königreich wieder in die Reihe der weltweit führenden Wirtschaftsmächte aufrücken<br />
zu lassen. Heute jedoch, zwanzig Jahre nach dem Beginn der britischen<br />
Revolution, weist unsere Volkswirtschaft ein beständiges Wachstum auf, dessen<br />
Tempo über dem EU-Durchschnitt liegt. Die Erfahrungen Großbritanniens sowie<br />
Spaniens und der neuen Mitgliedstaaten sind übertragbar. Es gibt keinen<br />
Zauberstab, den man schwingen könnte, und keine unsichtbare Hand des Staates,<br />
die man zum Einsatz bringen könnte. Es erfordert politischen Mut, um nach dem<br />
Motto der Amerikaner „walk the walk, not just talk the talk“ zu handeln, statt nur<br />
zu reden.<br />
Zweitens müssen wir die Gelegenheiten der technologischen Innovation<br />
ergreifen, wenn sie sich bieten. Forschung und Entwicklung sind zu Recht das<br />
Kernstück der Lissabonner Agenda, und der hohe Bildungsstand unserer Bürger<br />
ist ein Vorzug, den wir entschlossener nutzen können und müssen. Es gilt unsere<br />
Forschungs- und Entwicklungsausgaben von derzeit zwei Prozent des BIP auf<br />
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JONATHAN EVANS<br />
etwa drei Prozent anzuheben und uns vor allem auf die Förderung kleiner innovativer<br />
Unternehmen zu konzentrieren, die der Motor für Wachstum und<br />
Beschäftigung in der Zukunft sein werden. Umgekehrt müssen wir das Bestreben<br />
aufgeben, Branchen zu schützen, in denen wir aufgrund der geringeren<br />
Arbeitskosten in den Entwicklungsländern niemals konkurrenzfähig sein werden,<br />
und wir müssen der Versuchung widerstehen, nicht lebensfähige<br />
Unternehmen mit staatlichen Beihilfen retten zu wollen.<br />
Schließlich gilt es unsere Wohlfahrtsstaaten zu reformieren. Dies wird eine<br />
gewaltige Aufgabe sein, wobei kein einzelnes Land ein Wissensmonopol darüber<br />
innehat, wie dieses Ziel am besten zu erreichen ist. Wenn wir nichts gegen<br />
die ausufernden Kosten unserer nicht reformierten Wohlfahrtssysteme unternehmen,<br />
so wird dies unvermeidlich zu einem wirtschaftlichen Desaster führen. Wir<br />
können die Auseinandersetzung mit diesem Problem nicht der nächsten<br />
Generation überlassen. Es sind nicht die Kosten des Wandels, nach denen wir fragen<br />
müssen, sondern die Kosten, die ohne einen solchen Wandel auf uns zukommen<br />
werden. Im letztgenannten Fall wird es unweigerlich zu einer wirtschaftlichen<br />
Kernschmelze kommen. Ganz oben auf der Liste der Prioritäten für die<br />
Regierungen der Mitgliedstaaten wird die Rentenreform stehen, insbesondere<br />
diejenigen Änderungen, die der Notwendigkeit Rechnung tragen, sich weniger<br />
auf den Staat und mehr auf private Rentensysteme zu verlassen. Darüber hinaus<br />
müssen wir auch erkennen, dass wir nur dann Wirtschaftswachstum erzielen<br />
und für unsere Renten, Gesundheits- und Sozialdienste aufkommen können,<br />
wenn wir entweder mehr Kinder bekommen oder bereit sind, mehr gut ausgebildete<br />
Wirtschaftsmigranten aufzunehmen.<br />
Manch einem mag das Bild, das ich von Europa 2006 zeichne, allzu niederschmetternd,<br />
düster und beängstigend erscheinen. Meine These basiert jedoch<br />
nicht auf irgendeiner wissenschaftlichen Abhandlung, sondern auf dem, was<br />
heute in Westeuropa weitgehend Realität ist. Um die Stimmung etwas aufzuhellen,<br />
möchte ich meine Darstellung mit einer optimistischen Einschätzung dessen<br />
ergänzen, was wir gut machen. Es gibt insbesondere drei Bereiche, in denen<br />
wir der Zukunft hoffnungsvoll entgegensehen können.<br />
Mitte des 19. Jahrhunderts forderte der große amerikanische Zeitungsherausgeber<br />
und Politiker Horace Greeley einen Mitbürger auf: „Go west, young man,<br />
and grow up with the country “. Wenn ich die Zukunft Europas betrachte, dann<br />
schaue ich in zunehmendem Maße auf die neuesten EU-Mitgliedstaaten und<br />
darauf, was sie zu bieten haben. Heute würde Greeley wahrscheinlich sagen:<br />
„Go east.“<br />
Der Teil der Europäischen Union, der das höchste Wachstumstempo aufweist,<br />
ist Mitteleuropa, und wenn dies auch zum Teil zwangsläufig darauf zurückzuführen<br />
ist, dass es den neuen Mitgliedstaaten schlechter geht und dass sie einiges aufzuholen<br />
haben, müssen wir ihnen ihr innovatives wirtschaftliches Denken und<br />
ihre Kühnheit bei der Annahme neuer Strategien hoch anrechten. Und sie sind<br />
in keinem Bereich so kühn wie in der Steuerpolitik.<br />
Zu lange schon hemmen einige europäische Länder die Wirtschaftstätigkeit<br />
104
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EUROPA IM JAHR 2020: DIE WIRTSCHAFTLICHE REVOLUTION IST VOLLEN<strong>DE</strong>T<br />
durch hohe Einkommens- und Körperschaftsteuern. Statt aus den von Reagan<br />
und Thatcher durchgeführten Reformen zu lernen, klagen viele darüber, dass die<br />
niedrigen Steuern in vielen der neuen Mitgliedstaaten auf einen unlauteren<br />
Wettbewerb hinauslaufen und zu so genanntem „Sozialdumping“ führen würden.<br />
Das beste und mutigste Beispiel bietet die Slowakei, die ein außerordentlich<br />
einfaches Steuersystem einführte: Der Körperschaftsteuer-, Einkommensteuerund<br />
Mehrwertsteuersatz beträgt 19 Prozent, und es gibt ab dem Zeitpunkt seiner<br />
Einführung keinerlei Ausnahmen. Die Slowakei wurde durch ein hohes Niveau<br />
der Binneninvestitionen und – allen gegenteiligen Vorhersagen zum Trotz – höhere<br />
Steuereinnahmen belohnt. Andere mitteleuropäische Staaten folgen ihrem<br />
Beispiel, und ich freue mich sagen zu können, dass einige der etablierteren<br />
Mitgliedstaaten es zu Kenntnis nehmen. Österreich hat unter der Führung von<br />
Wolfgang Schüssel mit der Absenkung seines Körperschaftsteuersatzes von 34 %<br />
auf 25 % reagiert, um mit dem Nachbarland konkurrieren zu können. Ich vertrete<br />
nicht unbedingt die Ansicht, dass Pauschalsteuern für alle Volkswirtschaften<br />
Europas die richtige Antwort sind. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass die<br />
neuen Mitgliedstaaten die Europäische Union dazu bringen werden, ihre Steuern<br />
zu senken und einfachere Steuersysteme einzuführen, die wir brauchen, um<br />
weltweit konkurrenzfähig zu sein.<br />
Der zweite Grund zum Optimismus ist für mich der Binnenmarkt. Dieser ist<br />
keinesfalls vollendet, war aber bis jetzt ein außerordentlicher Erfolg. Als<br />
Großbritannien 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitrat, wurde<br />
streng kontrolliert, wie viel Geld jemand ins Ausland mitnehmen durfte, und<br />
welche Lufttransportgesellschaft eine bestimmte Strecke bedienen durfte. Jetzt<br />
können sich Kapital und Waren frei zwischen den Mitgliedstaaten bewegen, und<br />
bei den Billigfluggesellschaften ist ein erstaunliches Wachstum zu verzeichnen.<br />
Der Binnenmarkt wird sich – auch im Bereich des Warenverkehrs – weiterentwickeln,<br />
ist aber für die europäischen Unternehmen und Verbraucher schon<br />
jetzt von enormem Wert. Nunmehr besteht unsere Aufgabe darin, für seine<br />
Ausweitung, insbesondere auf den Dienstleistungssektor, zur sorgen, auf den<br />
etwa zwei Drittel der Wirtschaftstätigkeit der EU entfallen. Es wird trotz des<br />
Erfolgs des Binnenmarktes sehr schwer sein, diese zweite Phase umzusetzen, ist<br />
aber unbedingt erforderlich, wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen.<br />
Schließlich ist auch mein Glaube daran, dass die jetzige Kommission die<br />
reformfreudigste ist, die wir je hatten, ein Grund zum Optimismus. Bei der<br />
Darlegung ihrer strategischen Ziele für 2005-2009 erklärte sie, dass es ihr vorrangiges<br />
Anliegen sei, Europa wieder auf den Weg des Wohlstands zu bringen,<br />
und stellte fest, dass Wachstum und Arbeitsplätze an erster Stelle stehen. Dem stimme<br />
ich von ganzem Herzen zu, und ich bin besonders erfreut darüber, dass José<br />
Manuel Barroso in den wichtigsten Bereichen wie Wettbewerb, Binnenmarkt<br />
und Landwirtschaft reformorientierte Personen in die Kommission berufen hat.<br />
Sie verdienen unsere uneingeschränkte Unterstützung, wenn wir bis 2020 ein<br />
Europa mit einer wettbewerbsfähigen, nachhaltigen und dynamischen Wirtschaft<br />
aufbauen wollen.<br />
105
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 106<br />
Fazit<br />
JONATHAN EVANS<br />
Es gibt viele Themen, auf die ich in diesem Artikel hätte eingehen können.<br />
So zum Beispiel die Frage, ob es 2020 überhaupt noch eine Europäische Union<br />
geben wird, und wenn ja, ob sie der britischen <strong>Vision</strong> einer Partnerschaft von<br />
Nationalstaaten oder einem mächtigen föderalen Koloss entsprechen wird, der die<br />
Macht der USA herausfordert. Ich hätte die geografische Reichweite der<br />
Europäischen Union und ihre Fähigkeit erörtern können, sich die Vielfalt in<br />
Gestalt der Türkei, Nordafrikas oder der Länder des östlichen Mittemeerraums zu<br />
eigen zu machen. Es wäre auch interessant gewesen, Überlegungen über die<br />
Frage anzustellen, ob die EU eine neue strategische, politische und wirtschaftliche<br />
Beziehung zu Russland aufbauen wird, oder über die Aussichten eines<br />
Europas, das Amerika als Weltpolizist herausfordert. Es gibt unendlich viele wichtige<br />
Themen, die ich im Zusammenhang mit meinen Überlegungen über die<br />
Zukunft unseres Kontinents hätte untersuchen können.<br />
Im Kontext dieser Veröffentlichung habe ich mich jedoch dafür entschieden,<br />
Gedanken über die wirtschaftliche Zukunft der Länder und Völker Europas<br />
zusammenzutragen. Viele wird es nicht überraschen, dass sich die Briten lieber<br />
mit der Praxis als mit der Theorie, lieber mit scheinbar nüchternen Aspekten als<br />
mit großartigen Programmen befassen. Ich entschuldige mich nicht für mein<br />
Thema oder dafür, dass ich meinen Standpunkt so vehement vertrete. Mir scheint,<br />
dass es unabhängig davon, ob jemand ein europäischer Idealist ist, der der<br />
Zukunft und der Aussicht auf ein Vereinigtes Europa sehnsüchtig entgegenblickt,<br />
oder jemand wie ich, der einfach nur möchte, dass die EU als Partnerschaft von<br />
Nationalstaaten Erfolg hat, ein Konsens darüber bestehen sollte, dass die nächste<br />
Generation von Europäern in Wohlstand leben muss. Allzu oft schauen wir in<br />
unserem politischen Diskurs nicht bis zum Horizont, sondern sehen alles durch<br />
das Prisma der nächsten allgemeinen Wahlen. Ich bin im Herzen, was Europa<br />
betrifft, ein Optimist, aber mein Optimismus ist durch die Besorgnis getrübt, dass<br />
wir zu oft von einer Verfassungserneuerung und -reform abgelenkt werden.<br />
Wenn wir uns nicht dafür einsetzen, eine Wirtschaftsreform, wie ich sie beschrieben<br />
habe, umzusetzen, wird Europa nicht in der Weise prosperieren, wie wir<br />
dies alle möchten. Mögen die Früchte dieser Revolution das wahre Vermächtnis<br />
sein, das wir den kommenden Generationen von Europäern hinterlassen.<br />
106<br />
März 2005
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Europa – ein Erfolg<br />
Benita FERRERO-WALDNER<br />
Mitglied der Europäischen Kommission<br />
Europa als globaler Partner<br />
Eine klare <strong>Vision</strong>, nämlich die friedliche Einigung Europas, stand an der Basis<br />
unseres erfolgreichen Integrationsprojektes. Auf den Trümmern zweier kontinentaler<br />
Bürgerkriege entwickelten die Gründerväter unserer Union ein revolutionäres<br />
Modell: Das Friedensprojekt der Integration, das durch die Erweiterung<br />
von 2004 auf fast ganz Europa ausgedehnt wurde.<br />
Wer <strong>Vision</strong>en für das Europa im Jahre 2020 entwickeln will, tut gut daran,<br />
diese Fundamente des gemeinsamen europäischen Hauses zu betrachten. Die<br />
Europäische Union ist und bleibt das feste Rückgrat, aus dem Europa seine<br />
politische Stärke bezieht. Sie ist mehr als die bloße Summe ihrer Teile. Die<br />
Union hilft uns, gemeinsame grenzüberschreitende Probleme zu lösen. Sie hat<br />
Europas Wohlstand massiv gestärkt. Die Schaffung der politischen Union, die<br />
Vervollkommnung des Binnenmarktes, die wirtschaftliche Stabilität durch den<br />
Euro und nicht zuletzt die jüngste Erweiterung, all dies formt eine eindrucksvolle<br />
Bilanz.<br />
Die EU ist als politisches Projekt somit unverändert relevant. Europa hat seinen<br />
Traum in nur wenigen Jahrzehnten verwirklicht. Um Europa aber für die<br />
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu wappnen, seine internationale<br />
Strahlkraft zu erhöhen und um zu verhindern, dass die Integration an der<br />
Selbstverständlichkeit des Erreichten kränkelt, müssen wir den „Mythos Europa“<br />
revitalisieren. Europavisionen für 2020 sind unser einigender Traum, ja die Basis<br />
unserer politischen Identität. Solche <strong>Vision</strong>en zu skizzieren, ist daher kein politischer<br />
Luxus, sondern absolut notwendig.<br />
Gemeinsam stärker – nach innen und außen<br />
Europa muss sich vor allem drei miteinander zusammenhängenden<br />
107
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Grundfragen widmen: Erstens müssen, nicht zuletzt mit Hilfe der neuen EU-<br />
Verfassung, die Demokratie und Legitimität des Integrationsprozesses gestärkt<br />
werden. Wir müssen das Paradoxon überwinden, dass das „grenzenlose Europa“<br />
einerseits historische Erfolge feiert, andererseits aber viele Bürger das Gefühl<br />
haben, dass Europa nicht auf dem richtigen Weg sei.<br />
Zweitens müssen Europas Wirtschaft und seine Sozialsysteme durch massive<br />
Strukturreformen fit für das 21. Jahrhundert gemacht werden. Europas Wohlstand<br />
kann nur Bestand haben, wenn wir sein enormes Potential besser nützen, dauerhaftes<br />
Wachstum schaffen und die kreativen und intellektuellen Ressourcen<br />
Europas effizienter zum Ausbau einer Wissensgesellschaft verwenden.<br />
Drittens muss Europas internationale Rolle stark ausgebaut werden, um unserer<br />
globalen Verantwortung noch besser gerecht zu werden und unsere Interessen<br />
international einzubringen. Dies hängt auch mit den beiden obigen<br />
Herausforderungen, Demokratie und Wirtschaftsreformen, zusammen. Eine starke<br />
europäische Außenpolitik ist in einer zunehmend vernetzten Welt, in der die<br />
Bedeutung von Grenzen stetig abnimmt, unabdingbar, um Wohlstand und Sicherheit<br />
für zukünftige Generationen zu sichern und dadurch Europas Legitimität zu stärken.<br />
Innen- und Außenpolitik hängen eng zusammen. Europa muss sich als globaler<br />
Spieler verstehen und die Globalisierung noch aktiver als bisher mitgestalten.<br />
Das ist nicht nur Teil unserer internationalen Verantwortung, sondern folgt auch<br />
aus aufgeklärtem Eigeninteresse: Wir müssen Stabilität exportieren, um nicht selbst<br />
auf Dauer Instabilität zu importieren. Sich abzuschotten wäre fatal. Meine <strong>Vision</strong><br />
ist die eines Europas, das auch weiterhin als starker und verantwortungsvoller<br />
Akteur die internationalen Beziehungen maßgeblich mitbestimmt.<br />
Europa – ein globaler Akteur<br />
BENITA FERRERO-WALDNER<br />
Die Union der 25 ist bereits ein globaler Faktor. Wir sind mit dem größten<br />
Bruttonationalprodukt und einer gemeinsamen Währung der größte<br />
Wirtschaftsblock der Welt. Wir tragen mit unseren weltweiten Netzwerken zu<br />
Sicherheit und Reformen bei. Wir sind der weitaus größte Geber von Wirtschaftsund<br />
Entwicklungshilfe. Wir engagieren uns einer Vielzahl von Krisenmanagementoperationen.<br />
Vor allem haben Europa und die Ideen, auf denen es fußt, allen<br />
voran Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft, eine enorme<br />
globale Anziehungskraft. Das geeinte Europa ist daher eindeutig ein gestaltendes<br />
Subjekt der internationalen Politik.<br />
Die Stärkung und Weiterentwicklung dieser internationalen Rolle ist meine<br />
Hauptaufgabe als EU-Kommissarin für Außenbeziehungen und Europäische<br />
Nachbarschaftspolitik. Wir müssen unser breites Instrumentarium noch rascher<br />
und effizienter einsetzen. Europa muss sein Potential nützen. Im Lichte neuer<br />
Herausforderungen besteht ein klarer politischer Imperativ für europäisches<br />
Handeln. Dies ist kein Plädoyer für den Aufbau einer europäischen „Supermacht“.<br />
Europa will kein globales „Imperium“ schaffen. Das Gewicht Europas ermög-<br />
108
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EUROPA ALS GLOBALER PARTNER<br />
licht uns aber, einen wichtigen Beitrag zur internationalen Kooperation zu<br />
leisten.<br />
Mehrere Grundphänomene werden die außenpolitische Landschaft bis 2020<br />
wesentlich beeinflussen. Erstens sehen wir international vermehrt den Zerfall<br />
staatlicher Strukturen, d.h. ein „Scheitern“ von Staaten, die dann als Inkubatoren<br />
regionale Unsicherheit erzeugen. Diese Instabilität wirkt sich auch auf Europa<br />
aus – politisch, wirtschaftlich, humanitär und ökologisch. Es ist daher essentiell,<br />
schwache und rechtlose Gebiete durch aktives „State Building“ zu reformieren.<br />
Der beste langfristige Schutz unserer Sicherheit sind die Demokratisierung von<br />
Krisenregionen und die Schaffung wirtschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten.<br />
Gerade hier kann die EU entscheidenden Mehrwert liefern. Es ist eine realistische<br />
<strong>Vision</strong>, dass Europa in Zukunft noch effizienter als bisher als „Exporteur von<br />
Stabilität“ fungiert, in seiner unmittelbaren Nachbarschaft und weltweit.<br />
Eine zweite spezifische Herausforderung ist der neue Terrorismus, der sich<br />
auch gegen Europas offene Gesellschaften und universelle Grundwerte richtet.<br />
Der Terrorismus ist in seiner Substanz eine radikale Gegenbewegung zu einer<br />
beschleunigten gesellschaftlichen Modernisierung. Wir brauchen deshalb eine<br />
intelligente Verbindung von entschlossenem Handeln und sanftem Einfluss, von<br />
„hard power “ und „soft power “, um die Wurzeln dieser Gefahr anzupacken.<br />
Gleichzeitig dürfen wir uns nicht die Logik eines „Kampfes der Kulturen“ aufzwingen<br />
lassen – gerade das ist ja ein Ziel des Terrorismus. Wir müssen dem<br />
Terror die Grundwerte der Demokratie, der Menschenrechte und der Toleranz<br />
entgegensetzen. Europa kann hier mit seinen Instrumenten und seiner außenpolitischen<br />
Strahlkraft wichtigen Einfluss ausüben. Unsere Grundfreiheiten werden<br />
auch in der Epoche bis 2020 und weit darüber hinaus ein weltweites Signal der<br />
Hoffnung bleiben.<br />
Zuletzt müssen wir noch stärker als bisher die Globalisierung gestalten und<br />
uns vor allem den Problemen an der „dunklen Seite der Globalisierung“ widmen.<br />
Wirtschaftliche Krisen, strukturelle Armut in einzelnen Regionen, die<br />
Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, Auseinandersetzungen um<br />
Rohstoffreserven, das internationale organisierte Verbrechen, massive Migration,<br />
Krankheiten und Epidemien, all das sind Faktoren, die sowohl schreckliche<br />
humanitäre Folgen in den betroffenen Regionen als auch einen längerfristigen<br />
Einfluss auf Europas Sicherheit und Wohlstand haben. Sich diesen Problemen<br />
aktiv zu stellen, ist daher nicht nur eine Frage internationaler Solidarität, sondern<br />
auch ein politischer Imperativ für Europa.<br />
Europa hantiert deshalb einen weiten Sicherheitsbegriff, der die menschliche<br />
Sicherheit ins Zentrum rückt und der seit langem ein Leitmotiv meiner politischen<br />
<strong>Vision</strong> und konkreten Arbeit ist. Wir müssen vor allem die Risiken in den<br />
Griff bekommen, die aus Verletzungen der Freiheit und Würde des Individuums<br />
entstehen. Ich meine hier vor allem die Zerstörung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher<br />
Strukturen und das daraus folgende Aufflammen regionaler Konflikte, die<br />
Rolle von Kindersoldaten, die organisierte Kriminalität und insbesondere das<br />
109
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schreckliche Phänomen des Menschenhandels. All diese Probleme zeigen, dass<br />
Sicherheitspolitik oft im Kleinen ansetzen muss, um langfristig zu wirken.<br />
Multilateralismus und Partnerschaft<br />
BENITA FERRERO-WALDNER<br />
Die Antwort auf die neue internationale Komplexität kann keine Serie von<br />
Alleingängen sein – wir brauchen langfristige Kooperation. Wir müssen all diesen<br />
Fragen eine umfassende internationale Ordnung entgegenstellen. Europa<br />
vertritt daher ein bestimmtes Modell der internationalen Beziehungen, nämlich<br />
einen effektiven Multilateralismus. Das ist unsere konkrete <strong>Vision</strong> für das<br />
Grundgerüst der internationalen Politik. Europa arbeitet an einer Ordnung, die<br />
auf geteilten Prinzipien und Kooperation beruht und allen Staaten, die ihre<br />
Grundsätze akzeptieren, eine Teilhabe am globalen System gibt. Die Chance der<br />
Globalisierung besteht daher nicht in völliger Regellosigkeit, sondern gerade<br />
darin, die Rahmenordnung der globalen Freiheit zu gestalten. Dafür brauchen wir<br />
eine Reform der multilateralen Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen.<br />
Nur multilaterale Zusammenarbeit kann jenes Maß an politischer Legitimität vermitteln,<br />
das für effizientes Handeln nötig ist. In diesem Zusammenhang muss<br />
man angesichts ihrer wachsenden außenpolitischen Bedeutung auch über einen<br />
speziellen Sitz der EU im Sicherheitsrat nachdenken.<br />
Diese außenpolitische Haltung ist auch das Produkt unserer eigenen europäischen<br />
Erfahrung. Die EU beweist täglich, dass sich intensive Kooperation lohnt.<br />
Souveränität, Zusammenarbeit und Integration sind kein Gegensatzpaar. Wer<br />
seine Interessen umsetzen will, der muss gemeinsam handeln.<br />
Effektiver Multilateralismus kann nur dann wirklich funktionieren, wenn er auf<br />
einer starken transatlantischen Partnerschaft beruht. Die Beziehungen Europas<br />
zu den Vereinigten Staaten sind eine zentrale Achse der neuen Weltordnung. Es<br />
ist klar, dass die globalen Probleme nur dann wirksam gelöst werden können wenn<br />
die USA und Europa an einem Strang ziehen. Man darf nicht vergessen, dass<br />
diese Beziehung die weltweit stärkste, umfassendste und strategisch wichtigste<br />
Allianz ist. Sie beruht auf einem geteilten Wertefundament und gemeinsamen<br />
Interessen. Die Diskussionen der letzten Jahre haben daher die Bedeutung dieser<br />
Partnerschaft nicht dauerhaft angetastet. Europa und die USA stehen eindeutig<br />
für Sicherheit, Stabilität und Demokratie. Eine außenpolitische <strong>Vision</strong> für das<br />
nächste Jahrzehnt muss auf dieser strategischen Achse aufbauen.<br />
Die transatlantische Partnerschaft kann aber nur effizient funktionieren, wenn<br />
sie auf zwei stabilen Pfeilern ruht. Wir brauchen auch in diesem Zusammenhang<br />
nicht „weniger“, sondern „mehr Europa“. Kritik an den USA, egal wie berechtigt<br />
sie sein mag, ist an sich kein Ersatz für eine Stärkung der europäischen<br />
Außenpolitik. Daher haben wir in den letzten Monaten unsere Allianz weiter<br />
gestärkt und mit der neuen amerikanischen Regierung eine detaillierte<br />
Zukunftsagenda formuliert, die es nun umzusetzen gilt.<br />
110
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EUROPA ALS GLOBALER PARTNER<br />
Eine verstärkte Zusammenarbeit mit den USA ist vor allem im Mittleren Osten<br />
essentiell. Diese Region wird in den Jahren bis 2020 eine globale strategische<br />
Bedeutung besitzen. Hilfe zu ihrer strukturellen Modernisierung zu leisten, ist<br />
daher absolut entscheidend. Die EU fördert seit Jahren mit Hilfe wirtschaftlicher<br />
Anreize und regionaler Integration Stabilität und Reformen. Wir tragen damit zur<br />
Umsetzung der <strong>Vision</strong> einer stabilen und prosperierenden Region bei. Ganz konkret<br />
gilt es, die neue Dynamik im Nahost-Friedensprozess nützen. Wir müssen auf<br />
der neuen Dynamik im Friedensprozess aufbauen und Fortschritte entlang der<br />
„Road Map“ machen. Im Irak gilt es, auf dem positiven Ablauf der Wahlen und<br />
der Bestellung der Regierung aufzubauen. Ein stabiler, demokratischer Irak ist ganz<br />
klar in unserem Interesse, weshalb die EU auch großzügige Demokratisierungsund<br />
Wirtschaftshilfe leistet.<br />
Generell bieten Europas breit gefächerten Instrumente eine effiziente Antwort<br />
auf die sich verändernden Parameter internationaler Politik. Es gibt wenige<br />
Akteure, die über ein so breites Arsenal verfügen. So sind der globalisierte Handel,<br />
die Versorgungssicherheit im Energiebereich, die Bekämpfung grenzüberschreitender<br />
Kriminalität oder die Problematik des Klimawechsels allesamt Fragen mit<br />
einer außenpolitischen Dimension. Die EU ist in all diesen Feldern präsent und<br />
spricht weitgehend mit einer Stimme. Dadurch gelingt es uns, unsere internen<br />
Stärken nach außen zu projizieren. Die Europäische Kommission leistet hier mit<br />
ihrer langen Erfahrung einen wichtigen Beitrag.<br />
Wie erfolgreich diese Strategie der sektoriellen Außenpolitik ist, zeigt etwa die<br />
Rolle der EU im Welthandel oder bei der Umsetzung des Kyoto-Protokolls. Der<br />
intelligente Einsatz dieser Politiken ist daher mitentscheidend für den Erfolg der<br />
EU-Außenbeziehungen. Ihre externe Dimension zu akzentuieren und diese<br />
Instrumente noch besser zu koordinieren ist ein wichtiges Anliegen für mich als<br />
EU-Außenkommissarin. Ich werde Europas Diplomatie mit diesen neuen<br />
Dimensionen anreichern, was für die Lösung interdependenter internationaler<br />
Fragen äußerst relevant ist.<br />
Der wohl erfolgreichste Einsatz dieses breiten Instrumentariums war und ist<br />
der EU-Erweiterungsprozess. Die EU hat mit der Erweiterung einen historischen<br />
Erfolg gefeiert. Die Gravitationskraft der EU hat eine umfassende Modernisierung<br />
der neuen Mitgliedsstaaten möglich gemacht und so Europas Ordnung dauerhaft<br />
verändert. Die Erweiterung katapultiert die EU in eine neue Dimension, vor<br />
allem in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. In diesem Sinne führt sie auch<br />
keineswegs zum Entstehen neuer interner Bruchlinien zwischen einem „alten“ und<br />
einem „neuen“ Europa. Es gibt nur ein neues, starkes Europa.<br />
Die Ausdehnung der europäischen Friedenszone und die Projektion von<br />
Stabilität, Demokratie und Wohlstand zu unseren neuen Nachbarn betreiben wir<br />
im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Unser strategisches Ziel ist<br />
es, einen „Ring von Freunden“ rund um die Europäische Union zu schaffen, von<br />
Osteuropa durch den Kaukasus und den Nahen Osten quer durch den<br />
Mittelmeerraum. Wir bieten unseren Partnern in diesen Regionen eine ehrgeizi-<br />
111
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 112<br />
ge und maßgeschneiderte Perspektive, die im Rahmen von Aktionsplänen umgesetzt<br />
wird. Diese reichen von einem verstärkten politischen Dialog über die<br />
Zusammenarbeit in Justiz-, Energie- und Umweltfragen bis hin zur der graduellen<br />
Integration der betroffenen Länder in den EU-Binnenmarkt. Kurzum, es geht<br />
hier um ein substantielles Angebot, mit dem unsere Beziehungen stark vertieft werden<br />
können.<br />
Der erfolgreiche Aufbau einer “post-modernen” Friedensordnung in Europa<br />
selbst soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa im konkreten<br />
Krisenmanagement eindeutigen Aufholbedarf hat. Die Kommission hat daher<br />
Lehren aus der tragischen Flutkatastrophe in Südasien gezogen und Maßnahmen<br />
zur Stärkung des europäischen Krisenmanagements vorgeschlagen, darunter den<br />
Ausbau des gemeinsamen Zivilschutzes durch ein flexibles, rasch abrufbares<br />
„Baukastensystem“ von Beiträgen unserer Mitgliedsstaaten. Dazu kommt natürlich<br />
der Ausbau des militärischen Krisenmanagements im Rahmen der<br />
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das ist ein wichtiger Teil<br />
unseres politischen Instrumentariums. Gleichzeitig ist aber klar, dass militärische<br />
Instrumente allein den heutigen komplexen Krisen bei weitem nicht gerecht<br />
werden können.<br />
Der neue EU-Verfassungsvertrag wird der internationalen Rolle der Union<br />
einen weiteren Schub verleihen. Die darin festgelegte wechselseitige<br />
Beistandspflicht ist ein klares Bekenntnis zur politischen Solidarität und zum<br />
geeinten Auftreten Europas. Der Aufbau eines gemeinsamen auswärtigen Dienstes<br />
der EU, der auch auf der Expertise der Kommission aufbaut, wird die Effizienz<br />
und Sichtbarkeit der Union weiter erhöhen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten<br />
sind weltweit präsent. Jetzt gilt es, unsere Positionen noch klarer zu vertreten<br />
und Synergien zu nützen.<br />
Diese institutionellen Verbesserungen sind wichtig. Sie alleine sind aber nicht<br />
ausreichend. Europa muss den politischen Willen zu raschem und geeintem<br />
Handeln aufbringen. Europa muss das klare Selbstverständnis eines globalen<br />
Akteurs entwickeln, um weiterhin erfolgreich zu sein. Wir brauchen mehr Mut zur<br />
internationalen Verantwortungu<br />
Europa – unser gemeinsamer Auftrag<br />
BENITA FERRERO-WALDNER<br />
Das Projekt Europa bleibt somit im 21. Jahrhundert essentiell. Europa kann nur<br />
Bestand haben, wenn es sich den Herausforderungen eines zusehends grenzenlosen<br />
Zeitalters mutig stellt. Eine gemeinsame Außenpolitik ist dafür unabdingbar.<br />
Sie bezieht eine besondere Stärke aus der Vielfalt und Offenheit Europas. Wir<br />
wären schlecht beraten, uns über unsere „Grenzen“ gegenüber anderen zu definieren.<br />
Dieses Fundament gemeinsamer politischer Prinzipien und Überzeugungen,<br />
allen voran der Toleranz, müssen wir weiter akzentuieren, um die<br />
Identitätsbasis Europas zu stärken.<br />
112
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 113<br />
EUROPA ALS GLOBALER PARTNER<br />
Meine <strong>Vision</strong> ist die eines friedlichen, in Vielfalt geeinten Europas, das seine<br />
inneren Stärken nach außen projiziert. Europa ist eine globale Zivilmacht mit<br />
einer beinahe magnetischen Anziehungskraft. Um den Politologen Jeremy Rifkin<br />
zu zitieren: „Die Welt blickt auf dieses großartige transnationale Regierungsexperiment<br />
der EU und hofft, von dort Orientierungshilfen für die Menschheit in einer<br />
globalisierten Welt zu finden. Der europäische Traum gewinnt für eine Generation,<br />
die global vernetzt und zugleich lokal eingebunden ist, zunehmend an<br />
Attraktivität.“<br />
Ich bin daher zuversichtlich, dass Europa noch stärker als bisher die neue<br />
Weltordnung aktiv und partnerschaftlich mitgestalten wird. Wir haben das politische<br />
Gewicht und die geeigneten Instrumente dazu. Europa kann einen entscheidenden<br />
Beitrag leisten, indem es Frieden, Demokratie und Wohlstand nach außen<br />
projiziert und mit der nötigen Entschlossenheit gegen die Gefahren unserer Zeit<br />
auftritt. Es ist jetzt an uns, den klaren politischen Willen dafür aufzubringen. Das<br />
21. Jahrhundert kann ein europäisches sein, wenn wir es nur wollen. Das ist<br />
unsere Herausforderung – und unsere politische Aufgabe.<br />
113<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 114<br />
114
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 115<br />
Ján FIGEL’<br />
Mitglied der Europäischen Kommission<br />
Europa – Raum der Hoffnung<br />
Jeder von uns braucht und sucht Hoffnung in seinem Leben. Ein Leben ohne<br />
Hoffnung verliert seinen Sinn und wird unerträglich. Was wir brauchen, ist eine<br />
wahrhafte, nicht von Illusionen geprägte Hoffnung.<br />
Ohne den maßgebenden und unersetzlichen Beitrag des Christentums wäre<br />
Europa nicht das, was es heute ist. Als Quelle des Glaubens, aber auch der<br />
Bildung und Kultur stellt das Christentum eines der innersten und grundlegendsten<br />
Fundamente der europäischen Zivilisation dar. Das Erbe des alten Griechenland<br />
und des alten Rom reichte nicht aus, um die Ordnung und den Fortschritt der<br />
Völker Europas aufrecht zu erhalten. Vielmehr war es die Achtung der Würde<br />
jedes Menschen, die auf dem Wege der von Christentum und Humanismus inspirierten<br />
und kultivierten Freiheit, Gleichheit und Solidarität den Idealen der<br />
Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit Sinn und Richtung verlieh.<br />
Die Weigerung Europas in der Vergangenheit, sich von dieser Inspiration leiten<br />
zu lassen, führte zu Weltkriegen, totalitären Ideologien und Diktaturen. Von<br />
Europa aus verbreiteten sich diese über die ganze Welt. Gulags, Konzentrationslager,<br />
Gaskammern – all das sind europäische „Erfindungen“. Sie machen den<br />
schändlichen Teil der Geschichte der Menschheit aus.<br />
Da sich Europa jedoch auf sein geistiges Erbe besann, ist es gelungen, nicht<br />
nur eine Aussöhnung, sondern auch eine Verknüpfung der strategischen Interessen<br />
seiner Staaten in einer Friedensgemeinschaft herbeizuführen. Trotz aller Mängel<br />
und berechtigter Kritik gab und gibt diese Gemeinschaft Europa und der ganzen<br />
Welt neue Hoffnung.<br />
Eine Einigung lässt sich nicht auf Geld, Märkte und Geografie aufbauen. Sie<br />
kann nur aus gemeinsamen Werten erwachsen. Daher ist Europa mehr ein politisch-kulturelles<br />
als ein wirtschaftlich-geografisches Phänomen. Es ist eine historische<br />
Tatsache, das die einigenden Werte der europäischen Völker zuallererst<br />
durch die jüdisch-christliche Tradition geprägt wurden. Nicht abgeschieden, nicht<br />
isoliert, sondern offen und im Zusammenwirken mit anderen Quellen der europäischen<br />
Kultur.<br />
115
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 116<br />
JÁN FIGEL’<br />
Die wesentliche Frucht der Einheit von Menschen und Nationen sind Humanität<br />
und Solidarität. Immer wenn wir bei uns einen Verfall von Humanität und Solidarität<br />
beobachten, handelt es sich um ein Anzeichen dafür, dass die Einheit oder ihre<br />
Fundamente bröckeln. Wahre Einheit ist also nicht nur die Hoffnung Europas,<br />
sondern der ganzen Welt. Anders als in der Vergangenheit stellt die europäische<br />
Einheit einen Raum zum Wohle aller, einen von Recht und Gesetz und nicht von<br />
Gewalt bestimmten Kontinent dar. Die Europäische Union als institutioneller<br />
Ausdruck der Staatengemeinschaft kann direkt oder indirekt einen wesentlich<br />
größeren Einfluss auf Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit in internationalen<br />
Beziehungen ausüben. Sie kann sich und der ganzen Welt neue Hoffnung<br />
bringen: die Hoffnung auf besser gestaltete und gerechtere Bedingungen. Ist sie<br />
in einigen Fragen nicht erfolgreich, liegt der Fehler nicht in der Idee, sondern in<br />
der Unreife von Politikern, im Eigennutz der Mitgliedstaaten oder in der ungenügenden<br />
Vorbereitung der Institutionen.<br />
Der Stand der Europäischen Integration<br />
Der Stand der Europäischen Integration lässt sich, so scheint es, am Verhältnis<br />
zwischen der Hoffnung einerseits und den Sorgen bzw. Befürchtungen andererseits<br />
bestimmen.<br />
Die ursprüngliche Sechsergemeinschaft ist nunmehr auf 25 Mitgliedstaaten,<br />
also die Mehrheit des Kontinents, angewachsen und umfasst mehr als 450 Millionen<br />
Bewohner. Werfen wir einmal einen genaueren Blick auf den Zustand unserer<br />
Gemeinschaft:<br />
— Die EU ist der größte solvente Markt der Welt, aber nicht ihr produktivster<br />
Markt.<br />
— Von allen globalen Akteuren ist die EU der größte Geber von<br />
Entwicklungshilfe für arme Länder, doch mit dem umfassenden System zum<br />
Schutz des Agrarmarktes wird ein großer Teil dieser Hilfe zunichte gemacht.<br />
— Die EU-Mitgliedstaaten verfügen über große militärische Kapazitäten, aber<br />
nur über eine begrenzte militärische Einsatzfähigkeit. Bei militärischen<br />
Krisensituationen in ihrer Nähe (Balkan, Naher Osten, Afrika) war und blieb die<br />
Europäische Union mehr unbeteiligter Zuschauer als Agent der Entwicklung oder<br />
notwendiger Friedensbringer.<br />
— Das einzige direkt gewählte internationale Parlament – das Europäische<br />
Parlament – besteht seit 25 Jahren, doch die Wahlbeteiligung der Bürger ist im<br />
gesamten Zeitraum ständig zurückgegangen. Und die Erweiterung der<br />
Mitgliedstaaten und des Umfangs der Union haben die Kluft zwischen ihren<br />
Institutionen und Bürgern noch weiter vertieft. Es scheint, als ob die „Eurosklerose“<br />
der achtziger Jahre allmählich von einer „Euroapathie“ abgelöst worden ist.<br />
Prüfstein für dieses Verhältnis ist jetzt der Ratifizierungsprozess für den EU-<br />
Verfassungsvertrag.<br />
— Die Europäische Union insgesamt floriert, doch liegt die Arbeitslosigkeit bei<br />
116
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 117<br />
über 9 %. Das Wirtschaftswachstum der EU über einen Zeitraum von zehn Jahren<br />
ist spürbar geringer als das ihrer wichtigsten Wettbewerber.<br />
— Die Union beschränkt einerseits den großen Migrantenstrom aus EU-<br />
Drittstaaten, andererseits besteht das Problem der Abwanderung von hoch qualifizierten<br />
Fachkräften aus Europa.<br />
— Solidarität ist in den verschiedensten Bereichen immer seltener anzutreffen.<br />
Dennoch gelingt es derzeit vielen Menschen in Europa einzeln und gemeinsam,<br />
im Gefolge der Naturkatastrophe in Südostasien vom Dezember 2004 eine<br />
Solidarität an den Tag zu legen, die die anderer Teile der Welt weit in den Schatten<br />
stellt.<br />
— Und es gibt ein weiteres sehr ernstes Langzeitproblem: Europa wird eindeutig<br />
immer älter; die Anzahl der Europäer geht zurück, und selbst der Anteil<br />
Europas an der Weltbevölkerung nimmt rapide ab.<br />
Trotz alledem ist die Attraktivität der Europäischen Union unverkennbar. Viele<br />
Nachbarländer sind an einem Beitritt oder an einer engeren Zusammenarbeit interessiert.<br />
Die Präsidenten und Regierungen der USA, Kanadas, Russlands,<br />
Lateinamerikas, Chinas, Indiens, Japans und anderer Länder konferieren mit der EU<br />
auf höchster Ebene. Dem Beispiel Europas folgend, will eine Reihe von Ländern<br />
eine Afrikanische Union bilden. Die gemeinsame Währung – der Euro – wird in<br />
der ganzen Welt zu einem weit verbreiteten und geachteten Zahlungsmittel.<br />
Kann man aber ungeachtet der Mängel und Misserfolge die Europäische<br />
Integration als gescheitert bezeichnen? Haben wir eine bessere Alternative? Ich<br />
bin davon überzeugt, dass es sich mit der Europäischen Integration wie mit der<br />
Demokratie verhält. Die Demokratie ist nicht das Ideale, uns fällt jedoch nichts<br />
besseres ein. Demokratie ist die Regelung nationaler, regionaler oder lokaler<br />
Angelegenheiten durch das Volk und für das Volk; Integration ist die demokratische<br />
Regelung europäischer Angelegenheiten, die von ähnlichen Eigenschaften<br />
geprägt sein kann und muss.<br />
Die Frage „Quo vadis, Europa? “ („Wohin, Europa?“) ist somit für die Europäer<br />
und für die gesamte Welt von entscheidender Bedeutung.<br />
Die Zukunft Europas<br />
EUROPA – RAUM <strong>DE</strong>R HOFFNUNG<br />
Die ausschlaggebenden Faktoren für die Zukunft eines geeinten Europas sind<br />
(1) das Bewusstsein um die Zusammengehörigkeit seiner Bürger und Nationen<br />
und (2) das Bewusstsein um seine gemeinsame Verantwortung für die Entwicklung<br />
auf dem europäischen Kontinent und in der Welt.<br />
Den Grundstein der Integration bilden die gemeinsamen Werte, die universell<br />
sind und vom Wesen des Menschen und der Menschheit herrühren. Eckpfeiler dieser<br />
Grundlagen ist die Würde des Lebens eines jeden Menschen und die allgemeine<br />
Brüderlichkeit unter den Menschen, wie sie so klar und überzeugend in der<br />
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen gefordert<br />
werden. Unsere persönliche Chance und gemeinsame Aufgabe besteht darin,<br />
117
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 118<br />
JÁN FIGEL’<br />
diese Grundwerte, auf deren Basis eine solche Einheit möglich und notwendig ist,<br />
mit Leben zu erfüllen und zu hegen.<br />
In den verschiedensten Bereichen – Wirtschaft, Sicherheit, Politik und Umwelt –<br />
ist zudem eine immer stärkere wechselseitige Abhängigkeit der Staaten zu verzeichnen.<br />
Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind durch ein immer breiteres<br />
Spektrum gemeinsamer Interessen aneinander gebunden. Es hilft nichts und<br />
niemandem, wenn man diese Tatsache unterschätzt oder wider alle Vernunft verleugnet.<br />
Meines Erachtens hängt die Zukunft Europas in erster Linie von Bildung und<br />
Kultur ab. Im Dezember 2004 erklärte der Präsident der Europäischen Kommission,<br />
José Manuel Barroso, völlig zu Recht: „In der Wertehierarchie rangiert die Kultur<br />
vor der Wirtschaft. Die Wirtschaft ist lebensnotwendig, doch erst die Kultur macht<br />
das Leben lebenswert.“ Diese Ansicht teile ich voll und ganz. Bei der wahren<br />
Kultur geht es um die „Seele für Europa“, wie sie ein Vorgänger von Herrn Barroso,<br />
Jacques Delors, forderte. Denn was wäre ein Mensch ohne Seele?<br />
Ziel und Inhalt von Kultur ist die Würde des Menschen. Kultur entspringt den<br />
Anschauungen der Menschen. Sie sucht, erfasst und zeigt all das auf, was die<br />
Menschen als wichtig, schön und gut betrachten. Und daher findet die Kultur<br />
ihren grundlegenden Ausdruck in der Art und Weise, wie Menschen zusammenleben<br />
– als Individuen in der Familie, in der Gesellschaft und in der Welt. Staaten,<br />
die ihre Bildung und Kultur hegen und pflegen, blühen auf. Staaten, die ihre<br />
Bücher verbrannt und Universitäten geschlossen haben, waren auf dem Weg in<br />
finstere Zeiten.<br />
Francis Fukuyamas Szenario vom „Ende der Geschichte“ ist nach 1989 nicht<br />
eingetreten, obwohl sich die Welt radikal verändert hat. Es gibt mehr Freiheit; 22<br />
neue Staaten sind in Europa gegründet worden. Aber es gab auch neue<br />
Massengräber, Völkermord, Grausamkeiten. Viele fürchten einen „Krieg der<br />
Kulturen“.<br />
Ich bin überzeugt, dass ein derartiger Zusammenprall der Kulturen verhindert<br />
werden kann und muss. Hier kann Europa seine historische Rolle spielen. Wir<br />
müssen daher Kraft schöpfen aus unserem Erbe und reif sein für die Verantwortung,<br />
Entwicklungen in der Welt zu beeinflussen. Angefangen mit unseren Nachbarn bis<br />
hin zu den Beziehungen im breiteren internationalen Maßstab zu den USA, zur<br />
Russischen Föderation, zu Japan, China und anderen Ländern verfügt die EU<br />
über alle Voraussetzungen, um im 21. Jahrhundert eine bedeutende positive Rolle<br />
zu spielen. Das wird weder einfach noch leicht sein. Aber welche gewichtige,<br />
langfristige Frage in der Geschichte der Menschheit war schon jemals einfach<br />
oder leicht?<br />
Ich muss an dieser Stelle an die am häufigsten zitierte Zielsetzung der EU<br />
erinnern: „die Union bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten<br />
Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Dabei handelt es sich nicht<br />
nur um ein ehrgeiziges, sondern auch um ein notwendiges Ziel. Allerdings ist es<br />
derzeit offenkundig, dass wir dieses Ziel keinesfalls erreichen werden, wenn wir<br />
118
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 119<br />
EUROPA – RAUM <strong>DE</strong>R HOFFNUNG<br />
unsere Reformbemühungen nicht erheblich verstärken und beschleunigen. Von<br />
politischem Wert ist es bereits, wenn wir uns unsere Schwächen vor Augen führen<br />
und uns ernsthaft bemühen, sie abzustellen. Eine der wichtigsten<br />
Voraussetzungen für das Erreichen dieses Zieles besteht darin, mehr und effektiver<br />
in Wissen zu investieren, und zwar<br />
1. in die Schaffung von Wissen – durch Wissenschaft, Forschung und<br />
Entwicklung;<br />
2. in die Verbreitung von Wissen – durch allgemeine und berufliche Ausbildung;<br />
3. in die Anwendung von Wissen – durch Innovation und neue Technologien.<br />
Europa sollte sich mehr auf ein hohes als auf ein durchschnittliches Niveau orientieren.<br />
Wir müssen die Qualität von Studium, Aufbaustudium und<br />
Lehrerausbildung verbessern. Wir müssen einen europäischen Raum der<br />
Ausbildung zur Mobilität schaffen, indem wir die Bildungssysteme kompatibel<br />
gestalten und ein System der Anerkennung von Bildungsabschlüssen aufbauen.<br />
Das strategische Ziel für die kommenden Jahre besteht darin, talentierte Leute<br />
für ein Studium in Europa zu gewinnen und ein Europa des Wissens zu errichten.<br />
Auf diese Weise können wir die Wettbewerbsfähigkeit und die soziale und<br />
umweltpolitische Verantwortlichkeit, die wir brauchen, am besten erreichen.<br />
Europa hat schon zahlreiche und folgenschwere Experimente hinter sich. Es<br />
muss daher seine eigene Geschichte aufmerksam und konsequent studieren. Die<br />
Ablehnung universeller Werte, der Verlust des geistigen Gedächtnisses und ethischer<br />
Relativismus haben stets der Menschenwürde geschadet und hatten Gewalt<br />
und Krieg zur Folge.<br />
Wie immer in der Geschichte des Menschen und der menschlichen<br />
Beziehungen befinden wir uns auch heute inmitten eines Kampfes um die Werte,<br />
auf deren Grundlage Europa und die Welt funktionieren können. Wir sind Zeuge<br />
widersprüchlicher Tendenzen auf unserem Kontinent, der nach Hoffnung strebt,<br />
dessen Bevölkerung allerdings schwindet. So können wir einerseits eine starke<br />
Zunahme der Erscheinungsformen und Instrumente einer Kultur der Gewalt und<br />
des Todes, des religiösen Nihilismus, des moralischen und rechtlichen Relativismus<br />
beobachten. Andererseits gibt es ein sichtbares und bewundernswertes Streben<br />
nach einer Kultur des Lebens, einer Kultur der Solidarität mit der Menschheit und<br />
der Welt, einer Kultur der Verantwortung.<br />
Die alten und die neuen EU-Mitgliedstaaten tragen zu gleichen Teilen<br />
Verantwortung für die Zukunft Europas. Bei der Erweiterung handelt es sich<br />
eigentlich um die Europaisierung der Union. Die Vereinigung Berlins und<br />
Deutschlands war notwendig und richtig, und das gilt auf jeden Fall ebenso für<br />
das einstmals geteilte Europa. Politische und wirtschaftliche Verbindungen wachsen<br />
relativ schnell. Sehr schwierig ist es jedoch, geistige und kulturelle Mauern einzureißen.<br />
So wie die deutsche Einigung war auch die Vereinigung Europas durch<br />
die Niederlage und die Ablehnung des Kommunismus möglich geworden.<br />
Bedauerlicherweise haben wir in Europa keinen ausreichenden politischen und<br />
moralischen Konsens darüber erzielt, diese Periode ebenso einhellig zu verur-<br />
119
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 120<br />
JÁN FIGEL’<br />
teilen wie den Faschismus bzw. Nazismus. Es wäre falsch, wenn die Staaten des<br />
ehemaligen Sowjetblocks Kommunismus durch Konsumdenken ersetzen. Ebenso<br />
bedauerlich wäre es, wenn sie vom Zwangskollektivismus zu ungezügeltem<br />
Individualismus übergingen. Wir können nicht ohne ernste Konsequenzen den verwerflichen<br />
Utopismus von der „Gerechtigkeit ohne Freiheit“ durch „Freiheit ohne<br />
Gerechtigkeit“ auswechseln.<br />
Die Erweiterung der Union im Jahr 2004 war großen Ausmaßes, historisch<br />
und auf einmalige Weise kompliziert. Sie ist jedoch Teil eines Prozesses, der noch<br />
nicht an seinem Ende angelangt ist. Trotz aller Schwierigkeiten war das europäische<br />
Aufbauwerk offen und muss auch offen bleiben. Bulgarien und Rumänien<br />
sind bereits auf dem Weg, und Kroatien sowie die Türkei warten auf die Aufnahme<br />
von Verhandlungen. Auch andere Länder klopfen an unsere Tür. Sie alle suchen<br />
bessere Bedingungen für ihre Entwicklung, für eine bessere Zukunft. Doch alle<br />
müssen sich auch an die Verbrechen und das Unrecht der Vergangenheit erinnern,<br />
wenn sie durch wirkliche Versöhnung zu der Erkenntnis gelangen wollen, (1)<br />
dass die Europäische Integration zu Hause beginnt, im eigenen Umfeld, mit der<br />
unmissverständlichen Anerkennung der Grundsätze und Werte, auf denen ein<br />
vereintes Europa aufbaut, (2) dass die Europäische Integration durch freundschaftliche<br />
Beziehungen der Zusammenarbeit mit den Nachbarn erwächst und (3)<br />
dass es bei der Europäischen Integration um die Fähigkeit geht, einen Beitrag<br />
zur Gemeinschaft zu leisten, indem man die Interessen, Ziele und<br />
Verantwortlichkeiten für die Entwicklung im In- und Ausland teilt.<br />
Die Menschheit kann ohne Hoffnung nicht leben. Wer die Hoffnung in sich<br />
am Leben hält, steht in seiner Gesellschaft und Zeit für den Aufbruch einer<br />
Generation und nicht für deren Ende.<br />
Das geeinte Europa ist zum Ausdruck der Hoffnung geworden, zu einem<br />
Raum der Hoffnung, durch die Anstrengungen der Generationen, die Träger dieser<br />
Hoffnung sind. Jedes Jahr im Mai begehen wir den Schuman-Tag – den<br />
Europa-Tag. Warum verehren die Nationen noch Jahrzehnte später ihre<br />
Gründungsväter? Weil die Früchte ihrer Arbeit für ihre „Kinder“, für die kommenden<br />
Generationen gesund und nahrhaft sind. Wir brauchen solche Vorbilder in der<br />
Politik. Wir brauchen Menschen, die väterlich, generationsorientiert denken, nicht<br />
populistisch oder überpragmatisch, nicht kurzsichtig, nicht ohne klare, langfristige<br />
<strong>Vision</strong>en, nicht ohne Blick für das Gemeinwohl. Ein Kind zeigt Achtung<br />
gegenüber seinen Eltern am besten, indem es ihrem Beispiel, ihren Anregungen<br />
folgt. Tradition heißt nicht, die Asche bewahren, sondern das Feuer schüren und<br />
weitertragen, das Quelle von Licht und Wärme ist. Wir alle, ungeachtet unserer<br />
Berufung, können und müssen unsere lebendige Hoffnung dafür verwenden,<br />
Ideen anzubieten, Solidarität zu zeigen und die Lebenskraft des geeinten Europa<br />
zu stärken.<br />
120<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 121<br />
Vasco GRAÇA MOURA<br />
Mitglied der portugiesischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Die neue Dynamik Europas<br />
Als die junge und schöne Europa von dem als Stier verkleideten Zeus entführt<br />
worden war, sandte ihr Vater Agenor, wie die Mythologie zu berichten<br />
weiß, seinen Sohn Kadmos in Begleitung seiner Brüder aus, sie zu suchen.<br />
An einem Wendepunkt seines Weges tötete Kadmos in Theben einen<br />
Drachen und säte auf Anraten Athenes dessen Zähne in den Boden aus. Diese<br />
wurden zu Menschen, die sich grausam gegenseitig umbrachten.<br />
Daher vergleicht Luís de Camões in Die Lusiaden, in denen er die chronische<br />
Zwietracht der Christenheit geißelt, die europäischen „armen Christen<br />
mit den einst von Kadmos gesäten Drachenzähnen“.<br />
Überträgt man dieses Bild aus dem Reich der Mythen in die Wirklichkeit,<br />
so entstand daraus im Laufe der Jahrtausende der „ständige Bürgerkrieg“, auf<br />
den sich Fustel de Coulanges in seiner Charakterisierung Europas bezog.<br />
In der Tat scheint erst vor etwa fünfzig Jahren eine friedliche und gedeihliche<br />
Lösung gefunden worden zu sein, die die europäischen Völker endgültig<br />
von der Geißel des Krieges und seiner Schrecken befreien sollte.<br />
Dem Grundsatz des Konflikts folgte mithin der Grundsatz der Eintracht.<br />
Auch in der Mythologie heiratete schließlich Kadmos, der die Zähne der<br />
Zwietracht ausgesät hatte, die Göttin Harmonie...<br />
In den ersten vier der fünf Jahrzehnte seit der Grundsteinlegung für das<br />
Fundament der Gemeinschaft war Europa jedoch noch durch den Eisernen<br />
Vorhang geteilt. Auf westlicher Seite standen die modernen repräsentativen<br />
und pluralistischen Demokratien, während sich auf der anderen, der östlichen<br />
Seite der Trennlinie eine beträchtliche Anzahl von Ländern befand, die durch<br />
sowjetischen Druck ihrer Freiheit beraubt waren.<br />
121
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 122<br />
VASCO GRAÇA MOURA<br />
Außerdem musste man in der ersten Hälfte dieser Zeitspanne bis 1974-1975<br />
auf das Ende der autoritären Regimes in Portugal, Griechenland und Spanien<br />
warten.<br />
Das Europa, das wir heute die Europäische Union nennen, hat demnach für<br />
seine Entwicklung und die allmähliche Übereinstimmung seiner politischen<br />
mit der zivilisatorischen Gestalt lange gebraucht.<br />
Im Laufe der verschiedenen Etappen dieses langen Prozesses wurde es<br />
nach der Vorstellung von einem Westeuropa gestaltet, das noch heute Norwegen<br />
und die Schweiz nicht einbezieht und aus dem auch die gerade vor wenigen<br />
Tagen beigetretenen Länder und viele weitere, die auf eine Beitrittschance<br />
warten, ausgeschlossen waren.<br />
Die Erweiterung ist für die europäische Zivilisation und Kultur enorm wichtig.<br />
Der Fall des Eisernen Vorhangs beendete die Trennung, schuf aber nicht per<br />
se die Einheit.<br />
Er öffnete ihr den Weg.<br />
Er machte es möglich, dass viele von anderen beherrschte Völker, deren<br />
nationale Identität in der Vergangenheit unterdrückt wurde, erste Schritte unternehmen,<br />
um den benachbarten Raum der Freiheit, Entwicklung und des<br />
Wohlergehens zu betreten.<br />
Nun beruht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Einheit<br />
der europäischen Völker nicht auf einem hegemonialen Zwang „von oben<br />
nach unten”, wie es bei verschiedenen Spielarten des Imperialismus traurigen<br />
Andenkens der Fall war, sondern geschieht „von unten nach oben”, aus dem<br />
freiem, bewusstem und demokratischem Willen dieser Völker heraus.<br />
Die von dem neuen Europa ausgehende Dynamik wird eine unvorhersehbare<br />
Ausstrahlung haben.<br />
Noch stellt die Antwort auf die Frage nach ihren künftigen Grenzen eine<br />
Unbekannte dar.<br />
Man denke nur an Kandidaturen wie die der Türkei oder auch – wer weiß? –<br />
Marokkos und anderer Länder am Südrand des Mittelmeers.<br />
Die griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Wurzeln Europas werden<br />
sich in unterschiedlicher Weise mit anderen, beispielsweise muslimischen<br />
Wurzeln verbinden.<br />
Die Entwicklung der ethnischen Struktur nationaler Gesellschaften in der<br />
Europäischen Union selbst und auch die geostrategischen Bedingungen und<br />
Widersprüche werden in einer globalisierten, ständig in Veränderung begriffenen<br />
Welt ein entscheidendes Wort mitzureden haben.<br />
Doch wie Fernando Gil und Paulo Tunhas kürzlich in einem höchst wichtigen<br />
Aufsatz scharfsinnig schrieben, „sind es weder spezielle Merkmale des<br />
Westens noch die Religion und ihre Haltung gegenüber dem Leben [...], noch<br />
die Philosophie, noch das Recht, noch die Wissenschaft, noch die Technik.<br />
Jedoch scheint die Dynamik der die Formen des Geistes und des Lebens<br />
122
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 123<br />
DIE NEUE DYNAMIK EUROPAS<br />
begünstigenden Intervention typisch westlich zu sein. Und damit auch das<br />
Reflektieren über sich selbst, das seit dem Zeitalter der Entdeckungen zugenommen<br />
hat. Intervention und Reflexionen sind die bestimmenden Prinzipien des<br />
Handelns. Außerdem ist der Westen auch ein im Komplex Rechte, Gerechtigkeit,<br />
Demokratie, Liberalismus verdichteter Zweck bzw. eine Berufung”.<br />
Europa als ein noch immer in ständigem geopolitischem Aufbau befindlicher<br />
Kontinent wurde so zu einem spannenden Gegenstand des Dialogs, der<br />
Entdeckung und der Intervention.<br />
Darüber hinaus war es, wie Denis de Rougemont sagte, seiner<br />
Globalisierungsfunktion wegen ein „entscheidendes Abenteuer für die gesamte<br />
Menschheit”.<br />
Diese Aspekte können nicht genug hervorgehoben werden; sie dienen für<br />
einige der Erbauung und lösen für andere verschiedene bedrückende<br />
Befürchtungen aus.<br />
Aus den von den Europäern getroffenen Entscheidungen werden sich höchst<br />
wichtige Konsequenzen für die Bürger, den Frieden, die Freiheit, die nachhaltige<br />
Entwicklung, die Lebensqualität, kurz, für die Einbindung ihrer künftigen<br />
politischen Gestalt in die Welt ergeben.<br />
Zu den größten Fragen, die sich am Horizont abzeichnen und ganz klassisch<br />
mit dem Rechtsstaat, der Achtung der Menschenrechte, der Entwicklung, mit<br />
sozialer Gerechtigkeit, der Vielfalt der Kulturen und Sprachen, dem Pluralismus<br />
und demokratischer Toleranz zu tun haben in einem Modell, das wir – et pour<br />
cause ! – repräsentativ und westlich-europäisch nennen, kommen die Frage<br />
nach der Verteilung der Macht und der Befugnisse in einem so breit gefächerten<br />
Gesamtgefüge aus Nationalstaaten, die Frage nach der Eindämmung von<br />
Streitigkeiten und die Frage nach der Bekämpfung der internationalen Krise<br />
hinzu, die in der Arbeitslosigkeit eine ihrer negativsten und unmenschlichsten<br />
Ausdrucksformen gefunden hat. Und zuletzt kamen noch sehr dringliche<br />
Sicherheits- und Verteidigungsfragen dazu, insbesondere im Zusammenhang mit<br />
der Verteidigung gegen fundamentalistischen Terrorismus.<br />
Diese Frage steht zunehmend an erster Stelle und wird auch auf die<br />
Beantwortung aller anderen Auswirkungen haben.<br />
Doch überlassen wir es den politisch Verantwortlichen auf höchster Ebene<br />
und den Spezialisten auf diesem Gebiet, Lösungsvorschläge zu unterbreiten und<br />
die strategisch und operativ notwendigen speziellen Instrumente zu finden.<br />
Zur Zivilisation und Kultur lässt sich sagen, dass die Stärke Europas paradoxerweise<br />
seine Hauptschwäche ist und dass es diese Schwäche zu seiner<br />
Hauptstärke machen muss.<br />
Demokratie mit ihren Attributen wie Freiheit, Pluralismus, Toleranz und<br />
Achtung der Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten bedeutet zweifellos<br />
auch, dass demokratische Gesellschaften größeren Gefahren vonseiten<br />
ihrer Feinde ausgesetzt sind.<br />
123
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 124<br />
VASCO GRAÇA MOURA<br />
So wie der Leninismus, der Stalinismus, der Trotzkismus und der Nazismus<br />
geht auch der islamische Fundamentalismus von Positionen tiefsten Hasses<br />
gegen die westliche Demokratie aus, die auf deren Zerstörung durch den<br />
Einsatz der ihm eigenen Instrumente und Kräfte setzen.<br />
Mehr noch als philosophische und weltanschauliche Standpunkte sind das<br />
zynische pragmatische instrumentalisierte Positionen, für die der Zweck die<br />
Mittel heiligt.<br />
Sie scharen Legionen fanatischer Anhänger um sich und bilden sie aus.<br />
Sie verteilen sie auf einsatzbereite Zellen in einem Untergrundnetz neuen<br />
Typs.<br />
Sie zielen auf die Eroberung der totalen Macht über gewalttätige Aktionen<br />
im Namen einer Ethik und Ästhetik des Todes, vor allem aber durch die massenhafte<br />
wahllose Ermordung unschuldiger Opfer aus der Zivilbevölkerung.<br />
Es geschieht nicht selten, dass in westlichen Gesellschaften jemand versucht,<br />
diese Tatsache mit verzerrten Darstellungen und intellektuellen<br />
Kunstgriffen zwar nicht insgesamt, aber doch im Prinzip zu rechtfertigen.<br />
Lang und beeindruckend ist das deprimierende Register dieser Fälle.<br />
Das ist jedoch ein demokratisches Verhängnis: Einige Henkersknechte in<br />
der Geschichte des 20. Jahrhunderts haben im Laufe der Zeit Sympathien<br />
geweckt, es gab intellektuelle Episteln zur Rechtfertigung und eine mehr oder<br />
weniger ostentative Propaganda unter dem Deckmantel der freien<br />
Meinungsäußerung, der Versammlungsfreiheit und des freien Rechts auf politisches<br />
Engagement, die in den von ihnen verteidigten totalitären Regimes niemals<br />
zugelassen würden.<br />
Wenn wir uns an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern, müssen wir<br />
an die Beziehung Europas zu den Vereinigten Staaten denken, an die wichtige<br />
Wertschätzung der transatlantischen Dimension und der Zugehörigkeit zur<br />
NATO, und nun auch an die eindeutige Haltung der zehn Erweiterungsländer<br />
dazu, denn diese Aspekte stellen die Union, ohne normale kritische Positionen<br />
aus Gründen der eigenen Sichtweise eines jeden Mitgliedslandes zu verhindern,<br />
vor eine doppelte und wesentliche Herausforderung: die Herausbildung<br />
einer geostrategischen Komplementarität mit Nordamerika unter Bewahrung der<br />
gemeinsamen demokratischen Werte und die Entwicklung der<br />
Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA zur Behauptung des europäischen<br />
Kontinents in der Welt.<br />
Auf dieser Grundlage muss die Demokratie, auch wenn anderer, möglichst<br />
wirksamer Verteidigungsmechanismen nicht enthoben ist – und wie<br />
sehr braucht sie diese! – ihre strukturierende Kraft aus ihrer „Schwäche” entstehen<br />
lassen, die sie totalitären Gefahren und der Gefahr der Vernichtung aussetzt.<br />
Sie kann nicht verleugnen, was sie ist.<br />
Weil Demokratie so ist.<br />
124
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 125<br />
DIE NEUE DYNAMIK EUROPAS<br />
Weil sie ein höherer Ausdruck der menschlichen Vernunft und Existenz ist,<br />
die gegen rohe Gewalt, Unvernunft und Ungleichheit aufsteht.<br />
Weil sie einer langen Entwicklung der Menschheitsgeschichte entspringt,<br />
einem schwierigen Verlauf von Fortschritten beim Erringen der Freiheit im<br />
Allgemeinen und konkreter Freiheiten im Besonderen, und am besten kann sie<br />
über die Vertiefung dieser Merkmale verteidigt werden.<br />
Je humanistischer, offener, freier, pluralistischer und toleranter die westliche<br />
Welt als solche ist, umso besser kann sie die vor ihr stehenden<br />
Herausforderungen meistern und sich gegen Totalitarismus und fundamentalistischen<br />
Fanatismus behaupten.<br />
Aufgrund seiner geografischen Lage und Geschichte, durch dynastische<br />
und militärische Bündnisse, durch Sprache und Religion, die universitäre<br />
Tradition und seine Vorreiterrolle bei den Entdeckungen, bei denen sich europäische<br />
und mediterrane Kenntnisse miteinander verwoben, durch seine kulturelle,<br />
literarische und künstlerische Tradition, durch die Gesamtheit der<br />
zutiefst von ihm geprägten Bezugspunkte und internationalen Beziehungen<br />
war Portugal stets ein europäisches Land.<br />
Die Stabilität seiner Grenzen macht Portugal zum ältesten Land Europas.<br />
Gleichzeitig schöpft es aus seiner historischen Tradition das unschätzbare<br />
Kapital, das wahrscheinlich weltoffenste Land in Europa zu sein.<br />
Es bleibt ein europäisches Land durch alles, was es seit seinem Beitritt zur<br />
Europäischen Gemeinschaft geleistet hat, durch sein Engagement in den<br />
Institutionen und seinen Beitrag für die Zukunft der Union.<br />
Es ist auch ein europäisches Land durch sein Ziel und seinen Willen, einen<br />
hervorragenden Platz unter den Ländern einzunehmen, die sich am meisten für<br />
den Aufbau Europas einsetzen, die am wichtigsten in den neuralgischen<br />
Entscheidungszentren und am fortgeschrittensten in der Gemeinschaft sind.<br />
Und noch etwas: Es ist ein Land, dem immer stärker bewusst wird, dass<br />
die Lösung seiner Probleme nicht auf ein mehr oder weniger autarkes vages<br />
Modell eines im westlichsten Teil der Iberischen Halbinsel gelegenen Gebietes<br />
beschränkt bleiben kann.<br />
Sie ist nur möglich durch die entsprechende Lösung der großen europäischen<br />
Probleme unter deutlicher nationaler Beteiligung, ohne das nationale Interesse<br />
aus den Augen zu verlieren.<br />
Diese aktive wechselseitige Abhängigkeit, die zunehmend alle Bereiche<br />
unseres Lebens erfasst und ohne die es keine nachhaltige Entwicklung, keine<br />
Lebensqualität, keine soziale Gerechtigkeit, keine Solidarität, keine lebendige<br />
Kultur, kein eigenes Gepräge, keine Demokratie gibt, muss uns immer gegenwärtig<br />
sein.<br />
Heute Portugiese zu sein heißt, zur Besinnung auf diese Begriffe fähig zu sein.<br />
Das demokratische Europa muss für uns eine Berufung des Glaubens und<br />
eine Anleitung zum Handeln sein.<br />
125
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 126<br />
VASCO GRAÇA MOURA<br />
Heute Europäer zu sein ist eine Frage von Kultur, Freiheit und Würde.<br />
Es sei daran erinnert, dass Kadmos schließlich Harmonie heiratete.<br />
An diesem Ort werden wir weiter über Europa sprechen.<br />
126<br />
April 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 127<br />
Mathieu GROSCH<br />
Leiter der belgischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Die Europäische Integration<br />
vor dem Hintergrund der Globalisierung<br />
Dem mit der doppelten Herausforderung seiner Integration und seiner<br />
Erweiterung konfrontierten Europa scheint es schwer zu fallen, effiziente und<br />
zielgerichtete Strukturen zu entwickeln. Neben den unterschiedlichen Auffassungen<br />
von Integration und Erweiterung ist diese europäische Entwicklung tief gehend<br />
geprägt durch drei wesentliche Elemente: Frieden, Wettbewerbsfähigkeit und<br />
Solidarität.<br />
Dieses Entwicklungsmodell Europas ist auch das einzige, das die Schocks<br />
der Globalisierung abfedern und ihre Verspechen nutzen kann, denn diese<br />
Globalisierung erfordert eine Reaktion auf effizientem Niveau und stellt eine<br />
grundsätzliche Herausforderung für das europäische Entwicklungsmodell als solches<br />
dar.<br />
Die Globalisierung ist durch drei Triebkräfte gekennzeichnet:<br />
— Die technologische Entwicklung ist gleichzeitig Triebkraft und Ergebnis der<br />
Globalisierung. Die globalisierten Märkte machen Skalenerträge sowie die<br />
Amortisierung der Forschungs- und Entwicklungskosten für neue Produkte<br />
möglich. Die Informationstechnologien, die effizienten Verkehrsmittel und die<br />
Finanzmärkte stellen den Blutkreislauf der globalisierten Firmen dar, die weltweite<br />
Verbreitung von Bildern und Ideen sind die Grundlage ihres Kommuniationsund<br />
Absatzförderungsnetzes.<br />
— Die politischen Grundsatzentscheidungen seit den Achtzigerjahren. Unsere<br />
„alten Staaten“ werden wegen ihrer Praktiken angeklagt, deren Langsamkeit und<br />
Ineffizienz bemängelt wird. Nach den verschiedenen Krisen wie der Erdölkrise<br />
fehlt es dem Wohlfahrtsstaat an Geld, was zur Entstehung der neoliberalen Thesen<br />
geführt hat. Auf die schrittweise Liberalisierung des Handels, die Stabilität der<br />
Wechselkurse und eine keynesianistische Politik folgen beschleunigte Entwicklung,<br />
Privatisierungen, Deregulierung sowie die Liberalisierung der Finanzmärkte.<br />
— Der Marktkapitalismus – wie ihn u. a. Alan Greenspan (der Präsident der<br />
US-Notenbank) bezeichnet – ist mit seinen globalisierten Firmen und seinen<br />
127
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 128<br />
vereinheitlichten Märkten ein wirklich strukturbestimmender Faktor der<br />
Globalisierung. Er ist gleichzeitig Ursache und Ergebnis einer „neuen globalen<br />
Wirtschaft“ und somit eine markt- und strukturbestimmende Kraft der<br />
Globalisierung.<br />
Die Herausforderungen der Globalisierung<br />
Die Bilanz der Globalisierung ist durch Vorteile und negative Auswirkungen<br />
gekennzeichnet.<br />
— Zur Aktivseite gehören eine ungeheure technische Innovation, ein globalisiertes<br />
Informationssystem, das durch verbessertes Wissen die Demokratie fördert,<br />
und Biotechnologien, mit denen der Problematik des demografischen Wachstums<br />
und der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen begegnet werden kann.<br />
— Die erfolgreiche Entwicklung bestimmter südostasiatischer Länder, die<br />
wesentlich auf internationale Investitionen und den Zugang zu den europäischen<br />
und amerikanischen Märkten zurückzuführen ist.<br />
— Eine immer stärkere Ausprägung des Selbstverständnisses der Menschen<br />
als Weltbürger und „globale“ Verbraucher und damit ihres Verantwortungsbewusstseins<br />
im Zusammenhang mit den grundlegenden Menschenrechten wie<br />
auch im Umgang mit den genutzten natürlichen Ressourcen.<br />
— Auf der Negativseite ist das Anwachsen der internen Ungleichheiten zu<br />
verzeichnen, das viele Ursachen hat wie den Individualismus, den Wandel der<br />
sozialen Strukturen sowie die Unfähigkeit der Staaten zur Korrektur der übermäßigen<br />
Ungleichheiten als Folge der entstehenden Konkurrenz zwischen den<br />
Sozialsystemen.<br />
— Trotz fünf Jahrzehnten weltweiten Wachstums ist das Nord-Süd-<br />
Ungleichgewicht auf unserem Planeten, das darauf hinausläuft, dass 20 % der<br />
Bevölkerung 80 % der Ressourcen verbrauchen, unverändert geblieben. Auch<br />
wenn die Zahl selbst stagniert, bedeutet dies eine dramatische Verschlechterung,<br />
da heute in der dritten Welt nicht mehr 1,5 Milliarden, sondern 4,5 Milliarden<br />
Menschen leben.<br />
— Trotz der technologischen Entwicklungen, die im Interesse der natürlichen<br />
Ressourcen liegen, überschreitet das Gesamtvolumen der Verbrauchssteigerung<br />
diese „Zuwächse“ und werden die Gefahren für die Umwelt immer größer.<br />
Und obwohl die Technologie eine Bewältigung dieser Problematik<br />
ermöglichen würde, stehen dem das Fehlen von Finanzmitteln sowie die mangelnde<br />
Internalisierung der Umweltkosten im Wege.<br />
Die Rolle Europas<br />
MATHIEU GROSCH<br />
Bereits 1963 formulierte Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Pacem in<br />
Terris das Problem in folgender Weise.<br />
128
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 129<br />
DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION VOR <strong>DE</strong>M HINTERGRUND <strong>DE</strong>R GLOBALISIERUNG<br />
„Da aber heute das allgemeine Wohl der Völker Fragen aufwirft, die alle<br />
Nationen der Welt betreffen, und da diese Fragen nur durch eine politische Gewalt<br />
geklärt werden können, deren Macht und Organisation und deren Mittel einen<br />
dementsprechenden Umfang haben müssen, deren Wirksamkeit sich somit über<br />
den ganzen Erdkreis erstrecken...“<br />
Es liegt daher auf der Hand, dass kein Staat – auch nicht aus Angst vor dem<br />
Verlust der Wettbewerbsfähigkeit – im Alleingang eine geeignete Politik zur<br />
Bewältigung der Globalisierung betreiben kann. Ein Staat allein, und sei es der<br />
mächtigste der Welt, ist nicht in der Lage, die globalisierte Wirtschaft zu kontrollieren<br />
und ihre Auswirkungen zu regulieren.<br />
Daraus folgert, dass kein Staat, auch nicht die USA, eine derart illusorische<br />
Absicht hegen und seine wirtschaftlichen und finanzpolitischen Regeln, seine<br />
sozialen und umweltpolitischen Kriterien allgemein durchsetzen kann. Und<br />
obwohl die Europäische Union weiterhin mit ihrer Integration und dem Ausbau<br />
ihrer Strukturen beschäftigt ist, muss sie die Grundlagen schaffen, die für ihr<br />
Auftreten als globaler Akteur erforderlich sind, was umso mehr gilt, da diese auch<br />
für die Bewältigung ihrer internen Herausforderungen hilfreich sind.<br />
— Ein starkes einigendes Prinzip: die Vorstellung von einer gerechten internationalen<br />
Wirtschaftsordnung, getragen von einer Wertegemeinschaft, anstatt<br />
der bloßen Summe der Interessen ihrer Komponenten, d. h. der Mitgliedstaaten.<br />
— Institutionelle Äußerung in den tragenden Organisationen des<br />
Wirtschaftssystems wie der WTO, dem IWF usw. mit einer einzigen Stimme<br />
und auf der Grundlage einer nach dem Mehrheitsprinzip getroffenen<br />
Entscheidung.<br />
— Eine erhöhte Autonomie innerhalb der NATO, denn die Verteidigung<br />
stellt einen wesentlichen Faktor einer unabhängigen Wirtschaftspolitik dar.<br />
Das internationale Wirtschaftssystem wird u. a. durch die USA dominiert,<br />
denn sie können die vorgenannten Kriterien vorweisen, die internen<br />
Zusammenhalt und eine globale Dimension miteinander verbinden. Fest steht,<br />
dass die USA für Europa ein strategischer Verbündeter sind, doch Europa muss<br />
sich mit den notwendigen Mitteln ausstatten, um zu verhindern, dass ihm fremde<br />
Entscheidungen und insbesondere ein abweichendes Sozialmodell aufgezwungen<br />
werden. Europa muss einer größeren Toleranz gegenüber Ungleichheit<br />
und Gewalt entgegentreten und es ablehnen, sich Umwelt- oder Gesundheitsrisiken<br />
auszusetzen oder sich der Selbstregulierung des Marktes zu unterwerfen.<br />
Europa genießt wirkliches internationales Ansehen, doch muss dies gestärkt<br />
werden durch eine aktive Rolle im Rahmen interner Anstrengungen zum Abbau<br />
seines technologischen Rückstandes, zur Reduzierung der strukturellen<br />
Arbeitslosigkeit und zur Aufrechterhaltung der Solidarität insbesondere durch<br />
Bewältigung seiner Bevölkerungsalterung und durch Annahme einer wirklichen<br />
Asyl- und Einwanderungspolitik.<br />
129
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 130<br />
Seine Rolle in einer aktiven externen Politik muss u. a. darauf gerichtet sein,<br />
den einzelnen Säulen des internationalen Wirtschaftssystems Impulse zu verleihen<br />
und die Kohärenz zwischen ihnen zu erhöhen.<br />
1. Die Welthandelsorganisation<br />
MATHIEU GROSCH<br />
Europa ist ein wichtiger Akteur innerhalb der WTO. Doch die Europäische<br />
Union leidet unter zwei Nachteilen: Einstimmigkeit und fehlende finanzielle<br />
Solidarität, um die Gewinne und Verluste der Liberalisierung ausgewogen zu<br />
verteilen.<br />
Dies führt zu sehr umfangreichen Verhandlungsagenden, um ein ausgewogenes<br />
Verhältnis zwischen den „Gewinnen und Verlusten“ der Liberalisierung zwischen<br />
den einzelnen Ländern herzustellen.<br />
Dies macht darüber hinaus „differenzierte“ Politiken unmöglich, bei denen<br />
beispielsweise bevorzugte und zeitlich begrenzte Marktzugänge als Gegenleistung<br />
für Anstrengungen in den Bereichen Soziales, Umwelt, Gesundheit usw. gewährt<br />
würden.<br />
Solche Fortschritte würden es Europa ermöglichen, der Wirtschaft seinen<br />
Stempel aufzudrücken.<br />
2. Die Organe der Vereinten Nationen<br />
Ein vorrangiges Ziel muss darin bestehen, Europa zu einem gleichwertigen<br />
Akteur der Vereinten Nationen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu<br />
machen.<br />
Ausschlaggebend ist darüber hinaus, diesen Strukturen Befugnisse zur<br />
Konfliktregelung zu übertragen.<br />
Die wachsende Rolle und Bedeutung dieser Gremien werden oft unterschätzt.<br />
Ob Internationale Arbeitsorganisation, Weltorganisation für geistiges<br />
Eigentum oder Internationale Seefahrtsorganisation, um nur einige zu nennen,<br />
diese Gremien haben die Aufgabe, durch Konsens die Regeln festzulegen, die<br />
die internationale Wirtschaft zur Sicherung der gemeinschaftlichen Präferenzen<br />
der Staaten, zur Steuerung des Wettbewerbs, zur Bewahrung der Umwelt und<br />
der sozialen Rechte u. ä. braucht.<br />
Die Europäische Union nimmt an der Erarbeitung dieser Regeln teil, doch sie<br />
hat Beobachterstatus, denn sie spricht nur mit einer Stimme, wenn Konsens<br />
unter allen ihren Mitgliedern herrscht. Anstatt eine führende Rolle zu spielen,<br />
vertritt sie allzu oft den größten gemeinsamen Nenner aller ihrer Mitgliedstaaten,<br />
und damit ist ihr Auftreten nur selten von hoher Überzeugungskraft und wirklich<br />
europäischem Charakter getragen. Da diese Entscheidungen zudem der<br />
Ratifikation durch alle Unterzeichnerstaaten unterliegen, wird ihre Umsetzung<br />
allzu oft durch nationalen Druck oder Lobbygruppen gefährdet oder beeinflusst.<br />
130
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 131<br />
DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION VOR <strong>DE</strong>M HINTERGRUND <strong>DE</strong>R GLOBALISIERUNG<br />
3. Internationaler Währungsfonds und Weltbank<br />
Ihre Aufgaben – einerseits Förderung gesamt- und strukturpolitischer<br />
Maßnahmen, andererseits Verhinderung von Finanzkrisen und entsprechendes<br />
Reagieren auf sie – unterstreichen die Bedeutung und die Komplementarität dieser<br />
Säule.<br />
Die schrittweise Ausrichtung auf eine nachhaltige Entwicklungspolitik und<br />
die Wichtigkeit von Investitionen in den Entwicklungsländern verleihen diesen<br />
Finanzeinrichtungen eine Handlungsfähigkeit, in deren Rahmen Europa stärker<br />
zur Geltung kommen muss. Die EU, auf die nach Kapitalanteilen über 30 % der<br />
Stimmen (im Vergleich: USA 17 %) entfallen, müsste zumindest im Sinne der<br />
Währungsunion gegen das Verbot der Stimmenbündelung auftreten. Die<br />
Dringlichkeit dieser Forderung ergibt sich u. a. daraus, dass bestimme Regionen,<br />
in denen Finanzkrisen aufgetreten sind, sich dem Einfluss des FMI entziehen<br />
wollen. Hinzu kommt noch, dass die Europäische Union der weltweit größte<br />
Geber von Entwicklungshilfe ist.<br />
Externe Politik und Integration – ein und dieselbe Herausforderung<br />
Um als politische Macht im Außenbereich handeln zu können, muss Europa<br />
über ein einigendes Prinzip verfügen, das eine ausgedehnte Gemeinschaft mit ihren<br />
kulturellen Unterschieden zu integrieren vermag. Dieses Prinzip und diese<br />
Ambition machen deutlich, dass die Europäische Integration und das Wirken der<br />
EU im Weltmaßstab keine unterschiedlichen oder divergierenden Herausforderungen<br />
darstellen, sondern ein und dieselbe Herausforderung, denn ohne europäische<br />
Integration können weder die Europäische Union noch irgendeiner ihrer<br />
Mitgliedstaaten die Herausforderung der Globalisierung bewältigen, ohne die<br />
gemeinsamen Werte aufzugeben, die die Länder zum Beitritt zur Europäischen<br />
Union veranlasst haben: die grundsätzliche Achtung der Menschenrechte, eine wirtschaftliche<br />
Entwicklung, deren Ergebnisse allen zugute kommen, sowie der<br />
Schutz der natürlichen Ressourcen im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung.<br />
Diese europäische Souveränität wird kein neuer Nationalismus sein und noch<br />
weniger die Summe der einzelnen Nationalismen, sondern Ausdruck einer europäischen<br />
Bürgerschaftlichkeit, die die Unterschiede im Innern wie im Außenbereich<br />
achtet und sich das Ziel gesteckt hat, einer weltoffenen humanistischen und fortschrittlichen<br />
Zivilisation anzugehören.<br />
131<br />
März 2005
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132
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 133<br />
Gunnar HÖKMARK<br />
Leiter der schwedischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Europas Erfolge basieren auf dem Mut,<br />
über die Grenzen von heute hinaus zu sehen<br />
Am Sonntag, dem 13. Januar 1991 verließ der Vorsitzende des außenpolitischen<br />
Ausschusses des litauischen Parlaments, Emanuelis Zingeris, seine Wohnung in<br />
Vilnius und fuhr zum Flughafen, von wo aus er nach Stockholm fliegen wollte.<br />
Er gehörte zu den ersten, die in frühem Protest gegen die sowjetische Diktatur<br />
demokratisch in den Obersten Sowjet Litauens gewählt worden waren und vertrat<br />
ein Parlament, das die Selbstständigkeit Litauens nach jahrzehntelanger sowjetischer<br />
Okkupation forderte.<br />
Auf dem Weg zum Flughafen bemerkte er, dass zahlreiche sowjetische<br />
Militärfahrzeuge auf dem Weg nach Vilnius waren. Als er am Nachmittag dann in<br />
Stockholm landete, wohin er von der Moderaten Sammlungspartei Schwedens eingeladen<br />
worden war, erfuhr er, was geschehen war: Sowjetische Spezialeinheiten<br />
hatten die Stadt eingenommen, die Radio- und Fernsehsender besetzt und das<br />
Innenministerium sowie das Parlament umstellt. Ziel dieser Aktion war es, die<br />
Freiheitsbewegung zu ersticken, die seit einigen Jahren eine gewisse<br />
Selbstständigkeit innerhalb des sowjetischen Systems aufgebaut hatte, die die<br />
Führung und Autorität Moskaus untergrub.<br />
Eines der Hauptziele der sowjetischen Truppen war das litauische<br />
Parlamentsgebäude. Die demokratisch gewählten Abgeordneten, die sich als<br />
Vertreter des litauischen Volkes verstanden, sollten zum Aufgeben gezwungen werden.<br />
In dem Gebäude befand sich der Parlamentspräsident, Vytautas Landsbergis,<br />
umstellt und belagert von sowjetischen Truppen mit Panzern und einem übermächtigen<br />
Waffenarsenal. Zur Verteidigung gegen sie waren Freiwillige angetreten,<br />
nur mit alten Jagdgewehren und Handtüchern anstelle von Schutzmasken ausgerüstet.<br />
Im Falle einer Erstürmung des Gebäudes hätten sie keine Chance gegen<br />
die gut bewaffneten sowjetischen Elitesoldaten gehabt.<br />
Außerhalb des Parlamentsgebäudes, zwischen den Belagerungstruppen und<br />
den Abgeordneten drinnen, standen die Bürger von Vilnius. Sie bauten Barrikaden<br />
aus LKWs, Traktoren und allem Möglichen, das die sowjetischen Soldaten aufhal-<br />
133
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 134<br />
GUNNAR HÖKMARK<br />
ten könnte, falls sie – wie schon so viele Male in der Nachkriegszeit, so in Berlin,<br />
Budapest, Prag, Warschau – den Befehl zur Niederschlagung der Demokratie<br />
erhalten sollten.<br />
Am Nachmittag hielten wir in Stockholm vor Vertretern der Weltpresse eine<br />
Pressekonferenz mit Emanuelis Zingeris und mit Vytautas Landsbergis ab.<br />
Emanuelis war der einzige führende Volksvertreter, der sich außerhalb der Grenzen<br />
des Landes, und damit außerhalb der Reichweite des KGB und der Truppen des<br />
sowjetischen Innenministeriums, befand. Vytautas Landsbergis – heute<br />
Abgeordneter des Europäischen Parlaments – kommunizierte über ein viereckiges<br />
Lautsprechertelefon mit uns.<br />
Trotz des Ernstes der Situation konnte ich nicht umhin, über den etwas bizarren<br />
Anblick zu lächeln, den die Journalisten aus den USA und Europa boten,<br />
die still auf den grauen Telefonlautsprecher der schwedischen Telecom starrten<br />
und andächtig dem litauischen Parlamentspräsidenten lauschten, der – verbunden<br />
über eine der damals für Gespräche zwischen Schweden und Litauen existierenden<br />
zwei Telefonleitungen – um die Hilfe der internationalen<br />
Staatengemeinschaft bat.<br />
Die Welt reagierte mit großem Interesse und Engagement. Lange Zeit hatten<br />
die drei baltischen Staaten friedlich für ihre Selbstständigkeit gekämpft. Nur knapp<br />
zwei Jahre zuvor hatte Europa den Fall moskautreuer Diktaturen und den Abriss<br />
der Mauer zwischen Ost und West in Berlin erlebt. Es war an der Zeit für eine<br />
neue Ära.<br />
Die friedliche Grundlage für das heutige Europa war nie eine<br />
Selbstverständlichkeit<br />
Aber es war alles andere als selbstverständlich, dass die sowjetische Zentralmacht<br />
das aufgeben würde, was sie als sowjetisches Territorium ansah. Es war noch<br />
nicht einmal selbstverständlich, dass die demokratisch gewählten Politiker<br />
Westeuropas den Balten ihre Unterstützung geben würden. Die sozialdemokratischen<br />
Parteien, die in den 80er Jahren für eine einseitige Abrüstung in den demokratischen<br />
Ländern Europas eingetreten waren, standen einer Zersplitterung der<br />
Sowjetunion ebenso skeptisch gegenüber wie der deutschen Wiedervereinigung.<br />
In Schweden hatte die sozialdemokratische Regierung stets jede Behauptung<br />
zurückgewiesen, die Balten seien okkupiert und wollten ihre nationale Freiheit.<br />
Ihr Streben nach Selbstständigkeit sei nichts weiter, so hieß es, als ein Kampf um<br />
ihre kulturelle Identität. Es gäbe keinen Grund, Moskau mit einer allzu schnellen<br />
und brutalen Demokratisierung zu beunruhigen, die die Machthaber dort nur zu<br />
sehr belasten würde. Sie hätten es ja schon schwer genug, meinte man. Die politischen<br />
Kräfte Westeuropas, die freie Wahlen im Osten forderten und sich für eine<br />
Unterstützung der Balten durch die Demokratien Europas aussprachen, wurden<br />
als Kreuzritter des Kalten Krieges und rechtsextremistische Verrückte bezeichnet.<br />
134
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 135<br />
EUROPAS ERFOLGE BASIEREN AUF <strong>DE</strong>M MUT, ÜBER DIE GRENZEN VON HEUTE HINAUS ZU SEHEN<br />
Am Abend des 13. Januars war Emanuelis Zingeris zu Hause bei mir und<br />
meiner Familie zum Abendessen eingeladen. Jemanden, dessen Land okkupiert<br />
worden war, konnte man nicht allein lassen. An diesem Abend hatte Emanuelis<br />
Zingeris telefonischen Kontakt mit verschiedenen westeuropäischen Botschaften<br />
in Stockholm, um diese über die Vorgänge in seinem Land zu informieren und<br />
im Namen der litauischen Regierung um Unterstützung zu ersuchen. Außerdem<br />
standen wir in ständigem Kontakt mit Personen im litauischen Parlament. Gegen<br />
23 Uhr sprach Emanuelis Zingeris mit Vytautas Landsbergis und brach plötzlich<br />
in Tränen aus. Landsbergis hatte ihm berichtet, dass die Motoren der Panzer vor<br />
dem Parlamentsgebäude angelassen worden waren.<br />
Damit nähert sich die mögliche Erstürmung des Gebäudes. Sie würde eine brutale<br />
Abrechnung mit alle jenen werden, die sich davor verbarrikadiert und mit<br />
jenen, die drinnen Verteidigungsstellung bezogen hatten. Am selben Abend noch<br />
ermorden die Truppen des sowjetischen Innenministeriums 13 junge Litauer, die<br />
sich ihnen in den Weg gestellt hatten, als sie sich auf den Fernsehturm zu bewegten.<br />
Es gibt keinen Zweifel, dies ist blutiger Ernst. Das weiß Vytautas Landsbergis,<br />
das wissen auch alle, die sich im Parlamentsgebäude befinden, und das wissen<br />
auch wir am anderen Ende der Telefonleitung in Stockholm ebenso wie alle diejenigen,<br />
die ihre Leben vor dem Gebäude aufs Spiel setzen.<br />
Zehn Minuten später wird auch im privaten schwedischen Fernsehen über<br />
die Ereignisse berichtet. Der Reporter stellt fest, dass die Motoren der Panzer<br />
angelassen worden sind. Aber irgendwie entstehen wohl Zweifel wegen des<br />
Drucks der internationalen Öffentlichkeit und der Medien, die diese Vorbereitungen<br />
für das Töten unschuldiger Menschen intensiv beobachten. Eine halbe Stunde später<br />
werden die Motoren wieder abgestellt, um später noch einige Male wieder anund<br />
abgestellt zu werden.<br />
In Lettland und Riga geschieht am Tag darauf das Gleiche. Die sowjetischen<br />
Truppen ziehen in die Stadt ein und belagern Fernsehstationen, das<br />
Innenministerium und das Parlament. Die Bürger verbarrikadieren sich vor dem<br />
Parlament und harren einige eiskalte Nächte lang aus. In Riga wird der Dom in<br />
ein Feldlazarett mit freiwilligen Ärzten und anderem Krankenhauspersonal verwandelt.<br />
Mit einigen Tagen Verzögerung wiederholt sich dann alles in Estland und<br />
Tallinn. Hier stellen die Bewacher des Parlaments unterhalb des Domberges ein<br />
Verkehrsschild mit einem durchgestrichenen Panzer auf – Panzer verboten! –<br />
und bereiten sich darauf vor, die Einwohner zusammenzurufen, falls die sowjetischen<br />
Truppen in Tallinn einmarschieren sollten. Gleichzeitig rollen sie große<br />
Steine auf die Straße, um die Panzer daran zu hindern, den Weg zum Parlament<br />
hinauf zu fahren. Leute wie Tunne Kelam, jetzt ebenfalls Abgeordneter des<br />
Europäischen Parlaments, und Mart Laar, der später erster Ministerpräsident des<br />
freien Estlands und einer der ersten Europaabgeordneten Estlands wird, sind vor<br />
Ort, um für Demokratie und Selbstständigkeit zu kämpfen.<br />
135
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 136<br />
GUNNAR HÖKMARK<br />
Am darauf folgenden Montag findet in Stockholm eine von vielen<br />
Montagsdemonstrationen zur Unterstützung der Balten statt. Diese wöchentlichen<br />
Veranstaltungen, die sich an die Montagsdemonstrationen von Leipzig anlehnen,<br />
gibt es schon seit fast einem Jahr. Der gesamte Norrmalmstorg ist gefüllt<br />
mit Bürgern aus allen Schichten der schwedischen Gesellschaft. Neben führenden<br />
schwedischen Politikern sprechen auch Emanuelis Zingeris, Brunius<br />
Kucmickas, der litauische Vizepräsident, der nun über Finnland in den Westen<br />
gekommen ist, sowie Vertreter der Esten und Letten.<br />
Am Montag Nachmittag erteilt Vytautas Landsbergis über ein Telefon auf dem<br />
Schreibtisch meines Büros Zingeris und Kucmickas das Mandat zur Bildung einer<br />
Exilregierung mit Sitz in Stockholm. Er ist sich im Klaren darüber, dass das, was<br />
in der ersten Nacht nicht geschehen ist, durchaus während der kommenden Tage<br />
und Nächte passieren kann.<br />
Heute, 15 Jahre später, ist alles anders. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr.<br />
Estland, Lettland und Litauen sind nicht nur Mitglieder der EU, sondern auch der<br />
NATO geworden. Zwei von denen, die im wahrsten Sinne des Wortes ganz oben<br />
auf den Barrikaden gestanden haben, Tunne Kelam und Vytautas Landsbergis, sind<br />
Mitglieder des Europäischen Parlaments und der EVP-ED-Fraktion.<br />
Im Nachhinein mag alles, was im Laufe der Zeit geschehen ist, logisch und<br />
selbstverständlich erscheinen, aber für diejenigen, die dabei waren, die das<br />
Motorengeräusch der Panzer gehört und die Vereidigung der Exilregierung miterlebt<br />
haben, ist es durchaus nicht selbstverständlich. Es ist das Ergebnis eines politischen<br />
Willens, der auf Straßen und Plätzen zum Ausdruck kam sowie in dem<br />
Mut Einzelner, sich für Demokratie und Freiheit einzusetzen. Es basierte auf der<br />
<strong>Vision</strong>, dass Europa in der Praxis die Verteidigung von Freiheit und Demokratie<br />
bedeuten muss, da es sonst keinen Frieden und keinen Weg zu Würde und<br />
Wohlstand geben kann.<br />
Es war auch nie selbstverständlich, dass dieser politische Wille zum Tragen<br />
kommen würde. Im Osten gab es viele Mitläufer, die ihren Unterdrückern dienten<br />
und die eigenen Leute hintergingen, ebenso wie es Leute gab, die sich nicht<br />
erheben wollten oder es nicht wagten. Im Westen gab es Leute, die die herrschende<br />
Ordnung nicht Frage stellen wollten und die im Grunde gern über<br />
Demokratie redeten, sich aber am liebsten weit entfernt von den politischen<br />
Konflikten unseres eigenen Kontinents, meist in Form von Reden auf den<br />
Parteitagen in Einparteienstaaten, dafür einsetzten. Nie haben die Sozialdemokraten<br />
Schwedens und Europas die Demokratie stärker gewürdigt als dort, weit weg<br />
von der Unterdrückung auf unserem Erdteil.<br />
Die friedliche Bewegung in den baltischen Ländern hat die Grundlage dafür<br />
gelegt, dass das heutige Europa sich ohne Gewalt und Konflikte entfalten konnte.<br />
Es war die Hoffnung auf ein neues Europa, die die Menschen motivierte, und<br />
die eine weit stärkere Triebkraft war als das, was die Verteidiger des alten Systems<br />
antrieb.<br />
136
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 137<br />
EUROPAS ERFOLGE BASIEREN AUF <strong>DE</strong>M MUT, ÜBER DIE GRENZEN VON HEUTE HINAUS ZU SEHEN<br />
Diejenigen, die in vorderster Front für eine neue Zeit wirken wollten, die mit<br />
friedlichen Mitteln die Diktatur herausfordern und besiegen wollten und die der<br />
Ansicht waren, dass die Zeit für die Vereinigung Europas gekommen war, behielten<br />
Recht. Diejenigen hingegen, die nichts tun wollten, die es Moskau überlassen<br />
wollten, den Weg zu bestimmen und die der Vereinigung und der neuen<br />
freien Wirtschaft skeptisch gegenüber standen, mussten sich vom Gegenteil überzeugen<br />
lassen. So haben wir gewonnen und die anderen verloren.<br />
Aber wir dürfen deshalb nicht dem Glauben verfallen, dass mit diesem Sieg<br />
Europa bereits vollendet sei.<br />
Die weitere Zukunft Europas stand während dieser kalten Tage im Januar<br />
1991 an einem Scheideweg. Dies war Teil einer Entwicklung, die 1989 begonnen<br />
hatte, die unsere moderne Geschichte bestimmen sollte und die eigentlich erst<br />
im Mai 2004 ihren Abschluss fand. Es war nie eine Selbstverständlichkeit, dass sich<br />
die Wende von der Diktatur zur Demokratie, von der Unterdrückung zum<br />
Rechtsstaat und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft so schnell und schmerzfrei<br />
vollziehen würde, wie das der Fall war.<br />
Auf die gleiche Weise wird unsere Zukunft auch heutzutage von unserer<br />
Fähigkeit geformt, über die Grenzen der Gegenwart hinaus zu sehen. Das gilt nicht<br />
nur in geografischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf unsere Einstellungen<br />
zu alten Gegnerschaften, nationalen Interessen, zu alten gesellschaftlichen Modellen<br />
sowie zu den politischen Traditionen und zu unserer eigenen Geografie.<br />
Die Herausforderungen einer neuen Zeit<br />
In den kommenden 15 Jahren wird ebenso viel passieren wie in den vergangenen<br />
15 Jahren. Das einzige, was wir über das zukünftige Europa wissen, ist,<br />
dass es nicht so aussehen wird wie heute, aber auch nicht so, wie wir es uns heute<br />
vorstellen.<br />
Aus diesem Grunde muss unsere Fähigkeit, die Entwicklung Europas auf der<br />
Basis solch grundlegender Werte wie Freiheit, Demokratie, einer offenen Wirtschaft<br />
sowie einer immer engeren Zusammenarbeit über alte Grenzen hinweg zu befördern,<br />
wichtiger sein als die Anpassung an die im Augenblick am pragmatischsten<br />
oder realistischsten erscheinende Vorgehensweise. Denn diese verändert sich<br />
jeden Tag.<br />
Unsere Herausforderungen sind heute andere als zum Zeitpunkt des Mauerfalls,<br />
sind aber in ihrer Veränderungskraft ähnlich groß. Die Erweiterung muss gelingen,<br />
damit Europa nicht nur dem Namen nach, sondern auch in der Praxis vereinigt<br />
wird.<br />
Die Wirtschaft Europas verliert an Boden gegenüber der US-amerikanischen<br />
und der asiatischen. Zudem verlassen gegenwärtig zahlreiche Träger der von<br />
uns dringend benötigten Forschungs- und Innovationskraft Europa, die hervorragendsten<br />
europäischen Forscher und Studenten zieht es nicht zu den europäischen<br />
Universitäten.<br />
137
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GUNNAR HÖKMARK<br />
Die formale Erweiterung erfolgte nach einem langen Verhandlungsprozess,<br />
während die reale Erweiterung erst jetzt beginnt, da die Wirtschaften und<br />
Gesellschaften schrittweise verschmelzen sollen, da Ost und West nun in gemeinsamen<br />
Strukturen, auch über Grenzen hinweg, in einer vereinten Wirtschaft und<br />
auch auf zwischenmenschlicher Ebene zusammenwachsen sollen.<br />
Wenn wir die Dynamik der neuen Mitgliedstaaten nicht nutzen und aus dem<br />
Wissen und der Tradition der alten Mitglieder keine Dynamik entwickeln können,<br />
besteht die Gefahr dass wir die alten Gräben in anderer Form als der Mauer und<br />
dem eisernen Vorhang beibehalten.<br />
Europas Sicherheit wird heutzutage nicht mehr von einem Konflikt entlang<br />
einer geographischen Grenze zwischen Ost und West in der Mitte Europas<br />
bedroht, sondern von Ereignissen um uns herum, die unabhängig von geographischen<br />
Grenzen und Entfernungen eine Bedrohung für die zivilisierte<br />
Gesellschaft darstellen. Die Entwicklung in Ländern wie Iran und Irak ist, ebenso<br />
wie der Konflikt zwischen Israel und Palästina, von unmittelbarer Bedeutung<br />
für unsere eigene Sicherheit und die Zukunft unserer Kinder. Im Moment ist eine<br />
Tendenz zum Erstarken der Demokratie im Nahen Osten zu beobachten, was<br />
unsere Verantwortung zur Unterstützung der demokratischen Entwicklung besonders<br />
augenfällig macht. Dort steht die Geschichte an einer Wegscheide und kann<br />
in Richtung auf mehr Demokratie und Stabilität gehen oder auch in Richtung<br />
auf Zerfall und totalitärere Strömungen.<br />
Im Kaukasusgebiet gibt es eine neue Welt von Ländern, die die meisten<br />
Europäer kaum auf der Karte finden, denen aber eines gemeinsam ist, nämlich<br />
dass ihre Stabilität die Grundlage für die zukünftige Sicherheit auf unseren Straßen<br />
und Plätzen bildet.<br />
Vor nur wenigen Monaten stand eines der größten Länder Europas vor einem<br />
politischen Konflikt, der zu einem Bürgerkrieg mit direkter Einmischung Russlands<br />
hätte führen können. Dies geschah nicht, doch es fällt uns schwer einzuschätzen,<br />
inwieweit der Einfluss der europäischen Gemeinschaft dazu beigetragen hat, die<br />
Entwicklung in friedliche und demokratische Bahnen zu lenken. Damit verdrängen<br />
wir die Bedeutung der Tatsache, dass so viele Menschen in der Ukraine von<br />
der Hoffnung angetrieben wurden, dass auch für sie eine neue Ära anbrechen<br />
würde, in der die Perspektive Europa Teil der Zukunftsvision ist.<br />
Wir erleben zurzeit ein schnelles Erstarken der europäischen Wirtschaft und<br />
des Wettbewerbs als Folge der Erweiterung und des Binnenmarktes. Diese<br />
Entwicklung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in Europa hat mehr mit<br />
der Erweiterung und dem Binnenmarkt zu tun als mit dem Lissabon-Prozess und<br />
der Politik, die Europa zur wettbewerbsfähigsten Wissensgesellschaft der Welt<br />
machen soll. Der tatsächliche Integrationsprozess zwischen den Ländern und<br />
Völkern Europas findet tagtäglich statt, in Form von verstärktem Handel, Reisen<br />
und Austausch. Eine visionäre Europapolitik muss diese Entwicklung sowie die<br />
damit verbundenen Veränderungen bejahen und stimulieren.<br />
138
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EUROPAS ERFOLGE BASIEREN AUF <strong>DE</strong>M MUT, ÜBER DIE GRENZEN VON HEUTE HINAUS ZU SEHEN<br />
Europa verändert sich, wenn das Projekt EU glückt<br />
Wenn wir uns den Herausforderungen stellen, denen Europa gegenübersteht,<br />
verändert sich auch die EU.<br />
— Gelingt es der EU, zu einer friedlichen und demokratischen Entwicklung<br />
in der Ukraine beizutragen, verändern sich sowohl die Ukraine als auch Europa<br />
und damit die an die EU gestellten Anforderungen.<br />
— Mit der Entwicklung des Wettbewerbs und des Binnenmarktes wird die<br />
gesamte Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents gestärkt, während sich gleichzeitig<br />
immer mehr Unternehmen einer neuen Konkurrenz gegenüber sehen und<br />
manchmal den neuen Unternehmen unterlegen sein werden. Gelingt der Wandel<br />
in den neuen Mitgliedstaaten, wird sich nicht nur die Kluft zwischen ihrem<br />
Wohlstand und dem der alten Mitgliedstaaten verringern, sondern auch ihre wirtschaftliche<br />
und politische Kraft verstärken.<br />
— Wenn die EU ihre Aufgaben erfüllen und ihre Ziele erreichen kann, führt<br />
dieser Erfolg dazu, dass ihr noch mehr Länder beitreten wollen. Dann müssen wir<br />
uns den Herausforderungen stellen können, die diese neue Zusammenarbeit mit<br />
sich bringt.<br />
— Mit der Zunahme der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der EU<br />
wächst auch ihre Verantwortung gegenüber anderen Teilen der Welt und der<br />
internationalen Staatengemeinschaft, was erhöhte Anforderungen an die<br />
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stellt.<br />
Integration und Erfolg schaffen ihre eigenen Bedingungen und Möglichkeiten,<br />
die eher mit der veränderten Realität zusammenhängen als mit politischen Zielen.<br />
Wenn wir nicht stillstehen wollen, so als ob nichts geschehen wäre, brauchen wir<br />
eine politische Führung mit dem Willen, über die heutigen Grenzen hinaus zu blicken.<br />
Nichts wäre einfacher gewesen, als sich Ende der 80er Jahre mit der<br />
Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit unter den damaligen Mitliedstaaten<br />
oder den westeuropäischen Länder zu begnügen. Aber die <strong>Vision</strong> eines größeren<br />
Europas, das über seine damaligen Grenzen hinaus reichte, war stärker als<br />
die eingeschränkte Perspektive, an der so viele festhalten wollten. Als die EU<br />
sich den Herausforderungen der damaligen Zeit stellte, führte der Erfolg dazu, dass<br />
sich Europa so veränderte, dass sich letztendlich auch die EU verändert hat.<br />
Über die gegebenen Grenzen hinaus blicken<br />
Es war genau diese Fähigkeit, über die gegebenen Grenzen hinaus zu blicken,<br />
die nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage für die europäische<br />
Zusammenarbeit legte, die heute in die Europäische Union mündete. Es war<br />
kein selbstverständlicher Gedanke, den Winston Churchill am 19. September<br />
1946 in Zürich äußerte, als er sich für „eine Art Vereinigte Staaten von Europa ”<br />
aussprach, die auf den wesentlichsten Werten basieren sollten, für die im Zweiten<br />
Weltkrieg gekämpft worden war. „Lasst Gerechtigkeit, Gnade und Freiheit herr-<br />
139
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 140<br />
schen! Die Völker müssen es nur wollen, und der Herzenswunsch aller wird in<br />
Erfüllung gehen.”<br />
Es ging um ein neues vereinigtes Europa, um einen Einigungsprozess, von dem<br />
keine Nation ausgeschlossen werden sollte, eine große Friedensordnung für<br />
Europa, die im Unterschied zu früheren Versuchen die Lebensbedingungen der<br />
Menschen und die Bedeutung der Grenzen konkret verändern sollte.<br />
In einem durch Unterdrückung oder Armut geteilten Europa wäre der Frieden<br />
nie sicher. Daher machte Churchill in einer Zeit, in der die Kluft zwischen den<br />
großen Nationen Europas vielleicht größer war als je zuvor, einen wichtigen<br />
Vorschlag: der „Sie erstaunen wird. Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der<br />
europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und<br />
Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle<br />
Führerrolle in Europa wiedererlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne<br />
ein geistig grosses Frankreich und ein geistig großes Deutschland.”<br />
Nach dem Elend und den Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs waren die<br />
zu überbrückenden Abgründe nicht gerade klein, sondern wesentlich größer als<br />
zwischen den Ländern, mit denen wir heute über eine Zusammenarbeit diskutieren.<br />
Dies war ein erster Schritt, bei dem es nicht nur um das Überbrücken<br />
von Gräben ging, die die Geschichte aufgerissen hatte, sondern auch darum, die<br />
Grundlage für den Umgang mit den neu geschaffenen Gräben zu legen.<br />
Außerdem hatte er erkannt, dass Europas einzige Möglichkeit, die Kräfte des<br />
Bösen ein für alle Mal zu überwinden, darin bestand, die Werte von Freiheit und<br />
Demokratie durch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu sichern. In die<br />
gleiche Richtung arbeiteten Robert Schuman und Konrad Adenauer.<br />
Als Europa nach dem Ende des Kalten Krieges neue Schritte in Richtung auf<br />
eine Zusammenarbeit unternahm, geschah dies durch die Fähigkeit der Politiker<br />
jener Zeit, über die damaligen Grenzen hinaus zu blicken. Das brauchen wir<br />
auch heute.<br />
Die Erweiterung des Binnenmarktes<br />
GUNNAR HÖKMARK<br />
Wir tragen die Verantwortung dafür, dass sich der Binnenmarkt ohne die<br />
Hindernisse und Beschränkungen entwickelt, die aus kurzsichtigen nationalen<br />
Interessen erwachsen. Wenn wir in den kommenden 10 Jahren keinen Wettbewerb<br />
und keine Innovation im Dienstleistungssektor sowie in den zentralen<br />
Kernbereichen der Wissensgesellschaft wie Bildung, Forschung und<br />
Gesundheitswesen erreichen, wird es die wettbewerbsfähigsten Entwicklungen<br />
auf diesen Gebieten nicht in Europa, sondern in anderen Regionen der Welt<br />
geben.<br />
Wenn wir in diesen Bereichen nicht erfolgreich sind, behindern wir nicht nur<br />
die weitere europäische Integration, sondern auch unsere Möglichkeiten zu einem<br />
kraftvollen Agieren auf der internationalen Bühne. Damit werden die aus der<br />
140
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 141<br />
EUROPAS ERFOLGE BASIEREN AUF <strong>DE</strong>M MUT, ÜBER DIE GRENZEN VON HEUTE HINAUS ZU SEHEN<br />
neuen Wissensgesellschaft erwachsenden Unternehmen nicht in Europa, sondern<br />
in anderen Teilen der Welt gegründet werden, obwohl wir den größten<br />
Markt der Welt haben.<br />
Exzellenzzentren durch Wettbewerb<br />
Wir können in Europa leicht Exzellenzzentren errichten, wenn wir uns für<br />
Unternehmertum, Innovationsvielfalt sowie für eine ständige Prüfung dessen,<br />
was noch besser werden kann, öffnen.<br />
Lassen wir Europas Länder im Bereich des Gesundheitswesens zusammenarbeiten,<br />
indem die Patienten wählen können, wo sie im Rahmen der Finanzierung<br />
durch die einzelnen nationalen Systeme ihre Behandlung erhalten wollen. Wenn<br />
etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, ein Schwede aus den verschiedenen<br />
Behandlungsangeboten der besten Spezialisten für Hüftgelenks- und<br />
Herzoperationen wählen kann, die nur einige Stunden Flugreise entfernt zur<br />
Verfügung stehen, wird das zu einem verstärkten Wettbewerb, einem verbesserten<br />
Gesundheitswesen und der Entwicklung von Spezialistenzentren an verschiedenen<br />
Orten in einer Reihe von Bereichen in ganz Europa führen. Das treibt die<br />
Wissensentwicklung voran, stärkt aber auch das akademische Forschungspotential,<br />
was wiederum der europäischen Medizinindustrie neue Möglichkeiten eröffnet.<br />
Wenn darüber hinaus die Gesundheitsunternehmen der verschiedenen Staaten<br />
sowohl in ihren eigenen als auch in anderen Ländern ein besseres<br />
Gesundheitsmanagement und bessere Dienstleistungen anbieten, werden wir<br />
eine Gesundheitsversorgung erhalten, die immer besser wird und sich gleichzeitig<br />
entsprechend den Bedürfnissen der Menschen und der Forderung nach<br />
Nähe entwickelt.<br />
Die Grenzen des Binnenmarkts müssen nicht für alle Zeit festgelegt sein. Er<br />
kann auch im Rahmen der jetzigen EU erweitert werden.<br />
Forschung kann Grenzen überbrücken<br />
Wir sollten einen Teil der Forschungsressourcen der EU dorthin umlenken, wo<br />
die Studenten und Wissenschaftlern hingehen, die Lehr- und Forschungsanstalten<br />
jenseits der alten Nationalstaatsgrenzen wählen. Das kann so erfolgen, dass die<br />
Kosten für die Studien finanziert werden und die Institutionen, die andere EU-<br />
Bürger anzuziehen vermögen, zusätzliche Forschungsmittel erhalten. Auf diese<br />
Weise werden mehr Regierungen alte Versprechen einlösen wollen, und die<br />
Mittel für diejenigen Hochschulen und Universitäten erhöhen, die die besten<br />
Voraussetzungen für eine weltweit führende Stellung aufweisen. So können wir<br />
gleichzeitig den Wettbewerb ankurbeln und die Forschungsmittel erhöhen, ohne<br />
das Recht der Mitgliedstaaten auf eine selbstbestimmte Bildungs- und<br />
Forschungspolitik auszuhöhlen.<br />
141
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 142<br />
GUNNAR HÖKMARK<br />
Der gegenwärtig in Europa am deutlichsten zu erkennende Integrationsprozess<br />
ist das Ergebnis von Binnenmarkt, Wettbewerb und Arbeitnehmerfreizügigkeit. So<br />
wie es gegenwärtig aussieht, haben wir in Europa zu wenig Arbeitnehmerfreizügigkeit.<br />
Es gibt außerdem zu wenig Druck zur Schaffung neuer qualifizierterer<br />
und gut bezahlter Arbeitsplätze, um die des alten Arbeitsmarktes zu ersetzen.<br />
Wenn wir eine immer engere europäische Zusammenarbeit erreichen wollen,<br />
müssen wir uns für eine Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt und einen Handel<br />
mit Dienstleistungen einsetzen, der so frei wie möglich ist. Diese Zusammenarbeit<br />
kann innerhalb der jetzigen Grenzen erfolgen.<br />
Eine Erweiterung, die größere Sicherheit bringt<br />
Ein weiterer Integrationsprozess vollzieht sich in den Ländern um die jetzige<br />
Union herum, die sich anpassen und ihre gesellschaftliche Entwicklung auf den<br />
Werten der Union gründen. Das ist ein Gewinn für unsere Sicherheit und ein<br />
Ausdruck für die Fähigkeit der Union, zu Frieden und Stabilität im Rahmen von<br />
Freiheit und Demokratie beizutragen. Diese Entwicklung müssen wir im Rahmen<br />
der Forderungen, die wir an die europäischen Länder stellen, bejahen. Die<br />
Entwicklung in der Ukraine ist zu einem Erfolg für die EU geworden. Nun liegt<br />
es in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Entwicklung zu einem<br />
Erfolg für ganz Europa wird.<br />
Der Wandel, den die Verhandlungen in der Türkei und auf dem Balkan herbeiführen,<br />
trägt zu einer EU bei, die in ihrer Verteidigung von Frieden und<br />
Stabilität gestärkt wird. Das ist von besonderer Bedeutung in einer Welt, die<br />
Gefahr läuft, dass die Trennlinien zwischen verschiedenen Religionen zu verstärktem<br />
Fundamentalismus führen anstatt zu einer Übernahme von Grundwerten<br />
wie Toleranz für die Rechte und Freiheiten des Einzelnen.<br />
Die Verteidigung unserer Werte in der internationalen Politik<br />
Zur Verteidigung der Werte, auf denen unsere eigene Zusammenarbeit basiert,<br />
müssen wir klare Forderungen an die Diktaturen im Nahen Osten stellen. Wir dürfen<br />
Diktatur und Unfreiheit nicht akzeptieren, nur weil sie sich hinter einem religiösen<br />
gesellschaftlichen System verstecken.<br />
Europa ist heute besser denn je. Keine frühere Generation hatte so gute<br />
Gründe für die Hoffnung auf Frieden und Wohlstand. Wenn sich diese Hoffnungen<br />
erfüllen sollen, muss die EU ihren eigenen Werten besser entsprechen und über<br />
die Grenzen der Gegenwart hinaus sehen.<br />
142<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 143<br />
Piia-Noora KAUPPI<br />
Leiterin der finnischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
<strong>Vision</strong> für Europa 2020<br />
Einen Ausblick auf die Zukunft unseres Kontinents zu geben, ist nicht leicht.<br />
Wenn wir auf die vergangenen fünfzehn Jahre der EU zurückblicken, so hat sich<br />
vieles getan, und ich glaube kaum, dass jemand 1990 dies alles hätte voraussagen<br />
können. Damals bestand die Sowjetunion noch, die samtene Revolution<br />
steckte in den Kinderschuhen, selbst die Europäische Union mit den drei Pfeilern,<br />
wie wir sie heute kennen, gab es noch nicht. Es ist im Grunde genommen erstaunlich,<br />
wie erfolgreich das „Projekt Europa“ in den zurückliegenden Jahrzehnten<br />
gewesen ist.<br />
Die Ergebnisse waren nicht immer einfach zu erzielen. Wie Helmut Kohl,<br />
Ehrenbürger der Europäischen Union, oft an die junge Generation gerichtet sagte,<br />
Europas Zukunft erfordert nicht nur eine starke <strong>Vision</strong> und mutige politische<br />
Führung, sondern auch viel mehr unermüdliche tägliche Arbeit, als wir zuweilen<br />
glauben.<br />
In diesem Artikel soll die Rolle der EVP bei der Gestaltung der Zukunft der<br />
Union untersucht werden. Welches sind die größten Probleme, für die die Mitterechts<br />
stehenden Christdemokraten und Konservativen Antworten finden müssen,<br />
und welche Art Aktivitäten sollten wir unterstützen?<br />
Die Institutionen der Europäischen Union<br />
Manchmal konzentrieren sich jene, die mit EU-Angelegenheiten befasst sind, zu<br />
sehr auf institutionelle Fragen. Ich halte es jedoch für außerordentlich wichtig, dass<br />
Mitte-Rechts die Entwicklung institutioneller Reformen vorantreibt. Die Richtung muss<br />
klar sein, selbst wenn wir wissen, dass diese Dinge in der Praxis Zeit brauchen und<br />
besser mit allen wichtigen Akteuren – nicht zuletzt den Bürgern – abzustimmen sind.<br />
Die Verfassung wird derzeit in den Mitgliedstaaten ratifiziert und bietet eine<br />
gute Grundlage für die Entwicklung der institutionellen Zukunft der Europäischen<br />
Union. Ihre Annahme wird die Funktionsweise der EU merklich verbessern. Sie<br />
143
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 144<br />
PIIA-NOORA KAUPPI<br />
wird das institutionelle Gefüge der Union stärken und sie besser rüsten, sich den<br />
großen Aufgaben besserer und transparenterer Rechtsetzung zu stellen. Viele<br />
ihrer Änderungen sind neuartig, aber vor allem geht es um die Festigung und den<br />
Ausbau von Entscheidungsverfahren, die sich in der Vergangenheit für die EU als<br />
erfolgreich erwiesen haben.<br />
Trotzdem ist die Verfassung nicht der Schlußpunkt der politischen und institutionellen<br />
Architektur Europas. Wir können es uns nicht leisten, nicht mehr<br />
über weitere Verbesserungen nachzudenken. Dieses Nachdenken sind die<br />
Europäer sich selbst schuldig, denn die europäische politische Entwicklung verlangt<br />
vor allem, immer wieder über das Vorhersehbare hinauszudenken und<br />
nach weiterer Vervollkommnung zu streben.<br />
Die europäische Psyche lässt den in den Vereinigten Staaten oft zu beobachtenden<br />
konstitutionellen Konservatismus nicht zu. Und heute ist die EU stark<br />
genug, gewisse destruktive Erscheinungen, zu denen dies in der Vergangenheit<br />
führte, abzumildern.<br />
Die verschiedenen „Flexibilitäts-“ und „Übergangsklauseln“ der neuen<br />
Verfassung sind willkommene Mechanismen zur Einführung notwendiger<br />
Veränderungen zu dem Moment, da sie erforderlich sind. Aber langfristig gesehen<br />
wird die Zukunft der EU nicht durch institutionelle Mechanismen, das Tüfteln<br />
an Gesetzen oder die Vereinfachung von Umstellungen bei Beschlussfassungen<br />
bestimmt sein. Was wir brauchen, ist ein Leitgedanke. Und dieser wird auf jeden<br />
Fall stark vom Föderalismus geprägt sein müssen.<br />
Die EU muss die Vereinfachung ihrer Beschlussfassungsverfahren und die<br />
Ausgestaltung ihres institutionellen Gleichgewichts fortsetzen. Der Leitgedanke hierbei<br />
kann nur föderalistisch sein. So stellt die Schaffung des Amtes eines ständigen<br />
Präsidenten des Europäischen Rates eine willkommene Entwicklung für<br />
Europas Stimme in der Welt dar, aber der Charakter des Amtes muss klargestellt<br />
und in die anderen institutionellen Neuerungen eingepasst werden, damit es<br />
Wirksamkeit und Beständigkeit erlangt.<br />
Aus Sicht der Gesprächspartner und Bürger Europas ist die doppelte<br />
Präsidentschaftsstruktur der EU langfristig nicht glaubwürdig. Zwei Präsidenten,<br />
einer für die Kommission und einer für den Rat, mit einem zwischen beiden<br />
pendelnden Außenminister, lösen nicht die Frage, wer für Europa spricht, und<br />
daraus ergibt sich eine unvermeidliche Schlussfolgerung.<br />
Im Laufe der Zeit ist die Gestaltung des Amtes eines einzigen EU-Präsidenten<br />
erforderlich. Zunächst wäre es sinnvoll, den Präsidenten vom Europäischen<br />
Parlament wählen zu lassen. Nach und nach, wenn sich das Amt weiterentwickelt<br />
und an Geltung und Legitimität gewinnt, müssten direkte Wahlen durch das Volk<br />
vorgesehen werden. Allerdings ist dies für 2020 noch keine realistische <strong>Vision</strong>.<br />
Was das Gleichgewicht zwischen den Organen anbetrifft, so scheint ein weiteres<br />
föderalistisches Resultat naheliegend. Ohne normale Art der Gesetzgebung<br />
mit zwei Kammern, bei der der Ministerrat nach dem Beispiel des Europäischen<br />
Rates das Prinzip „ein Land – eine Stimme“ übernimmt, werden Beschlüsse wei-<br />
144
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 145<br />
terhin durch Absprachen in Hinterzimmern getroffen, und die Rechenschaftspflicht<br />
ist schwierig nachzuvollziehen.<br />
Grenzen der Europäischen Union<br />
VISION FÜR EUROPA 2020<br />
Es lohnt sich nicht, lange über zukunftsfähige institutionelle Strukturen nachzudenken,<br />
wenn man meint, die Regeln würden nur für eine EU mit fünfundzwanzig<br />
Mitgliedstaaten geschaffen. Diese Debatte muss mit unseren Überlegungen hinsichtlich<br />
der nächsten Schritte bei der Öffnung der EU für neue Mitglieder<br />
übereinstimmen.<br />
Für Mitte-Rechts muss die EU vor allem eine konstitutionelle Union sein, die<br />
auf gemeinsamen Werten beruht. Folglich sind die Grenzen dieser Union nicht<br />
von Natur aus geografischer, wirtschaftlicher oder politischer Art, sondern die<br />
Mitgliedschaft in der EU setzt vielmehr die Übernahme einer gemeinsamen<br />
Verfassung voraus, die die in eben dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte<br />
und -pflichten und gemeinsamen Werte befördert.<br />
In dieser Hinsicht sollten wir den Weg der Gründerväter der Union fortsetzen.<br />
Robert Schuman schrieb bereits 1949, er hätte keinesfalls die Absicht, eine geografische<br />
Demarkationslinie zwischen Europa und „Nicht-Europa“ zu ziehen. Es<br />
gäbe eine andere Möglichkeit, Grenzen zu setzen: Die Unterscheidung in jene,<br />
die den europäischen Geist haben, und jene, die ihn nicht haben.<br />
Wir sollten aufgeschlossen sein und den europäischen Geist in unserer unmittelbaren<br />
Nachbarschaft wirken und wachsen lassen. Wenn diese Nationen bereit,<br />
entschlossen und in der Lage sind, als neue Mitglieder der Union beizutreten, und<br />
wenn sie sich zur Verfassung und zu den gemeinsamen Werten bekennen, sollten<br />
wir sie beitreten lassen. Ich ziehe auch die Bezeichnung „Öffnung der Union“<br />
vor, da „Erweiterung“ ein sehr EU-zentristischer Begriff ist. Wir schaffen keine<br />
Festung Europa, sondern einen Kontinent, auf dem die Grundprinzipien Frieden,<br />
Freiheit, Stabilität und Wohlstand von vielen geteilt werden, nicht nur von wenigen<br />
Glücklichen.<br />
Ein solches Denken eröffnet uns die Chance, tatsächlich ein gemeinsames<br />
Europa zu bauen, dem schließlich rund vierzig demokratische Mitgliedstaaten<br />
angehören können. Natürlich müssen wir, damit dies Wirklichkeit werden kann,<br />
davon ausgehen, dass es vor allem auf dem Balkan und in den sich rasch verändernden<br />
Gebieten der ehemaligen Sowjetunion zu grundlegenden<br />
Veränderungen und auf Dauer angelegten Entwicklungen kommt. Wir sollten<br />
uns auch keine unnötigen Fristen setzen; die Entwicklung von einer diktatorischen,<br />
weitgehend undemokratischen Vergangenheit hin zu wahrer europäischer<br />
Demokratie erfordert Zeit und Geduld.<br />
Auf lange Sicht befördert die Mitgliedschaft der Türkei in der EU die<br />
Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten in einem Gebiet, das weltpolitisch<br />
gesehen von äußerster strategischer Bedeutung ist. Die türkische<br />
Mitgliedschaft hilft der EU bei der Gestaltung friedlicher Zusammenarbeit mit<br />
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PIIA-NOORA KAUPPI<br />
der islamischen Welt und stärkt unsere Fähigkeit, eine auf Dauerhaftigkeit ausgerichtete<br />
Lösung für den Nahen Osten zu finden. Auch für die wirtschaftliche<br />
Entwicklung der EU ist die Türkei wichtig, da das Land über große<br />
Arbeitskräfteressourcen verfügt, die alle gegenwärtigen EU-Mitgliedstaaten dringend<br />
benötigen werden. Allerdings erfüllt die Türkei zur Zeit wegen ihrer schlechten<br />
Menschenrechtsbilanz die Kriterien für eine Aufnahme nicht. Auch muss eine<br />
Lösung für die Situation Zyperns gefunden werden, ehe die Türkei der EU beitreten<br />
kann. In den kommenden Jahren und bei den türkischen<br />
Beitrittsverhandlungen ist besonderer Nachdruck auf den Dialog mit den europäischen<br />
Bürgern zu legen.<br />
Die Mitgliedschaft Bulgariens und Rumäniens kann auf kürzere Sicht erfolgen,<br />
ihr Beitritt zur EU wird für 2007-2008 erwartet. Obwohl die Vorbereitungen auf<br />
zahlreichen Gebieten vorangeschritten sind, müssen noch entschlossen Reformen<br />
verabschiedet und Probleme angepackt werden, ehe ihnen die Vollmitgliedschaft<br />
zuerkannt werden kann. Die Reform des Justizsystems und wahrhaft unabhängige<br />
Gerichte sind von entscheidender Bedeutung. Eine Mitgliedschaft in der EU<br />
ohne voll funktionierendes und transparentes Rechtssystem wird es nicht geben.<br />
Die Situation von Minderheiten wie den Roma muss ebenfalls nachhaltig verbessert<br />
werden. Deshalb muss vor allem Rumänien große Anstrengungen unternehmen,<br />
damit es innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens in die EU aufgenommen<br />
werden kann. Die Europäische Union ist und bleibt ein Raum der<br />
Freiheit und Gerechtigkeit, das gilt auch für alle neuen Mitgliedstaaten.<br />
Kroatien ist nach Sloweniens unlängst erfolgtem Beitritt zur Union der erste<br />
Staat des ehemaligen Jugoslawiens, der nach einer Periode schwieriger<br />
Bürgerkriege Aussicht auf Aufnahme in die EU hat. Kroatiens Mitgliedschaft kann<br />
als Öffnung gegenüber den Balkanstaaten verstanden werden, ist aber auch ein<br />
Beispiel dafür, wie wichtig die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen für<br />
alle Länder ist, die die EU-Mitgliedschaft anstreben. Kroatien wird nicht Mitglied<br />
werden können, solange es die vollständige Zusammenarbeit bei der Übergabe<br />
der Kriegsverbrecher an die internationale Justiz verweigert.<br />
Europäischer Heimatmarkt – bis 2020 erreichbares Ziel?<br />
Der europäische Binnenmarkt gehört zu den wichtigsten Leistungen der EU.<br />
Doch Märkte sind kein Selbstzweck, sie sind Mittel zum Erreichen bedeutender<br />
Ziele wie Frieden, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Die Kommission hat<br />
festgestellt, dass die schrittweise Liberalisierung und Konsolidierung des<br />
Binnenmarktes seit 1993 zur Schaffung von 2,5 Millionen neuen Arbeitsplätzen<br />
und mehr als 800 Milliarden Euro zusätzlicher Wirtschaftskraft geführt hat. Neue<br />
Technologien und die Öffnung der nationalen Märkte für den Wettbewerb haben<br />
die Preise für Telefongespräche seit 1998 um 50 % sinken lassen, während die<br />
Preise für Flugreisen zwischen 1992 und 2000 um 41 % zurückgegangen sind.<br />
Durch den Abbau bürokratischer Hürden können mehr als 15 Millionen EU-<br />
146
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 147<br />
Bürger in einem anderen EU-Staat arbeiten bzw. ihren Lebensabend dort verbringen.<br />
Diese konkreten Marktvorteile und andere Verbesserungen im Alltag wie die<br />
gemeinsame Währung und der visafreie Reiseverkehr rechtfertigen allein schon<br />
die gesamte EU. Die Organe der EU haben Hunderte Richtlinien vorgelegt, die<br />
den freien Waren- und Personenverkehr zum Ziel haben. Die Mitgliedstaaten<br />
müssen ihre Anstrengungen zu deren Umsetzung verstärken, während die EU<br />
keine allzu detaillierten und umständlichen Regelungen verabschieden darf. Eine<br />
der Hauptaufgaben des Europäischen Parlaments ist es, dafür zu sorgen, dass<br />
bei der Gestaltung des Binnenmarktes und der gemeinsamen EU-Politik die<br />
Stimme der Menschen gehört wird.<br />
Können wir nun, da der Binnenmarkt – zumindest auf dem Papier – verwirklicht<br />
ist, sagen, unsere Arbeit wäre getan? Ganz im Gegenteil. Für Unternehmen<br />
wie Verbraucher ist Europa noch immer kein wirklicher Heimatmarkt.<br />
Erst wenn die Voraussetzungen für vollständig integrierte Märkte erfüllt sind,<br />
wird Europa für Unternehmen einem Heimatmarkt gleichen. Welche Elemente fehlen<br />
dazu noch?<br />
Die größten Anstrengungen erfordert der Bereich Steuern, insbesondere die<br />
Harmonisierung der Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer. Diese sollte<br />
unter Beibehaltung des positiven Elements eines gesunden Steuerwettbewerbs<br />
zwischen den Legislativorganen erfolgen.<br />
Damit der Binnenmarkt diesen Namen wirklich verdient, müssen alle noch vorhandenen<br />
Hindernisse und Beschränkungen ausgeräumt werden. Kurzfristig<br />
kommt hier dem Binnenmarkt für Dienstleistungen die größte Bedeutung zu.<br />
Die Dienstleistungsrichtlinie wird dringend benötigt und muss ohne weitere<br />
Verzögerung mit allen ihren Schlüsselprinzipien verabschiedet werden, wobei<br />
das Herkunftslandprinzip hier an erster Stelle zu nennen ist.<br />
Darüber hinaus sind weitere Verbesserungen in Angriff zu nehmen, das Streben<br />
nach wirtschaftlicher und sozialer Kohäsion der gesamten EU und in ihrer unmittelbaren<br />
Nachbarschaft eingeschlossen. Die Konsolidierung des Binnenmarktes<br />
ist besonders für kleine Mitgliedstaaten von Belang, da sie von den neuen und<br />
erweiterten Möglichkeiten des Marktes verhältnismäßig stärker abhängig sind.<br />
Wettbewerbsfähiges Europa<br />
VISION FÜR EUROPA 2020<br />
Die europäischen Mitte-Rechts-Kräfte müssen sich darauf konzentrieren, die<br />
europäische Wirtschaft eindeutig auf den Weg von Wachstum und<br />
Wettbewerbsfähigkeit zu bringen. Hierbei müssen wir die Hauptverantwortung<br />
übernehmen, da die Erfahrung zeigt, dass unsere sozialdemokratischen Kollegen<br />
unfähig sind, die notwendigen Reformen durchzuführen. Wir müssen der Barroso-<br />
Kommission und allen folgenden Kommissionen unsere Unterstützung zusichern,<br />
werden sie doch bei der praktischen Umsetzung der europäischen Reformagenda<br />
eine zentrale Rolle spielen.<br />
147
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 148<br />
PIIA-NOORA KAUPPI<br />
Das europäische Sozialmodell ist ohne solide wirtschaftliche Grundlage nicht<br />
aufrechtzuerhalten. Um Reichtum verteilen zu können, muss dieser zunächst<br />
geschaffen werden. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Inkompetenz und<br />
Untätigkeit linksorientierter Konservativer die Hoffnungen auf ein sozialeres<br />
Europa zunichte machen.<br />
Auf den Fluren der EU in Brüssel kennt jeder den Begriff „Bürokratismus“. Er<br />
steht für bürokratische und regulatorische Bürden, die die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der Union belasten und strukturelle Reformen behindern.<br />
Wird die EU in dem einen oder anderen Politikbereich zum Handeln aufgefordert,<br />
reagiert sie nur zu oft mit dem Entwurf eines neuen Gesetzes oder der<br />
Schaffung eines neuen Postens, nicht selten mit beidem. Europas größtes Problem<br />
ist aber nicht ein Mangel an Vorschriften, sondern vielmehr deren einfallslose<br />
Umsetzung. Es wurden gemeinsame Regeln aufgestellt, aber niemand ist gerüstet,<br />
deren Einhaltung zu überwachen. Die Situation ist selbst in Bezug auf den EU-<br />
Kernbereich Binnenmarkt unbefriedigend. Es gibt nur noch wenige Sektoren, in<br />
denen Märkte durch neue Rechtsvorschriften geöffnet werden könnten. Zwar<br />
gehören hierzu der Energiesektor, die Postdienstleistungen und der Verkehr, aber<br />
zum größten Teil lassen sich Hindernisse im Binnenmarkt durch bessere<br />
Umsetzung vorhandener Vorschriften ausräumen.<br />
Um ihre Wettbewerbsfähigkeit rasch zu erhöhen, sollte sich die EU deshalb<br />
auf Umsetzung und Durchsetzung konzentrieren. Sind Beschlüsse auf Ebene der<br />
EU gefasst worden, müssen die Mitgliedstaaten diese umsetzen und sollten sich<br />
nicht widersetzen, bis die Kommission sie dazu auffordert oder der Gerichtshof<br />
sie dazu zwingt. Die EU-Mitgliedstaaten müssen ihre diesbezügliche Einstellung<br />
ändern und beginnen, im allgemeinen europäischen Interesse zu denken anstatt<br />
nur aus einzelstaatlicher Sicht. Diese Aufgabe ist nicht leicht, aber umso notwendiger.<br />
Die Kommission kann den Mitgliedstaaten natürlich helfen, über den eigenen<br />
Gesichtskreis hinauszublicken. Bei der Überwachung der Umsetzung muss sie<br />
Überreste protektionistischen Verhaltens radikal bekämpfen. Jetzt, da die Anzahl<br />
der Kommissare im Zuge der EU-Erweiterung um ein Viertel gestiegen ist, sollte<br />
sie ihre neuen fachlichen Ressourcen nutzen, um Effizienz bei der Umsetzung<br />
zu fordern und rasch gegen jene vorzugehen, die die Dinge schleifen lassen.<br />
Die EU braucht angemessene Ressourcen, um zu funktionieren<br />
Damit die EU zum Wohle ihrer Mitglieder besser funktionieren kann, muss sie<br />
mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet sein. Angesichts der strengen<br />
Haushaltsdisziplin der EU ist es unrealistisch zu erwarten, dass die Mitgliedstaaten<br />
ihren im Verhältnis zum BIP festgelegten Anteil am Haushalt erhöhen wollen.<br />
Selbst die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Niveaus ist nicht sicher. Deshalb<br />
lassen sich die Ressourcen der EU am besten dadurch erhöhen, dass das BIP in<br />
den Mitgliedstaaten bei weiterhin niedriger Inflation steigt.<br />
148
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 149<br />
VISION FÜR EUROPA 2020<br />
Vorläufig bedeutet das, den sehr beschränkten EU-Haushalt von nur etwas<br />
mehr als 1 % des BIP der gesamten EU effizienter für Wirtschaftswachstum und<br />
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit einzusetzen. Damit es tatsächlich dazu<br />
kommt, muss die Struktur der Haushaltsausgaben gemäß den Vorschlägen der<br />
Kommission erhöht werden. Obwohl die Landwirtschaft und die Strukturfonds<br />
für den Binnenmarkt zweifellos wichtig sind, lässt sich ihr gegenwärtiger Anteil<br />
am Haushalt nicht für alle Zeit aufrechterhalten.<br />
Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung sind für Europas<br />
Wettbewerbsfähigkeit unverzichtbar. Der gegenwärtige EU-Haushaltsplan für<br />
Forschung und Entwicklung ist mit rund 5 Milliarden Euro im Jahr nur unwesentlich<br />
größer als der von Nokia, das jährlich etwa 4 Milliarden Euro für Forschung<br />
und Entwicklung ausgibt. Die Union ermöglicht die Schaffung größerer und<br />
bedeutenderer Einheiten als dies einzelnen Mitgliedstaaten möglich wäre, was die<br />
EU in die Lage versetzt, zusäztliche Nutzeffekte zu erzielen.<br />
Künftige Außenbeziehungen – Die Rolle Europas in Zeiten der Globalisierung<br />
Der neue Vertrag über eine Verfassung für Europa schafft die Grundlage für<br />
eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die Außenpolitik ist auch jener<br />
Politikbereich, der mit dem neuen Verfassungsvertrag am meisten Fortschritte<br />
macht. Es scheint ein neuer Wille für die erste gemeinsame außenpolitische<br />
Strategie vorhanden zu sein, nachdem sich die Krisenbefürchtungen zerstreut<br />
haben. Auch für außenpolitische Fragen werden neue Strukturen eingerichtet<br />
werden.<br />
Dem vorgesehenen Europäischen Auswärtigen Dienst kommt dabei eine zentrale<br />
Rolle zu, gestaltet er doch mit seinem Handeln die gemeinsame Außenpolitik.<br />
Es ist von äußerster Wichtigkeit, diesen Dienst bei der Kommission der<br />
Europäischen Union anzusiedeln. Wir müssen wachsam gegenüber allen<br />
Versuchen sein, dem neuen Dienst ein unklares Profil zu verleihen. Auf keinen<br />
Fall darf er aber eine unkontrollierbare zwischenstaatliche Behörde sein, die sich<br />
verselbständigt.<br />
Wie sollte die EU-Außenpolitik gestaltet werden? Die Europäische Union ist<br />
eine konstitutionelle Wertegemeinschaft. An diesen gemeinsamen Werten sollten<br />
die Aktivitäten der Europäischen Union in der Weltpolitik ausgerichtet sein.<br />
Wir haben jetzt die erste gemeinsame Strategie, die eine gute Grundlage für die<br />
Entwicklung realer gemeinsamer Außenpolitik darstellt. Im Brennpunkt dieser<br />
Außenpolitik sollten geografisch nahe Gebiete, Bewerberstaaten sowie gegenwärtige<br />
und künftige Nachbarn der Union stehen.<br />
Neben der Union und ihren unmittelbaren Nachbarn sollte das stärkste Bündnis<br />
der Welt – die EU und die USA – bei der Gestaltung der Welt eine maßgebliche<br />
Rolle spielen. Die transatlantischen Beziehungen sind durch die gemeinsamen<br />
Werte Demokratie und Freiheit gekennzeichnet, was wir alle anerkennen sollten.<br />
Nicht durch Spaltung, sondern durch Zusammenführung unserer Kräfte können<br />
149
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 150<br />
PIIA-NOORA KAUPPI<br />
wir die Welt zu einem Ort machen, an dem es sich lohnt zu leben. Die<br />
Bekämpfung der Armut, die Verteidigung der Demokratie und das Eintreten für<br />
Menschenrechte sind Fragen, in denen wir auf der Basis unserer gemeinsamen<br />
Werte zusammenarbeiten können und müssen. Nur unter freien demokratischen<br />
Bedingungen gelangt die Wirtschaft zu voller Blüte und mehrt sich der Wohlstand<br />
der Bürger.<br />
Die rasante Entwicklung asiatischer Giganten wie China und Indien stellt die<br />
Europäische Union ebenfalls vor neue Herausforderungen. Ihr Einfluss im globalen<br />
Kontext ist keineswegs zu vernachlässigen, ganz zu schweigen von ihrer<br />
rasch zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung. Durch aktive Beteiligung an<br />
der ökonomischen Entwicklung dieser Gebiete kann Europa seine Position in<br />
der Welt sichern. Jedoch werden in China noch die Menschenrechte verletzt,<br />
wozu die häufige Verhängung der Todesstrafe und das herrschende<br />
Einparteiensystem gehören, das gewaltlose politische Gegner unterdrückt. Das<br />
Problem der Todesstrafe gibt es auch in Indien.<br />
In China sind Glaubens- und Religionsbekundungen noch immer nicht erlaubt.<br />
Wir sollten dies um keinen Preis dulden, sondern uns mutig für die Freiheit der<br />
Menschen einsetzen.<br />
Was die EU anbetrifft, so müssen wir jedoch zur Kenntnis nehmen, dass ein<br />
wirtschaftlicher Riese nur bei entsprechender militärischer Glaubwürdigkeit auch<br />
ein politischer Riese ist. Die Welt hat sich verändert. Kein Staat kann mehr allein<br />
seine Sicherheit garantieren. Noch nicht einmal die USA, der einzige Superstaat<br />
der Welt. Neuen Gefahren, die die Sicherheit bedrohen – wie organisierte<br />
Kriminalität, zusammenbrechende Staaten und Terrorismus – kann man nur durch<br />
enge Zusammenarbeit zwischen Staaten begegnen. Ein Europa der Sicherheit<br />
und Zusammenarbeit liegt im Interesse aller.<br />
150<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 151<br />
Vytautas LANDSBERGIS<br />
Leiter der litauischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
<strong>Vision</strong>en und Handlungsmöglichkeiten<br />
Ideal wäre es, wenn man eine einzige, klare und beständige <strong>Vision</strong> hätte.<br />
Doch, pardon, ich habe mindestens zwei <strong>Vision</strong>en, eine sehr positive und eine<br />
zweite, auf die das bedauerlicherweise nicht zutrifft. Aber zuerst die guten<br />
Nachrichten.<br />
Europa hat sein besonderes Problem bereits gelöst (2020) und die<br />
Ambivalenzen im Zusammenhang mit der Umstrukturierung zu dem, was es<br />
nunmehr ist, überwunden. Eine der Gestaltungsmöglichkeiten Europas wird<br />
manchmal als „Europa plus“ bezeichnet. Das eigentliche Europa – Europa<br />
Propria – entstand im 21. Jahrhundert, um 2020, als Gebilde mit föderalen<br />
Zügen, das auf der unverbrüchlichen Solidarität der ihm angehörenden<br />
Nationalstaaten beruht.<br />
Europa als alte westliche Zivilisation der „Alten Welt“ hat keine – emotionalen<br />
oder wirtschaftlichen – Probleme mehr im Umgang mit den Amerikas. Diese<br />
sind vor allem Kinder Europas. Wenn sich also beide Teile der Familie wieder<br />
lieben, wird die aufrichtige Achtung gegenüber der alternden Mutter und ihrer<br />
multinationalen, multikulturellen Weisheit allen helfen, mit sich selbst und mit<br />
den Nachbarn, Afrika und Asien, in Frieden zu leben.<br />
Mutter Europa hat sich sehr verändert, in erster Linie im Sinne eines multireligiösen<br />
Multikulturismus. Sie wirkt daher wieder jünger, vielleicht wie eine<br />
europäische Kreolin. Seit jenen Umbruchzeiten, da der Nahe Osten sich endlich<br />
für den Frieden entschieden hat, der Iran Vernunft annahm, Russland seine<br />
Dateien und sonstigen Erkenntnisse über internationale Terrororganisationen<br />
offen legte und dazu beitrug, letzteren Einhalt zu gebieten und den Planeten vor<br />
dem Sturz in den Abgrund zu bewahren, fühlt sich Europa fast schon zu sicher.<br />
Irgendwie ist das zu dieser Zeit auch gut, es werden Bilder in hellen, optimistischen<br />
Farben gemalt. Die europäische Musik hat etwas von ihrer früheren<br />
Weltuntergangshysterie verloren. Krankheiten wurden besiegt (wobei für das<br />
151
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 152<br />
VYTAUTAS LANDSBERGIS<br />
nicht mehr ganz so arme Afrika noch einige Krankheiten übrig geblieben sind),<br />
und die Meere, die eine höhere Temperatur aufweisen als früher, werden sich<br />
entsprechend anpassen. Nach den Katastrophen von 2010 nehmen die Wale<br />
wieder Abstand von Massenselbstmorden an verschmutzten Küsten. Die Strände<br />
sind jetzt sauber, sodass die Kinder gern dort spielen. Sie spielen (schon seit 2015)<br />
nicht mehr nicht mehr Krieg, Räuber und Banditen. Nach der Annahme des<br />
Weltgesetzes über das menschliche Leben im Jahr 2013 werden nicht mehr in<br />
großer Zahl menschliche Klone in Labors hergestellt. Die Wälder auf allen<br />
Kontinenten unterliegen der weltweiten Kontrolle und Verantwortlichkeit, und<br />
das postchristliche Europa kehrt nach einer kurzen Phase des spirituellen und<br />
physischen Kannibalismus zu der postpostpostmodernen uralten Verehrung der<br />
Natur zurück. Das bedeutet nicht, wie vorausgesagt, die Entchristianisierung<br />
und den Triumph des Laizismus. Im Gegenteil, der göttliche Ursprung des<br />
menschlichen Lebens wird in einer wesentlich anspruchsvolleren Generalisierung<br />
anerkannt. Die Natur, die uns das Leben schenkt, ist vom Wesen her gut. Der<br />
gute Gott handelt durch die Natur. Daher wird die Natur als die Hand Gottes<br />
anerkannt, die behutsam oder strafend sein kann. Nach schweren Bestrafungen<br />
ist die Menschheit, besonders in Europa, nun sehr viel klüger. Daher spielt<br />
Europa jetzt eine führende Rolle bei allen - pragmatischen und spirituellen -<br />
Aspekten des globalen Umweltschutzes. Nachdem Christen, Juden und Muslime<br />
endlich die gemeinsamen Wurzeln ihres Glaubens anerkannt haben, übersteigt<br />
ihre Zahl insgesamt die rückläufige Zahl der materialistisch eingestellten, konsumorientierten<br />
und egoistischen Nichtgläubigen. Die Philosophen reden mehr<br />
und laufen mehr; sie sitzen nicht nur herum und schreiben, und eine solche<br />
Entwicklung der Kultur hat wiederum einen positiven Einfluss auf die<br />
Herausbildung einer generellen natürlicheren Denkweise der Menschheit.<br />
Die Menschheit hat wieder das Gefühl, dass ihr die Chance gegeben wird,<br />
noch einige Jahrhunderte zu überleben.<br />
Die schlechten Nachrichten lauten natürlich anders.<br />
Die Vereinigung Europas ist auch 2020 noch nicht erreicht und weiterhin<br />
umstritten. Bis zur Annahme der europäischen Verfassung dauerte es fünf Jahre,<br />
und es war ein erheblicher Zusatzaufwand erforderlich. So wurde der ursprünglich<br />
beabsichtigte „föderalistische“ Ansatz verworfen, und es setzte sich das<br />
Konzept souveräner Staaten durch, die durch zuvor in Europäischen Konvents<br />
und in den nationalen Verfassungen zum Ausdruck gebrachte Grundsätze geeint<br />
sind. Die Einheit beruht nunmehr ausschließlich auf der Zusammenarbeit in<br />
den Bereichen Handel und Verteidigung (gegen militärische und ökologische<br />
Bedrohungen). Zugleich kommt es zu einer zunehmenden Spaltung in Bezug<br />
auf die Außenbeziehungen zu den USA, Russland und Afrika sowie in Bezug auf<br />
die unterschiedliche Einschätzung darüber, wie rasch und aus welchen Gründen<br />
die Identität Europas verloren geht. Vor allem die jüngsten Ereignisse in<br />
Osteuropa haben neue Herausforderungen mit sich gebracht, aber auch dazu<br />
152
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 153<br />
VISIONEN UND HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN<br />
geführt, dass die Solidarität wieder zugenommen hat. Nach dem dritten<br />
Zusammenbruch Russlands, der mit der Hinwendung der asiatischen Teile des<br />
Landes (Transural) zu China einherging, ersuchte das europäische Russland<br />
(Moskau) dringend um Aufnahme in die EU und versprach, die Demokratie<br />
einzuführen. In Anbetracht des von Russland geäußerten Wunsches nahm die<br />
EU Verhandlungen mit China darüber auf, das Uralgebiet als Trennlinie zwischen<br />
den zwei Interessengebieten festzulegen.<br />
Die Mischung zwischen postchristlichen Nichtgläubigen und muslimischen<br />
Gläubigen im eigentlichen Europa brachte keine wirkliche Konsolidierung mit<br />
sich. Im Gegenteil, Rassen- bzw. Religionskonflikte treten offen zutage. Jeden<br />
Tag kann es zu Massenauseinandersetzungen in ganz Europa kommen. Da<br />
diese Zehntausende oder Hunderttausende Menschenleben kosten und somit<br />
einen demografischen Ausgleich erfordern, verlagert man die künstliche<br />
Herstellung von Menschen von den Genlabors in die aufstrebende, staatlich<br />
unterstützte Industrie. Als sehr wichtiger Aspekt bei dieser wissenschaftlichen<br />
Entwicklung erwies sich die Fähigkeit, den „neuen Menschen“ genetisch gegen<br />
früher vorherrschende Gefühle, Träume und emotionale Liebe zu wappnen;<br />
letztere wird auf eine reine Sexualpartnerschaft reduziert. Die Institution der<br />
Familie gilt als überholt (bei den Postchristen, nicht jedoch bei den Muslimen),<br />
und da die Reproduktion des Homo sapiens (oder der denkenden Primaten)<br />
mehr und mehr industriell erfolgt, d. h. durch weit verbreitetes Klonen usw., sinkt<br />
die Nachfrage nach Personen männlichen Geschlechts. Für Frauen in den ärmeren<br />
Ländern scheint die Produktion von Eizellen und Embryonen der neueste<br />
aussichtsreiche Beruf zu sein.<br />
Da die Warnungen vor der Erderwärmung trotz der Protokolle und Übereinkommen<br />
praktisch außer Acht gelassen wurden, kam es zu einem Anstieg der<br />
Meere. Deshalb planen europäische Länder mit großen Hafenstädten – in einigen<br />
Fällen liegt sogar die Hauptstadt an der Küste – mitunter überstürzt den Bau<br />
riesiger Dämme zum Schutz ihrer auf die Städte konzentrierten Zivilisation.<br />
Unter der Geißel von Krankheiten, die ein Massensterben verursachen (und<br />
von denen einige absichtlich eingeschleust wurden, um eine Bevölkerungsexplosion<br />
und ein Aufbegehren der armen Kontinente z. B. gegen Europa zu<br />
verhindern) und der Grausamkeit globaler terroristischer Strukturen, die sich<br />
beinahe schon zu einer allumfassenden internationalen Diktatur entwickelt<br />
haben, floriert der verzweifelte populistische Glaube an kosmische Retter oder<br />
die vermeintliche Chance, diesem verrückt gewordenen Planeten durch<br />
Auswanderung ins Weltall (in den Kosmos) entfliehen zu können, und es entsteht<br />
eine Vielzahl gewaltiger neuer Sekten. Aufgrund ihrer Uneinigkeit sind<br />
sie hilflos gegenüber den bevorstehenden Erlassen der Zentralen Weltbehörde,<br />
die von der Union des Weltterrorismus ausgerufen werden. So waren viele<br />
Europäer offenbar dazu bereit, aus pragmatischen Gründen zu kapitulieren und<br />
die eigensinnigen USA ihrem Schicksal zu überlassen.<br />
153
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 154<br />
VYTAUTAS LANDSBERGIS<br />
Schließlich weiß in diesem terroristischen Szenario irgendjemand, was zu<br />
tun ist, die pessimistische Stimmung wird von neuer Hoffnung durchbrochen und<br />
weicht unverzüglich einer optimistischen Stimmung.<br />
Deshalb gibt es heute keinen Grund zum Pessimismus, was Europa um das<br />
Jahr 2020 betrifft.<br />
154<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 155<br />
Wilfried MARTENS<br />
Vorsitzender der Europäischen Volkspartei<br />
Die Zukunft der Lissabon-Strategie:<br />
Europa auf den Wachstumspfad bringen<br />
„Um Reichtum gerecht aufteilen zu können,<br />
muss er zuerst einmal geschaffen werden.“<br />
ADAM SMITH<br />
In den vergangenen 50 Jahren hat die Einigung Europas nicht nur zu einer<br />
Periode des Friedens und der friedlichen Lösung von Konflikten auf unserem<br />
Kontinent geführt, wie sie bis dahin unbekannt war, sondern durch Freizügigkeit<br />
und offene Märkte auch ein hervorragendes Beispiel für die Schaffung von<br />
Wohlstand gegeben. Die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration hat es<br />
möglich gemacht, dass Europa durch wirtschaftliche Macht und Wohlstand für alle<br />
zu einer der mächtigsten Regionen in der Welt geworden ist.<br />
Im Zuge der Globalisierung sind allerdings auch andere Regionen der Welt im<br />
Verlauf der letzten Jahrzehnte zu bedeutenden Akteuren im Weltmaßstab geworden;<br />
viele von ihnen haben sich vor allem in dem zu Ende gegangenen Jahrzehnt<br />
schneller als die Europäische Union entwickelt. Das hat Europa vor neue<br />
Herausforderungen gestellt.<br />
So muss beispielsweise das europäische Sozialmodell gründlich reformiert<br />
werden. Die Werte dieses Modells (Leistung und soziale Gerechtigkeit, Wettbewerb<br />
und Solidarität, persönliche Verantwortung und soziale Sicherheit) spielen im<br />
Zusammenhang mit globalisierten Märkten und schnellen Veränderungen im<br />
Wirtschaftsleben auch weiterhin eine große Rolle. Die Herausforderung besteht<br />
darin, neue starke Marktkräfte mit Menschlichkeit, wirtschaftliche Dynamik mit<br />
sozialer Verantwortung zu verknüpfen. Wohlstand lässt sich jedoch nicht verteilen,<br />
und soziale Gerechtigkeit kann nicht geübt werden, wenn unsere<br />
Gesellschaften nicht in eine dynamische Wirtschaft eingebettet und in der Lage<br />
sind, sich an einen immer stärker durch Wettbewerb geprägten globalen Markt<br />
anzupassen.<br />
Parallel dazu machen das Altern unserer Gesellschaften und die demografi-<br />
155
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 156<br />
WILFRIED MARTENS<br />
sche Entwicklung insgesamt deutlich, dass ein familienfreundlicheres Umfeld<br />
geschaffen werden und Männern und Frauen vor allem die Möglichkeit gegeben<br />
werden muss, Beruf und Kinder in Einklang zu bringen.<br />
Die im Jahr 2000 angenommene Lissabon-Agenda enthält gute Ansatzpunkte<br />
für Reformen, um mehr Arbeitsplätze in Europa zu schaffen und unseren<br />
Wohlstand zu sichern. Allerdings besteht in mehreren Mitgliedstaaten beträchtlicher<br />
Widerwillen gegen viele Reformen des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes.<br />
Es hat sich deutlich gezeigt, dass sich die Länder, die frühzeitig Reformen in<br />
Angriff genommen haben, in einer wesentlich besseren Position befinden als die<br />
reformunwilligen.<br />
Heute gehört die Lissabon-Agenda zu den grundlegenden Prioritäten der<br />
neuen Kommission unter dem Vorsitz von José Manuel Barroso. Präsident Barroso<br />
verkündete vor kurzem die „Wachstums- und Beschäftigungsstrategie “, und es<br />
überrascht nicht, dass sie dem Geist der seit langem vorliegenden EVP-Vorschläge<br />
für die Belebung der Lissabon-Strategie entspricht. Diese neue Strategie nehmen<br />
wir vor allem deshalb mit Erleichterung auf, weil sie die Kernfragen, das heißt<br />
Wachstum und Arbeitsplätze, in den Vordergrund stellt, denn dies sind die notwendigen<br />
Instrumente, um die europäischen Ziele zu erreichen. Auch<br />
Premierminister Juncker, der luxemburgische Ratsvorsitzende, hat die Lissabon-<br />
Strategie in seine Prioritätenliste aufgenommen.<br />
Wenn wir unsere gemeinsamen Ziele erreichen und die Herausforderung<br />
annehmen wollen, die Wohlstand und das reibungslose Funktionieren eines<br />
modernen europäischen Sozialmodells bedeuten, müssen sich die EU und die<br />
Mitgliedstaaten gemeinsam in diesen Prozess einbringen. Nur die Regierungen,<br />
die wirklich mutige Maßnahmen und Reformen einleiten, bringen mit großem<br />
Erfolg den Europäern Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung. Um voranzukommen<br />
ist daher eine Reformagenda vonnöten.<br />
Leider befinden sich die europäischen Volkswirtschaften bei Wachstum und<br />
Beschäftigung derzeit auf einem enttäuschend niedrigen Leistungsniveau. In vielen<br />
Regionen der Welt geht die Entwicklung schneller voran als in Europa, vor<br />
allem in den USA, in Asien und in vielen anderen OECD-Ländern. Wir brauchen<br />
flexiblere Arbeitsmärkte und lebensbegleitendes Lernen; wir müssen die Mobilität<br />
der Arbeitnehmer verbessern und die Kosten des Faktors Arbeit senken. Es gilt,<br />
die Verwaltungsbürokratie zu verringern, um Unternehmergeist zu befördern<br />
und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Kluft zwischen uns und anderen führenden<br />
Wettbewerbern auf technischem Gebiet wird nicht kleiner – im Gegenteil, sie<br />
wächst weiter.<br />
Die Europäische Volkspartei setzt alles daran, die in Lissabon vereinbarten<br />
Maßnahmen möglichst umfassend auf europäischer sowie auf einzelstaatlicher<br />
Ebene umzusetzen. Als stärkste politische Kraft in Europa werden wir in den<br />
kommenden Monaten und Jahren all unsere Energie und Aufmerksamkeit diesem<br />
Thema widmen. Wir fühlen uns verpflichtet, Europa fit für die Zukunft zu machen.<br />
Wachstum schafft Beschäftigung und Wohlstand. Europas Rolle in der Welt kann<br />
156
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 157<br />
DIE ZUKUNFT <strong>DE</strong>R LISSABON-STRATEGIE<br />
nur durch kühne Reformen gesichert und gestärkt werden – und damit Wohlstand<br />
und effiziente und bezahlbare Systeme der sozialen Sicherheit für alle geschaffen<br />
werden.<br />
Europa hat in der Vergangenheit unter Beweis gestellt, dass es in der Lage ist,<br />
umfassende Reformen und neue Ideen zu verwirklichen. Jetzt ist es höchste Zeit,<br />
unsere Anstrengungen auf Reformen für die Schaffung von mehr Wachstum und<br />
Beschäftigung zu konzentrieren. Nur starke und reformierte Gesellschaften werden<br />
sichere Einkommen für alle in Europa gewährleisten.<br />
Es steht außer Zweifel, dass Wachstum in Europa mehr politische<br />
Entschlossenheit, Führungskraft und Ergebnisse erfordert, um die Zielvorgaben<br />
von Lissabon zu erreichen. Allerdings wurde den auf der Lissabonner Ratstagung<br />
festgelegten Zielen auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene nicht immer<br />
Vorrang eingeräumt.<br />
Es ist zwar richtig, dass die Lissabon-Strategie zum Teil auf falschen Annahmen<br />
in Bezug auf das zukünftige Wirtschaftswachstum beruht, doch meist wird geringes<br />
Wirtschaftswachstum lediglich als Entschuldigung angeführt. Die EU-Staaten<br />
stehen nicht voll und ganz hinter dem Lissabon-Prozess und haben das ursprünglich<br />
Vereinbarte nicht umgesetzt. Eine deutliche Ausnahme bildet hier das erfolgreiche<br />
Reformmodell der sozialen Marktwirtschaft, das in der zweimaligen Amtszeit<br />
von José María Aznar in Spanien umgesetzt wurde.<br />
Die Europäische Volkspartei arbeitet seit langem intensiv an der<br />
Wiederaufnahme der Lissabon-Agenda und stellt Überlegungen zur Verbesserung<br />
des Lissabon-Prozesses an. Diese Arbeit wurde lange vor der Veröffentlichung<br />
des Berichts der von der Kommission eingesetzten Hochrangigen Sachverständigengruppe<br />
unter Leitung von Wim Kok vorgelegt, um einen Beitrag zu dieser Debatte<br />
sowie zu der bevorstehenden Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie zu leisten.<br />
Viele der im Bericht Kok enthaltenen Vorschläge entsprachen in etwa denen<br />
der EVP. Die Hochrangige Sachverständigengruppe der Kommission nahm zwar<br />
die richtige Analyse vor, doch viele der erforderlichen grundlegenden<br />
Empfehlungen wurden nur ungenügend dargestellt.<br />
Ausgangspunkt der EVP-Empfehlung ist die Wettbewerbsfähigkeit, d. h. die<br />
Schaffung einer soliden Basis für Unternehmertum und Innovation. Die<br />
Wettbewerbsfähigkeit muss zum alles beherrschenden Grundsatz der gesamten<br />
Wirtschaftspolitik werden.<br />
Ein weiteres Kernelement der EVP-Empfehlungen ist die Beschäftigung, wobei<br />
die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, eine Sozialpartnerschaft für Arbeitnehmer,<br />
ihr allgemeiner und beruflicher Bildungsstand, ihr Vertrauen in ein hohes Niveau<br />
der sozialen Sicherheit im Mittelpunkt stehen.<br />
Noch vor dem Bericht Kok forderte die EVP, dass EU-Rat und -Kommission<br />
konkrete Ziele für die Mitgliedstaaten bekannt geben und analysieren. Das ist<br />
wichtig, um die individuelle Verantwortung jedes einzelnen EU-Mitgliedstaates besser<br />
hervorheben zu können.<br />
157
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 158<br />
WILFRIED MARTENS<br />
Die Maßnahmen müssen konkret, nicht oberflächlich sein. Nur wenn wir uns<br />
auf die Kernfragen der Lissabon-Agenda konzentrieren, das heißt auf die Schaffung<br />
neuer und besserer Arbeitsplätze durch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und<br />
die Modernisierung unserer Gesellschaften, können wir wirklich erfolgreich sein.<br />
Die EVP hat die Pflicht, offen zu erklären, dass sich die Europäische Union und<br />
ihre Mitgliedstaaten nicht an den Plan von Lissabon gehalten haben. Das bedeutet<br />
jedoch keineswegs, dass wir dem Lissabon-Prozess eine Absage erteilen. Wir<br />
müssen unsere Anstrengungen jetzt mehr denn je zuvor erhöhen. Es geht um<br />
eine bessere Zukunft für unsere Menschen und um das europäische Modell.<br />
Ferner müssen wir uns weiter strikt an die Regeln des Stabilitäts- und<br />
Wachstumspakts halten. Es steht außer Zweifel, dass der Pakt für die Erhaltung einer<br />
gesunden wirtschaftlichen Perspektive unabdingbar ist. Der Versuch, für die<br />
Nichteinhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts die für das Erreichen der<br />
Ziele der Lissabon-Strategie erforderlichen Anstrengungen verantwortlich zu<br />
machen, kann nicht hingenommen werden.<br />
Es versteht sich von selbst, dass die EVP auch weiterhin ihren Beitrag zum<br />
Lissabon-Prozess leisten und die Bemühungen der neuen Kommission unter<br />
Leitung von Präsident Barroso um die erfolgreiche Umsetzung der Lissabon-<br />
Strategie unterstützen wird.<br />
Unsere Vorschläge, die weiterhin gültig sind, beruhen auf Folgendem:<br />
1. Motivation des erweiterten Europas in Richtung Beschleunigung der<br />
Wirtschaftsreformen und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit.<br />
2. Bestätigung und Neuausrichtung der Lissabon-Strategie, um das Engagement<br />
der EU-Mitgliedstaaten zu erneuern. Konzentration auf die Hauptelemente der<br />
Lissabon-Agenda.<br />
3. Folgende Aspekte müssen im Mittelpunkt stehen:<br />
– Wettbewerbsfähigkeit muss zum alles beherrschenden Grundsatz der gesamten<br />
Wirtschaftspolitik werden,<br />
– Beschäftigung, bei besonderer Betonung einer größeren Flexibilität der<br />
Arbeitsmärkte.<br />
– Sozialpartnerschaft, Motivation der Arbeitnehmer, der allgemeine und berufliche<br />
Bildungsstand der Arbeitnehmer, ihr Vertrauen in ein hohes Niveau der<br />
sozialen Sicherheit und das Gefühl, Teil des Unternehmens zu sein, um so einen<br />
Ansporn für die Erhöhung der Produktivität und die Schaffung von Arbeitsplätzen<br />
zu geben.<br />
4. Beschleunigung aller notwendigen Strukturreformen als Kernaktivität der<br />
EU, um ein Höchstmaß an Wettbewerbsfähigkeit zu erzielen und Wachstum und<br />
Beschäftigung zu fördern.<br />
5. Festlegung der einzelnen Mitgliedstaaten auf die gemeinsam vereinbarten<br />
Reformziele.<br />
6. Strikte Einhaltung der sich aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt ergebenden<br />
Verpflichtungen und Verbesserung seiner künftigen Umsetzung durch<br />
158
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 159<br />
DIE ZUKUNFT <strong>DE</strong>R LISSABON-STRATEGIE<br />
Übertragung größerer Befugnisse an die Kommission im Rahmen des Überwachungs-<br />
und Entscheidungsmechanismus des Paktes.<br />
7. Freisetzung des Potenzials von KMU und neu gegründeten Firmen bei der<br />
Schaffung von Arbeitsplätzen durch Nutzung der von der EU-Kommission vorgeschlagenen<br />
Instrumente, insbesondere durch:<br />
– den Abbau von Verwaltungsbürokratie auf einzelstaatlicher und EU-Ebene,<br />
– die Reform der Systeme der Personen- und Körperschaftsteuern auf einzelstaatlicher<br />
Ebene durch Nutzung der mit KMU und Neugründungen andernorts<br />
gesammelten Erfahrungen,<br />
– die Reform der Besteuerung, so dass auch KMU in die Lage versetzt werden,<br />
langfristige Spareinlagen vorzunehmen.<br />
8. Ergänzung der Beschäftigungsstrategie, indem:<br />
– Maßnahmen schnellstens abgeschafft werden, die Menschen, insbesondere<br />
Frauen, von einer Beschäftigung abhalten,<br />
– verstärkt in Kinderbetreuungseinrichtungen investiert wird, um es einem<br />
breiteren Personenkreis, insbesondere Frauen, zu ermöglichen, in den Arbeitsmarkt<br />
einzusteigen,<br />
– ein „familienfreundliches“ Umfeld geschaffen wird, das es jungen Familien<br />
gestattet, ihren Beruf mit dem Kinderwunsch in Einklang zu bringen,<br />
– eine bessere Einwanderungspolitik verfolgt wird, die den Arbeitsmarktbedürfnissen<br />
gerecht wird und die Integration der Einwanderer verbessert.<br />
9. Reform des Europäischen Sozialmodells, um Beschäftigung und Wachstum zu<br />
fördern:<br />
– Reformen müssen in sozial vertretbarer Weise laufend fortgeführt werden,<br />
um die Systeme der sozialen Sicherheit langfristig finanziell abzusichern.<br />
– Generell müssen bei der Reform der Systeme des Sozialschutzes und der<br />
sozialen Sicherheit alle Merkmale Berücksichtigung finden, die sich aus den<br />
neuen Beschäftigungsverhältnissen ergeben.<br />
10. Verbesserung der Rahmenbedingungen für Ausgaben der öffentlichen Hand<br />
und der Privatwirtschaft für Forschung und Entwicklung.<br />
11. Verbesserung der Finanzierung des Hochschulwesens und Stärkung des Bereichs<br />
postgradualer Studien.<br />
12. Uneingeschränkte Unterstützung der Kommission bei ihren Bemühungen,<br />
durch Sensibilisierungskampagnen zur Förderung des Unternehmertums ein<br />
unternehmerfreundlicheres Umfeld zu schaffen, Unterstützung schnell wachsender<br />
Unternehmen, Förderung von Unternehmertum in sozialen Bereichen,<br />
Unterstützung von Mikrounternehmen bei Personaleinstellungen durch<br />
Vorschriftenvereinfachung und Erleichterung des Zugangs von KMU zu öffentlichen<br />
Aufträgen, Reduzierung von Kosten und Aufwand bei Neugründungen,<br />
Stärkung der Unternehmenskultur in Europa und Erleichterung des Zugangs neu<br />
gegründeter Unternehmen zu Kapital.<br />
13. Berücksichtigung der Erfordernisse der wissensbasierten Wirtschaft durch<br />
159
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 160<br />
WILFRIED MARTENS<br />
Reformierung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung, einschließlich<br />
der Vermittlung unternehmerischen Wissens an Jugendliche.<br />
14. Verfolgung einer nachhaltigen Entwicklungsstrategie, in die der Beitrag der<br />
Forschungstätigkeit im Bereich neue Technologien zur Verbesserung der<br />
Energieeffizienz und des Umweltzustands einbezogen wird, und besondere<br />
Betonung der Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit.<br />
Nur wenn der Lissabon-Prozess von den europäischen Gesellschaften angenommen<br />
wird, kann er zu einem wirklichen Erfolg werden. Alle an diesem<br />
Prozess Beteiligten haben die Pflicht, den Europäern die Bedeutung von Lissabon<br />
sowie die sich für jeden daraus ergebende beachtliche wirtschaftliche und soziale<br />
„Dividende“ in geeigneter Weise nahe zu bringen. Der Erfolg des Lissabon-<br />
Prozesses muss für alle Europäer das gemeinsame Ziel sein, damit auch ein<br />
Europa für alle gesichert ist.<br />
160<br />
Februar 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 161<br />
Jaime MAYOR OREJA<br />
Stellvertretender Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Leiter der spanischen Delegation<br />
Europa: Eine Geschichte der Freiheit<br />
Eine gute Definition für Europa abzugeben ist schwieriger als eine Stecknadel<br />
im Heuhaufen zu finden. Europa steht im Grunde für die Geschichte eines allgemeinen<br />
Konflikts, in dem irgendwann einmal alle Länder miteinander im<br />
Krieg lagen. Von daher versteht sich, dass der oberste Leitgedanke der Union<br />
das Streben nach dauerhaftem Frieden ist, nach einem Gleichgewicht der Kräfte,<br />
nach Überwindung ausschließlich nationalen Denkens und nach einem gemeinsamen<br />
Konzept, das eine verantwortungsbewusste Regierungsführung und das<br />
sozio-ökonomische Wohlergehen seiner Völker und Bürger zum Ziel hat.<br />
Europa hat zwei Sehnsüchte, zwei große Träume: Harmonie und Fortschritt. Die<br />
Architekten dieses Projekts wissen seit langem, dass es die eng gefasste<br />
Vorstellung von Europa als lediglich gemeinsamer Markt zu überwinden gilt,<br />
wenn weitere Fortschritte in der richtigen Richtung erzielt werden sollen. Die<br />
Union will sehr viel mehr als nur das. Daher haben wir in jüngster Zeit vor allem<br />
auf die Definition einer Reihe gemeinsamer Werte hingearbeitet, mit denen<br />
dem geografischen, kulturellen und geschichtlichen Raum, auf dem, Gott sei<br />
Dank, keine sichtbaren Mauern mehr stehen, die uns in Gute und Böse trennen,<br />
eine eigene moralische Identität gegeben werden kann. So wie im politischen<br />
Bereich muss auch hier der Gedanke des vorwiegend Nationalen durch<br />
den des Supranationalen abgelöst werden. Es ist höchste Zeit, dass im Bereich<br />
der Werte Menschenwürde und Menschenrechte vor dem Recht der Staaten<br />
rangieren.<br />
Der Erfolg des europäischen Integrationsprozesses wird künftig gemessen<br />
werden an dem Einsatz der Union für die Achtung der Menschenwürde, Freiheit,<br />
Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der<br />
Menschenrechte einschließlich der Rechte von Minderheiten. Diese Werte sind<br />
allen Mitgliedstaaten gemeinsam in einer Gesellschaft, die sich durch Pluralismus,<br />
Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichstellung<br />
von Frauen und Männern auszeichnet (Artikel I-2 der Europäischen Verfassung).<br />
161
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 162<br />
JAIME MAYOR OREJA<br />
Diese Werte definieren die europäische Identität, sind Bestandteil dieser Identität.<br />
Bei der Union handelt es sich nicht mehr nur um eine herkömmliche internationale<br />
Organisation mit wirtschaftlichen Zielen, sondern vor allem um eine<br />
Wertegemeinschaft. Nach Jahrhunderten Kriegen auf dem Kontinent schöpft<br />
sie ihre Daseinsberechtigung daraus, „den Frieden, ihre Werte und das<br />
Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Die Union bietet ihren Bürgerinnen und<br />
Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne<br />
Binnengrenzen“ (Artikel I-3 der Europäischen Verfassung). Wenn es Europa<br />
nicht gelingt, in den nächsten Jahren eine Antwort zu finden auf die vielfältigen<br />
Instabilitäts- und Unsicherheitsfaktoren, die die Hoffnung von Millionen<br />
Europäern auf ein Leben in Frieden und Freiheit bedrohen, werden wir scheitern<br />
mit unserem gemeinsamen Konzept, unserem gemeinsamen Bestreben,<br />
für die heutige wie künftige Generationen eine Zukunft in Wohlstand zu sichern.<br />
Denn Wohlstand ist nicht allein das Ergebnis wirtschaftlicher Konzepte. Wir<br />
dürfen nicht zulassen, dass der Fortschrittsgedanke ausschließlich auf seine<br />
rein materielle und technische Dimension reduziert wird, die, von anderen<br />
Schwachstellen abgesehen, den Wertesystemen anderer Zivilisationen Tür und<br />
Tor öffnet. Nicht wenige Stimmen warnen, die Renaissance des Islam werde zum<br />
Teil von der Vorstellung genährt, dieser biete ein solides geistiges Fundament<br />
an, das geeignet sei, die Lücke zu schließen, die sich auf diesem Gebiet in<br />
Europa auftue.<br />
Über viele Jahre hinweg stand der demokratische Sozialismus der katholischen<br />
Soziallehre nahe. Das war die Partei der deutschen und englischen<br />
Katholiken. Doch mit der Zeit machte ihre Interkonfessionalität der Versuchung<br />
Platz, den Laizismus zur Religion zu erheben, die sich schließlich durchsetzte<br />
und das Idol Technik auf den höchsten Altar der allgemeinen Verehrung erhob.<br />
Nach dem Glaubensbekenntnis dieser Religion garantieren funktionierende<br />
materielle Bedingungen Glück für alle. Als moralisch gilt all das, was sich diesem<br />
Ziel unterordnet, und allen unabhängigen Werten, die das Ziel in Frage stellen<br />
könnten, wird mit Verdacht begegnet. Das Individuum hat sich den<br />
Notwendigkeiten des Systems unterzuordnen und wird genötigt, sein<br />
Erstgeburtsrecht für einen Teller voll materiellen Fortschritts herzugeben, für eine<br />
Portion dieser wissenschaftlich perfektionierten Zukunft, die zur einzigen<br />
Gottheit unserer Zeit erhoben wird.<br />
Es ist ein Trugschluss zu meinen, religiöse Gedanken, ethische Werte und<br />
geistige Prinzipien gehörten allein in den Bereich der Gefühle und nicht in<br />
den der Vernunft. Die Diskussion darüber muss ins Bewusstsein der Öffentlichkeit<br />
gerückt werden. Andernfalls geraten wir schließlich in die widersinnige<br />
Situation, dass wir mit ansehen müssen, wie die europäischen Werte, die<br />
Europas Identität gestiftet haben, unterzugehen und wie Treibgut nach einem<br />
Schiffbruch abzudriften drohen.<br />
In seiner vollen Bedeutung ersteht vor diesem Hintergrund der Gedanke,<br />
162
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 163<br />
EUROPA: EINE GESCHICHTE <strong>DE</strong>R FREIHEIT<br />
Frieden, internationale Sicherheit und Stabilität zu Grundzielen der Europäischen<br />
Union zu machen, damit wir Bürger Europas der Welt nicht nur ein Beispiel für<br />
den Erfolg eines wirtschaftlichen Projekts liefern, sondern ihr zugleich als<br />
Akteure und Nutznießer des gemeinsamen Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />
und des Rechts gegenübertreten. In dem künftigen Europa aus 30 Staaten, zu<br />
denen immer mehr „kleine“ Länder gehören werden, werden die großen<br />
Entscheidungsgewalt abtreten müssen. Der Kampf gegen die Gefahren, die<br />
unsere gemeinsamen Interessen bedrohen, muss daher über die politische<br />
Willensbildung aller geführt werden.<br />
Jede Etappe auf dem Weg nach Europa hat neue Erwartungen hervorgebracht,<br />
die über einen höheren Grad an Integration erfüllt wurden. Die europäische<br />
Integration war von Anfang an der Freiheit und der Verteidigung der<br />
Menschenrechte verpflichtet, sie ging mit dem Aufbau demokratischer<br />
Institutionen und mit striktester Wahrung der Rechtsstaatlichkeit einher. Das<br />
zukünftige Inkrafttreten der Europäischen Verfassung, die im Rahmen der dritten<br />
Säule im Bereich Justiz und Polizei die Vergemeinschaftung der<br />
Zusammenarbeit in Strafsachen vorsieht, bietet außerordentlich gute Gelegenheit<br />
für eine effiziente europäische Antwort auf die neuen Probleme der<br />
Gemeinschaft.<br />
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und vom 11. März 2004<br />
erübrigt es sich zu sagen, dass der islamische Terrorismus die neue große<br />
Gefahr ist, die Europa und die westliche Welt bedroht. Nie zuvor war das koordinierte<br />
Miteinander aller demokratischen Staaten zur Gewährleistung der<br />
Sicherheit innerhalb und außerhalb der eigenen Grenzen so notwendig wie<br />
heute. Die Komplexität dieser Aufgabe kann keiner übersehen. Einer starken,<br />
abgestimmten Antiterrorpolitik muss der Vorrang eingeräumt werden. Nur<br />
wenn wir geschlossen unsere gemeinsamen Interessen verfechten und diese<br />
unbeirrbar verteidigen, erlangt das gemeinsame Projekt im Dienste des Friedens –<br />
die Wiedervereinigung Europas – Glaubwürdigkeit und Ausstrahlung.<br />
Der Kampf gegen den Terrorismus erfordert besondere Maßnahmen zur<br />
Vernichtung der verschiedenen Gruppierungen, die ihn tragen. Auch wenn sie<br />
alle der Wille eint, die Grundrechte der Menschen zu beseitigen, zeichnen sie<br />
sich doch durch jeweils eigene Motive, Handlungsweisen und Strategien aus.<br />
Die Freizügigkeit von Personen, das Recht auf Sicherheit, Gedanken-,<br />
Meinungs- und Informationsfreiheit, das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz<br />
und die Verpflichtung der europäischen Institutionen, dem Einzelnen zugefügte<br />
Schäden zu lindern, sind nur einige der mit dem Recht auf Freiheit<br />
untrennbar verbundenen Aspekte. Doch sei zugleich in Erinnerung gerufen, dass<br />
es keine Rechte ohne Schranken gibt. Das Recht auf Freiheit gilt es dort zu<br />
verteidigen, wo schrankenlose Freiheit dafür herhalten soll, die Freiheit im<br />
Interesse freiheitsfeindlicher Ideologien zu vernichten. Die Medien berichten<br />
ausführlich über Terroranschläge, und oftmals ruft die vermeintliche Straffreiheit<br />
163
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 164<br />
JAIME MAYOR OREJA<br />
derer, die solcher Gräueltaten verdächtigt werden, bei den Bürgern, die voller<br />
Schrecken und Abscheu die verheerenden Auswirkungen sehen, ein gewisses<br />
Ohnmachtsgefühl hervor. Daher kommt es darauf an, im Rahmen der<br />
Terrorismusbekämpfung das Problembewusstsein zu schärfen und eine effiziente<br />
Informationspolitik zu fördern, mit der den Bürgern Europas die<br />
Gewissheit gegeben wird, dass Europa über ein politisches Konzept für den<br />
Kampf gegen diese massive und permanente Verletzung der Menschenrechte<br />
verfügt.<br />
Im Rahmen der Informations- und Kommunikationsstrategie der europäischen<br />
Institutionen ist den grundlegenden Maßnahmen der Union im Kampf<br />
gegen den Terrorismus besondere Beachtung zu schenken. So wurde beim<br />
europäischen Haftbefehl und in der Auslieferungsfrage vorgegangen, und so<br />
sollte es auch bei den entsprechenden Initiativen gehandhabt werden, mit<br />
denen den destruktiven Kräften ein Ende bereitet werden soll, die heute<br />
Millionen Menschen auf der ganzen Welt in Angst und Schrecken versetzen. Das<br />
ist ein grundlegender Aspekt der Kommunikation. Eine doppelte Krise, ausgelöst<br />
sowohl durch die menschliche Tragödie als auch durch den Verlust des<br />
Vertrauens in die demokratischen Institutionen, lässt sich bei einem<br />
Terroranschlag nur dann vermeiden, wenn vorbeugende Maßnahmen erfolgt<br />
sind und die Gesellschaft diese auch wahrgenommen hat. Lösungen dürfen<br />
nicht erst im Anschluss an Anschläge folgen. Information, Prävention und politisches<br />
Konzept müssen das Ergebnis vorausgegangener Debatten sein, von<br />
denen alle Bürger Europas Kenntnis haben müssen.<br />
Darüber hinaus muss uns die Tatsache, dass die Europäische Union eine<br />
klare humanistische Ausrichtung hat, veranlassen, dafür Sorge zu tragen, dass<br />
den Terrorismusopfern die entsprechende Zuwendung zuteil wird. Nach<br />
Auffassung der Europäischen Volkspartei sind hierzu die folgenden Maßnahmen<br />
umzusetzen:<br />
— Einrichtung eines europäischen Büros zur Unterstützung von Terrorismusopfern<br />
bei der Europäischen Kommission.<br />
— Errichtung einer europäischen Stiftung für Terrorismusopfer unter<br />
Schirmherrschaft des Präsidenten der Europäischen Kommission, des Präsidenten<br />
des Europäischen Parlaments und des Ratspräsidenten.<br />
— Einstufung des Terrorismus als Straftatbestand der Kategorie Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit und dessen Unterwerfung unter die Zuständigkeit<br />
des Internationalen Strafgerichtshofs.<br />
Illegale Zuwanderung und Menschenhandel sind Erscheinungen, die eng mit<br />
dem Terrorismus und der organisierten Kriminalität verbunden sind. Sie gefährden<br />
in nicht hinzunehmender Weise die Sicherheit und Stabilität unserer<br />
Gesellschaften. Wenn wir den Bürgern eine sicherere Gesellschaft bieten wollen,<br />
ist es unsere Pflicht, diesen Gefahren entschlossen die Stirn zu bieten. Im<br />
Sicherheitsbereich kann die Europäische Union eindeutig mehr bewirken als<br />
164
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EUROPA: EINE GESCHICHTE <strong>DE</strong>R FREIHEIT<br />
Einzelaktionen ihrer Mitgliedstaaten. Daher muss sich die Europäische<br />
Volkspartei dafür einsetzen, dass die auf den Ratstagungen von Sevilla und<br />
Saloniki erarbeitete gemeinsame Zuwanderungspolitik, die Umsetzung des<br />
Artikels III-267 des Vertrags über eine Verfassung für Europa und das „Haager<br />
Programm“ Wirklichkeit werden. Der gemeinschaftlichen Abstimmung bedarf<br />
das Ausnahmeverfahren zur Regelung des Rechtsstatus illegaler Zuwanderer.<br />
Einseitige Initiativen ohne Zustimmung der EU-Institutionen, wie sie jüngst in<br />
einigen Ländern der Union zu verzeichnen waren, dürfen nicht hingenommen<br />
werden.<br />
Im Grünbuch der Europäischen Kommission über ein EU-Konzept zur<br />
Verwaltung der Wirtschaftsmigration wird eingeräumt: „Beschließt ein<br />
Mitgliedstaat, solche Drittstaatsangehörigen zuzulassen, hat dies allerdings<br />
Auswirkungen auf die anderen Mitgliedstaaten (Reisefreiheit im Schengen-<br />
Raum, Dienstleistungsfreiheit in anderen Mitgliedstaaten, das Recht, nach<br />
Erlangen der Daueraufenthaltsgenehmigung seinen Wohnsitz in andere<br />
Mitgliedstaaten zu verlegen, Auswirkungen auf den EU-Arbeitsmarkt); außerdem<br />
hat die EU internationale Verpflichtungen gegenüber einigen Gruppen<br />
von Wirtschaftsmigranten. Es spricht daher viel für die Vereinbarung transparenter<br />
und auf EU-Ebene stärker vereinheitlichter gemeinsamer Regeln und<br />
Kriterien für die Zulassung von Wirtschaftsmigranten.“<br />
Es geht keinesfalls darum, irgendeiner Kultur den Rücken zuzukehren. Wir<br />
sollten uns allen öffnen, ohne jedoch den Kern unserer eigenen Identität aus<br />
dem Blick zu verlieren. Der Multikulturismus, der von manchen so leidenschaftlich<br />
propagiert wird, hat sich bedauerlicherweise in einen Verzicht auf das<br />
Eigene verkehrt. Wer seine Verfechter reden hört, gewinnt den Eindruck, als sei<br />
die Öffnung für fremde Werte vom positiven Bemühen um Verständnis und<br />
Bereicherung in eine Flucht vor jeder Regel umgeschlagen, bzw., wenn man<br />
so will, in die typische Selbstzerstörung von jemandem, der sich selbst nicht<br />
mehr mag. Hierzu kann ich einen unwiderlegbaren Beweis nennen: In unserer<br />
heutigen Gesellschaft wird bestraft, wer Juden in ihrem Glauben beleidigt<br />
oder den Koran kriminalisiert; wer sich jedoch über Jesus Christus lustig macht,<br />
erfährt Ehrungen, und dazu wird von den Intellektuellen mit Pauken und<br />
Trompeten die Hymne der Meinungsfreiheit aufgespielt.<br />
Unsere Geschichte, eine Geschichte von Kompromissen mit dem Ziel, unseren<br />
Kontinent in Frieden, Freiheit und Wohlstand aufzubauen, einen Kontinent,<br />
der die Menschenrechte achtet und im Innern wie auch nach außen hin geeint<br />
und solidarisch auftritt, ist uns politisch und moralisch Ansporn, den neuen<br />
Bedrohungen entgegenzutreten und vor allem eine wirksame Lösung zu finden,<br />
die als Grundlage für das Vorgehen des Rechtsstaats, der Sicherheitskräfte<br />
und der Justiz dient. Dabei dürfen wir nicht aus dem Blickfeld verlieren, dass<br />
das Wesen der europäischen Identität auf dem Spiel steht. Die Öffnung für<br />
andere Kulturen darf nicht dafür herhalten, dass totalitäre Prinzipien geduldet<br />
165
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 166<br />
JAIME MAYOR OREJA<br />
werden, die unter dem Deckmantel der religiösen Grundsätze anderer unsere<br />
eigene Toleranz abzuschaffen drohen. Die Antwort auf diese Herausforderung<br />
hat nur dann Wirkung, wenn sie sich auf ernsthafte Zusammenarbeit auf europäischer<br />
und internationaler Ebene und natürlich auf echte Verbundenheit und<br />
Solidarität mit den Opfern des Terrorismus stützt. Der tief empfundene Wunsch<br />
von Millionen Menschen, mit dem terroristischen Totalitarismus Schluss zu<br />
machen, darf nicht als eine Möglichkeit von vielen angesehen werden, sondern<br />
als dringende Notwendigkeit. Hierbei werden die kommenden Jahre zweifellos<br />
eine entscheidende Rolle spielen.<br />
166<br />
April 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 167<br />
Henryk MUSZYNSKI ´<br />
Erzbischof von Gnesen<br />
Europa im Jahr 2020<br />
Es ist keineswegs leicht, die Faktoren zu bestimmen, die heute die Identität<br />
Europas ausmachen, geschweige denn eine <strong>Vision</strong> des Europa von 2020 aufzuzeigen.<br />
Selbstverständlich geht es hier nicht um eine weitere subjektive Utopie, sondern<br />
darum, möglichst genau die Entwicklungstendenzen unter dem Blickwinkel<br />
dessen aufzuzeigen, was den Begriff der europäischen Identität ausmacht.<br />
Europa in seiner zivilisatorischen Dimension als Geschichts-, Traditions- und<br />
Kulturgemeinschaft mit einem bestimmten Wertesystem ist keine statische, abgeschlossene,<br />
ein für allemal gegebene Realität. Europa ist eine dynamische und sich<br />
ständig weiter entwickelnde Realität, die sich immer wieder aufs Neue schafft<br />
und sich dennoch treu bleibt und wichtige Eigenschaften und Merkmale, die es<br />
von anderen Zivilisationsformen unterscheiden, bewahrt. Im Bewusstsein der<br />
Europäer, das die Identität maßgeblich mitbestimmt, bleibt Europa sich gleich,<br />
wenn auch nicht dasselbe. Die Frage nach seiner künftigen Identität ist deshalb<br />
mehr als gerechtfertigt 1 .<br />
In der Präambel des Verfassungsvertrags wird Europa als „in Vielfalt geeint“<br />
bezeichnet. Es lässt sich kaum leugnen, dass es das Christentum war, das mit<br />
seinem Wertesystem Europa die zivilisatorische Einheit gebracht hat. Ihm ist es<br />
gelungen, das Gefühl für die Würde des Menschen, die Freiheit, die Achtung<br />
des Rechts, Elemente des antiken Griechenland, des römischen Rechts und des<br />
jüdischen Geistes mit den Errungenschaften des Humanismus und der Aufklärung<br />
zu verbinden.<br />
Seit der Epoche der Aufklärung besteht jedoch eine deutliche innere Spannung<br />
zwischen der Inspiration der christlichen europäischen Kultur und der Haltung<br />
des weltlichen Humanismus. Das Aufeinanderprallen dieser beiden Tendenzen<br />
wurde in den jüngsten Überlegungen zur Zukunft Europas offenbar. Während die<br />
Vertreter der einen Richtung ausdrücklich an das christliche Wertesystem anknüpfen,<br />
auf das Europa sich gründet, sehen die Vertreter der anderen Richtung die<br />
Zukunft eher in einem nachchristlichen Europa. Ein unermüdlicher Verfechter<br />
der ersten <strong>Vision</strong> ist Johannes Paul II. Einen völlig entgegengesetzten Standpunkt<br />
167
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 168<br />
HENRYK MUSZYNSKI ´<br />
vertreten, aus einem eigentümlichen Verständnis des Begriffes Weltlichkeit (laïcité)<br />
heraus, die Verfasser des Verfassungsvertrags, insbesondere Valéry Giscard<br />
d’Estaing.<br />
1. Die <strong>Vision</strong> von Europa unter dem Blickwinkel der ideologischen Grundlagen<br />
des Verfassungsvertrags<br />
Die Europa-<strong>Vision</strong> der Verfasser des Verfassungsvertrags ist, betrachtet man die<br />
axiologischen Prämissen der Präambel, überaus optimistisch. Es ist ein Europa,<br />
das, „in Vielfalt geeint“, „auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des<br />
Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner weiter voranschreiten will“ und<br />
„offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt“. Es respektiert die<br />
Besonderheit und Verschiedenartigkeit der Völker, und es vereint die Völker, die<br />
„stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte“ und entschlossen sind, „die alten<br />
Gegensätze zu überwinden“ und „immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam<br />
zu gestalten“. Sie gestalten die Zukunft, indem sie aus dem „kulturellen, religiösen<br />
und humanistischen Erbe“ Europas schöpfen, das sich auf die „unverletzlichen<br />
und unveräußerlichen Rechte des Menschen“ gründet und aus dem sich<br />
„Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“ entwickelt haben. Mit<br />
der Wahrung dieser Rechte und der Verantwortung „gegenüber den künftigen<br />
Generationen und der Erde“ soll Europa zu einem Raum werden, „in dem sich<br />
die Hoffnung der Menschen entfalten kann“.<br />
Eine solch optimistische <strong>Vision</strong> von Europa findet leicht Zustimmung und<br />
weckt sogar Begeisterung. Denkt man jedoch gründlicher darüber nach, melden<br />
sich ernsthaft Zweifel: Reichen die oben erwähnten Beweggründe und<br />
Inspirationsquellen aus, um diese <strong>Vision</strong> zu verwirklichen? Die kulturellen Elemente<br />
umfassen auch religiöse Werte. Im Kontext der europäischen Zivilisation können<br />
und müssen sie im Zusammenhang mit der christlichen Tradition gesehen<br />
werden. Die Gegenwart lebender Zeugen für den christlichen Glauben in Europa<br />
berechtigt zu der Hoffnung, dass durch ihr Zeugnis diese Werte auch in einem<br />
künftigen Europa ihren Platz haben werden.<br />
Die feierliche Aussage zum humanistischen Erbe und zur Freiheit weckt ohne<br />
den Bezug zum Gedanken des Christentums und den ethischen Werten die<br />
begründete Befürchtung, dass es sich hier um eine reine Erklärung handelt.<br />
Wahre Freiheit muss stets einen Bezug zur Wahrheit, die objektive Wahrheit über<br />
die Würde des Menschen eingeschlossen, wie auch zu den ethischen Grundwerten<br />
haben. Andernfalls kann die Freiheit der einen zur Unfreiheit der anderen werden.<br />
Das zeigt sich eindrucksvoll an der jüngsten Geschichte des 20. Jahrhunderts,<br />
wo im Namen einer wahnsinnigen Ideologie die fundamentalen Menschenrechte<br />
ausradiert wurden.<br />
Dieselbe Geschichte mahnt uns auch, dass Vernunft als einziges Kriterium<br />
für eine alleinige Beurteilung durch den Menschen nicht ausreicht, um die „unverletzlichen<br />
und unveräußerlichen Rechte des Menschen“ zu garantieren, der sich<br />
selbst zum ausschließlichen Bezugspunkt aller Werte macht. Die Erfahrung der<br />
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EUROPA IM JAHR 2020<br />
posttotalitären Zeit lehrt ebenso, dass diese Normen nicht ausreichend gewährleistet<br />
sind, wenn ein Mensch sich das Recht nimmt, über das Leben eines anderen<br />
Menschen zu entscheiden und ihn damit des fundamentalen und unveräußerlichen<br />
Rechts auf Leben beraubt. In diesem Falle gibt es keine reale Garantie,<br />
dass diese Rechte zu irgendeinem Zeitpunkt respektiert werden. Für die Christen,<br />
die nach wie vor die zahlenmäßig stärkste Glaubensgemeinschaft in Europa bilden,<br />
wird Gott stets der absolute Bezugspunkt und Garant der Würde sein. Wird<br />
Europa dieses Bezugspunktes beraubt, so bedeutet das, dass die jahrhundertelange<br />
europäische Tradition um vieles ärmer wird.<br />
Die polnische Verfassung ist in dieser Hinsicht viel komplexer und offenbar<br />
auch demokratischer. Sie berücksichtigt sowohl diejenigen, die an Gott als die<br />
Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch<br />
diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus<br />
anderen Quellen ableiten 2 . Grundlage einer so verstandenen Gleichheit der<br />
Rechte ist nicht nur die Toleranz gegenüber dem anderen in seiner Andersartigkeit<br />
und Verschiedenartigkeit, sondern auch die Achtung vor ihm selbst dann, wenn<br />
man seine Wertehierarchie nicht teilt.<br />
Ähnliche Zweifel weckt auch die Aussage, dass „die Völker Europas entschlossen<br />
sind, die alten Gegensätze zu überwinden und immer enger vereint ihr<br />
Schicksal gemeinsam zu gestalten“. Hierzu bedarf es stärkerer ethischer Motive<br />
der Wahrheit und des Guten. Diese <strong>Vision</strong> kann nur dann Realität werden, wenn<br />
es tatsächlich eine Versöhnung zwischen den Völkern gibt, die den Aufbau einer<br />
wahrhaft zwischenmenschlichen Gemeinschaft ermöglicht. Hierbei kann die Rolle<br />
der katholischen Kirche als universale Institution, die der Versöhnung und der<br />
Errichtung einer Geistesgemeinschaft zwischen den Menschen dient, gar nicht hoch<br />
genug bewertet werden, und sie ist auch kaum zu ersetzen. Versöhnung ist auch<br />
die wichtigste Botschaft der Kirche, was sie in den letzten Jahrzehnten wiederholt<br />
zum Ausdruck gebracht hat.<br />
2. Europa als Gemeinschaft des Geistes<br />
Die entscheidende Frage zur Zukunft Europas lautet: Was kann Europa, das<br />
„in Vielfalt geeint“ ist, zu geistiger Einheit motivieren? Welcherart soll die geistige<br />
Grundlage sein, die stärker, tragfähiger und beständiger ist als alle Gegensätze,<br />
die Europa heute von innen zerreißen?<br />
In der Vergangenheit, und das wird niemand leugnen können, war das geistige<br />
verbindende Element, das Europa inmitten der Vielfalt und Verschiedenartigkeit<br />
einte, eben die christliche Zivilisation mit ihrem einheitlichen, auf dem Gebot der<br />
Liebe und den Zehn Geboten fußenden Wertesystem. Wurden diese Kriterien auch<br />
nicht immer respektiert, so wurde doch ihre Rechtmäßigkeit als wesentliches<br />
Element der europäischen Kultur und Zivilisation niemals in Frage gestellt. Die<br />
überaus bedeutsame Frage nach dem Fundament der europäischen Einheit darf<br />
nicht ohne Antwort bleiben. Sind nämlich die Beweggründe der Gemeinschaft,<br />
die die Völker Europas verbinden, nicht stärker als die unterschiedlichen Interessen<br />
169
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HENRYK MUSZYNSKI<br />
und Antagonismen, an denen es nicht mangelt, kann sich die Überzeugung dieser<br />
Völker, die „stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte“ sind, leicht zu<br />
gefährlichem Nationalismus wandeln. Es lässt sich nicht leugnen, dass das stolze<br />
Bewusstsein der eigenen Besonderheit und Identität heute immer stärker wird<br />
und eine tragfähigere Basis bildet als das Streben nach einer gemeinsamen Zukunft.<br />
In seiner programmatischen Botschaft an Europa sagte Johannes Paul II.: „In<br />
Europa wird es keine Einheit geben, solange diese nicht auf der Einheit des<br />
Geistes beruht 3 .“ Wahre Gemeinschaft verwirklicht sich stets im zwischenmenschlichen<br />
Bereich und darf nicht ausschließlich auf die Bestimmung gemeinsamer<br />
Aufgaben und Ziele beschränkt werden; ihr Bestreben muss es sein, diese Ziele,<br />
gestützt auf gemeinsam anerkannte Werte, zu erreichen. Jean Monet hat richtig<br />
gesagt: „Wir vereinigen nicht Staaten, sondern Menschen.“ Als Grundwerte einer<br />
künftigen europäischen Demokratie nennt die Präambel Freiheit, Gleichheit und<br />
Rechtsstaatlichkeit. Eine deutliche Anspielung auf die drei bekannten Grundsätze<br />
liberté, égalité, fraternité ist hier unschwer zu erkennen. Bedauerlicherweise fehlte<br />
der Begriff fraternité, der sich, wie die beiden anderen Elemente auch, inhaltlich<br />
vom Christentum herleitet. Gläubige Menschen verbinden mit dem Begriff<br />
Brüderlichkeit unweigerlich die Idee Gottes als unser aller Vater. Die französische<br />
Revolution hat sich diese schönen und zutiefst religiösen Ideale zu Eigen<br />
gemacht. Sie hat sie jedoch ihrer ursprünglichen christlichen Inspiration beraubt.<br />
„Brüderlichkeit“ durch „Rechtsstaatlichkeit“ zu ersetzen, kommt praktisch einer<br />
Verarmung des Inhalts gleich. Durch das Gesetz lässt sich nämlich nur ein Minimum<br />
an korrektem Verhalten erzwingen, es darf nicht zur Inspirationsquelle für die<br />
Verwirklichung des Guten und des Wirkens für die Errichtung einer wahrhaften<br />
Gemeinschaft werden.<br />
Die Präambel ist von dem Glauben getragen, dass das geeinte Europa „auf<br />
dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands weiter voranschreiten<br />
will“ und „offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt“.<br />
Angesichts der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, die die Entwicklung der<br />
Wissenschaft heute bietet, müssen auch die ethischen Grundwerte respektiert<br />
werden. Der Fortschritt der medizinischen Wissenschaften, namentlich der<br />
Biotechnologie, kann, losgelöst vom unverletzlichen Wert des menschlichen<br />
Lebens, zu einer tödlichen Bedrohung für den Menschen werden. Ein solcher<br />
Fortschritt bedeutet eine Verletzung der Menschenwürde, denn er ermöglicht die<br />
Instrumentalisierung des menschlichen Wesens als des höchsten geschaffenen<br />
Wertes 4 .<br />
Die Proklamierung eines unbeschränkten Fortschritts weckt, wenn die grundlegende<br />
Tatsache außer Acht gelassen wird, dass jeder echte Fortschritt mit der<br />
Vervollkommnung und einer neuen Qualität des Menschen beginnt, die wir<br />
Gläubigen schlicht „Bekehrung“ nennen, ernsthafte Befürchtungen, was die „friedliche<br />
Zukunft“ Europas anbelangt. Man muss nicht unbedingt die Ansicht des<br />
Politologen Francis Fukuyama teilen, dass unkontrollierte biogenetische<br />
Experimente das „Ende des Menschen“ bedeuten. Es besteht jedoch kein Zweifel<br />
daran, dass die unkontrollierte biotechnologische Revolution eine größere<br />
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Bedrohung für die Identität des Menschen (Bioterrorismus) darstellen kann als die<br />
Atombombe, wenn die Würde des Einzelnen außer Acht gelassen, wenn nicht an<br />
die Grundwerte der Freiheit des Menschen, des Guten und der Wahrheit angeknüpft<br />
wird und eine entsprechende Regelung durch das Gesetz fehlt 5 .<br />
Schwer vorstellbar ist auch eine Ökologie im weitesten Sinne, wenn die<br />
Grundgesetze der Natur, die für die gläubigen Menschen das Werk des Schöpfers<br />
sind, unter ethischem Gesichtspunkt nicht respektiert werden. Man muss zu<br />
Recht befürchten, dass ohne eine stärkere ethische Motivation selbst die besten<br />
Rechtsnormen beispielsweise dem vom Streben nach mehr materiellem Gewinn<br />
diktierten Raubbau an den Naturressourcen nicht Einhalt gebieten können.<br />
3. Anthropozentrischer Humanismus oder christlicher Universalismus?<br />
Die grundlegende Alternative für das Europa der Zukunft besteht noch immer<br />
in dem grundsätzlichen Entwurf des Menschen als des einzigen und ausschließlichen<br />
Bezugspunkts aller Werte oder in dem biblischen Entwurf, dem zufolge sich<br />
die Würde des Menschen daraus ergibt, dass Gott als der absolute Garant seiner<br />
unverletzlichen und unveräußerlichen Würde ihn nach seinem Bild schuf (Mose<br />
1,27). Diese Konzeptionen, die im philosophischen Sinne seit dem fernen Altertum<br />
bekannt sind, treten heute besonders deutlich hervor. Bedeutet das aber, dass wir<br />
Menschen im 21. Jahrhundert im Namen der Menschenwürde von vornherein<br />
dazu verurteilt sind, gegen uns selbst zu kämpfen?<br />
Der entscheidende anthropologische Unterschied im Verständnis vom Wesen<br />
sowie vom Platz und der Rolle des Menschen führt unweigerlich auch zur<br />
Wahrnehmung der völlig unterschiedlichen Vorstellungen von der Zukunft Europas.<br />
Die unbeirrbaren Erben des Zeitalters der Aufklärung sehen die Zukunft ausschließlich<br />
in weltlichen Kategorien. Für sie bleibt der Mensch absoluter<br />
Bezugspunkt und einziges Kriterium für die Beurteilung dessen, was wahr und<br />
gut ist. Diese Auffassung wird gemeinhin nicht ohne Grund als anthropozentrischer<br />
Humanismus bezeichnet.<br />
Einen völlig entgegengesetzten Standpunkt vertritt der christliche Humanismus,<br />
der in Gott die absolute Bedingung für die unveräußerliche und unverletzliche<br />
Würde des Menschen sieht. Diese Würde wird keinem verliehen, jeder Mensch<br />
erhält sie mit seiner Geburt. Als freies Wesen und als einziges zur Liebe befähigtes<br />
Wesen ist er gleichsam das sichtbare Abbild des ewigen Gottes.<br />
Hans-Gert Pöttering stellt richtig fest: „Der Mensch wird als Schöpfung Gottes<br />
begriffen – ihm ebenbildlich. Daraus leitet sich die Überzeugung ab, dass jeder<br />
Mensch mit einer unverletzlichen Würde ausgestattet ist. Wenn jeder Mensch<br />
einmalig ist, dann dürfen wir ihn nicht reproduzieren. Wenn menschliches Leben<br />
ein Wert an sich ist, dann dürfen wir nicht menschliches Leben schaffen, um es<br />
dann – für welchen Zweck auch immer – wieder zu töten 6 .“ Paradoxerweise wird<br />
der „Mensch durch das ärmer, was er erreicht hat. Setzt er sich keine höheren Ziele,<br />
beraubt er sich der Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln 7 ”.<br />
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HENRYK MUSZYNSKI<br />
Es erhebt sich also die Frage, ob es in einer Zeit, da wir nach dem umfassend<br />
verstandenen Wohl des Menschen suchen – in der Überzeugung, dass, was von<br />
Gott kommt, nicht im Widerspruch stehen kann zu dem, was wahrhaft menschlich<br />
ist –, nicht möglich ist, diese beiden Standpunkte einander anzunähern.<br />
Die Gegner der Religion verweisen sehr häufig auf die religiösen Kriege in<br />
Europa, einschließlich jener, die innerhalb des Christentums selbst geführt wurden.<br />
Dem ist selbstverständlich kaum zu widersprechen. Wir dürfen jedoch nicht<br />
vergessen, dass uns, wenn es uns nicht gelingt, die Standpunkte derer einander<br />
anzunähern, die unter verschiedenen, oft sogar entgegengesetzten Voraussetzungen<br />
für die Würde des Menschen kämpfen, nicht so sehr ein möglicher Krieg zwischen<br />
den Religionen bevorstehen könnte als vielmehr ein Krieg um das tiefste Wesen<br />
des Menschen.<br />
Gibt es etwas, was diese beiden Konzeptionen, die des Menschen, den Gott<br />
„nach seinem Bild“ schuf, und des Menschen, „der das Maß aller Dinge ist“, verbindet,<br />
fragt Prof. Bronisław Geremek – und er antwortet: „Die erste Aussage<br />
bedeutet, an Gott und mit Gott zu denken, die zweite – ohne Gott, aber nicht<br />
gegen Gott zu denken. Die eine wie die andere findet ihren Ausdruck in dem<br />
Grundsatz von der Würde des Menschen 8 .“<br />
Eine Annährung der beiden gegensätzlichen Standpunkte auf der personalistischen<br />
Ebene ist aber nur dann möglich, wenn der Mensch anerkennt, dass das<br />
menschliche Leben der höchste, unveräußerliche Wert ist, der aus dem Menschsein<br />
selbst resultiert. Zweitens gilt es auch zu akzeptieren, dass die menschliche Freiheit<br />
nicht unbegrenzt ist, sondern dort endet, wo das Recht des anderen beginnt.<br />
Die jahrhundertelangen Erfahrungen der Generationen, aber auch die jüngste<br />
Zeit lehren uns, dass der Mensch, wenn er die Gebote der ersten Tafel des<br />
Dekalogs, die sein Verhältnis zu Gott bestimmen, ablehnt, sich Götzen in Gestalt<br />
von „Rassen“ oder „Klassen“ schafft, denen zu dienen er bereit ist. Der in der<br />
Präambel proklamierten moralischen „Verantwortung gegenüber den künftigen<br />
Generationen und der Erde“ muss die Verantwortung aller Menschen gegenüber<br />
dem eigenen Gewissen vorausgehen. Wichtigster Bezugspunkt für die Gläubigen<br />
muss hier jedoch Gott sein.<br />
All jene, denen die „menschliche Hoffnung“ genügt, sollten sich – gestützt<br />
auf das dauerhafte moralische Fundament, dessen Gesetze im unverfälschten<br />
Gewissen eines jeden Menschen eingeschrieben sind – in ihrem Handeln in erster<br />
Linie vom umfassend verstandenen Wohl des Menschen leiten lassen. Diese<br />
Gesetze sind weitgehend auf der zweiten Tafel der Zehn Gebote enthalten, die<br />
universelle Werte umfasst, die in vielen verschiedenen Religionen anerkannt<br />
sind. In der allgemeinen Überzeugung<br />
– ist das menschliche Leben das höchste Gut, das Töten – das Böse;<br />
– baut die Wahrheit auf, während die Lüge zerstört;<br />
– bildet die Achtung des Eigentums die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung,<br />
während der Diebstahl diese Ordnung zerstört und verurteilt werden muss;<br />
– ist die Ehe von Mann und Frau der sicherste Garant für den Fortbestand und<br />
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EUROPA IM JAHR 2020<br />
die Entwicklung jeder Gesellschaft, die Zerstörung der Ehe jedoch Quelle großen<br />
Unglücks.<br />
Das rechtschaffene menschliche Gewissen kann eine dauerhafte Grundlage,<br />
ein Ort der Begegnung und ein wirksamer Impuls dafür sein, sich für das Wohl<br />
des Menschen einzusetzen. Das gilt für Menschen mit einer tiefen religiösen<br />
Überzeugung ebenso wie für Nichtgläubige.<br />
Auf paradoxe Weise hat „das Vergessen Gottes“ zum Niedergang des Menschen<br />
geführt. Es wundert daher nicht, dass in diesem Kontext ein großer Freiraum für<br />
die Entwicklung des Nihilismus im philosophischen Bereich, des Relativismus<br />
im erkenntnistheoretischen und moralischen Bereich, des Pragmatismus und<br />
sogar des zynischen Hedonismus in der Gestaltung des Alltagslebens entstanden<br />
ist.“ (EinE 9).<br />
Auch wenn die christlichen Werte in der Präambel keine Erwähnung finden,<br />
bilden die Christen nach wie vor die Mehrheit unter den Europäern. Sie wollen<br />
gleichberechtigt mit den anderen das öffentliche Leben mitgestalten. In der<br />
Grundrechtecharta heißt es: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissensund<br />
Religionsfreiheit“, und das sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben<br />
(Kapitel II, Art. 10 (1)). Im Bewusstsein ihrer Verantwortung gerade für die<br />
Zukunft Europas wollen die Christen in Anerkennung der demokratischen<br />
Ordnung kraft ihres Zeugnisses gleichberechtigt mit den anderen das künftige<br />
Antlitz Europas mitgestalten.<br />
Rolle, Aufgaben und Platz der Christen im Europa der Zukunft sind in dem<br />
Apostolischen Schreiben Ecclesia in Europa, der großen Charta der Kirche in<br />
Europa, festgeschrieben. Es richtet sich in erster Linie an die Christen selbst und<br />
bezieht sich auf ihren geistigen Wandel, der sie in die Lage versetzen soll, durch<br />
die Gabe des evangelischen Geistes auszustrahlen und durch ihr Zeugnis die<br />
Inspirationen des Evangeliums in alle Bereiche des kulturellen, öffentlichen und<br />
politischen Lebens zu tragen. Es geht nicht darum, irgendjemandem die christlichen<br />
Werte aufzuzwingen, sondern es geht um die Gegenwart der Christen durch<br />
das Zeugnis ihres Lebens. Die Christen wollen nicht Bürger zweiter Klasse sein.<br />
Sie fühlen, dass sie in Europa nach wie vor gebraucht werden, nicht nur, um<br />
das christliche Erbe unter den veränderten Bedingungen zu bewahren, sondern<br />
vor allem, um die spezifischen christlichen Werte in Europa einzubringen, ohne<br />
die das gemeinsame Haus Europa nicht errichtet werden kann. Hierzu gehören:<br />
– die Achtung vor jedem Leben von der Geburt bis zum natürlichen Tod;<br />
– die Förderung des Gedankens der Versöhnung;<br />
– die Unterstützung des Freiheitsgedankens als Dienst im Namen der Liebe,<br />
die Apostel Paulus Europa eingepflanzt hat;<br />
– der Bestand der Familie als Fundament des gesellschaftlichen Lebens;<br />
– die christliche Hoffnung, die aus der Auferstehung erwächst.<br />
Die „menschliche Hoffnung“ als Fundament für die Zukunft währt allzu kurz,<br />
um darauf auf lange Sicht die Zukunft aufzubauen. Es ist die Hoffnung auf einen<br />
sicheren Arbeitsplatz, auf ein bequemeres Leben, auf Wohlstand und Sicherheit.<br />
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Es ist unschwer zu erkennen: „Der Verlust der Hoffnung hat seinen Grund in<br />
dem Versuch, eine Anthropologie ohne Gott und ohne Christus durchzusetzen.“<br />
(EinE 9). Ohne Hoffnung gibt es keine Zukunft. Ohne eine tiefgreifende und<br />
beständige Hoffnung fürchten wir uns mehr vor der Zukunft als dass wir sie uns<br />
wünschen. Die Kirche hat Europa das kostbarste Gut anzubieten, das ihm niemand<br />
anderer zu geben vermag: den Glauben an Jesus Christus, Quelle der Hoffnung,<br />
die nie enttäuscht. (EinE 18). Diese Hoffnung, die aus dem Glauben an die<br />
Auferstehung Christi erwächst, steht keineswegs im Widerspruch zu den zutiefst<br />
menschlichen Hoffnungen. Fehlt diese langfristige Perspektive, auf die sich die<br />
Europäer über Jahrhunderte gestützt haben, so wird Europa um vieles ärmer.<br />
Johannes Paul II. erinnert daran, dass Europa „auf soliden Grundlagen erbaut<br />
werden“ muss; dazu „ist es notwendig, sich auf die echten Werte zu stützen, die<br />
ihr Fundament in dem allgemeinen Sittengesetz haben, das in das Herz jedes<br />
Menschen eingeschrieben ist.“ (EinE 116). Dieses allgemeingültige Gesetz, das in<br />
jedes unverfälschte Gewissen eingeschrieben ist, bildet ein dauerhaftes Fundament,<br />
eine Stütze, einen Ort der Begegnung für all jene, denen die „menschliche<br />
Hoffnung“ genügt, wie auch für jene, die aus der Teilhabe am Sieg Christi, der<br />
auferstanden ist und – wie wir glauben – unter uns lebt, stärkere Hoffnung schöpfen<br />
(vgl. Kol 1,27). Für uns Christen bedeutet das eine vollständige Rückkehr zu<br />
Christus, der Quelle jeglicher Hoffnung, und es ist zugleich das stärkste Motiv, sich<br />
einzusetzen und an der Errichtung einer dauerhaften moralischen und sozialen<br />
Ordnung für die jetzige und für künftige Generationen mitzuwirken.<br />
Februar 2005<br />
1 Prof. P. HÜNERMANN, Die christlichen Wurzeln europäischer Identität, in: Europa.<br />
Zadanie chrześcijańskie, Warzawa, 1998, S. 88.<br />
2 Siehe Präambel der Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997.<br />
3 Johannes Paul II., Predigt in Gniezno, 3. Juni 1997.<br />
4 P. LIESE, Nauka i medycyna a chrześcijański obraz człowieka, in: Scenariusze przyszłości.<br />
Co chrześcijanie mają do zrobienia w Europie ?, Gliwice, 2004, S. 61.<br />
5 Prof. F. FUKUYAMA, Koniec człowieka. Konsekwencje rewolucji biotechnologicznej,<br />
Kraków, 2004, 17-18.<br />
6 H.-G. PÖTTERING, Von der <strong>Vision</strong> zur Wirklichkeit, Bonn, 2004, S. 115.<br />
7 A. SZUDRA, Koniec człowieka. Konsekwencje rewolucji biotechnologicznej, Więź<br />
10(2004)134.<br />
8 B. GEREMEK, Czy demokracja może być totalitarna ?, in: Scenariusze przyszłości, Gliwice,<br />
2004, S. 50.<br />
´<br />
HENRYK MUSZYNSKI<br />
174
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Hartmut NASSAUER<br />
Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe<br />
im Europäischen Parlament<br />
Markus FERBER<br />
Co-Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe<br />
im Europäischen Parlament<br />
Europa als Wertegemeinschaft<br />
Was ist Europa? Diese vermeintlich einfache Frage ist auch mehr als 50 Jahre<br />
nach Gründung der ersten europäischen Institutionen nicht beantwortet. Wahr<br />
ist: Europa hat verschiedene Dimensionen.<br />
Europa ist nicht gleich Europäische Union, auch wenn beides oftmals gleichgesetzt<br />
wird. Europa ist zunächst geografische Einheit, dann gemeinsamer<br />
Kulturkreis verschiedener Nationen, die durch ihre Geschichte, ihr religiöses<br />
Erbe und ihre Kultur miteinander verbunden sind.<br />
Die Europäische Union dagegen ist ein politisches Projekt, hervorgegangen<br />
aus den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Die EU verköpert die Einsicht, daß<br />
dauerhafter Friede und Wohlstand nur durch den Zusammenschluss der europäischen<br />
Nationalstaaten zu einer handlungsfähigen Gemeinschaft möglich ist.<br />
Deswegen ist die EU eine historische Notwendigkeit.<br />
CDU und CSU als die beiden großen deutschen Europaparteien, die mitgeholfen<br />
haben, die europäische Integration voranzutreiben, treten für eine gemeinsame<br />
europäische Zukunft ein. Wir sehen Europa als eine Einheit von Menschen,<br />
die gemeinsam eine friedliche Zukunft gestalten wollen. Dies aber ist nur möglich<br />
auf der Basis gemeinsamer Werte. Wenn die Europäische Union dauerhaften<br />
Frieden und Wohlstand in Europa sichern soll, dann kann sie dies nur, wenn<br />
sie die Werte Europas annimmt und aufrechterhält.<br />
175
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HARTMUT NASSAUER – MARKUS FERBER<br />
Mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft<br />
Die Geschichte der europäischen Integration ist die Geschichte des Ausgleichs<br />
und der Versöhnung nach dem Blutvergießen des Zweiten Weltkriegs. Erstmals<br />
arbeiteten die Nationen Europas mit friedlichen Mitteln an einer gemeinsamen<br />
Zukunft. Dieser Entwicklung liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Frieden die<br />
Voraussetzung ist für mehr Wohlstand.<br />
Durch die Zusammenarbeit und zunehmende Verschmelzung der bisher<br />
getrennten, gar konkurrierenden Volkswirtschaften Europas, haben es die Staaten<br />
der Europäischen Union vermocht, ein einzigartiges Wirtschaftswachstum zu<br />
erzeugen. Die EU ist neben den USA und Japan einer der drei großen<br />
Wirtschaftsblöcke der Welt und verantwortlich für einen bedeutenden Anteil am<br />
Welthandel.<br />
Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union umfasst aber nicht nur das<br />
Streben nach materiellem Wohlstand. Was mit der Europäischen Gemeinschaft<br />
für Kohle und Stahl begann, und mit der Einführung des Euros und der Debatte<br />
um den europäischen Verfassungsvertrag einen vorläufigen Höhepunkt gefunden<br />
hat, ist die Geschichte eines politisch-sozialen Erfolgsmodells. Dies ist vielleicht<br />
die wichtigste Errungenschaft der Europäischen Union, die auch fast 60 Jahre<br />
nach Kriegsende nichts von ihrer Bedeutung verloren hat.<br />
Seit ihren wirtschaftspolitischen Anfängen hat sich die Europäische Union<br />
weiterentwickelt. Sie ist heute weit mehr als lediglich ein reiner Wirtschaftsblock.<br />
Die heutige EU ist eine Wertegemeinschaft, die deshalb funktioniert, weil sich die<br />
Menschen in Europa dieser gemeinsamen Werte bewusst sind. Kurz gesagt: die<br />
EU repräsentiert mittlerweile selbst Werte, die Werte Europas, und ist damit mehr<br />
als lediglich die Summe ihrer Mitgliedstaaten.<br />
Die Werte und Wertvorstellungen, die durch die Europäische Union verkörpert<br />
werden, bieten ein Maximum an persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten für<br />
alle Menschen. Das sind zum einen die Grundwerte, die Europa ausmachen:<br />
Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Im politischen Alltag zeigen sie<br />
sich im Einsatz für Toleranz und Rechtstaatlichkeit, sowie der Achtung der<br />
Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten. Die Verkörperung dieser<br />
Werte ist eine der wichtigen Errungenschaften der europäischen Integration.<br />
Geboren sind diese Werte aus dem christlichen Erbe unseres Kontinents. Ihre<br />
Kraft erhalten sie aus der gemeinsamen Geschichte, und dem Selbstverständnis,<br />
einem gemeinsamen Kulturkreis anzugehören. CDU und CSU haben immer auf<br />
die Notwendigkeit solcher Werte für ein gemeinsames Verständnis und eine<br />
gemeinsame Politik verwiesen.<br />
Deshalb haben wir bei den Verhandlungen um den europäischen<br />
Verfassungsvertrag auch die Aufnahme eines Gottesbezuges gefordert. Wir sind<br />
der Meinung, daß nur ein solcher Verweis den europäischen Werten und ihrer<br />
Verkörperung in der Europäischen Union gebührend Rechnung trägt. Das christ-<br />
176
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liche Wertefundament stellt die Basis für unser Verständnis von Freiheit, Gleichheit,<br />
Gerechtigkeit und Solidarität dar.<br />
Die EU als Spiegelbild europäischer Werte<br />
Diese europäischen Werte spiegeln sich im Selbstverständnis der Europäischen<br />
Union wieder. Dies bedeutet auch, daß Politik in der Europäischen Union transparent<br />
und klar gestaltet werden muss. Der Verfassungsvertrag stellt hier einen<br />
wichtigen Schritt dar, indem er die Transparenz und die Effizienz der Europäischen<br />
Union weiter vorantreibt. In einem Satz: die rasche Ratifikation des<br />
Verfassungsvertrages festigt auch das Wertefundament, auf dem die EU gegründet<br />
ist und das ihre Identität ausmacht.<br />
Wichtig ist, daß der Verfassungsvertrag dem Europäischen Parlament zusätzliche<br />
Kompetenzen überträgt. Das bedeutet eine weitere Demokratisierung der<br />
Europäischen Union, und damit eine gesteigerte Teilnahme der Bürger an der<br />
europäischen Gesetzgebung. Bedeutsam ist dabei insbesondere die Ausweitung<br />
des Verfahrens der Mitbestimmung bei der europäischen Gesetzgebung. Bis auf<br />
wenige Ausnahmen werden auch Gesetzgebungsinitiativen in den Bereichen<br />
der Agrar-, Struktur-, Innen- und Justizpolitik dem Votum des Parlaments unterliegen.<br />
Wichtig ist zudem, daß der Europäische Rat künftig bei der Berufung des<br />
Kommissionspräsidenten die Ergebnisse der Europawahl berücksichtigt. Der<br />
Präsident der Kommission muss zudem durch das Parlament bestätigt werden.<br />
Grundsätzlich gibt der Verfassungsvertrag eine Antwort auf die Frage, wie<br />
die EU den Herausforderungen der nächsten Jahre begegnen kann. Zum einen<br />
fasst er zum ersten Mal alle bisherigen Verträge in einem Dokument zusammen.<br />
Zum anderen trägt er zu einer Klärung der Kompetenzverteilung zwischen<br />
Mitgliedstaaten und Gemeinschaft bei. Erstmals werden dazu die Zuständigkeiten<br />
der EU in einem eigenen Kapitel aufgeführt. So wird künftig zwischen ausschließlichen<br />
und geteilten Zuständigkeiten sowie ergänzenden Maßnahmen<br />
unterschieden.<br />
Werte verlangen Handlungsfähigkeit<br />
EUROPA ALS WERTEGEMEINSCHAFT<br />
Um ihre Ziele zu erreichen, müssen sich die Wertvorstellungen der EU aber<br />
auch in ihrer Politik widerspiegeln. Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt<br />
unter lange konkurrierenden Nationen, die sich Grundwerten verpflichtet fühlen<br />
und verpflichtet fühlen müssen. So dient die EU als geglücktes Experiment<br />
für das friedliche Miteinander von Nationen. Wir sind stolz darauf, an diesem<br />
Projekt mitwirken zu dürfen, das Toleranz, Rechtstaatlichkeit, die Achtung der<br />
Menschenrechte, und die friedliche Kooperation von Staaten zu stärken versucht.<br />
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Aufgrund unserer eigenen Geschichte, der Erfahrungen, die wir in Europa mit<br />
Kriegen und Unruhen gemacht haben, ist die Europäische Union einer Politik des<br />
Friedens und des Ausgleichs verpflichtet. Deswegen entwickelt die EU eine<br />
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, und übernimmt friedensschaffende<br />
Einsätze in der Welt. Ziel ist es, dabei zu helfen, Konflikte einvernehmlich und<br />
im Vertrauen zu lösen und so zu einer friedlicheren Welt für alle Menschen beizutragen.<br />
Auch bei der Vorbeugung von Konflikten kommt der EU aufgrund ihrer eigenen<br />
Prinzipien eine wichtige Rolle zu. Die EU verfolgt eine langfristig angelegte<br />
Politik des Ausgleichs und der Vermittlung. Im internationalen System stellt sie<br />
einen wichtigen Ruhepol dar, der konträre Interessen fair balancieren kann.<br />
In diesem Konzept ist die Europäische Nachbarschaftspolitik ein wichtiger<br />
Baustein. Durch das Modell einer besonderen Beziehung zu Staaten Osteuropas,<br />
des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens fördert die Europäische Union die<br />
Entwicklung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Prinzipien, sowie die<br />
Achtung der Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten. Das Besondere<br />
daran ist der langfristige Ansatz der europäischen Außenpolitik.<br />
Dieser Ansatz kommt auch nach Naturkatastrophen zum Tragen, zum Beispiel<br />
der Flutkatastrophe in Südostasien im Dezember 2004. Es ist ein großes Anliegen<br />
der Europäischen Union, daß die Hilfe für die von der Flut betroffenen Länder<br />
sich nicht nur auf die direkte Nothilfe bezieht, sondern langfristige Hilfe beim<br />
Wiederaufbau der Infrastruktur bietet.<br />
Eine solche Politik ist nur möglich, wenn die Europäische Union ihre<br />
Handlungsfähigkeit bewahrt. Nur wenn die EU die Möglichkeit hat, die selbstgesteckten<br />
Ziele zu erreichen, kann sie den großen Herausforderungen der<br />
nächsten Jahre begegnen. Dies führt zu einer Erkenntnis, die nur scheinbar ein<br />
Paradox darstellt: Wenn die Europäische Union eine gestalterische Rolle in der<br />
Welt einnehmen will, um Toleranz, Rechtstaatlichkeit und die Achtung der<br />
Menschenrechte voranzutreiben, und beim Kampf gegen Armut und Kriegen<br />
mitzuhelfen, muss sie selbst Grenzen besitzen.<br />
Dies ist keineswegs eine Selbstbeschränkung. Im Gegenteil, bei einer Überdehnung<br />
der EU droht die Rückentwicklung zur Wirtschaftsgemeinschaft mit<br />
lediglich einigen wenigen Elementen der politischen Kooperation. Zu viele unterschiedliche<br />
Interessen bedeuten letztlich Stillstand, da es bei einer Zunahme der<br />
immer unterschiedlicher werdenden Interessen immer schwieriger wird, eine<br />
politische Einigung über politische Ziele herbeizuführen. Dies gilt für das<br />
Parlament ebenso wie für die Arbeit des Ministerrates.<br />
Europa bracht klare Ziele<br />
HARTMUT NASSAUER – MARKUS FERBER<br />
Die momentan wichtigste Frage für die Zukunft der Gemeinschaft, das<br />
Beitrittsbegehren der Türkei, wird dabei oftmals unter einem fehlgeleiteten<br />
178
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 179<br />
EUROPA ALS WERTEGEMEINSCHAFT<br />
Blickwinkel betrachtet. Die wichtigste Frage ist nicht, ob die Europäische Union<br />
zur Türkei passt. Die wichtigste Frage ist nicht einmal, ob die Türkei ein europäisches<br />
Land ist. Die wichtigste Frage ist, welchen Einfluss ein möglicher Beitritt<br />
der Türkei auf den Inhalt und die Ziele der Europäischen Politik haben könnte.<br />
Wir glauben, daß ein möglicher Beitritt der Türkei die Europäische Union<br />
überfordern würde. Eine derart ausgeweitete Union wäre zu sehr mit sich selbst<br />
beschäftigt, und könnte sich der selbstgesteckten Zielen nicht mehr annehmen.<br />
Die Konsequenz wäre die Abkehr von den politischen Zielen der Gemeinschaft,<br />
und eine Selbstbeschränkung auf die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen<br />
Integration.<br />
Eine Fokussierung lediglich auf wirtschaftliche Aspekte, eine Europäische<br />
Union als „Binnenmarkt de luxe“, kann aber weder im Interesse der Europäer<br />
selbst, noch im Interesse unserer Partner in der Welt sein. Denn nur eine handlungsfähige<br />
Union, die sich den Prinzipien ihrer eigenen Entwicklung bewusst<br />
ist, kann verlässlicher Partner sein, und zu mehr Frieden und Stabilität in der<br />
Welt beitragen.<br />
Die Handlungsfähigkeit der Union muss deshalb wichtiges Kriterium für<br />
Beitrittsverhandlungen sein. Eine überdehnte EU nutzt weder Europa noch unseren<br />
Freunden in der Welt. Wenn die Handlungsfähigkeit der Union eingeschränkt<br />
ist, zum Beispiel durch den Mangel an gemeinsamen Interessen oder langwierige<br />
Entscheidungswege, kann die Gemeinschaft ihre Aufgaben nicht erfüllen.<br />
Der Mitbegründer der europäischen Idee und erste Kanzler der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Konrad Adenauer, hat den europäischen Integrationsgedanken<br />
einst so beschrieben: „Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine<br />
Hoffnung für viele. Heute ist sie eine Notwendigkeit für alle.“ Dieses Zitat hat<br />
nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil: eine aktive und handlungsfähige<br />
Union ist jetzt notwendiger denn je.<br />
Zu Adenauers Zeiten sah der europäische Einigungsprozess anders aus als<br />
heute. Auch die Rahmenbedingungen haben sich grundlegend verändert. Die<br />
Erkenntnis aber ist geblieben: Wir brauchen die europäische Einigung. Wir blicken<br />
großen Herausforderungen entgegen, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht,<br />
sondern gerade auch in politischer.<br />
Dazu müssen wir der EU Ziele und Inhalt geben und dafür sorgen, daß sie<br />
diese auch erfüllen kann. Die Europäische Union bedeutet eine große Chance<br />
für Europa, nach wie vor und gerade jetzt. Es ist eine Chance, die wir nutzen müssen,<br />
und daran wollen wir arbeiten. Die Besinnung auf die europäischen Werte<br />
verleihen der Europäischen Union die Kraft und die gemeinsame Identität, die<br />
nötig ist, um die Herausforderungen der Zukunft zu schultern. Nur so kann sie<br />
dem eigenen Anspruch und den an sie gestellten Aufgaben gerecht werden.<br />
179<br />
April 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 180<br />
180
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 181<br />
Ana PALACIO<br />
Abgeordnete des spanischen Parlaments<br />
Unsere Sicherheit<br />
Die größte Herausforderung, vor der wir im 21. Jahrhundert stehen, besteht<br />
zweifellos darin, den Terrorismus durch Demokratie zu bekämpfen und damit<br />
unsere Sicherheit zu gewährleisten.<br />
Unsere Sicherheit: Was verbinden wir mit dem Sicherheitskonzept? Werfen<br />
wir zunächst einen Blick zurück in die Geschichte. Für einen Großteil des 20.<br />
Jahrhunderts – während der gesamten Periode des Kalten Krieges – war die<br />
westliche Sicherheit in einem einzigen Bild zusammengefasst. Wir, die wir im<br />
Westen lebten, stellten uns bei dem Begriff Sicherheit eine Karte von Europa<br />
vor, das von Nord nach Süd durch eine gepunktete Linie geteilt war. Auf der<br />
einen Seite befanden sich die Symbole, die die Streitkräfte des Warschauer Pakts<br />
repräsentierten – Flugzeuge, Panzer, Waffen, Schiffe und U-Boote, alle in Rot – und<br />
auf der anderen Seite, in Blau, standen die Streitkräfte der NATO, die für uns – vor<br />
allem dank des Einsatzes der Vereinigten Staaten – die Überlegenheit unserer<br />
Seite über den Kommunismus verkörperten. Heute sind es die an einem Morgen<br />
in New York einstürzenden Zwillingstürme, durch Explosionen zerstörte Züge im<br />
Bahnhof von Atocha, das neueste Szenario von Trümmerhaufen und verstümmelten<br />
Leichen irgendwo in der Welt: Istanbul, Jerusalem, Beslan, Bali, Bagdad, die<br />
das dramatische Bild liefern, mit dem wir die Bedrohung unserer Sicherheit verbinden.<br />
Was vermitteln uns diese beiden Bilder? Zunächst, dass die internationale<br />
Dimension eingebettet ist in die „Andersartigkeit“ der Bedrohung: Sicherheit war<br />
untrennbar verbunden mit Verteidigung und beruhte auf klaren Vorstellungen<br />
und akzeptierten Gewissheiten. Man war auf einen Feind eingestellt, der (1) von<br />
extern kam, (2) uns nicht unähnlich, (3) vollkommen als solcher erkannt und<br />
bekannt, und der (4) trotz der Androhung gegenseitiger Zerstörung gewisse<br />
Grundregeln einhielt. (5) Schließlich – und das ist vielleicht am wichtigsten –<br />
vermittelte dieses Bild die Einheit und die ähnliche Denkweise innerhalb der<br />
euro-atlantischen Gemeinschaft. Wir standen zusammen im Krieg gegen unseren<br />
181
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 182<br />
ANA PALACIO<br />
gemeinsamen Feind, den Kommunismus, der allgemein als Bedrohung für<br />
unsere Existenz galt.<br />
Beim zweiten Bild sind die intellektuellen Gewissheiten und konzeptionellen<br />
Ankerplätze, die uns ein Gefühl der Überlegenheit und relativen Kontrolle erlaubten,<br />
verschwunden. Wenn wir dieses Bild ansehen, überwältigt uns ein Gefühl<br />
der Desorientierung, der Verwundbarkeit und des Missklangs in unserem einst festen<br />
Atlantikbündnis, vor allem weil die Vorstellung von der „Andersartigkeit“ verschwunden<br />
ist. Jeder kann überall zum Opfer werden.<br />
Heutzutage spielt es keine Rolle, ob man Sicherheit nach nationalen und<br />
internationalen Gesichtspunkten unterscheidet, nationale Grenzen als Barrieren<br />
und Verteidigungslinien ansieht. Die sich aus Sicherheit und Verteidigung auf<br />
dem „Möbius-Streifen“ ergebende logische Konsequenz besagt, dass sich die bisherigen<br />
typischen Funktionen und der Aufbau der Armeen wandeln, Informationen<br />
eine zentrale Rolle zukommt – neben der Notwendigkeit, die Grundlagen der<br />
Nachrichtenbeschaffung und – auswertung neu zu formulieren, – und<br />
Zusammenarbeit unabdingbar wird. Manche vertreten die Ansicht, dass abgesehen<br />
von dem verankerten Bild in der Vergangenheit, die NATO von heute ein gutes<br />
Beispiel für eine militärische Truppe ist, die die Herausforderungen durch unsere<br />
neue Realität verstanden hat. Dies zeigt sich am Beispiel des neuen militärischen<br />
Konzepts der Verteidigung gegen den Terrorismus, der Schaffung einer<br />
Einsatztruppe und der Entwicklung von Strukturen, um auf chemische, radiologische<br />
und nukleare Angriffe reagieren zu können, sowie im Verzicht auf das<br />
„Out of area“ - Konzept. Die NATO hat sich des Weiteren von ihren traditionell<br />
militärischen Funktionen und Strukturen hin zu einem Bündnis aus<br />
Funktionsbereichen und Strukturen für Ordnungspolitik, Interimsverwaltung und<br />
Zivilschutz entwickelt.<br />
Die Bedrohung durch den Kommunismus war zweifellos schrecklich, aber<br />
zumindest wussten wir, wer unser Feind war. Wir wussten, was er dachte, wie<br />
er agierte, was ihn motivierte. Die Bezugspunkte von damals gibt es heute nicht<br />
mehr. Es gibt kein charakteristisches Erscheinungsbild des Terrorismus. Auch<br />
kennen wir seine Ideologie nicht, seine Identität, seine Motive oder „Anlässe“, die<br />
er als Rechtfertigung für seine verbrecherischen Angriffe verkündet, oder die<br />
Psyche derjenigen, die sich dieser mannigfaltigen Bedrohung verschreiben.<br />
Eine mannigfaltige Bedrohung. Die Übereinstimmung der gegensätzlichen<br />
Seiten gibt es nicht mehr, wie auch die relative Gelassenheit durch die Vorstellung,<br />
dass unsere NATO-Streitkräfte zwar ein Gegenüber hatten, aber effektiver waren<br />
als die sowjetische Gegenseite. Die Terroristen, die uns heute bedrohen, haben<br />
keine Heimat im Sinne eines Vaterlandes; ihre Loyalität kann nicht bis zu einem<br />
Staat oder einer quasistaatlichen Einrichtung zurückverfolgt werden – trotz der<br />
logistischen oder politischen Unterstützung durch gewisse Regimes und der<br />
Symbiose mit Schurkenstaaten oder gescheiterten Nationen. Heute sind wir nicht<br />
in der Lage, unseren Feind geografisch oder institutionell auszumachen. Alles, was<br />
wir wissen, ist, dass uns eine dezentrale Organisation gegenübersteht, die an die<br />
182
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 183<br />
UNSERE SICHERHEIT<br />
heutige vernetzte Welt perfekt angepasst ist und augenscheinlich zusammenhanglose,<br />
sich selbst motivierende und finanziell unabhängige Gruppen umfasst,<br />
obwohl wir vermuten, dass ihre Strategien stark zusammenhängen und untereinander<br />
abgestimmt sind. Im Umgang mit ihnen sind wir – unsere Polizei,<br />
Zollbeamten, Richter und selbst unsere Armeen – benachteiligt durch ein<br />
Organisationssystem, das noch einer analogen Welt verhaftet ist. Jeder Chef<br />
eines westlichen Nachrichtendienstes oder einer Justizvollzugsbehörde wird<br />
ohne weiteres voller Sorge eingestehen, dass Terroristennetze Menschen, Geld<br />
und Waffen viel leichter rund um die Welt bewegen können als er Haushaltsmittel<br />
umwidmen könne.<br />
Viertens war während des Kalten Krieges die Unsicherheit durch die schreckliche<br />
Gefahr einer atomaren Zerstörung dennoch Teil der akzeptierten<br />
Spielregeln. Regeln, die in der staatlichen Struktur der Völker wurzelten, die<br />
einander gegenüberstanden. Wenn es eine Sache gibt, die den Terrorismus<br />
heute charakterisiert, dann die, dass seine einzige Regel darin besteht, alle<br />
Regeln außer Acht zu lassen.<br />
Nicht zuletzt unterscheiden sich unsere zwei Bilder auch im Bereich der<br />
Auffassungen. Obwohl es paradox scheinen mag, glauben die Menschen auf<br />
beiden Seiten des Atlantiks, dass die strategische Partnerschaft zwischen Amerika<br />
und Europa zerbrochen ist, vielleicht unwiederbringlich. Diese Meinung wird<br />
auch von denen vertreten, die diesseits des Atlantiks für ein Europa eintreten, das<br />
sich als Gegenkraft oder Gegengewicht zur Übermacht der USA versteht. Sie<br />
wird auch von denjenigen auf der amerikanischen Seite des Atlantiks geteilt, die<br />
glauben, dass für die Vereinigten Staaten die Zeit gekommen sei, sich vom<br />
Eurozentrismus zu befreien, der ihre Außenpolitik im 20. Jahrhundert die meiste<br />
Zeit bestimmte, und ein für alle Mal offen anzuerkennen, dass ihre nationale<br />
Sicherheitsstrategie auf aktiver Hegemonie (vor allem militärischer) beruht. Beide<br />
Seiten zeigen den Konflikt zwischen zwei verschiedenen Auffassungen von den<br />
neuen Bedrohungen und der Art und Weise, wie ihnen zu begegnen sei. Das<br />
wiederum heißt, dass diese zwei Auffassungen bis zu einem gewissen Grade<br />
aus verschiedenen geschichtlichen Zeiten stammen und natürlich zwei verschiedene<br />
Vorstellungen von internationalen Beziehungen zur Folge haben. Das<br />
Ereignis, das unsere europäische Realität geformt hat, ist nach wie vor der Fall<br />
der Berliner Mauer und der anschließende Zusammenbruch der Sowjetunion<br />
und des europäischen Kommunismus, wodurch wir Europa als Kontinent zurückerhalten<br />
haben. Das ist eine Perspektive, bei der manche das Gefühl haben, es<br />
reiche aus, sich allein auf Verhandlung und Diplomatie als Instrumente der internationalen<br />
Politik zu verlassen und dabei auch die Doktrin des „Realismus“ des<br />
Kräftegleichgewichts zu unterstützen. Die Vereinigten Staaten leben jedoch in<br />
der Epoche nach dem 11. September. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte fühlen<br />
sie sich im eigenen Land verwundbar und einer globalen Bedrohung ausgesetzt,<br />
die unter allen Umständen auf die totale Zerstörung des eigentlichen Kerns ihrer<br />
Gesellschaft und des Westens allgemein zielt. Während sich die Amerikaner im<br />
183
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 184<br />
ANA PALACIO<br />
Krieg gegen den Terrorismus befinden, wird Terrorismus in Europa großenteils<br />
als eine Geißel gesehen, gegen die anzugehen ist. Terrorismus ist für sie vor<br />
allem eine Frage der Sicherheit; für viele von uns stehen humanitäre Überlegungen<br />
an erster Stelle, wie das der Umstand zeigt, dass Artikel I-43 der neuen<br />
Europäischen Verfassung die Solidarität, die für den Fall terroristischer Angriffe<br />
oder Bedrohungen eingefordert wird, mit der bei Natur- oder vom Menschen<br />
verursachten Katastrophen auf eine Ebene stellt. Der Gegensatz in den<br />
Auffassungen zeigt sich auch, wenn es um Verantwortung für die Wahrung und<br />
die Förderung der Werte der Freiheit und Demokratie geht, die jeder Strategie zur<br />
Bekämpfung des Terrorismus zugrunde liegen, wie das die Debatte um die<br />
Nahost- und Nordafrika-Initiative der Vereinigten Staaten sowie die unterschiedlichen<br />
Einstellungen in Bezug auf eine „humanitäre Diplomatie“ verdeutlichen,<br />
die letzten Endes in einer Auseinandersetzung zwischen einer Auffassung von der<br />
Welt als harmonisch funktionierender Einheit, bis es zu einer Krise oder<br />
Katastrophe kommt, und der Vorstellung gipfelt, dass die weltliche Realität etwas<br />
Veränderbares ist und ihre Umgestaltung eine Pflicht.<br />
Die vorstehenden Überlegungen unterstreichen die Bedeutung des Aufbaus<br />
einer kohärenten und weitreichenden transatlantischen Zusammenarbeit. Obwohl<br />
Terrorismus ein weltweites Phänomen ist und – da er uns alle betrifft – wir alle<br />
ihn bekämpfen sollten, kann die zentrale Bedeutung der euro-atlantischen<br />
Gemeinschaft nicht ignoriert werden. Die Frage ist deshalb, wie wir unsere<br />
Zusammenarbeit im Interesse einer sichereren und freieren Welt entwickeln können.<br />
Um Erfolg zu haben, müssen wir unsere gemeinsame Strategie auf verschiedenen<br />
Ebenen verfolgen – im Inland, bilateral (sowohl zwischen der EU und<br />
ihren Mitgliedern als auch zwischen der EU und den Vereinigten Staaten), multilateral<br />
und international. Unsere Strategie sollte sich deshalb auf drei<br />
Hauptbereiche konzentrieren: praktische Initiativen entwickeln, unsere Reaktionen<br />
gemeinsam planen und zusammen die Meinungsschlacht gewinnen.<br />
184<br />
Juni 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 185<br />
Alojz PETERLE<br />
Leiter der slowenischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
<strong>Vision</strong> für ein Europa 2020<br />
In den letzten beiden Jahrzehnten kam es in Europa zu epochalen und tektonischen<br />
Veränderungen in Politik, Gesellschaft und in anderen Bereichen.<br />
Europa ist demokratischer geworden, seine Erweiterung und seine Einigung<br />
schreiten voran. Trotz dieser Erfolge stellen aber immer mehr kritische Stimmen<br />
die Frage, wie Europa langfristig bestehen kann. Diese Frage ist bei genauer<br />
Analyse gewisser demographischer, sozialer, wirtschaftlicher und gesundheitsbezogener<br />
Entwicklungen zweifelsohne berechtigt.<br />
Ich kann eine <strong>Vision</strong> Europas für die erste Hälfte des dritten Jahrtausends<br />
verantwortungsvoll nur vor dem Hintergrund der Grundsätze entwerfen, die<br />
bereits von den Gründervätern des modernen, freiheitlichen und demokratischen<br />
Europas aufgestellt wurden. Wenn wir eine nachhaltige Entwicklung wollen,<br />
müssen wir sie auf nachhaltige Grundlagen stellen. Ausschlaggebend bleibt in dieser<br />
Hinsicht für mich der Ansatz, mit dem die Europäische Gemeinschaft das<br />
Problem der Vielfalt lösen konnte. Der Nationalismus und der Totalitarismus<br />
haben die Frage der Vielfalt mit der Liquidierung, Marginalisierung oder<br />
Ausschaltung Andersdenkender beantwortet. Die neue europäische Antwort auf<br />
diese Frage beruht auf einer grundlegend anderen Sicht des Menschen und der<br />
Gesellschaft. Den Anderen wirklich zu achten und bereit zu sein, mit ihm in<br />
Dialog zu treten und mit ihm zusammenzuarbeiten, ist nur bei konsequenter<br />
Achtung der Würde des Menschen möglich. Das Prinzip der Einheit in Vielfalt lässt<br />
sich nur verwirklichen, wenn wir den Wert eines jeden Menschen anerkennen.<br />
Damit lernen wir auch, ganze Nationen und die mit ihnen lebenden Minderheiten<br />
zu achten.<br />
Ich bin sehr darüber erfreut, dass in diesem Sinne die Würde des Menschen<br />
als zentraler geistiger und kultureller Grundsatz in den neuen Vertrag über eine<br />
Verfassung für Europa aufgenommen wurde, denn nach Artikel 1 der Charta der<br />
Grundrechte ist die Würde des Menschen unantastbar. Meiner Ansicht nach ist es<br />
dieser Grundsatz, der die Europäische Union weiterhin für Beitrittskandidaten<br />
185
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 186<br />
ALOJZ PETERLE<br />
attraktiv macht und gleichzeitig den Ausbau ihrer tragenden Rolle in einer globalisierten<br />
Welt ermöglicht.<br />
In den kommenden Jahren werden die Rahmenbedingungen für die Achtung<br />
der menschlichen Würde anders sein als in den Anfangsjahren der Europäischen<br />
Gemeinschaft und zu Beginn der Verhandlungen über die historische Erweiterung<br />
der Union. Europa sieht sich heute mit dem Problem eines weitaus größeren<br />
Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung und damit einer schwächeren<br />
Bejahung des Lebens konfrontiert. Falsche Antworten auf neue<br />
Herausforderungen könnten zu Spannungen zwischen den Generationen führen,<br />
die nicht unbedingt mit der Achtung der Menschenwürde zusammenhängen.<br />
Ich stelle mir die Europäische Union im Jahr 2020 weniger als einen weiten<br />
und großen Zuwanderungsraum vor, sondern eher als Raum, in dem das Leben<br />
wieder stärker bejaht wird. Die damit verbundenen notwendigen Veränderungen<br />
sind in meinen Augen alles andere als romantisch. Sie werden sicherlich einen<br />
Wandel der Werte erfordern, der unsere Haltung zum Leben von der Zeugung bis<br />
zum Tode in den Mittelpunkt unseres Denkens, Redens und Handelns stellen<br />
wird. Das heute so im Mittelpunkt stehende kurzsichtige Profitstreben erweist<br />
sich als unzureichend und schädlich, weil es zu kurz greift. Wir werden dafür sorgen<br />
müssen, dass Entwicklung auch Wachstum bedeutet.<br />
Es geht aber nicht nur um quantitative Aspekte der Demographie, also um<br />
mehr Kinder. Es geht auch um Qualität. Es geht um ein gesundes Europa.<br />
Allerdings werden wir keine Fortschritte erzielen, wenn wir unsere Wünsche<br />
nach nachhaltiger Entwicklung nicht mit einer ganzheitlichen und ehrlichen Sicht<br />
der Wirklichkeit verbinden, die uns insbesondere auf dem Gebiet der Umwelt und<br />
somit auch auf dem der Gesundheit die Folgen falscher Entwicklungsprämissen<br />
und falscher Politik aufzeigt. Nach meiner Vorstellung beruht ein gesundes Europa<br />
nicht auf dem Ringen um Vorrang zwischen wirtschaftlichen, sozialen und umweltbezogenen<br />
Aspekten, sondern auf der Einsicht, dass sie sich gegenseitig bedingen<br />
und ergänzen. Wenn wir dies verstehen und angemessen handeln, wenn<br />
wir in der Lage sind, uns über die wichtigsten Veränderungen zu einigen, werden<br />
wir zwar kein starkes Wachstum der Entwicklungsindikatoren erreichen,<br />
aber ein Wachstum in die richtige Richtung. Wenn wir ein anderes und besseres<br />
Europa wollen, werden wir dafür einiges investieren und möglicherweise auch<br />
einiges opfern müssen.<br />
186<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 187<br />
Zuzana ROITHOVÁ<br />
Stellvertretende Leiterin der tschechischen Delegation der EVP-ED-<br />
Fraktion im Europäischen Parlament<br />
Gemeinsames Erbe, Gemeinsame Aufgaben,<br />
Gemeinsamer Wille<br />
Die großen Probleme, vor denen das heutige Europa steht, können die Europäer<br />
nicht allein auf der Ebene der Mitgliedstaaten lösen, sondern nur gemeinsam, unter<br />
Nutzung aller Quellen des intellektuellen und materiellen Reichtums, über die<br />
Europa verfügt. Es steht außer Zweifel, dass das erweiterte Europa die große Chance<br />
hat, die neuen Aufgaben zu meistern, zum einen dank der bereits funktionierenden<br />
europäischen Institutionen, zum anderen aber vor allem dank des eigenständigen<br />
Denkens, das über die Jahrhunderte hinweg durch unsere Geschichte geprägt<br />
wurde. Dies ist eine Chance, die die Europäer nicht verpassen dürfen, weil die<br />
europäischen Probleme an der Schwelle des dritten Jahrtausends über die Grenzen<br />
Europas hinausreichen und von globalem Charakter sind. Um sie zu lösen, bedarf<br />
es der Entschlossenheit, den gemeinsamen Weg in Etappen, die aus Übereinkommen<br />
und aus für alle Beteiligten akzeptablen Kompromissen bestehen, fortzusetzen.<br />
Dazu darf man die Stärkung des gemeinsamen Willens nicht scheuen, einen<br />
Weg zu beschreiten, auf dem nicht die einzelnen Völker, sondern die Bürger<br />
Europas, die die gemeinsamen Werte teilen, die Sieger sind. Die Verantwortung<br />
der Politiker besteht darin, dieses Bewusstsein in den Köpfen der Menschen zu<br />
festigen, weil es in ihrem Interesse ist, dass Europa zu einem starken Spieler auf dem<br />
globalen Spielfeld wird und seinen Einfluss auf die Lösung der globalen<br />
Herausforderungen verstärkt. Es gibt nicht wenige Gründe für eine solche europäische<br />
Ambition:<br />
Erste Herausforderung – Kampf gegen Terrorismus und Gewalt<br />
An der Wiege des gemeinsamen Europa standen Christen, die glaubten, dass man<br />
Europa mit diesem Projekt vor weiteren Kriegen bewahren könne. Das ist gelungen.<br />
Sie haben bewiesen, dass es möglich ist, die kriegerische Lösung von nationalen,<br />
ethnischen und ökonomischen Konflikten durch das Aushandeln von<br />
Kompromissen am runden Tisch zu ersetzen. Die Europäische Union ist ein lebendiges<br />
Zeugnis vom Erfolg der <strong>Vision</strong>, dass es durch demokratische Vereinbarungen<br />
187
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 188<br />
ZUZANA ROITHOVÁ<br />
über die gemeinsame Nutzung der Schlüsselressourcen und die Einhaltung der<br />
Menschenrechte möglich ist, die Interessen von Bürgern unterschiedlicher Nationen<br />
dahingehend zu vereinen, dass sie zu einem tatsächlich wirksamen Mittel gegen den<br />
Krieg werden. Heute spüren immer mehr junge Europäer, dass eine unserer Pflichten<br />
darin besteht, dieses Modell auch in anderen von kriegerischen Konflikten geplagten<br />
Teilen der Welt zu umzusetzen.<br />
Die Europäer allein können jedoch derzeit der neuen Form des Bösen nur<br />
schwer die Stirn bieten. Die Form der kollektiven Gewalt hat sich nämlich unterdessen<br />
geändert – es ist das von ihr organisierte Verbrechen und der Terrorismus,<br />
die keine Grenzen kennen, weder moralische noch geographische. Für die Europäer<br />
ist es schwer, ein Mittel gegen diese neue Form des Bösen mit seiner verheerenden<br />
Ideologie des Todes zu finden. „Du sollst nicht töten“ ist ein auf die Dauer<br />
ausgelegtes Gebot und das nicht nur für die praktizierenden Christen, sondern<br />
auch für alle Europäer. Wir wissen, dass unsere Achtung vor dem menschlichen<br />
Leben als Wert weit über die Grenzen Europas hinaus getragen werden muss, auch<br />
dorthin, wo Selbsttötung und Tötung anderer menschlicher Geschöpfe verherrlicht<br />
werden. Vor diesem Ziel dürfen wir nicht resignieren, auch wenn der Terrorismus<br />
stärker zu sein scheint, als wir ihn gegenwärtig zu bezwingen in der Lage sind.<br />
Unsere Schwäche ist, dass Europa sich noch nicht im Klaren ist, an welchem Ende<br />
des Stranges es ziehen soll und mit wem. Aber auch in den kommenden Jahrzehnten<br />
wird das sehr schwierig sein, weil wir auch in diesem Kampf nicht von unseren<br />
demokratischen Prinzipien abgehen wollen. Und dennoch haben wir eine gute<br />
Chance, wenn wir nicht jeder für uns allein und inkonsequent das internationale<br />
Verbrechen bekämpfen, sondern alle gemeinsam an einem Strang ziehen, und zwar<br />
sowohl in Europa als auch in Übersee. Dies ist ein ernsthafter Grund dafür, die<br />
exekutiven Befugnisse der Institutionen der Union für den Bereich der Sicherheitsund<br />
Außenpolitik grundlegend zu stärken. Unser Kampf muss effektiver werden und<br />
darf sich nicht nur auf Repressionen beschränken. Die euroatlantische Zivilisation<br />
sollte eine gemeinsame Sprache finden.<br />
Darin besteht für die kommende Zeit die Hauptverantwortung der Politiker vor<br />
den Bürgern und vor Gott.<br />
Zweite Herausforderung – Einfluss der Globalisierung auf den Bestand des europäischen<br />
Sozial- und Wirtschaftsmodells<br />
Das Gebot „Du sollst nicht töten“, das in der ersten Herausforderung erwähnt<br />
wurde, ist für die europäische Gesellschaft ungeachtet des Ausmaßes ihrer<br />
Säkularisierung ein so verwurzelter und anerkannter Wert, dass er zu den wichtigen<br />
Unterscheidungsmerkmalen zwischen Europäern und anderen Zivilisationen<br />
gehört, dann sind die hohen sozialen und ökologischen Standards ein weiteres<br />
Merkmal der europäischen Wirtschaftskultur. Ihr Vorzug besteht darin, dass sie den<br />
Lebensstandard der Bürger anheben und eine bedeutende Rolle im Umweltschutz<br />
spielen. Gesundheitsschutz und soziale Sicherung gehören heute bereits zu den<br />
traditionellen Werten der europäischen Wirtschaft, weil sie innerhalb der Grenzen<br />
188
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 189<br />
GEMEINSAMES ERBE, GEMEINSAME AUFGABEN, GEMEINSAMER WILLE<br />
von sozialem Ausgleich und einer begrenzten Abschöpfung der natürlichen<br />
Ressourcen funktioniert. Diese Standards sind jedoch nicht umsonst. Sie bewirken<br />
auch eine Anhebung der Kosten für sämtliche europäische Waren, was deren<br />
Konkurrenzfähigkeit schmälert und im Rahmen der fortschreitenden Liberalisierung<br />
des Welthandels die strukturelle Arbeitslosigkeit in Europa verstärkt. Diesem Trend<br />
werden wir ohne ideologische Vorurteile entgegenwirken müssen.<br />
Der Binnenmarkt der Union basiert auf gemeinsamen Regeln, seine Freiheiten<br />
sind durch die Harmonisierung dieser und anderer hoher Standards bedingt. Nur<br />
so wird ein gleicher Wettbewerb für die Unternehmer in einer auf diese Weise<br />
regulierten Wirtschaft gewährleistet. Der EU-Binnenmarkt ist jedoch keine wirtschaftliche<br />
Insel, sondern er ist und entwickelt sich immer mehr zu einem Bestandteil<br />
des globalen Marktes, der sich bei weitem nicht nach solchen Regeln richtet. Seine<br />
Regeln beeinflussen die großen Spieler auf dem internationalen Spielfeld, vor allem<br />
Japan, die USA und jetzt auch China, mit einer ganz anderen Wirtschafts- und<br />
Sozialkultur. Das Aufeinandertreffen dieser Wirtschaften spielt sich innerhalb des liberalisierten<br />
Welthandels ab, wo Europa am kürzeren Hebel sitzt. Zum einen deshalb,<br />
weil mit Ausnahme Irlands und der Skandinavier die Länder Europas zu sehr<br />
an Bildung und Investitionen in Wissenschaft und Forschung gespart haben, zum<br />
anderen, weil die europäischen Erzeugnisse nicht mit den niedrigen Preisen bzw.<br />
Dumpingpreisen der legal und illegal aus Asien eingeführten Waren konkurrieren<br />
können, die dort mit minimalen sozialen und ökologischen Kosten und mit staatlichen<br />
Subventionen hergestellt werden. Europa steht deshalb in den nächsten<br />
Jahrzehnten vor einer schweren Prüfung. Es wird mit dem Verlust von möglicherweise<br />
mehr als einer Million Arbeitsplätzen, vor allem für Frauen in der Textil-,<br />
Leder- und Schuhindustrie, und nach und nach auch in anderen Branchen fertig werden<br />
müssen. Eine Chance hat nur eine technisch ausgereifte Produktion, die<br />
Mehrwert schafft. Europa wird sich auch mit den Folgen des gegenwärtigen Exodus<br />
europäischer Investoren nach Osteuropa und Asien auseinandersetzen müssen,<br />
weil die Unternehmer weiterhin ihre Betriebe vom „teuren“ Europa dorthin verlagern<br />
werden, wo die europäischen harmonisierten Regeln für die Abfallwirtschaft<br />
nicht gelten und wo sie Menschen für um ein Vielfaches niedrigere Löhne als in<br />
Europa beschäftigen können und sie zudem auch günstige Steuerbedingungen<br />
vorfinden. Unser gemeinsames Europa wird der Nichteinhaltung der internationalen<br />
Handelsregeln die Stirn bieten müssen. Dabei geht es um unerlaubte staatliche<br />
Subventionen zum Beispiel für Textilbetriebe, das unerlaubte Kopieren technologischer<br />
Verfahren und Marken, vor allem in der Automobil- und<br />
Computerindustrie. Das alles schadet der europäischen Industrie, verletzt den gleichen<br />
Wettbewerb und vertieft die Arbeitslosigkeit. Die Union wird es lernen müssen,<br />
die eigenen Regeln auch außerhalb Europas durchzusetzen und zu schützen,<br />
ansonsten müsste sie bald auf ihre derzeit hohen Standards verzichten. Dies ist ein<br />
weiterer wichtiger Grund zur Stärkung der Rechtsbefugnisse der Europäischen<br />
Institutionen auf dem Gebiet des Außenhandels. Die Union muss zu einem starken<br />
und geachteten Partner auch für die Weltwirtschaftsorganisation werden. Die einzelnen<br />
Mitgliedstaaten haben keine Chance, die Europäische Union muss nicht nur<br />
189
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 190<br />
ZUZANA ROITHOVÁ<br />
die Rechtsbefugnis, sondern auch den Mut haben, alle politischen und ökonomischen<br />
Instrumente zu nutzen, um die europäische Wirtschaftskultur unter den globalen<br />
Bedingungen zu bewahren und durchzusetzen, und zwar auch gegen die<br />
Interessen einiger starker Handelsgesellschaften. Diese Herausforderung erfordert<br />
auch den Mut, die Grenzen ideologischer Klischees zu überwinden, sonst wird<br />
Europa zu einem Freilichtmuseum. Wir können die auch weiterhin verbindlichen<br />
europäischen Standards nicht weiter erhöhen, ohne dafür zu sorgen, dass sie auch<br />
außerhalb des sich erweiternden Europas gelten. Der Grund ist nicht nur die<br />
Wirtschaftsmathematik, sondern vor allem die Überzeugung, dass dies die Perspektive<br />
für den Weg der Menschheit auf unserem Planeten ist.<br />
Dritte Herausforderung – das Altern von Europa macht Reformen der Sozialund<br />
Gesundheitssysteme erforderlich<br />
Europa altert. In den letzten 100 Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung<br />
von 55 auf 80 Jahre gestiegen. Das Problem ist, dass zudem immer weniger Kinder<br />
geboren werden. Im Jahre 2030 beginnt die Bevölkerung des alten Kontinents auszusterben,<br />
weil in keinem der EU-Länder mindestens 2,1 Kinder pro Frau geboren<br />
werden, was für die Regenerierung der Bevölkerung erforderlich ist.<br />
Die Heraufsetzung des Lebensalters hängt mit der Verbesserung des<br />
Lebensstandards, was zu einem bedeutenden Rückgang der Infektionskrankheiten<br />
geführt hat, sowie mit dem weiteren Fortschritt in der Medizin, wo die meisten<br />
Krankheiten nicht mehr wie früher zum Tode führen, zusammen. Die niedrige<br />
Geburtenrate ist paradoxerweise auch bedingt durch den hohen Lebensstandard,<br />
das gestiegene Bildungsniveau der Frauen sowie einen individualistischen Lebensstil,<br />
der bereits viele Jahre lang die traditionelle kinderreiche Familie ersetzt. Das<br />
Bevölkerungsdefizit wird in einer Reihe europäischer Regionen nur durch die<br />
Zuwanderung sowie die höhere Geburtenrate der Immigranten aus Drittländern<br />
gebremst. Insgesamt ist aber das Altern der Bevölkerung zusammen mit den hohen<br />
Anforderungen an die Gesundheits- und Sozialleistungen ein Phänomen, das den<br />
Europäern nicht nur gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen bringt, sondern<br />
auch ökonomische Probleme bereitet. Ich bin überzeugt, dass für deren verantwortungsvolle<br />
Lösung weitreichende Änderungen im System der Gesundheitsund<br />
Sozialfürsorge, aber zum Beispiel auch in der Urbanistik bzw. im öffentlichen<br />
Verkehr notwendig sind. Sie erfordert auch eine durchdachte langfristige Strategie<br />
einer gemeinsamen Zuwanderungspolitik.<br />
Weil also die Europäische Union zu einem Altersheim wird, wo die Zahl der<br />
Senioren zu- und die der Werktätigen abnimmt, werden wir es mit Ausnahme von<br />
Irland bald mit einem Mangel an denjenigen zu tun haben, die die Voraussetzungen<br />
zur Finanzierung der immer kostenintensiveren Gesundheits- und Sozialfürsorge<br />
im Rahmen von Solidarsystemen in den meisten Mitgliedsländern schaffen. Im<br />
Jahre 2030 werden in Europa über 20 Millionen Menschen im produktiven Alter fehlen,<br />
wohingegen in den USA ein Bevölkerungswachstum um 25 Prozent zu verzeichnen<br />
sein wird.<br />
190
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 191<br />
GEMEINSAMES ERBE, GEMEINSAME AUFGABEN, GEMEINSAMER WILLE<br />
In der Tschechischen Republik zum Beispiel verbrauchen schon heute gerade<br />
die Menschen im Rentenalter ganze 80 % der Kosten für das Gesundheitswesen. Zum<br />
einen ist die Behandlung der Krankheiten an sich teuer, vor allem aber wird auch<br />
die Zeit länger, in der diese Betreuung den älteren Menschen gewährt wird. Das ist<br />
das Ergebnis des Erfolgs und nicht des Versagens der modernen Medizin. Man<br />
nennt es ein „medizinisches Paradoxon“. Obwohl die maximale Lebenserwartung<br />
von der genetischen Anlage 100 bis 110 Jahre beträgt, hat die Verlängerung des<br />
Lebensalters seine biologischen Grenzen. Ich bin überzeugt, dass dieser Trend seinen<br />
Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Die Politiker in den Mitgliedstaaten sollten<br />
die notwendigen Reformen zur Kostenkontrolle nicht hinausschieben, auch wenn<br />
es unpopulär ist. Am dynamischsten entwickeln sich die Gesundheitstechnologien<br />
und die pharmazeutische Industrie wie auch die Informationstechnologien und die<br />
Rüstungsproduktion. Sowohl die Möglichkeiten der Medizin als auch die Ansprüche<br />
der Bürger an Gesundheits- und Sozialleistungen in hoher Qualität steigen schneller<br />
als die finanziellen Möglichkeiten der alternden, auf dem Solidarprinzip beruhenden<br />
europäischen Gemeinschaft. Die Solidarität zwischen den Generationen<br />
ist in den vormals kommunistischen Ländern stärker ausgeprägt als in den alten<br />
Mitgliedstaaten, weshalb auch die finanzielle Diskrepanz offenkundiger ist und in<br />
einigen Ländern zu einer Krise führt. Deshalb ist auch der Reformdruck in den<br />
neuen Mitgliedstaaten größer. Das Sozialmodell muss im Hinblick auf die realen<br />
Möglichkeiten seines Weiterbestands überarbeitet werden.<br />
Ziel der Gesundheitsreformen dürfen nicht nur die Kostenkontrolle,<br />
Zentralisierung der Spezialmedizin, Bereitstellung von genügend Rehabilitationseinrichtungen<br />
und die Behandlung von Alterskrankheiten sein. Zu den grundlegenden<br />
gemeinsamen Zielen der Union gehört eine objektive Qualitätskontrolle<br />
der Gesundheitsfürsorge von außen. Die zunehmende Mobilität der Patienten zwischen<br />
den Mitgliedstaaten zeigt auch die Notwendigkeit, das Vertrauen der Patienten<br />
und Versicherungsgesellschaften in die Qualität und Sicherheit der Leistungen ungeachtet<br />
der Grenzen zwischen den Staaten zu stärken. Positiv zu bewerten ist, dass<br />
sich immer mehr Krankenhäuser schon heute einer freiwilligen nationalen bzw.<br />
internationalen Akkreditierung unterziehen. Nach einer mehrmonatigen Inspektion<br />
durch unabhängige Qualitätsinstitutionen werden Zertifikate über die Einhaltung der<br />
nationalen bzw. internationalen Standards für die Qualitätssicherung der Fürsorge<br />
ausgestellt. Im Interesse der europäischen Bürger sollte die EU die Implementierung<br />
der internationalen Akkreditierungssysteme der Krankenhäuser und Ambulanzen fördern,<br />
und zwar mindestens in gleichem Maße wie sie heute andere Aktivitäten<br />
zum Verbraucherschutz fördert.<br />
Die Solidarität gehört zu den wichtigen traditionellen christlichen Werten, und<br />
darauf errichten wir heute unser gemeinsames Haus Europa. Ausufernde Solidarität<br />
führt jedoch zu ihrem Missbrauch und zu gemeinsamer Armut. Dass es sich hierbei<br />
nicht um eine Theorie, sondern eine Tatsache handelt, bezeugen die bekannten<br />
Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen in den neuen Mitgliedsländern. Der<br />
Staat hat für die Gesundheit seiner Bürger mehr Verantwortung getragen als sie<br />
selbst. Die Leistungen waren „gratis“ und der Patient hatte keinerlei Einfluss auf<br />
191
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 192<br />
ZUZANA ROITHOVÁ<br />
eine Preis- oder Qualitätskontrolle. Den Patienten waren die Preise für die Leistungen<br />
nicht bekannt und sie waren daran gewöhnt, jederzeit auch wegen banaler Probleme<br />
den Arzt aufzusuchen, was dazu führte, dass Geld verschwendet wurde, das dann<br />
zur Behandlung schwerer Krankheiten fehlte. Eine solche Verhaltensweise findet man<br />
noch immer, selbst dann, wenn die staatliche Versicherung für die Behandlung aufkommt.<br />
Zudem belegen aussagekräftige Fachstatistiken, in welch hohem Maße in<br />
den neuen Mitgliedsländern Gesundheitsdienstleistungen und Mittel in Anspruch<br />
genommen wurden. Reformversuche sind jedoch problematisch, weil sie nicht<br />
populär sind. Wenn sie effektiv sein sollen, müssen sie auch zu einem größeren<br />
Mitspracherecht der Patienten bei Therapie und Prävention führen. Der Patient<br />
muss stärker in das System einbezogen werden, und zwar als ein Konsument von<br />
Leistungen, der seine Rechte und Pflichten kennt und in der Lage ist, sich an der<br />
der Qualitäts- und Kostenkontrolle zu beteiligen. Ihm müssen allerdings genügend<br />
verständliche Informationen zur Verfügung stehen. Zu diesen Maßnahmen gehört<br />
auch die Einführung einer Teilfinanzierung bei banalen Erkrankungen aus der eigenen<br />
Tasche, damit die öffentlichen Mittel für die kostenintensive Behandlung von<br />
schweren Krankheiten und zur finanziellen Hilfe für die wirklich Ärmsten zur<br />
Verfügung stehen. Das Denken der Patienten/Wähler zu ändern, erfordert Zeit und<br />
politischen Mut. Dies liegt bei den neuen Mitgliedsländern näher, da sie unter<br />
einem größeren wirtschaftlichen Druck stehen. Ihre Erfahrungen, die guten wie<br />
die schlechten, sind schon heute für das übrige Europa ein Gewinn.<br />
Auch wenn sich die einzelnen Systeme voneinander unterscheiden, sind sie<br />
sich doch im Wesentlichen ähnlich, und deshalb können auch Probleme wie<br />
Kostenkontrolle, Qualitätskontrolle sowie Sicherstellung von Gesundheitsfürsorge<br />
und Sozialleistungen unter Berücksichtigung der sich vollziehenden Veränderungen<br />
auf ähnliche Weise gelöst werden. In diesem Kontext ist auch das Problem des<br />
Alterns von Europa zu sehen. Die jüngste Erweiterung der Union ist eine Gelegenheit,<br />
dieses Problem gemeinsam zu lösen und die Kräfte bei der Reform der Gesundheitsund<br />
Sozialfürsorge zu bündeln.<br />
Die Bevölkerungsentwicklung in Europa ist so alarmierend, dass neue Formen<br />
der Solidarität zwischen den Generationen entwickelt werden müssten. Das<br />
Programm zur Achtung von Mutterschaft und Kindererziehung wird, wie ich hoffe,<br />
zu einer gesamteuropäischen Angelegenheit. Gerade die Christdemokraten und<br />
Mitglieder der Volksparteien streben danach, dass Mutterschaft und Erziehung<br />
gesellschaftlich anerkannt werden, indem sie moralisch und finanziell stärker unterstützt<br />
werden. Diese Anerkennung muss sich in den Maßnahmen zu den geplanten<br />
Sozialreformen widerspiegeln, die aber nicht nur eine bessere Lösung der sozialen<br />
Probleme von Familien mit Kindern, sondern auch die Erneuerung der<br />
europäischen Gemeinschaft zum Ziel haben sollten. Das ist eine der wichtigsten<br />
Aufgaben für die weitere gemeinsame europäische Politik.<br />
192<br />
April 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 193<br />
Ivo SANA<strong>DE</strong>R<br />
Ministerpräsident von Kroatien<br />
Kroatien und Europa im Jahre 2020<br />
Kroatien auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft<br />
Seit Juni 2004 ist Kroatien ein Bewerberland für die Mitgliedschaft in der EU<br />
und wird in Kürze offiziell Verhandlungen mit der Union über einzelne Kapitel des<br />
Acquis aufnehmen und in diesem Zusammenhang sein Regierungssystem weiter<br />
angleichen und modernisieren.<br />
In den letzten Jahren hat Kroatien auf dem Gebiet der politischen Reformen<br />
große Fortschritte gemacht, und als langfristige Aufgabe steht nun die Erhöhung<br />
der Wettbewerbsfähigkeit der kroatischen Wirtschaft gegenüber den Mitbewerbern<br />
aus der Union. Eine Voraussetzung für dieses wirtschaftliche Kriterium ist ein<br />
funktionierendes Rechtssystem sowie gut ausgestattete und arbeitende Einrichtungen<br />
für die Überwachung und Durchsetzung des Rechtsstaatsprinzips in einer freien<br />
Marktwirtschaft. Dazu ist es notwendig, den Staat in Bezug auf seine ordnungspolitischen<br />
und regelnden Funktionen zu stärken, gleichzeitig jedoch die aus Sicht<br />
eines förderlichen wirtschaftlichen Wettbewerbs unerwünschten Interventionen<br />
am Markt abzubauen. Dieser wirtschaftliche Aspekt der Anpassung an EU-Normen<br />
ist eine logische Fortsetzung des Weges, den Kroatien seit Abschaffung des sozialistischen<br />
Wirtschaftsmodells geht, das vor den Neunzigerjahren bestand.<br />
Wir setzen auch weiterhin alles daran, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen;<br />
die institutionellen und viele politische Voraussetzungen sind bereits gegeben<br />
und weisen Kroatien als eine funktionierende Marktwirtschaft aus. Das wurde<br />
auch von der Europäischen Kommission in ihrer Stellungnahme zum Beitrittsgesuch<br />
Kroatiens anerkannt, das dem Rat im April 2004 übergeben wurde.<br />
Diese Anerkennung ist das Ergebnis unserer systematischen Bemühungen um<br />
die Errichtung einer Marktwirtschaft, Vollendung des Privatisierungsprozesses und<br />
Aufnahme und Vertiefung der Handelsbeziehungen zu europäischen Partnern.<br />
Das bisherige Ergebnis dieser Bemühungen sollte im Lichte der sozioökonomischen<br />
und politischen Bedingungen betrachtet werden, wie sie im Anschluss an den<br />
193
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 194<br />
IVO SANA<strong>DE</strong>R<br />
Krieg bestanden. Angesichts der Auswirkungen dieser Geschehnisse auf den politischen<br />
Spielraum in Kroatien kann ich voller Stolz erklären, dass die kroatische<br />
Wirtschaft in jüngster Vergangenheit einen Aufschwung erlebt hat und dass die<br />
Regierung in der Lage ist, sich durchaus langfristig um eine anhaltende Stabilität<br />
der Volkswirtschaft, um steuerpolitische Konsolidierung und Strukturreformen zu<br />
bemühen. Die Rahmenbedingungen für diese Bemühungen bietet das wirtschaftliche<br />
Heranführungsprogramm, ein Planungsinstrument zur Beitrittsvorbereitung,<br />
das die Europäische Union von den Mitgliedstaaten und Bewerberländern gleichermaßen<br />
für (die Angleichung) ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik fordert.<br />
Diese gezielten Bemühungen um Reformen und Modernisierung im<br />
Allgemeinen werden durch eine große politische Entschlossenheit von Regierung<br />
und Parlament unterstützt. Mit zunehmendem Tempo des Integrationsprozesses<br />
in die EU ist es der Führung des Landes gelungen, die Bereitschaft der verschiedenen<br />
politischen Parteien für die offizielle Mitwirkung am europäischen Projekt<br />
zu gewinnen. Bereits im Dezember 2002 nahm das kroatische Parlament eine<br />
Entschließung an, in der sich alle im Parlament vertretenen Parteien einverstanden<br />
erklären, den EU-Beitritt als vorrangiges außenpolitisches Ziel zu unterstützen.<br />
Diese Zustimmung ermöglichte auch die Durchführung eines parlamentarischen<br />
Eilverfahrens zur Angleichung von nationalen Rechtsakten an den Acquis.<br />
Anfang 2005 schloss die regierende Kroatische Demokratische Gemeinschaft<br />
(HDZ) mit der Opposition eine „Allianz für Europa“ mit dem Ziel, den<br />
Beitrittsprozess aus allen parteipolitischen Auseinandersetzungen herauszuhalten.<br />
In diesem Zusammenhang kann ich mit Freude feststellen, dass die konzertierten<br />
Bemühungen nochmals bestätigt wurden und die Grundlage bildeten, als das<br />
Parlament den Grundsätzen der Verhandlungen mit der EU und der Einrichtung<br />
eines Nationalen Ausschusses für die Überwachung der Verhandlungen zustimmte<br />
und gemeinsam mit der Regierung eine Erklärung zum gemeinsamen Vorgehen<br />
im Verhandlungsprozess verabschiedete. Die Tatsache, dass der Vorsitzende der<br />
größten Oppositionspartei zum Leiter des Nationalen Ausschusses für die Überwachung<br />
der Verhandlungen ernannt wurde, beweist, in welch bemerkenswerter<br />
Weise das EU-Integrationsprojekt die kroatische politische Szene und die<br />
Bevölkerung, die sie vertritt, vereint.<br />
Auch in Zukunft werde ich mich für eine ähnlich gute Zusammenarbeit und<br />
Konsultation aller maßgeblichen Akteure in dieser Frage einsetzen, die die jetzigen<br />
und zukünftigen Generationen Kroatiens unmittelbar betrifft. Die Notwendigkeit<br />
der Zusammenarbeit bestärkt mich in meiner Begeisterung für Kroatiens weiteres<br />
Voranschreiten auf dem Weg in die EU, zumal wenn man bedenkt, dass eine<br />
effektive Zusammenarbeit von Regierung und Opposition in der Vergangenheit<br />
kaum zu erreichen war. Die „Allianz für Europa“ zwischen Regierung und<br />
Opposition beweist, dass die politische Zusammenarbeit in Kroatien einen beneidenswerten<br />
Stand erreicht hat und dass Kroatien erfolgreich eine niveauvolle politische<br />
Kultur entwickelt.<br />
In diesem Sinne haben sich unsere Anstrengungen für die Reformierung unse-<br />
194
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 195<br />
KROATIEN UND EUROPA IM JAHRE 2020<br />
rer Partei, die Kroatische Demokratische Gemeinschaft, in den vier Jahren, in<br />
denen wir in der Opposition waren, mehr als gelohnt. Die von uns angestrebte<br />
Reform war erfolgreich, denn sie machte es möglich, dass Offenheit und<br />
Anerkennung der europäischen Ausrichtung Fuß fassen konnten und die<br />
Herausforderung als der sicherste Weg für Weiterentwicklung akzeptiert wurde.<br />
Darin sind wir uns einig mit den übrigen Mitgliedern der Familie der Europäischen<br />
Volkspartei sowie mit all denen, die sich dem Erfolg des gemeinsamen europäischen<br />
Projekts verschrieben haben.<br />
Kroatiens Beitrag zum Europa des Jahres 2020<br />
Auf den folgenden Seiten möchte ich darlegen, welchen Beitrag Kroatien<br />
meiner Ansicht nach zum europäischen Projekt leisten kann, in das es hoffentlich<br />
bald aktiv eingebunden ist.<br />
Erstens: Wir haben innenpolitische Reformen in Angriff genommen, um neue<br />
politische Normen für unsere eigene Gesellschaft festzulegen, gleichzeitig aber<br />
auch in der Absicht, ein Beispiel für andere Länder im benachbarten Südosteuropa<br />
zu geben.<br />
Kroatien ist ein mitteleuropäisches Land, das in sich die mediterrane Kultur<br />
und die mitteleuropäische Kultur der Donauregion vereinigt. Dank seiner geopolitischen<br />
Lage und der bereits erreichten Fortschritte bei der Angleichung an<br />
EU-Normen kann Kroatien die Rolle eines Bindeglieds zwischen der EU und<br />
Südosteuropa spielen. Durch unsere positive Politik gegenüber unseren Nachbarn<br />
im Osten dürften wir zu einem Vorbild für EU-Standards in dieser Region werden,<br />
deren Geschichte, Sprachen, Mentalität und Schwierigkeiten wir nur zu gut<br />
kennen.<br />
Mit dieser <strong>Vision</strong> vor Augen haben wir die Ärmel hochgekrempelt und bei uns<br />
selbst mit den Veränderungen angefangen. Kroatien bemüht sich aktiv um<br />
Versöhnung im Lande, und der Wandel hin zu einer modernen Gesellschaft, die<br />
ihre Bürger und deren kulturelle Vielfalt achtet, ist gelungen. Diese Regierung fühlt<br />
sich voll und ganz einer stärkeren sozialen Integration der nationalen Minderheiten<br />
verpflichtet. Inzwischen ist dieser Prozess so weit fortgeschritten, dass Minderheiten<br />
sowohl auf nationaler als auch lokaler Ebene politisch integriert sind. So sind<br />
alle Vertreter nationaler Minderheiten im kroatischen Parlament Partner meiner<br />
Regierungskoalition. In diesem Sinne sind sie aktiv und systematisch an der<br />
Entscheidungsfindung in meinem Lande beteiligt und übernehmen die<br />
Verantwortung für deren Ergebnisse und künftige Ausrichtung. Das erreichte<br />
Niveau der Mitwirkung der Minderheiten an der Staatspolitik kann als beispielgebend<br />
nicht nur für Südosteuropa, sondern auch für andere Teile unseres<br />
Kontinents angesehen werden.<br />
In den Einheiten der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung wurden<br />
Wahlen für Minderheitenräte und deren Vertreter durchgeführt. Vorgesehen ist,<br />
dass diese Räte die Organe der lokalen Selbstverwaltung bei Maßnahmen für<br />
195
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IVO SANA<strong>DE</strong>R<br />
Minderheiten beraten, um deren Position zu stärken. Zu dieser institutionellen<br />
Neuerung fanden Schulungen statt, bei denen die Organe der lokalen<br />
Selbstverwaltung darin angeleitet wurden, wie sie die Arbeitsweise der<br />
Minderheitenräte unterstützen und wirksam mit ihnen zusammenarbeiten können.<br />
Wir setzen in dieses institutionalisierte Element der Zusammenarbeit zwischen<br />
Zivilgesellschaft und Regierung, die meiner Ansicht nach ganz im Einklang mit<br />
der Tendenz zu progressiver Staatsführung andernorts in Europa steht, große<br />
Erwartungen.<br />
Ein weiterer kroatischer Beitrag zum Europa des Jahres 2020 besteht darin, dass<br />
die kroatische Regierung keine Gelegenheit versäumt, ihre ökumenische Überzeugung<br />
zum Ausdruck zu bringen. Ich bin der erste kroatische Ministerpräsident,<br />
der – bisher zweimal – an die serbische orthodoxe Gemeinschaft eine Botschaft<br />
für eine gesegnete Weihnacht aller Gläubigen gerichtet hat. Ich habe das aus<br />
ehrlicher Überzeugung und in der großen Hoffnung getan, dass diese und ähnliche<br />
Gesten dazu beitragen mögen, uns den traditionellen Säulen der östlichen<br />
und der westlichen Gesellschaft – der römisch-katholischen und der orthodoxen<br />
Kirche – näher zu bringen. In einer Zeit, da ein auf religiöser Überzeugung<br />
beruhender guter Wille gegenüber allen Mitmenschen der allgemeingültige und<br />
aussagekräftigste Ausweis in dieser Welt der Differenzen ist, stellt eine solche<br />
Annäherung meines Erachtens nach ein Ziel dar, das sowohl Kroatien und diese<br />
Region als auch Europa selbst anstreben sollten.<br />
Es liegt im Interesse Kroatiens, die Kommunikation mit der Zivilgesellschaft<br />
generell zu intensivieren. Dieser Prozess ist im Hinblick auf unseren Beitritt nicht<br />
nur unabdingbar, sondern auch für unseren aktiven Beitrag zu den<br />
Entscheidungsprozessen in der Union unerlässlich. Vor der Aussprache über die<br />
Zukunft der Union findet eine Debatte statt, bei der es darum geht, dass Staaten<br />
und Völker das gemeinsame EU-Projekt verstehen und es als unmittelbar mit<br />
der Verwirklichung ihrer individuellen Ziele in Verbindung stehend betrachten.<br />
Ausgehend von den vorstehend genannten Fortschritten in Kroatien besteht<br />
der dritte Aspekt seines Beitrags zum Europa des Jahres 2020 in seiner Rolle als<br />
Bindeglied zwischen der EU und Südosteuropa.<br />
Da andererseits die Aussichten, dass diese Region in die Union eingegliedert<br />
wird, immer näher rücken, kann Kroatien viele eigene Erfahrungen aus diesem<br />
Prozess in eine verantwortungsbewusste Erweiterung und die Gestaltung des<br />
Lebens in einer noch stärker erweiterten Europäischen Union einbringen. Dieses<br />
Angebot kann angesichts dessen, dass die Region gegenwärtig immer noch nach<br />
einem machbaren und dauerhaften Frieden und Stabilität sucht, mit Fug und<br />
Recht ernst genommen werden.<br />
Die politische Zusammenarbeit, von der ich spreche, ist für einen effizienten<br />
und ungehinderten Prozess der EU-Integration von Bedeutung. Mehr noch:<br />
sie bestätigt das Engagement des Landes für eine wesentlich umfassendere<br />
Entwicklungsagenda. Verpflichtungen, die wir in diese Richtung übernehmen,<br />
unterstreichen unsere Bereitschaft, ein aktiver Partner Europas zu werden, wenn<br />
196
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 197<br />
KROATIEN UND EUROPA IM JAHRE 2020<br />
es diese Region aufnimmt und wenn es zur Heimat für alle friedliebenden, demokratischen<br />
Nationen wird, die sich in den vergangenen Jahren entschlossen<br />
haben, eine neue Seite in ihren Geschichtsbüchern aufzuschlagen.<br />
Gemäß seinem außenpolitischen Ziel, das Bindeglied zwischen der EU und<br />
Südosteuropa zu sein, hat Kroatien seine stabilisierende Rolle in der Region ernst<br />
genommen. Im Oktober 2004 haben wir eine Charta für gute Nachbarschaft,<br />
Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit in Südosteuropa unterzeichnet, wodurch<br />
Kroatien Mitglied des Südosteuropäischen Kooperationsprozesses (SEECP) wurde.<br />
Die innere Logik dieser und anderer regionaler Rahmenbedingungen für die<br />
Zusammenarbeit besteht im Ausstrahlungseffekt, den wir oftmals mit den Anfängen<br />
der Europäischen Union selbst in Verbindung bringen: Wenn konkrete<br />
Beziehungen und Interessen erst einmal (wieder) hergestellt sind, verstärkt und<br />
vertieft sich naturgemäß die Zusammenarbeit. Und genau von dieser Form der<br />
konkreten und zukunftsweisenden Zusammenarbeit zeugt Kroatiens positive<br />
Haltung gegenüber regionalen Initiativen zur Bekämpfung der organisierten<br />
Kriminalität, der Liberalisierung des Handels, des Aufbaus von Infrastrukturnetzen<br />
im Bereich Verkehr und Energie, für parlamentarische Zusammenarbeit usw. Je<br />
größer die Zahl der Parteien ist, die an einer regionalen Zusammenarbeit interessiert<br />
sind, desto besser stehen die Chancen für eine langfristige Stabilität zwischen<br />
Nachbarn.<br />
Mit der gleichen Absicht unternimmt Kroatien auch auf bilateraler Ebene<br />
Anstrengungen. Ich möchte in diesem Zusammenhang unterstreichen, dass sich<br />
unsere Beziehungen zu Bosnien und Herzegowina deutlich verbessert haben,<br />
wobei sich der Schwerpunkt mehr und mehr von politischen Fragen auf technische<br />
und wirtschaftliche Aspekte verlagert. Wir fördern mit aller Kraft den<br />
Reformprozess des Landes, der auf die Integration in EU und NATO gerichtet<br />
ist, und unterstützen Bemühungen zur Gewährleistung der Gleichbehandlung<br />
der drei Volksgruppen sowie der nachhaltigen Rückkehr der Flüchtlinge und<br />
Vertriebenen. Kroatiens Unterstützung in diesem Bereich geht Hand in Hand mit<br />
den unaufhörlichen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft in diesem<br />
Land. Aufgrund seiner positiven Maßnahmen gegenüber Bosnien und<br />
Herzegowina nimmt Kroatien auch am historischen Dialog zwischen der EU und<br />
dem Islam teil, denn der Islam ist die vorherrschende Religion einer der<br />
Volksgruppen in Bosnien und Herzegowina.<br />
Kroatien hat auch die Beziehungen zu Serbien und Montenegro ausgebaut.<br />
Unser Ziel ist es, gutnachbarliche Beziehungen durch einen offenen Dialog herzustellen.<br />
Aus diesem Grunde war ich auch der erste kroatische Ministerpräsident<br />
nach Kroatiens Unabhängigkeit, der Belgrad Ende 2004 einen offiziellen Besuch<br />
abstattete. Wir erzielten Übereinkommen zum systematischen Schutz der nationalen<br />
Minderheiten in beiden Ländern sowie zur Stärkung der wirtschaftlichen<br />
Zusammenarbeit. Kroatien hat seine Bereitschaft erklärt, seine Erfahrungen im<br />
Prozess der EU-Integration und im Reformprozess im Allgemeinen weiterzugeben.<br />
Die von uns angebotene zukünftige Zusammenarbeit ist ein hervorragender<br />
197
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IVO SANA<strong>DE</strong>R<br />
Beweis des guten Willens, denn Kroatien hat viel erreicht und tut alles in seinen<br />
Kräften Stehende, um das Problem der Rückkehr der Serben zu lösen, die während<br />
des Krieges Zuflucht in Serbien und Montenegro gesucht hatten.<br />
Bemühungen um die Herstellung praktikabler Beziehungen in der Region<br />
sind kein Nebenprodukt des kroatischen Integrationsprozesses in die EU, sondern<br />
eine Priorität an sich. Auch wenn wir unsere Augen auf den Beitritt zur<br />
Europäischen Union richten, bleibt unsere Heimat doch die Region. Das Ziel,<br />
das wir uns setzen sollten und das auch mit der politischen Agenda der EU in<br />
Südosteuropa in Einklang steht, besteht daher eher in einer starken und weniger<br />
in einer formalen und oberflächlichen Zusammenarbeit. Wie auch im Falle der<br />
EU-Integration liegt dem der Gedanke zugrunde, dass die Länder mit der Aussicht,<br />
Wohlstand durch Zusammenarbeit zu schaffen, die Gefahr wirtschaftlicher Not und<br />
geopolitischer Unsicherheit aus der Welt schaffen, die ihre individuelle soziale,<br />
politische und kulturelle Entwicklung bedroht. Jetzt gilt es, Umfang und Form einer<br />
Zusammenarbeit festzulegen, die der Entwicklung der Beteiligten dient.<br />
Ein weiterer wichtiger Beitrag, den Kroatien als Mitgliedstaat der EU leisten<br />
kann, ergibt sich daraus, dass es eines der wenigen europäischen Länder ist, die<br />
über aktuelle Erfahrungen mit der Teilnahme an einer multinationalen Föderation<br />
verfügen. Aufgrund dessen wissen wir genau, welche Konzepte und Maßnahmen<br />
geeignet sind, um den Wunsch der Menschen nach Freiheit, Identität und<br />
Wohlergehen in einem multinationalen Organismus wie der Europäischen Union<br />
erfüllen zu können.<br />
Jetzt, da wir am Anfang eines weiteren Projekts einer Gemeinschaft von<br />
Nationen stehen, dürfen wir nicht vergessen, was uns die Vergangenheit über<br />
andere und über uns selbst gelehrt hat. Dieses Wissen ist von größtem Wert<br />
innerhalb einer Union, die zur Heimat einer stetig wachsenden und vielfältiger<br />
werdenden Gruppe von Mitgliedstaaten wird. Daher muss die Union alles daransetzen,<br />
das Gespräch zwischen ihren Mitgliedern in Gang zu halten, zuzuhören<br />
und die Erfahrungen und die Weisheit jedes einzelnen Mitgliedstaats zu nutzen.<br />
Der europäische Bürger des Jahres 2020 schließlich muss in verschiedenen<br />
europäischen Kulturen und Sprachen arbeiten und leben und mit diesen Kulturen<br />
und der Mentalität ihrer Menschen vertraut werden. In dieser Hinsicht besitzt<br />
Kroatien bereits umfangreiche Erfahrungen. Ausgehend von Kroatiens historischen<br />
Kontakten zu deutsch-, italienisch- und ungarischsprachigen Gebieten,<br />
der starken Orientierung des Landes auf den Fremdenverkehr und insbesondere<br />
einer großen kroatischen Diaspora im englisch- und deutschsprachigen Raum<br />
gibt es bereits heute viele kroatische Bürger, für die Mehrsprachigkeit Teil ihrer<br />
Identität ist.<br />
In dieser Hinsicht kann Kroatien neben einigen anderen kleineren europäischen<br />
Nationen, die ähnliche multilinguale Merkmale aufweisen, als Modell für<br />
Europas Zukunft dienen.<br />
198
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Unsere Wege kreuzen sich<br />
KROATIEN UND EUROPA IM JAHRE 2020<br />
Abschließend möchte ich mich noch zu den Aufgaben äußern, die Kroatien<br />
zu lösen hat, da sie meiner Meinung nach denen vergleichbar sind, vor denen auch<br />
die EU steht. Die kurze Zeit, in der Kroatien jetzt unabhängig ist, hat uns vor<br />
viele Herausforderungen gestellt. Möglicherweise ist das Schlimmste geschafft, doch<br />
mit ruhigen Zeiten ist nicht so bald zu rechnen. Ich bin weder verantwortungslos<br />
noch gefühllos, wenn ich sage, dass ich darüber nicht verzweifelt bin, denn<br />
ich sehe den Weg meines Landes als unaufhörliche Verbesserung und<br />
Vervollkommnung. Deshalb sind wir optimistisch, wenn unser administratives<br />
und demokratisches System durch die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft jetzt<br />
vor der Herausforderung steht, in Bezug auf Effektivität, Transparenz, Demokratie<br />
und Staatsführung im Allgemeinen immer besser zu werden.<br />
Wenn sich heute die Mehrzahl der kroatischen Bevölkerung für die<br />
Weiterführung dieser verschiedenen Projekte ausspricht, so beweist das den<br />
guten Willen und die Beharrlichkeit unserer Bürger. Wir wollen voll und ganz zur<br />
europäischen Familie gehören, das europäische Modell und die Normen akzeptieren,<br />
die die Politik regulieren und leiten, sowohl die „hohe Politik“ als auch die<br />
„Politik im Kleinen“. Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass die Standhaftigkeit<br />
des europäischen Integrationsprojekts und sein Erfolg seine Machbarkeit auch in<br />
Zukunft unter Beweis stellen. Dennoch verschließen wir nicht die Augen vor<br />
den Problemen der Union und den noch offenen Fragen, und wir hegen nicht<br />
die Illusion, dass dieser Weg zu Ende ist, wenn wir erst in der Europäischen<br />
Union sind.<br />
Wenn die Europäische Union – wie auch Kroatien – auch weiterhin<br />
Herausforderungen gern annimmt, braucht man sich keine Sorgen über Europas<br />
Zukunft im Jahre 2020 und darüber hinaus zu machen. Das Rezept für den<br />
Wandel ist klar und eindeutig: Man muss die eigenen Schwächen kennen und<br />
bereit sein, daran zu arbeiten. Vor allem darf man nicht vergessen, dass das<br />
Projekt „Europäische Integration“ genau das ist, was es bedeutet: ein Projekt.<br />
Damit hat es weder ein vereinbartes Endziel noch einen vorgeschriebenen Weg,<br />
den man gehen muss. Um ihre Bedeutung und ihren Mehrwert zu bewahren, muss<br />
die Union offen und flexibel bleiben. In diesem Zusammenhang scheint es mir<br />
angebracht, an die Worte des Willkommens zu erinnern, mit denen die EU in<br />
der Vergangenheit oft die unter uns begrüßt hat, die noch draußen stehen, sozusagen<br />
an der Türschwelle. Diese Worte bieten Stoff zum Nachdenken für die<br />
Europäische Union selbst. Sie lauten in etwa: Wir freuen uns, dass sich unsere Wege<br />
kreuzen, denn auch Sie haben ein großes Potenzial.<br />
199<br />
April 2005
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Jacek Emil SARYUSZ-WOLSKI<br />
Vizepräsident des Europäischen Parlaments<br />
Leiter der polnischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
Europäische Nachbarschaftspolitik<br />
Regierungen, Parlamente und Politiker im Allgemeinen sollten keine theoretischen<br />
Konstrukte entwerfen und dann erwarten, dass sich die Realität ihren<br />
Erwartungen anpasst. Sie sollten vielmehr bestehende Probleme definieren, versuchen,<br />
zukünftige Probleme zu prognostizieren und nach effektiven Lösungen<br />
suchen. Beim Konzept der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) sollte daher<br />
ein möglichst praktischer Ansatz verfolgt werden. Es steht außer Zweifel, dass<br />
die Beziehungen zu unseren Nachbarländern ganz oben auf der Prioritätenliste der<br />
Europäischen Union stehen; von besonders herausragender Bedeutung sind sie<br />
für all jene Mitgliedstaaten, die in Zukunft für den Schutz der gemeinsamen EU-<br />
Außengrenzen zuständig sein werden. Als das Präsidium des Europäischen<br />
Parlaments die Aufgabenzuständigkeiten zwischen den Vizepräsidenten aufteilte,<br />
habe ich mich für die Übernahme des Bereichs der östlichen Nachbarländer<br />
entschieden, da ich der Überzeugung bin, dass die neuen Mitgliedstaaten in ebendiesem<br />
Gebiet für die Gemeinschaft einen besonderen Beitrag leisten können.<br />
Welche Herausforderungen liegen vor uns?<br />
Es gibt zwei Arten an Herausforderungen. Und zwar sind dies einerseits die<br />
Probleme, die die wechselseitigen Beziehungen zu unseren Nachbarn betreffen,<br />
die wir in enger Zusammenarbeit mit selbigen lösen müssen, und anderseits die<br />
EU-internen Problematiken, die in Zusammenhang mit einer effektiven Umsetzung<br />
der Europäischen Nachbarschaftspolitik stehen und die die Mitgliedstaaten untereinander<br />
regeln müssen. Im letztgenannten Fall darf man nicht davon ausgehen,<br />
dass es unter den 25 Mitgliedstaaten kein Wettbewerbspotenzial geben würde. Wir<br />
sollten jedoch trotz der unterschiedlichen Prioritäten, die die verschiedenen EU-<br />
Mitgliedstaaten im Rahmen der Nachbarschaftspolitik naturgegeben verfolgen,<br />
alles tun, um einen solchen Wettbewerb zu vermeiden.<br />
201
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 202<br />
Wie sieht die Realität aus?<br />
Wir dürfen uns nicht davor scheuen, zu Beginn unserer Überlegungen auszusprechen,<br />
was auf der Hand liegt – dass nämlich die EU-Nachbarn untereinander<br />
sehr tiefgreifende Unterschiede aufweisen. Es wäre daher sinnlos, beispielsweise<br />
gegenüber der Ukraine und dem Libanon ein und dieselbe Strategie zu<br />
verfolgen. Daher erstaunt die Forderung nicht, wonach die EU-Nachbarschaftspolitik<br />
nur einen möglichst breiten Rahmen für differenzierte und länderspezifische<br />
Maßnahmen bieten sollte, um wirklich effektiv sein zu können.<br />
Wenn es uns mit der ENP ernst ist, sollten wir die Realität nicht in Frage stellen,<br />
sondern sie so annehmen, wie sie de facto ist. Wir sollten versuchen, uns auf<br />
die Lösung der tatsächlichen Probleme zu konzentrieren, indem wir Kosten minimieren<br />
und die Effektivität maximieren. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass das<br />
Interesse Spaniens an einer Einigung über den Transit durch das Gebiet Kaliningrad<br />
mehr oder weniger genauso groß ist wie das Interesse Litauens an der Überwachung<br />
der Grenze zu den Exklaven Ceuta und Melilla. Zuallererst sollten wir die<br />
naturgegebenen und unvermeidbaren Interessensunterschiede zugeben, um<br />
genau dadurch Konkurrenz zwischen den außenpolitischen Prioritäten der<br />
Mitgliedstaaten zu vermeiden.<br />
Welche Lösungen gibt es?<br />
JACEK EMIL SARYUSZ-WOLSKI<br />
Die östliche Dimension der EU sollte gleichzeitig auf drei Ebenen verfolgt werden:<br />
a) Die europäische Ebene, die die so genannten Tätigkeiten im Rahmen der<br />
ersten Säule (externe Aktivitäten), die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />
und die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und innere Angelegenheiten auf ganzheitliche<br />
Weise umfasst, sollte absolute Priorität genießen.<br />
b) Die Regierungsebene – die bilateralen Kontakte sollte den übergeordneten<br />
EU-Bestrebungen untergeordnet werden. Die großen Mitgliedstaaten sollten<br />
der Versuchung, einseitige Politiken gegenüber dem Osten zu verfolgen, nicht<br />
nachgeben. Ein derartiges Vorgehen könnte zu einer Unterminierung der europäischen<br />
Solidarität auf internationaler Ebene führen.<br />
c) Die Nichtregierungsebene – die auf den Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen<br />
(NRO) und anderer nichtstaatlicher Akteure ruht. Dies ist ein Bereich,<br />
in dem die neuen Mitgliedstaaten einen erheblichen Beitrag leisten können.<br />
Polen verfügt in diesem Zusammenhang über umfassende eigene Erfahrungen.<br />
Es darf nie vergessen werden, dass die „Solidarnorść“-Bewegung erheblich von<br />
westeuropäischen und amerikanischen NRO unterstützt wurde, die zum Sieg der<br />
Freiheit Polens im Jahr 1989 beigetragen haben. Dieser Sieg ebnete den Weg<br />
zum Fall der Berliner Mauer und zu den demokratischen Revolutionen in allen<br />
Ländern dieser Region.<br />
Es sollten auch die tiefgehenden und originären Erfahrungen erwähnt werden,<br />
über die Nichtregierungsorganisationen aus den neuen Mitgliedstaaten in Russland,<br />
202
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EUROPÄISCHE NACHBARSCHAFTSPOLITIK<br />
der Ukraine, Belarus und Moldawien verfügen, unterhalten diese NRO doch ein<br />
weitreichendes Netz an Kontakten und besitzen Kenntnisse örtlicher Eigenheiten<br />
und Sprachen, und diese Kenntnisse sollten zum Vorteil der ENP umfassend<br />
genutzt werden.<br />
Welche Grundsätze sollten angewandt werden?<br />
Es gibt zahlreiche wichtige Grundsätze, die alle Mitgliedstaaten akzeptieren<br />
sollten, wenn wir die ENP wirklich zu einem effektiven Instrument der<br />
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik machen wollen. Bei diesen<br />
Grundsätzen handelt es sich um Folgendes:<br />
1. „Primum non nocere“ – Respekt der jeweiligen Prioritäten. Die Mitgliedstaaten<br />
sollten den wichtigen Grundsatz, der aus der Medizin wohlbekannt ist, akzeptieren.<br />
Füge (den Interessen anderer Mitgliedstaaten) keinen Schaden zu. Die<br />
Ressourcen der EU für die ENP sind begrenzt. Wenn man sich zu sehr auf eine<br />
bestimmte Priorität konzentriert, könnte das zu einem Mangel an Mitteln in anderen<br />
Bereichen führen. Daher sind Verhandlungen über Prioritätensetzungen<br />
unvermeidbar. Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wünschen,<br />
die den Namen verdient, muss uns jedoch klar sein, dass die Interessen<br />
eines jeden Mitgliedstaats berücksichtigt werden müssen. Jeder Staat sollte in<br />
den Bereichen aktiv sein dürfen, in denen er dies wünscht. Die ESVP-Operation<br />
„Artemis“ im Kongo, die erste echte Militärmission der EU außerhalb Europas,<br />
wurde von Frankreich geleitet; dennoch hat die EU in ihrer Gesamtheit in Folge<br />
dieser Unternehmung an Glaubwürdigkeit gewonnen. Die Ostpolitik wird wahrscheinlich<br />
schwerpunktmäßig von den Skandinaviern und den neuen Mitglieder<br />
Mitteleuropas vorangetrieben werden. Die verbleibenden Mitgliedstaaten sollten<br />
ihr Engagement unterstützen, anstatt Skepsis zu zeigen; gleichermaßen sollten die<br />
neuen Mitgliedstaaten den Barcelona-Prozess unterstützen. Die EU gewinnt mit<br />
zunehmenden Erfolgen an Glaubwürdigkeit, unabhängig davon, in welchen geografischen<br />
Bereichen diese Erfolge erzielt werden.<br />
2. Der regionale Ansatz ist eine allseits bekannte und praxiserprobte<br />
Herangehensweise im Bereich der GASP. Wir sollten diesem Muster auch weiterhin<br />
treu bleiben. Wir kennen bereits die „nördliche“ und die „Mittelmeerdimension“<br />
und uns liegt auch der polnische Vorschlag einer „östlichen Dimension“ vor, der<br />
Anfang 2003 unterbreitet wurde. Die nördliche Dimension (oder die „baltische<br />
Dimension“, wie unlängst von den nationalen EVP-ED-Delegationen vorgeschlagen),<br />
die von Finnland initiiert und von Schweden und den anderen nordischen<br />
Ländern erfolgreich weiter entwickelt wurde, stellt ein rundum gelungenes Beispiel<br />
für Europäische Nachbarschaftspolitik dar. Die in Nordwest-Russland vorhandenen<br />
Probleme (Umweltbedrohungen, atomare Verschmutzung, Probleme in<br />
Zusammenhang mit Gesundheit, Verkehr und Kommunikation) sind real. Diese<br />
Bedrohungen machen nicht vor Grenzen halt; daher liegt es in unserem ureigensten<br />
Interesse, sie länderübergreifend anzugehen. Die nordische (baltische)<br />
203
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JACEK EMIL SARYUSZ-WOLSKI<br />
Dimension braucht konkret definierte Ziele und klare Instrumente. Diese<br />
Charakteristika sollten innerhalb aller regionaler Dimensionen der GASP umgesetzt<br />
werden.<br />
3. Differenzierung – es ist unlogisch und kontraproduktiv, eine einheitliche,<br />
unflexible Politik zu entwerfen, die für alle Nachbarländer gleichermaßen gilt. Die<br />
Beispiele Libanon und Ukraine müssen hier nicht erneut angeführt werden. Es<br />
scheint, dass die ENP sogar innerhalb ein und derselben Region stark differenziert<br />
sein muss, um den bestehenden Herausforderungen gerecht zu werden. So<br />
gibt es tiefgehende Unterschiede zwischen der Situation und den Bedürfnissen<br />
in Belarus und in der Ukraine. Die EU kann daher gegenüber diesen beiden<br />
Ländern, die sich in verschiedenen Stadien politischer und wirtschaftlicher<br />
Entwicklung befinden, nicht ein und denselben Ansatz verfolgen. Die EU kann<br />
gegenüber diesen beiden Ländern, die sich auf unterschiedlichen Stufen der politischen<br />
und wirtschaftlichen Entwicklung befinden, nicht gleichermaßen verfahren.<br />
Die EU muss die Politik, die sie gegenüber einem bestimmten Land verfolgt,<br />
nach dem Stand seiner politischen und wirtschaftlichen Reformen richten.<br />
Die Umsetzung einer solchen Regel würde es der EU ermöglichen, die tatsächlichen<br />
Unterschiede in den innenpolitischen Verhältnissen und den internationalen<br />
Bestrebungen und Zielen eines bestimmten Staates zu berücksichtigen.<br />
4. Flexibilität – wir verfügen nicht über ausreichende Ressourcen, um all<br />
unsere Bestrebungen gleichermaßen zu verfolgen. Wir müssen daher einen<br />
Modus zur Aufteilung der vorhandenen Ressourcen entwickeln und umsetzen.<br />
Dieser Verteilungsmodus kann nicht auf Grundlage einer rein mathematischen<br />
Formel (z. B. nach der Länge der Grenzen, der Bevölkerung oder den<br />
Handelsströmen) entwickelt werden, da die Dringlichkeit der Probleme in den<br />
verschiedenen Gebieten nicht immer gleichermaßen groß ist. Leider sind wir<br />
nicht in der Lage, zukünftige Entwicklungen auf internationaler Ebene vorauszusagen<br />
und vorab die entsprechenden notwendigen Ressourcen bereitzustellen.<br />
Wenn die GASP wirklich effektiv sein soll, muss sie weitestgehend flexibel sein.<br />
Sie muss in der Lage sein, auf Krisensituationen zu reagieren. Aus eben diesem<br />
Grund brauchen wir Initiativen wie das Flexibilitätsinstrument. Die EU muss weiterhin<br />
in der Lage bleiben, sich den ändernden Umständen anzupassen.<br />
5. Schließen der Wohlstandslücke. Die immer weiter auseinander klaffende<br />
Wohlstandslücke zwischen der EU und ihren Nachbarn stellt die größte<br />
Herausforderung dar, der wir uns gegenüber sehen. Wir müssen daher dieser<br />
Tendenz entgegensteuern. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage der<br />
Ressourcen in all ihrer Dringlichkeit. In der derzeitigen Haushaltssituation wird<br />
es schwierig sein, zusätzliche Mittel zu finden; die EU muss jedoch richtige<br />
Prioritäten setzen und in der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 für die<br />
Nachbarschaftspolitik Mittel in ausreichender Höhe bereitstellen. Das neue<br />
Nachbarschaftsinstrument sollte so angelegt sein, dass unsere Aktivitäten gebündelt<br />
werden. Diese Reform an sich könnte bereits die schwierige Situation verbessern,<br />
vorausgesetzt, dass dieses Instrument weitestgehend flexibel ist. Schließlich<br />
204
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EUROPÄISCHE NACHBARSCHAFTSPOLITIK<br />
werden wir die bisherigen 34 Quellen für die Finanzierung unserer gemeinsamen<br />
Nachbarschaftsvorhaben auf eine einzige reduzieren.<br />
Geld ist nicht alles. Wenn wir die Wohlstandslücke zwischen der EU und<br />
ihren Nachbarn wirklich verringern wollen, so müssen die Unterstützungsregelungen<br />
der EU durch eine progressive Öffnung der EU-Märkte für Waren, die<br />
aus unseren Nachbarländern stammen, flankiert werden. Technisch gesehen sollten<br />
wir unseren Nachbarländern einen mit dem Europäischen Wirtschaftsraum vergleichbaren<br />
Status anbieten. Dies stellt einen Weg dar, um mit der finanziellen<br />
Überbeanspruchung der EU umzugehen!<br />
6. Konkreter Charakter. Die Zeit ist gekommen, um rein rhetorische<br />
Erklärungen im Bereich der Nachbarschaftspolitik hinter uns zu lassen und Taten<br />
sprechen zu lassen. Die EU sollte zunächst konkrete, umfassende und länderspezifische<br />
Aktionspläne umsetzen. Es sollte uns gelingen, „Erfolgsgeschichten“ zu<br />
schaffen, die sich bei unseren Nachbarn und deren Bürgern herumsprechen.<br />
Das Schwergewicht sollte auf die Förderung einer neuen politischen und rechtlichen<br />
Kultur gelegt werden, begleitet von der Unterstützung neuer Eliten, die<br />
nach Modernisierung streben.<br />
7. Besonderes Augenmerk sollte auf die Zusammenarbeit im Bereich Justiz<br />
und Innere Angelegenheiten gelegt werden. Es ist mittlerweile offensichtlich,<br />
dass die Europäische Union den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />
nur in enger Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn festigen kann. Dies ist insbesondere<br />
bei Ländern, die lange gemeinsame Grenzen im Osten und Süden miteinander<br />
teilen, der Fall. Wenn wir dringende Sicherheitsfragen, wie z. B. organisierte<br />
Kriminalität, Menschenhandel, illegale Einwanderung, lösen wollen,<br />
müssen wir ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Restriktion und Freiheit<br />
finden. Die Bereiche Fremdenverkehr, Handel, Bildung und Kultur, in denen der<br />
Austausch immer mehr zunimmt, erfordern sanfte und flexible Regelungen für<br />
Visumpolitik und Grenzkontrollen.<br />
Das Haager Programm fordert verstärkte Zusammenarbeit und intensiveren<br />
Dialog in Fragen von Migration und Asyl. In diesem Zusammenhang sollte die<br />
Aufteilung von Lasten und Verantwortlichkeiten als Leitprinzip angewandt werden.<br />
Es muss jedoch vergegenwärtigt werden, dass die östliche Außengrenze<br />
nach der Risikoanalyse der EU nicht das Hauptziel illegaler Migration ist, sondern<br />
vielmehr die Südgrenze (Mittelmeerbecken).<br />
Die Schaffung der Europäischen Grenzschutzagentur stellt eine Möglichkeit für<br />
die Entwicklung eines kohärenten Modells dar, das auf enger Zusammenarbeit<br />
und Partnerschaft mit den Nachbarländern basiert. Ein vergleichbares Modell<br />
wurde bereits an der finnisch-russischen Grenze umgesetzt.<br />
Um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen, muss sich die EU in diesem<br />
Politikbereich auf Unterstützungsleistungen konzentrieren, mit denen zum Aufbau<br />
autonomer Kapazitäten unserer Nachbarn in diesem Bereich beigetragen wird. Dies<br />
ist insbesondere bei der justiziellen Zusammenarbeit und dem Kampf gegen die<br />
Korruption von Bedeutung.<br />
205
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JACEK EMIL SARYUSZ-WOLSKI<br />
Alle oben genannten Ziele können mit angemessenen finanziellen Mitteln<br />
erreicht werden, so dass im Rahmen des geplanten europäischen Nachbarschaftsund<br />
Partnerschaftsinstruments für alle notwendigen Maßnahmen Finanzmittel in<br />
ausreichender Höhe bereitgestellt werden sollten.<br />
8. Regel des schrittweisen Vorgehens und der Konditionalität in der<br />
Zusammenarbeit zwischen der EU und ihren Nachbarländern. Die EU sollte die<br />
Zusammenarbeit und insbesondere die Gewährung von Unterstützung vom<br />
Fortschreiten des Transformationsprozesses abhängig machen. Besonderes<br />
Augenmerk sollte auf folgende Punkte gelegt werden: Minderheitenschutz und<br />
Achtung der Menschenrechte, Aufbau demokratischer Institutionen und<br />
Marktwirtschaft, Verbesserungen des Regierungs- und Verwaltungssystems und<br />
Bekämpfung der Korruption. Konditionalität sollte sich jedoch immer an dem<br />
tatsächlich Machbaren orientieren – sie darf nicht zu einem Alibi für Untätigkeit<br />
werden. Daher wäre es empfehlenswert, wenn die EU einen eher graduellen<br />
Ansatz verfolgen würde. Kleine Schritte in die richtige Richtung können wertvoller<br />
sein als das Drängen auf Erfüllung unrealistischer Bedingungen.<br />
Welcher Gestalt ist die <strong>Vision</strong> der östlichen Dimension der ENP?<br />
Die östliche Dimension der ENP stellt einen Bereich dar, in dem die neuen<br />
EU-Mitgliedstaaten ihre praktischen politischen und geschichtlichen Erfahrungen<br />
anwenden können und in dem sie über Kompetenzen und Kenntnisse verfügen,<br />
die sie in den Dienst der neugestalteten GASP stellen können.<br />
Russland – formell gesehen kein Bestandteil der Nachbarschaftspolitik; dennoch<br />
ist es notwendig, einige Worte über den wichtigsten und größten strategischen<br />
Nachbar der Union zu verlieren. Ich bin davon überzeugt, dass die oben<br />
dargelegten Grundsätze zur Umsetzung der ENP auch für Russland gelten sollten.<br />
Einer dieser Grundsätze betrifft den Punkt „Differenzierung“ – und dies<br />
bedeutet nicht, dass Russland keines besonderen Ansatzes bedarf, ganz im<br />
Gegenteil. Dieser Ansatz sollte jedoch auf denselben allgemeinen Grundsätzen<br />
basieren, die die EU auf die gesamte Region anwendet.<br />
Die jüngsten Entwicklungen in diesem Land machen die Herausforderung<br />
noch größer. Die Instrumente, über die die EU in Zusammenhang mit Russland<br />
verfügt, sind leider beschränkt. Die EU kann die Lage in der Ukraine auf relativ<br />
einfache Art und Weise beeinflussen, indem sie die Aussicht (so entfernt sie auch<br />
sein mag) auf eine Assoziierung oder eine Mitgliedschaft anbietet. Die Aussicht<br />
auf künftige Mitgliedschaft stellt das bedeutendste Instrument im Rahmen der<br />
Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dar. Über ein solches Instrument<br />
verfügt die EU gegenüber Russland jedoch nicht.<br />
Wie bereits dargelegt, ist es nicht meine Absicht, näher auf die Schwierigkeiten<br />
in den Beziehungen zwischen der EU und Russland einzugehen; dennoch möchte<br />
ich die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit lenken, „weiche“ Maßnahmen in<br />
206
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EUROPÄISCHE NACHBARSCHAFTSPOLITIK<br />
den Beziehungen zum größten EU-Nachbarn einzusetzen. Damit ist ein großes<br />
Potenzial verbunden. Das Hauptziel der EU sollte darin bestehen, der Entwicklung<br />
gegenzusteuern, die zu einer fortschreitenden Distanzierung Russlands von der<br />
EU führt; wir sollten nicht zulassen, dass wir uns immer mehr voneinander entfernen.<br />
Besonderes Augenmerk sollte auf den direkten Kontakt mit der russischen<br />
Gesellschaft (regionale Zusammenarbeit, Erleichterung der Visumserteilung,<br />
Studentenaustausch), die Zusammenarbeit zwischen den NRO, die Erleichterung<br />
des Zugangs zu unbeeinflussten Informationen über die EU und die Unterstützung<br />
unabhängiger Medien gelegt werden, um nur ein paar Punkte zu nennen. Selbst<br />
wenn die Distanz zwischen der EU und der russischen Regierung auch in Zukunft<br />
anhalten sollte, so sollte die EU alles daran setzen, um zu verhindern, dass diese<br />
Tendenz auch die Beziehungen zwischen unseren Gesellschaften bestimmt.<br />
Die Ukraine sollte nach der Orangefarbenen Revolution als erklärte<br />
Führungsmacht in dieser Region anerkannt werden, wegen ihrer Größe, ihrer<br />
Zielen (EU-Mitgliedschaft), der politischen Dynamik und der Ausrichtung der<br />
derzeit stattfindenden Änderungen (demokratisch und marktwirtschaftlich ausgerichtete<br />
Reformen, die durch eine aktive und einflussreiche Bürgerbewegung<br />
unterstützt werden). Die Ukraine und Georgien stellen in ihrer EU-orientierten,<br />
demokratischen Form ein wichtiges Beispiel dafür dar, dass sich Demokratie und<br />
Rechtsstaatlichkeit in den postsowjetischen Republiken durchsetzen können.<br />
Die neue demokratische Regierung in Kiew verfügt über einen beschränkten<br />
Zeitraum, um die dringend notwendigen und schwierigen Reformen umzusetzen.<br />
Wenn wir ernsthaft der Meinung sind, dass es in unserem ureigensten<br />
Interesse liegt, einen demokratischen und prosperierenden Nachbarn mit einer<br />
robusten Wirtschaft und einer zufriedenen Bevölkerung zu haben, so müssen<br />
wir die Ukraine in ihren Transformationsbestrebungen unterstützen. Die konzertierte<br />
Aktion der EU sollte zwei Voraussetzungen erfüllen:<br />
– sie muss die politische Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten erhalten,<br />
– ihre Auswirkungen müssen so nachhaltig sein, dass sie von der ukrainischen<br />
Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen werden und so zur Unterstützung<br />
der proeuropäischen Regierung Juschtschenko-Timoschenko führen.<br />
Ich bin fest davon überzeugt, und diese Überzeugung wird auch von einer<br />
deutlichen Mehrheit des Europäischen Parlaments in seiner berühmten<br />
Entschließung vom 13. Januar gestützt, dass der Ukraine eine eindeutige europäische<br />
Perspektive eröffnet werden sollte. Diese Ansicht wird leider von vielen<br />
EU-Regierungen nicht uneingeschränkt geteilt. Die EU kann sich jedoch auf einen<br />
Vielzahl praktischer, und dennoch sehr wichtiger Schritte konzentrieren:<br />
a. Erleichterung der Visaregelungen EU-Ukraine,<br />
b. Aufbau institutioneller Strukturen – Unterstützung des Prozesses der rechtlichen<br />
Harmonisierung mit dem gemeinsamen Besitzstand, Erreichen eines assoziierten<br />
Status gegenüber der EU,<br />
207
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JACEK EMIL SARYUSZ-WOLSKI<br />
c. Anerkennung der Ukraine als Marktwirtschaft (wie im Fall Russlands) und<br />
Unterstützung bei den Bestrebungen, WTO- und OECD-Mitglied zu werden,<br />
d. Aussicht auf Errichtung einer Freihandelszone zwischen der EU und der<br />
Ukraine (Öffnung des EU-Stahl- und Textilmarkts für ukrainische Erzeugnisse),<br />
e. Besondere Bildungsprojekte, deren Ziel es ist, ukrainische Universitäten<br />
an die EU-Bildungs- und Wissenschaftsprogramme anzukoppeln, Stipendien für<br />
Studenten und Wissenschaftler usw.<br />
f. Intensivierung der Aktivitäten der Euroregion Karpaten (Polen – Slowakei –<br />
Ungarn – Rumänien – Ukraine),<br />
g. Unterstützung des Erdöl-Pipeline-Projekts Odessa-Brody-Gdansk.<br />
Moldawien ist ein weiteres wichtiges Land auf unserer Liste, das dem Beispiel<br />
der Ukraine folgen könnte. Die Lage hat sich nach den jüngsten Wahlen verbessert,<br />
die neue Regierung ist erklärtermaßen proeuropäisch. Moldawien ist wegen eines<br />
grundlegenden Faktors von so großer Bedeutung – wegen des Beitritts Rumäniens<br />
zur EU im Jahr 2007. Vielen Menschen ist noch nicht bewusst, dass circa 1 Million<br />
moldawische Bürger (von einer Bevölkerung von insgesamt 4,5 Millionen) die doppelte<br />
moldawisch-rumänische Staatsangehörigkeit besitzen; dies bedeutet, dass sie<br />
schon sehr bald EU-Bürger sein werden. Das Transnistrien-Problem, das einen<br />
wichtigen Faktor bei der Beurteilung der Situation in Moldawien darstellt, bedarf<br />
gesonderter Behandlung. Die europäische Unterstützung von Demokratie und<br />
Rechtsstaatlichkeit sowie die zusätzlichen Maßnahmen, die voraussichtlich von<br />
Rumänien nach seinem Beitritt vorgeschlagen werden, sollten zu wichtigen<br />
Instrumenten der EU-Politik in dieser Region werden.<br />
Belarus stellt einen völlig anderen Fall dar. Die Diktatur im Sowjet-Stil, die<br />
einen nostalgischen Blick auf die „ruhmreiche Vergangenheit“ fördert – und das<br />
in unmittelbarer Nähe zur EU –, stellt eine Herausforderung für alle Europäer dar.<br />
Änderungen sind in diesem Land unvermeidlich. Die Orangefarbene Revolution<br />
in der Ukraine, die Verbreitung demokratischer Ideen aus den Nachbarländern<br />
Litauen und Polen dürften ihre Wirkung früher oder später entfalten. Die EU sollte<br />
mental und materiell darauf vorbereitet sein, diese Änderungen zu unterstützen,<br />
wenn es soweit ist.<br />
Das autoritäre Regime in Belarus kann angesichts der EU und der demokratischen<br />
Ukraine nur schwerlich überleben. Die EU sollte jedoch bereit sein,<br />
Demokratiebestrebungen in diesem Land mit adäquaten Instrumenten zu fördern.<br />
Nach meinem Dafürhalten sollte die EU:<br />
a. in dem Bestreben, Freiheit und Menschenrechte zu verteidigen, auf die belarussische<br />
Regierung konstanten Druck ausüben,<br />
b. eine freie Hörfunk- und Fernsehsendeanstalt für Belarus einrichten, um so<br />
das Medienmonopol der Regierung zu brechen,<br />
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c. einen europäischen Demokratiefonds gründen, um die Zivilgesellschaft von<br />
Belarus zu unterstützen. Dieses Instrument sollte der Verbesserung der Entwicklung<br />
und Aufnahme finanzieller Hilfen für belarussische Nichtregierungsorganisationen<br />
dienen,<br />
d. ein europäisches Stipendienprogramm für weißrussische Studenten schaffen.<br />
Fazit<br />
EUROPÄISCHE NACHBARSCHAFTSPOLITIK<br />
Die europäische Nachbarschaftspolitik eröffnet der Europäischen Union ein<br />
großes Potenzial und stellt einen wirksamen Weg dar, um an Profil gegenüber ihren<br />
Nachbarn zu gewinnen und ihre zugleich ureigensten Interessen zu verfolgen. Mit<br />
der ENP kann der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik neue Energie zugeführt<br />
werden. Zugleich bietet sie uns ein vielversprechendes Übungsgelände für unsere<br />
gemeinsamen politischen Bestrebungen im Bereich der Außenpolitik. Niemand<br />
zweifelt an ihrer Wichtigkeit. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern,<br />
dass es in der Europäischen Sicherheitsstrategie heißt, dass geografische<br />
Aspekte auch im Zeitalter der Globalisierung wichtig seien und es im Interesse der<br />
EU liege, dass unsere Anrainerstaaten gut regiert werden. Heutzutage stellt kein<br />
Nachbar eine direkte Bedrohung für die EU dar; dennoch könnten interne Probleme,<br />
mit denen die Nachbarländer zu kämpfen haben, auf die EU übergreifen. Es liegt<br />
daher in unserem gemeinsamen Interesse, dass unsere Nachbarn stabil, gut regiert,<br />
demokratisch und wirtschaftlich möglichst erfolgreich sind und sie zu einem effektiven<br />
Kooperationsnetzwerk gehören – einem wahren „Ring of Friends“.<br />
Die ukrainische Revolution hat gezeigt, dass ein friedlicher Umbruch letztendlich<br />
möglich ist. Ich bin der Meinung, dass sie im Hinblick auf politische<br />
Veränderungen in dieser Region inspirierend wirken wird. Die Rolle der EU besteht<br />
insbesondere darin, ihren Werten treu zu bleiben: Unterstützung von Demokratie,<br />
Rechtsstaatlichkeit, Recht auf freie Meinungsäußerung und Menschenrechten. Dies<br />
ist die Grundlage, auf der die EU errichtet wurde, und gleichzeitig das wichtigste<br />
Instrument für eine wahrhaft gemeinsame Außenpolitik.<br />
Das Beispiel der Ukraine hat zudem gezeigt, dass die Gemeinsame Außen- und<br />
Sicherheitspolitik letzten Endes wirklich effektiv sein kann und dass sie in der Lage<br />
ist, einer sich anbahnenden Krise präventiv zu begegnen. Es hat auch gezeigt, dass<br />
das Europäische Parlament eine wichtige, selbständige Rolle in der Außenpolitik spielen,<br />
seine Prioritäten umsetzen und als echter, mutiger Anführer in bestimmten<br />
Themenbereichen der Außenpolitik fungieren kann. Es hat schließlich gezeigt, dass<br />
die neuen Mitgliedstaaten für die EU ein echter Zugewinn sind und ihnen schnell<br />
bewusst geworden ist, dass sich ihre spezifischen nationalen Interessen und die<br />
Interessen der gesamten europäischen Gemeinschaft in den meisten Fällen<br />
ergänzen.<br />
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April 2005
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Gitte SEEBERG<br />
Leiterin der dänischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Gemeinsame Werte – Gemeinsame Zukunft<br />
Eine Gemeinschaft, die den Nationalstaat schützt und die Freiheit des<br />
Einzelnen verteidigt<br />
Europa kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Eine Geschichte, die<br />
angefüllt ist mit Krieg, Grauen, Pest und Cholera. Aber auch eine Geschichte, die<br />
reich an Entdeckungen und neuem Gedankengut ist. Die Demokratie wurde in<br />
Europa neu erfunden. In Europa wurden die bürgerlichen Freiheitsrechte formuliert<br />
und die Industrialisierung vorangetrieben, durch die die menschliche Zivilisation<br />
einen Quantensprung vollzogen hat.<br />
Die neuere Geschichte Europas hat sich im Guten wie im Schlechten in einem<br />
ständigen Wechsel von Rivalität und Zusammenarbeit zwischen unabhängigen<br />
Nationalstaaten vollzogen. Wenn die Rivalität Überhand nahm, brachen über<br />
Europa verheerende Kriege herein, in denen viel Blut vergossen und den Bürgern<br />
unermessliches Leid zugefügt wurde. Wenn Fortschritte in der Zusammenarbeit<br />
zwischen den Staaten zu verzeichnen waren, führte dies auch zum Aufblühen der<br />
Zivilisation und zu mehr Frieden.<br />
Mit der Errichtung der Europäischen Union haben die europäischen<br />
Nationalstaaten eine Formel gefunden, die die Phase des Friedens ins Unendliche<br />
fortschreiben könnte. Der Friede in Europa ist vorrangigste Aufgabe der EU und<br />
zugleich Voraussetzung für all das, was die europäischen Staaten im Miteinander<br />
erschaffen wollen.<br />
Das zwischenstaatliche Vertrauen bildet das Fundament für den Frieden in<br />
Europa. Kein EU-Mitgliedstaat fühlt sich heute von seinen Nachbarn in der Union<br />
bedroht. Die Grenzen sind offen, aber gleichwohl genau festgelegt und unverletzbar.<br />
Im Rahmen des Nationalstaats können die Bürger in Freiheit und in einer<br />
nationalen Gemeinschaft leben, die es ihnen ermöglicht, an der transnationalen bindenden<br />
Zusammenarbeit der Union mitzuwirken, die ihnen Sicherheit in wirtschaftlicher,<br />
politischer und kultureller Hinsicht bringt.<br />
Ich möchte meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass die Europäische Union in
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GITTE SEEBERG<br />
den kommenden Jahren in der Lage ist, ihrer Aufgabe als Hüterin der unabhängigen<br />
Nationalstaaten gerecht zu werden. Das Motto der Union, wie es im<br />
Verfassungsvertrag formuliert ist - „in Vielfalt geeint“ - belegt, dass gerade die<br />
Achtung der nationalen Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten und der individuellen<br />
Rechte der Bürger als tragendes Prinzip der Union gilt. Ohne diese ausdrückliche<br />
Anerkennung der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Mitgliedstaaten wäre<br />
die Union nicht in der Lage, ihre erklärte Zielstellung umzusetzen: den Frieden, ihre<br />
Werte und den Wohlstand der Bevölkerung zu fördern.<br />
Seit in der Nachkriegszeit der Fünfzigerjahre von fünf Staaten eine engere<br />
Zusammenarbeit angestrebt wurde, hat die Europäische Union eine sehr weit reichende<br />
Entwicklung vollzogen und ist wesentlich größer geworden. Ich will hier<br />
nicht in Abrede stellen, dass die Gründungsväter der Union die <strong>Vision</strong> von der<br />
Auflösung des Nationalstaats als Weg zur Vermeidung künftiger Kriege ansahen.<br />
Doch diese Zeit ist vorbei. In einer Union mit bis zu 30 Mitgliedstaaten stehen<br />
wir vor anderen Herausforderungen. Die vielen kleinen und weniger großen<br />
Mitgliedstaaten der EU erwarten, dass ihre nationalen Besonderheiten respektiert<br />
und anerkannt werden. Dass die Union keine Strategie verfolgt, die auf die<br />
Abschaffung der Nationalstaaten abzielt, ist schlichtweg eine Voraussetzung für<br />
die Übertragung von Souveränität an die Institutionen der EU. Die Kommission und<br />
das Europäische Parlament als die am stärksten auf Integration ausgerichteten<br />
Institutionen sollten vielmehr einen aktiven Beitrag dazu leisten, das Gespenst<br />
des Föderalismus zu vertreiben.<br />
Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die europäischen Institutionen zu der<br />
Erkenntnis kommen, dass ohne die Nationalstaaten als Fundament der Union der<br />
Zusammenarbeit der Boden entzogen wird und wir Gefahr laufen, dass die Epoche<br />
des Friedens weniger von Dauer ist, als wir erhoffen und alle anstreben..<br />
Eine Gemeinschaft, die die Privatinitiative als Weg zu Wachstum und<br />
Fortschritt anerkennt<br />
Mit dem Zusammenbruch im Osten und dem Ende des Kommunismus ist die<br />
Welt ein besserer Ort zum Leben geworden. Die Verbrechen des Kommunismus<br />
gegen die Menschheit sind unverzeihlich. Unzählige Menschen sind unter der<br />
Tyrannei des Sowjetimperiums ums Leben gekommen. Die wirtschaftlichen<br />
Fehlentwicklungen, die unter dem Joch des Kommunismus erfolgt sind, haben<br />
eine ganze Generation um ihre berechtigten Hoffnungen auf sozialen Fortschritt,<br />
Wohlstand und Gesundheit gebracht. Die völlige Missachtung des Initiativgeists<br />
und Tatendrangs des Menschen, die in der kollektivistischen Planwirtschaft vorherrschte,<br />
hat dazu geführt, dass Produktion und Wohlstand auf einem ungeheuer<br />
niedrigen Niveau verblieben.<br />
Heute müssen wir eingestehen, dass die Europäische Union in bestimmten<br />
Bereichen unverkennbar Züge angenommen hat, die auf eine falsch verstandene<br />
Akzeptanz der Planwirtschaft als brauchbares Instrument schließen lassen.<br />
212
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 213<br />
GEMEINSAME WERTE – GEMEINSAME ZUKUNFT<br />
Es gibt zahllose Beispiele überzogener Regulierung der Wirtschaft. Unaufhörlich<br />
werden Versuche unternommen, Detailfragen bis ins Absurde zu regulieren, und<br />
im Haushaltsbereich steckt die Union in einem Sumpf aus staatlichen Beihilfen, die<br />
in manchen Ländern in unrentable Wirtschaftszweige fließen, und intern wird eine<br />
anachronistische Agrarbeihilfe praktiziert, die eine zukunftsorientierte Förderung<br />
von Forschung und Entwicklung verhindert und zugleich für die Verbraucher<br />
Lebensmittel verteuert. Darüber hinaus wird der freie Wettbewerb mit den Ländern<br />
der dritten Welt behindert, wenn es um den Verkauf von Lebensmitteln an die<br />
europäischen Verbraucher geht.<br />
Eine der großen Aufgaben der kommenden Jahre wird darin bestehen, die<br />
Anzahl der Rechtsvorschriften in der EU zu verringern. Nutzlose und über Gebühr<br />
regulierende Einschränkungen der Entfaltungsmöglichkeiten für Privatinitiative<br />
sollten gestrichen werden. Die Agrarbeihilfen müssen zwar nicht ganz abgeschafft,<br />
aber doch so stark reduziert werden, dass sie keine Belastung des<br />
Gemeinschaftshaushalts mehr darstellen.<br />
Wachstum und Fortschritt werden nicht durch Regulierungsmaßnahmen der<br />
Staaten oder der Union erreicht. Wachstum und damit die Grundlage des Wohlstands<br />
wird durch private Initiative und Tatendrang geschaffen.<br />
Bei unseren gemeinsamen Bestrebungen, die Ziele von Lissabon zu erfüllen,<br />
müssen wir uns vor Augen halten, dass ein unflexibler Arbeitsmarkt, eine überregulierte<br />
Wirtschaft und ein aufgeblähter und bürokratischer öffentlicher Sektor in<br />
die entgegengesetzte Richtung führen.<br />
Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die europäischen Regierungen in<br />
den kommenden Jahren zu dieser Erkenntnis kommen und in Europa Entfaltungsmöglichkeiten<br />
für Kreativität und Tatendrang einräumen. Das sozialdemokratische<br />
Sicherheitsdenken, das auf Zentralismus und Überregulierung basiert, wird die<br />
Bürger Europas in Bezug auf Wohlfahrt und Wohlstand letztlich teuer zu stehen<br />
kommen.<br />
Eine Gemeinschaft, die bei gleichzeitiger Übernahme von Verantwortung für<br />
Umwelt und Nachhaltigkeit den freien Wettbewerb gewährleistet<br />
Der freie und faire Wettbewerb ist ein Grundpfeiler der europäischen<br />
Zusammenarbeit. So wie Überregulierung und ins Detail gehende Bevormundung<br />
der Wirtschaft der Fähigkeit der Gesellschaft, innovativ und zukunftsorientiert<br />
Wachstum und Wohlstand zu sichern, nicht wieder gut zu machenden Schaden zufügen,<br />
wirken sich Kartellbildungen, Sozialdumping und verantwortungsloser Umgang<br />
mit der Umwelt und den natürlichen Ressourcen verheerend auf die Fähigkeit der<br />
Wirtschaft aus, für die Bevölkerung Europas nachhaltige Fortschritte zu erzielen.<br />
Aus Erfahrung wissen wir, dass Forschung und Investitionen in eine sauberere<br />
Umwelt sich auszahlen und die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Eine stringente<br />
Umweltpolitik trägt zugleich zur Stärkung der Volksgesundheit bei und bringt<br />
der öffentlichen Hand auf längere Sicht Kosteneinsparungen.<br />
213
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 214<br />
GITTE SEEBERG<br />
Die Europäische Union muss es sich zum Ziel machen, die Umweltstandards<br />
in allen Bereichen zu verbessern, damit die EU im weltweiten Kampf für eine sauberere<br />
und gesündere Umwelt zum Vorreiter wird.<br />
Die Verschmutzung der Umwelt mit immer mehr Chemikalien stellt ein gewaltiges<br />
Problem dar, und zwar nicht nur in der EU, sondern in der ganzen Welt.<br />
Den Behörden fällt es schwer, mit den Entwicklungen in der Industrie Schritt zu<br />
halten. Immer mehr Chemikalien kommen in zunehmend schnellerer Abfolge auf<br />
den Markt, sodass die Auswirkungen der Substanzen auf Mensch und Umwelt<br />
nicht mehr bewertet werden können.<br />
Die Analyse und Bewertung dieser Stoffe ist eindeutig Aufgabe der EU. Kein<br />
Land wäre allein in der Lage, diese Aufgabe zu schultern, und darüber hinaus<br />
besteht für sie eine ganz natürliche Verpflichtung, da der freie Warenverkehr über<br />
die innergemeinschaftlichen Grenzen hinweg nicht dazu führen darf, dass die<br />
Gesundheit der Bevölkerung gefährdet wird.<br />
In der Agrarproduktion muss die EU in den kommenden Jahren strengere<br />
Anforderungen an die Landwirte stellen, was die Tierhaltung angeht. Um den<br />
Gesundheitszustand der Tiere in modernen effizienten Agrarbetrieben ist es allzu<br />
schlecht bestellt. Es kommen immer mehr Antibiotika zum Einsatz, und viele Tiere<br />
werden in den Schlachtbetrieben ausgesondert, weil sie entweder krank sind oder<br />
große Wunden wegen schlechter Behandlung aufweisen.<br />
Dies ist ein inakzeptabler Zustand, das darf nicht so weitergehen. Der häufige<br />
Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft beschwört die Gefahr der<br />
Kreuzresistenz beim Menschen herauf, die dazu führen könnte, dass uns in Zukunft<br />
die Fähigkeit zur wirksamen Behandlung anderer Krankheiten entzogen ist. Darüber<br />
hinaus ist es moralisch verwerflich, die Tiere, die wir für unsere Ernährung nutzen,<br />
mit so wenig Achtung für ihr Wohlergehen behandeln. Die allzu langen<br />
Tiertransporte durch Europa sind Ausdruck derselben falschen Einstellung, nach<br />
der landwirtschaftliche Nutztiere ausschließlich als eine Ware behandelt und angesehen<br />
werden und nicht als lebende Wesen, die ein Recht auf ordentliche<br />
Behandlung haben.<br />
Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die Bürger Europas den Kampf für<br />
eine gesündere und sauberere Umwelt in Industrie und Landwirtschaft in den<br />
kommenden Jahren zum Anliegen der Bevölkerung erheben. Die Verbraucher sitzen<br />
letztendlich am längeren Hebel, schließlich sind sie es, die die Waren kaufen<br />
und bezahlen sollen. Es kommt darauf an, die Interessen der starken<br />
Landwirtschaftsorganisationen und die Lobbyisten der Chemieindustrie in die<br />
Schranken zu weisen.<br />
Eine Gemeinschaft, die ihren Nachbarn die Hand reicht<br />
Nicht alle Länder, die in geografischer Nähe zur Union gelegen sind, können<br />
Mitglied der Europäischen Union werden. Die EU ist ein Zusammenschluss europäischer<br />
Ländern, daher ist u. a. den nordafrikanischen Ländern, Russland und<br />
214
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 215<br />
GEMEINSAME WERTE – GEMEINSAME ZUKUNFT<br />
den Ländern des Kaukasus für immer die Möglichkeit entzogen, die Aufnahme<br />
in die Union zu beantragen.<br />
Die EU hat ihre Grenzen, doch für die Idee einer verbindlichen Zusammenarbeit<br />
als Weg zu Frieden, Wachstum, Wohlstand und Wohlergehen gibt es keine Grenzen.<br />
Daher muss die EU ihren Nachbarn in den kommenden Jahren die Hand reichen<br />
und ihnen mehr als nur die traditionellen Kooperationsabkommen anbieten.<br />
Wohlstand und Frieden bei uns hängen davon ab, dass die Nachbarstaaten der<br />
EU sich in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht harmonisch und dynamisch<br />
entwickeln. In der Tat bedeutet eine Bedrohung der zerbrechlichen demokratischen<br />
Institutionen Russlands eine Bedrohung für uns alle. Und fortdauernde<br />
Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus in Nordafrika bedrohen auf längere<br />
Sicht uns alle.<br />
Die Nachbarstaaten der EU im Süden und im Osten unterscheiden sich voneinander,<br />
und dies sollte sich im Angebot der EU für Zusammenarbeit, Entwicklung<br />
und Beihilfen wiederspiegeln.<br />
Im Zusammenhang mit Nordafrika mutet es absurd an, dass dort nur sehr<br />
geringe – wenn überhaupt – Fortschritte erzielt werden, während die ostasiatischen<br />
Länder eine rasante Entwicklung in Riesenschritten vollziehen. In Anbetracht<br />
der geringen Entfernung zum europäischen Markt sollte Nordafrika in der Lage sein,<br />
weitaus umfassendere private Investitionen anzuziehen, als dies heute der Fall ist.<br />
Der enorme Zuwanderungsdruck aus Nordafrika liegt ganz einfach darin begründet,<br />
dass die Wirtschaft der nordafrikanischen Staaten nicht in der Lage ist, ihren<br />
eigenen Bürgern eine angemessene Zukunft zu bieten, die darauf beruht, dass<br />
diese für ihre eigene Arbeit angemessenen Lohn erhalten. Der Verfall der Gesellschaft<br />
ist eben diesem Fehlens wirtschaftlicher Dynamik geschuldet. Die Infrastruktur ist<br />
unzureichend, die Staaten können öffentliche Bildungs- und Gesundheitssysteme<br />
nicht fördern, und wir geraten zunehmend in eine Situation, in der der nationale<br />
Zusammenhalt mehrerer nordafrikanischer Länder durch das Bevölkerungswachstum<br />
in Gefahr gerät.<br />
Den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten muss zu der Erkenntnis verholfen<br />
werden, dass der elende Zustand Nordafrikas alle Bürger Europas angeht.<br />
Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die EU-Staaten einen gemeinsamen<br />
Beschluss fassen, Nordafrika aus dem Sumpf von Armut, Arbeitslosigkeit und<br />
Trostlosigkeit herauszuziehen, der für die Länder südlich des Mittelmeers kennzeichnend<br />
ist. Dies wird Geld kosten – sehr viel Geld –, doch wir müssen das als eine<br />
Investition in unsere eigene Zukunft verstehen.<br />
Eine Gemeinschaft, die sich aktiv für Demokratie und Menschenrechte<br />
einsetzt<br />
Die wichtigste Aufgabe der Europäischen Union ist es, die Grundlage für dauerhaften<br />
Frieden zwischen den Staaten Europas zu schaffen. Die EU als solche<br />
hat die demokratischen Systeme in den europäischen Ländern weder geschaffen<br />
215
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 216<br />
GITTE SEEBERG<br />
noch gesichert. Dies ist allein das Verdienst der Völker Europas – und nur deren<br />
Verdienst.<br />
Aber mit ihrer grundlegenden Idee, dass wirtschaftlicher Fortschritt der beste<br />
Weg zur Stabilisierung von Demokratien ist, war die EU ein Katalysator für die<br />
demokratischen Bewegungen in Osteuropa wie auch in der Dritten Welt.<br />
Der Weg zum Frieden führt über eine Arbeit, eine Ausbildung und die Fähigkeit,<br />
sich selbst und seine Familie versorgen zu können. Die EU sollte besser in der Lage<br />
sein, diese Sicht auf den europäischen Erfolg in der Welt publik zu machen. Unter<br />
anderem im Verhältnis zu den Entwicklungsländern Afrikas kommt es darauf an,<br />
eine Erwartungshaltung, ein besseres Leben betreffend, aufzubauen, bevor sich diese<br />
Länder, die heute von Korruption, Krieg und Unterdrückung geprägt sind, für<br />
einen anderen Weg entscheiden.<br />
40 Jahre Entwicklungshilfe für Afrika haben für sich genommen das Leben auf<br />
diesem Kontinent nicht lebenswerter gemacht. Die nächsten 40 Jahre<br />
Entwicklungshilfe werden auch keinen großen Unterschied ausmachen, sofern<br />
nicht verantwortungsbewusstes Regieren, Menschenrechte und Demokratie zu tragenden<br />
Säulen der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik der europäischen<br />
Staaten werden.<br />
Einstige europäische Großmächte, die heute an Macht verloren haben, sind<br />
sich über Jahre hinweg gegenseitig auf die Zehen getreten und haben zugleich die<br />
afrikanischen Völker mit Füßen getreten mit ihren Versuchen, den einen oder<br />
anderen afrikanischen Führer entweder zu unterstützen oder durch eine andere<br />
Person zu ersetzen. Dieses Großmachtspiel auf Kosten der Afrikaner muss ein<br />
Ende haben. Es gibt keine europäischen Großmächte mehr, aber es gibt weit verbreiteten<br />
Hunger, Not und Elend auf dem ganzen afrikanischen Kontinent von<br />
Casablanca bis Kapstadt.<br />
Die europäischen Staaten sollten eine gemeinsame koordinierte Afrika-Politik<br />
führen, die mit alten Vorurteilen Schluss macht und ausschließlich darauf ausgerichtet<br />
ist, durch Stärkung der Menschenrechte, der Demokratie und einer offenen<br />
Marktwirtschaft die Armut auszumerzen.<br />
Dies bedeutet nicht, dass die Entwicklungshilfe gekürzt werden soll, aber die<br />
Erfahrungen haben uns gelehrt, dass Entwicklungshilfe auf längere Sicht keinen<br />
Nutzen bringt, wenn in den Ländern Diktaturen herrschen und sie am Rande des<br />
Bürgerkriegs stehen.<br />
Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die Europäische Union in Anbetracht<br />
ihrer eigenen unverkennbaren Erfolge bei der Schaffung von Fortschritt und<br />
Wohlstand für ihre eigenen Bürger, künftig eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung<br />
eines neuen Denkansatzes im Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen<br />
der EU und Afrika übernimmt.<br />
216<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 217<br />
217<br />
Jean SPAUTZ<br />
Leiter der luxemburgischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Europatag, 9. Mai 2020<br />
Unsere <strong>Vision</strong> für Europa zu beschreiben, kann auf zwei Arten gelingen. Die<br />
eine, die konventionellere, ist eigentlich das Aneinanderreihen von Wünschen<br />
für die politische Zukunft unseres Kontinents. Dies passiert jeden Tag, in Brüssel<br />
und anderswo, in Reden und freien Tribünen, in Regierungen und Parlamenten.<br />
Die Summe der geäußerten Wünsche kann eine <strong>Vision</strong> ergeben. Doch eine <strong>Vision</strong><br />
ist eigentlich auch ein Traum, und deswegen existiert eine zweite, unkonventionellere<br />
Manier, das ideale Europa des Jahres 2020, und den Weg dorthin, zu schildern.<br />
Nämlich als Erzählung eines Traums, der sich am 9. Mai 2020 abspielt – am<br />
Europatag. In diesem Traum passieren 13 Jahre europäischer Geschichte Revue.<br />
Jene Jahre, deren Ereignisse das Europa des 9. Mai 2020 möglich gemacht<br />
haben.<br />
Der 9. Mai des Jahres 2020 ist ein Feiertag. Der erste unionsweite neue Feiertag,<br />
der 2017 eingeführt wurde, nachdem die Türkei, Moldawien, die Ukraine,<br />
Weißrussland und die Republiken des Südkaukasus der Union beigetreten waren.<br />
2012 bereits waren Bosnien-Herzegowina, Albanien, Serbien, Montenegro, Kosovo<br />
und Makedonien aufgenommen worden. Norwegen hatte im Jahr 2010 dem<br />
Beitritt zugestimmt, und die Schweiz war am 1. Januar 2019 das neueste Mitglied<br />
der Union geworden.<br />
Der erste gemeinsame Feiertag von nunmehr rund 600 Millionen Europäern,<br />
an dem zwischen Lissabon und Donezk, zwischen Diyarbakir und Tromsö, die<br />
Arbeit ruht. Seit 2017 wurde dieser Tag in jeweils einer europäischen Stadt besonders<br />
feierlich begangen. Nach Straßburg, Wien und Istanbul war die Reihe nun<br />
an der moldawischen Hauptstadt Chisinau. Der Bürgermeister der Stadt unterstrich<br />
in seiner Rede, dass der eben eingeweihte Schnellzugbahnhof von Chisinau das<br />
Symbol des europäischen Moldawien sei. Wien lag nur mehr dreieinhalb<br />
Bahnstunden entfernt. Von dort nach Brüssel schafften es die gemeinsam mit<br />
Japan entwickelten europäischen Magnetschwebezüge in zwei Stunden und fünfzig<br />
Minuten. Die transeuropäischen Netze waren nun schon zu einem guten Teil
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 218<br />
JEAN SPAUTZ<br />
Wirklichkeit – nachdem die Strukturfonds der Union hauptsächlich zugunsten<br />
der Transportpolitik reformiert worden waren.<br />
Die vergangenen Jahre waren nicht einfach gewesen. Die erste große<br />
Erweiterungsrunde der Union nach Osten, im Jahr 2004, war weniger leicht verdaulich,<br />
als viele sich das vorgestellt hatten. In einigen neuen Mitgliedsstaaten<br />
erstarkten schnell national ausgerichtete Protestbewegungen, deren Anhänger<br />
ihrem Frust über unerfüllte Erwartungen Luft machten. Als am 1. Januar 2007<br />
Kroatien, Bulgarien und Rumänien der Union beitraten, war deren<br />
Aufnahmefähigkeit überschritten. Der Verfassungsvertrag war zuvor in einzelnen<br />
Mitgliedsstaaten abgelehnt worden, doch wollte man den Erweiterungsprozess<br />
dennoch nicht unterbrechen. Ein Drittel aller Europäer, die in Referenden zur<br />
Verfassung befragt wurden, gingen zu den Urnen, ohne überhaupt etwas von<br />
dieser Verfassung gehört zu haben. Europa steckte in einer tiefen Krise.<br />
Die 28 Mitgliedsstaaten des Jahres 2007 mussten nun mit einer Union auskommen,<br />
deren institutioneller Zuschnitt im Vertrag von Nizza festgelegt war. Es<br />
kam zu Blockaden im Entscheidungsprozess. Die Verfassung konnte nicht in<br />
Kraft treten. Die Staaten des westlichen Balkan, die Ukraine, Moldawien und die<br />
Türkei begannen, an ihrer Beitrittsperspektive zu zweifeln. Konnte es zu dem<br />
Zeitpunkt ihrer endgültigen Beitrittsreife überhaupt noch eine Union geben? Die<br />
Zweifel, von denen die Europäer im Jahr 2007 geplagt wurden, waren die<br />
schlimmsten seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im<br />
Jahr 1954. Hätte sich die französische Nationalversammlung damals dem Projekt<br />
nicht in den Weg gestellt, es wäre denkbar gewesen, dass bereits um 1960 eine<br />
föderale Gemeinschaft entstanden wäre – mit einem gemeinschaftlichen<br />
Besitzstand, einem „acquis communautaire “, der politischer Natur gewesen<br />
wäre, und sich nicht in einem von unzähligen Europäern als widerwärtig empfundenen<br />
Überregulierungswerk ausgedrückt hätte. Doch an dem Pariser Votum<br />
von 1954 war nichts mehr zu ändern. Die Frage war: Würde die Union von 2007,<br />
so wie die Montanunion der fünfziger Jahre, die Kraft finden, sich zu einem<br />
neuen Projekt aufzuschwingen? Würde sie die Europäer für einen neuen Anlauf<br />
begeistern können? Würde es ein neues Messina geben?<br />
Der Europäische Rat tagte in Brüssel. An einem trüben Dezembertag im Jahr<br />
2007 saßen die Staats- und Regierungschefs der Union in einem unpersönlich<br />
gehaltenen Sitzungssaal zusammen und berieten über Wege aus der Krise. Die<br />
Aussichten waren genau so bedrückend, wie das Brüsseler Winterwetter. Der<br />
Rat wusste, dass die Zukunft der Union an einem seidenen Faden hing. In<br />
Südpolen hatte es massive Demonstrationen gegeben, in Rumänien war der<br />
öffentliche Transport seit Wochen durch Streiks lahm gelegt, in Norwegen erreichten<br />
die Gegner eines EU-Beitritts in Umfragen 85 Prozent, und in Großbritannien<br />
gab es eine satte Volksmehrheit für den Austritt aus der Union. Wäre die Verfassung<br />
in Kraft gewesen, die Briten hätten die EU vielleicht bereits verlassen – doch auf<br />
Nizzaer Grundlage war dieser Vorgang formal nicht möglich. Noch nicht...<br />
Am Abend des zweiten Sitzungstages kamen die Mitglieder des Europäischen<br />
218
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 219<br />
EUROPATAG, 9. MAI 2020<br />
Rates überein, dass nur ein kompletter Neuanfang Europa würde retten können.<br />
Anders war an die Überwindung der europäischen Verkrampfung nicht mehr zu<br />
denken. Als der nächste Morgen graute, lag eine Skizze auf dem Konferenztisch.<br />
Es war die Skizze einer europäischen Konstituante, einer kontinental angelegten<br />
Neugründung der Union. Es würde einen neuen Konvent geben, dessen Mitglieder<br />
eigens für diese Aufgabe von den Europäern gewählt würden. Jeder Wähler<br />
würde zwei Stimmen haben, eine für einen nationalen Kandidaten seines Landes,<br />
und eine Listenstimme, mit der er die Kandidaten einer europäischen Partei wählen<br />
könnte. Der Konvent würde solange tagen, bis ein neues Europa definiert wäre.<br />
Das Resultat seiner Beratungen würde in einem gesamteuropäischen Referendum<br />
zur Abstimmung gelangen. In der Zwischenzeit rang sich der Rat dazu durch,<br />
sich einen Präsidenten zu geben, um Europa ein Gesicht zu verleihen – auch<br />
ohne Verfassung. Gleichzeitig wurde die Kommission aufgefordert, dem europäischen<br />
Parlament eines oder mehrere seiner Mitglieder für die Wahl zum europäischen<br />
Außenminister vorzuschlagen, damit die Volksvertretung den Außenminister<br />
im Januar 2008 bezeichnen könne. Ratspräsident, Kommissionspräsident und<br />
Außenminister würde jene Troika sein, die Europa bis zur Vollendung der Arbeiten<br />
des Konvents zu führen hätte. Der Rat selbst hatte beschlossen, dass keine zwei<br />
Mitglieder der Übergangstroika aus dem gleichen Land kommen dürften.<br />
Tatsächlich waren der Kommissionspräsident Portugiese, der Vorsitzende des<br />
Europäischen Rates Luxemburger und die Außenministerin Französin. Auf diese<br />
hochgebildete Frau, die fliessend deutsch, englisch und polnisch sprach, hatte sich<br />
das Europäische Parlament einigen können, nachdem der deutsche Parlamentspräsident<br />
als Vorsitzender des Konvents bezeichnet worden war. Er würde allerdings<br />
noch von diesem Gremium selbst bestätigt werden müssen.<br />
Die Bestimmung dieser Führungstroika stieß in der Europäischen Union auf<br />
breite Anerkennung und erregte weltweit Aufsehen. Es hatte nun den Anschein,<br />
als sei Europa doch fähig, sich zusammenzureißen und nach Jahrzehnten eher<br />
bedächtiger Einigungsfortschritte einen Quantensprung zu wagen. Die Partner<br />
der Europäischen Union in der Welt nahmen die Vorgänge in Europa ernst. Die<br />
erste grundsätzliche Entscheidung, die von der Troika getroffen wurde, war, in<br />
Zukunft auf nationalstaatliche Sitze im UN-Sicherheitsrat verzichten zu wollen, und<br />
einen europäischen Sitz in einem reformierten „Governance Council “ anzustreben,<br />
der den Sicherheitsrat ablösen sollte. Schließlich ging es dort, ebenso wie<br />
in Europa, nicht mehr nur um Krieg und Frieden: es ging um globales Vertrauen<br />
in die internationalen Organisationen, um deren Legitimität und ihre Fähigkeit,<br />
die Probleme der Welt anzupacken und mit Lösungen aufzuwarten.<br />
In Europa wurde die Konventswahl für Mitte Februar 2008 angesetzt. Die 112<br />
gewählten Mitglieder (jeweils zwei pro Mitgliedsland, und eine gleiche Zahl von<br />
über Listen gewählten Kandidaten der europäischen Parteien) würden zudem<br />
nicht in Brüssel tagen, sondern in Wien. Die symbolische Tragekraft der Hauptstadt<br />
jenes ersten multinationalen europäischen Staates, der das alte Österreich-Ungarn<br />
gewesen war, hatte den Europäischen Rat davon überzeugt, den Tagungsort des<br />
219
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JEAN SPAUTZ<br />
Konvents in die kontinentale Mitte zu verlegen, sechzig Kilometer von der<br />
Slowakei und Ungarn entfernt. Der Konvent würde in jener Stadt arbeiten, von<br />
der aus bis 1919 Südtirol und das heute ukrainische Galizien, Bosnien und<br />
Siebenbürgen regiert worden waren. In jenem Wien, wo der junge italienische<br />
Deputierte Alcide de Gasperi vor dem ersten Weltkrieg noch seinen Sitz in der<br />
kaiserlichen Diät einnahm, um später Premierminister Italiens und einer der<br />
Gründungsväter Europas zu werden.<br />
Die Wahl zum Konvent brachte Europa neuen Schwung. Die erste wirklich<br />
europäische Wahlkampagne förderte all jenes zutage, das den Europäern an der<br />
EU Verdruss bereitete. Während dieser intensiven und spannungsgeladenen<br />
Winterwochen Ende 2007 und Anfang 2008 wurde viel über Legitimität und<br />
Akzeptanz, über Europas Rolle in der Welt, über Werte und das Wesen Europas<br />
diskutiert – mehr als zu irgend einem Zeitpunkt davor. Kandidaten und Parteien<br />
bekannten Farbe, nicht über ihre Meinungen zu obskuren Richtlinien über<br />
Dieselkraftstoff und Chemieprodukte, sondern zu einer europäischen<br />
Sozialversicherung, dem mittlerweile von fast allen Listen mitgetragenen europäischen<br />
Mindestlohn, zu Religionsfreiheit und den islamischen Wurzeln unseres<br />
Kontinents, die den europäischen Baum zusammen mit den jüdisch-christlichen<br />
stützen. Die Europäer wollten diskutieren, wollten ihren Kontinent an diesem<br />
Scheideweg selbst erfahren und mitgestalten, ohne dass ihre Lust an Europa<br />
getrübt wurde von Krämergeschacher über den europäischen Agrarhaushalt und<br />
Skandälchen um Sekretariatsabrechnungen europäischer Abgeordneter. Die<br />
gemeinsamen Kampagnenauftritte von Italienern, Iren, Tschechen und Esten auf<br />
der gleichen Liste und bei der gleichen Kundgebung beeindruckten die Europäer<br />
mehr, als irgendeine Butterfahrt zum Parlament es gekonnt hätte. Europa wurde<br />
erlebbar und greifbar: als in Vilnius der englische Spitzenkandidat der liberalen<br />
Liste auf litauisch ausrief „Europa kann nur dann gelingen, wenn europäische<br />
Politiker sich allen Europäern zur Wahl stellen“, folgte eine lange Ovation der versammelten<br />
Menge. Es ging um alles in diesem Wahlkampf – und die Europäer<br />
holten sich ihren Kontinent zurück.<br />
Der Konvent, der am 15. Februar in der Hofburg zusammentrat, war die erste<br />
gesamteuropäisch gewählte und gesamteuropäisch ausgerichtete parlamentarische<br />
Versammlung des Kontinents. Nationale Besonderheiten und Eigeninteressen<br />
hatten im Wahlkampf quasi keine Rolle gespielt. Nun sollte es also ernst werden<br />
mit der Neugründung Europas. Die Parlamente der Staaten des westlichen Balkan,<br />
der Türkei, der Ukraine und Moldawiens hatten Beobachter zum Konvent designiert,<br />
die nicht stimmberechtigt waren. Man hatte diesen Konvent auf die tatsächlichen<br />
Mitglieder der Union begrenzen wollen, um seine Arbeiten nicht<br />
durch geografische Überdehnung vorzubelasten. Allerdings spielten die Beobachter<br />
eine durchaus aktive Rolle, und ihre Eingaben waren nicht nur bereichernd, sondern<br />
teilweise richtungweisend. So war es im Konvent, im Frühjahr 2009, wo<br />
die türkische Delegation – darunter der Chef der parlamentarischen Opposition<br />
in der Türkei – zusammen mit Kollegen aus den sechs Gründerstaaten, vor-<br />
220
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 221<br />
EUROPATAG, 9. MAI 2020<br />
schlug, den Staaten des Südkaukasus, also Georgien, Armenien und Aserbaidschan,<br />
die Perspektive der EU-Mitgliedschaft zu eröffnen, und in ihrem<br />
Entschließungsantrag den osmanischen Genozid am armenischen Volk explizit<br />
anerkannte. Dieser Geste folgte die Einladung des Bürgermeisters von Istanbul<br />
zu einem ökumenischen Gottesdienst in der Hagia Sophia, der Kirche der Heiligen<br />
Weisheit in Istanbul, bei dem der orthodoxe und der armenische Patriarch von<br />
Konstantinopel zusammen mit einem hohen islamischen Geistlichen zelebrierten.<br />
Als die Wahlen für das europäische Parlament anstanden, im Frühsommer<br />
2009, steuerten die Arbeiten des Konvents auf ihren Abschluss zu. Tatsächlich hatten<br />
sich die Konventsmitglieder darauf geeinigt, ihren neuen Verfassungsentwurf<br />
nach Möglichkeit vor den Wahlen zum Europäischen Parlament vorzulegen. Am<br />
9. Mai 2009 war es soweit: Der Konvent präsentierte jenen Text, auf dessen<br />
Grundlage Europas Neugründung erfolgen sollte. Es war ein Konsensdokument:<br />
lediglich 14 euroskeptische Konventionelle stimmten gegen den Entwurf.<br />
Notwendig für dessen Annahme war eine Dreiviertelmehrheit aller Mitglieder:<br />
auf die Einstimmigkeitsregel war bewusst verzichtet worden.<br />
Der neue Textentwurf war das, was man von einer klassischen Verfassung<br />
erwartet: Er war kurz, klar, prägnant und beschränkte sich auf das Wesentliche.<br />
Wenn die Konventsmitglieder und die politische Führung Europas etwas aus den<br />
Abstimmungsniederlagen von 2007 gelernt hatten, dann, dass man den Europäern<br />
keinen hoch technischen 500-Seiter bei einem Referendum vorlegen kann, weil<br />
dessen Inhalt schlicht unkommunizierbar ist. Der neue Text war keine 100 Seiten<br />
lang. In 275 Artikeln lag ein Pionierwerk europäischen Verfassungsgeistes auf<br />
dem Tisch. Ein Dokument, das kein verkapptes Wahlprogramm war, sondern<br />
ein Grundgesetz im eigentlichen Sinn des Wortes: Eine vermittelbare, erklärbare,<br />
geistig und emotional erfassbare Verfassung. Die Politik, die solange die europäischen<br />
Verträge mit unverständlichen Detailbestimmungen überfrachtet hatte,<br />
würde nachkommen müssen.<br />
Es würde endlich eine europäische Regierung geben, die im Parlament auf eine<br />
Mehrheit angewiesen ist. Diese Regierung sollte aus so vielen Ministern und<br />
Stellvertretern bestehen, wie die Union Mitgliedsstaaten zählte. Es sollte eine<br />
gleiche Zahl von Ministern und Stellvertretern geben, die jeweils nach der Wahl<br />
zum Europäischen Parlament von diesem bestimmt würden. Auf die<br />
Bezeichnungen Kommission und Kommissar wurde verzichtet. Eine Regierung<br />
besteht nun einmal nicht aus Kommissaren, sondern aus Ministern.<br />
Der Chef dieser Regierung, der Präsident der Europäischen Union, würde<br />
auch den Rat der Staats- und Regierungschefs leiten und dessen Tagesordnung<br />
festlegen, wobei der Europäische Rat ein weitgehend beratendes Gremium werden<br />
sollte, in dem die nationalen Regierungschefs mit den Mitgliedern der europäischen<br />
Regierung politische Abstimmungen vollzogen und nationale Bedenken<br />
zu europäischen politischen Initiativen erörtert werden könnten. Die Stellvertreter<br />
des Präsidenten sollten der Europäische Außenminister und der Finanzminister<br />
der Europäischen Union sein.<br />
221
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 222<br />
JEAN SPAUTZ<br />
Das Parlament würde den Europäischen Präsidenten und die Mitglieder der<br />
Regierung aus seiner Mitte wählen – mit jener Mehrheit, die während der<br />
Legislaturperiode auch die Regierung stützen sollte. Nach langen Jahren der blinden<br />
Stärkung des Parlaments ohne Gegenleistung würde die Volksvertretung<br />
nun in die Verantwortung genommen. Könnte sie nicht binnen 90 Tagen nach der<br />
Parlamentswahl eine Regierung ins Amt hieven, käme es zur Auflösung des<br />
Parlaments und zu Neuwahlen. Verlöre die Regierung das Vertrauen des<br />
Parlaments, müsste dieses binnen 90 Tagen eine Nachfolgeregierung wählen.<br />
Käme keine Regierung und keine Mehrheit mehr zustande, wären ebenfalls die<br />
Auflösung des Parlaments und Neuwahlen die Folge.<br />
Das Parlament bekäme ebenso wie die Regierung das Recht der legislativen<br />
Initiative. Der Ministerrat, die zweite Kammer des Europäischen Parlaments, würde<br />
diese Initiative im Sinne einer kohärenten und ausschließlich europäisch inspirierten<br />
Gesetzgebung nicht bekommen. Nationale Präsidentschaften der Union<br />
würde es keine mehr geben. Der Ministerrat würde sich selbst in seinen verschiedenen<br />
Zusammensetzungen jeweils für ein Jahr einen Präsidenten wählen.<br />
Alle Mitgliedsstaaten der Union sollten den Euro als Zahlungsmittel einführen.<br />
Der Euro würde in der Verfassung explizit als die europäische Währung bezeichnet.<br />
Er sollte binnen kurzer Frist die verbleibenden nationalen Währungen ablösen.<br />
Eine authentisch europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik sollte die<br />
Grundlage der einheitlichen Geldpolitik werden. Ebenso sollte eine europäische<br />
Sozialpolitik entstehen, die diesen Namen verdiente: ein gemeinsames<br />
Sozialversicherungssystem sollte geschaffen und ein europäischer Mindestlohn eingeführt<br />
werden. Gesellschaften, die in über einem Drittel der Mitgliedsstaaten<br />
tätig wären und Mitarbeiter beschäftigten, würden als europäische Gesellschaften<br />
einem einheitlichen Statut unterworfen, das verbindliche Regeln zur<br />
Sozialpartnerschaft und der gesellschaftlichen Partizipation beinhalten sollte. Der<br />
Europäische Wirtschafts- und Sozialrat würde mindestens einmal pro<br />
Legislaturperiode des Parlaments in einem Gutachten die betriebliche Wirklichkeit<br />
in Europa unter die Lupe nehmen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten.<br />
Die Mobilität der Arbeitnehmer in der Union sollte zur Regel werden, Arbeitslosen<br />
sollten von den nationalen Arbeitsmarktverwaltungen passende Stellen in der<br />
gesamten Union angeboten werden. Diese Mobilität würde europäisch finanziell<br />
unterstützt, mit einem Aufwand, der hinter der Summe der nationalen Ausgaben<br />
zur Finanzierung der bestehenden Arbeitslosigkeit weit zurück blieb.<br />
Das Europa der Forschung, der Lehre, der Hochtechnologie und des<br />
Umweltschutzes würde einen wesentlichen Teil der kontinentalen politischen<br />
Anstrengungen ausmachen. Ebenso würde das Erlernen europäischer Sprachen<br />
zum Unionsziel erklärt: Kein Schüler sollte mehr weniger als drei Unionssprachen<br />
fließend beherrschen. Die Sprachenregelungen in den Institutionen würden ihrerseits<br />
drastisch reformiert. Es würde keine Sprache mehr als offizielle Sprache zugelassen,<br />
die nicht wenigstens in zwei Mitgliedsstaaten offiziellen Status genösse.<br />
Die Europäische Außenpolitik, vom Außenminister und seinem Stellvertreter<br />
222
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 223<br />
EUROPATAG, 9. MAI 2020<br />
geleitet, würde eine mehrheitlich bestimmte Angelegenheit. Die Sicherheits- und<br />
Verteidigungspolitik sollte jene Dimension bekommen, ohne die sie keine wirkliche<br />
Bedeutung hat: die Verfassung sah die Schaffung einer regulären europäischen<br />
Berufsarmee vor, die der zweite Pfeiler dieser Politik werden sollte, neben<br />
dem Europäischen Polizei- und Sicherheitsdienst.<br />
Dies waren wesentliche Aspekte des Verfassungsprojekts, das der Konvent<br />
am 9. Mai 2009 der europäischen Öffentlichkeit präsentierte. Die drauf folgende<br />
knapp achtwöchige Informationskampagne war die umfangreichste, die der<br />
Kontinent je erlebt hatte. Die Parlamentswahlen wurden um drei Wochen verschoben,<br />
um zeitgleich mit dem gesamteuropäischen Verfassungsreferendum stattfinden<br />
zu können. Würde die Verfassung angenommen, sollten die Bestimmungen<br />
zur Bildung einer europäischen Regierung sofort in Kraft treten, damit das<br />
Parlament eine Regierung vor dem Herbst würde wählen können.<br />
Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament Anfang Juli 2009 bewarben<br />
sich 13 der 28 Regierungschefs der Europäischen Union um ein Parlamentsmandat.<br />
Europa war wichtig geworden, seine Wichtigkeit überlagerte nun in den konkreten<br />
Fakten die nationale Politik in vielen Mitgliedsstaaten. Kaum einer Partei<br />
wäre es noch in den Sinn gekommen, für diese Wahl Alibikandidaten aufzustellen.<br />
Die Zahl der Bewerber mit vorheriger Regierungserfahrung auf nationaler<br />
Ebene war weit im dreistelligen Bereich. In die Spitzen der Fraktionen rückten<br />
nach der Wahl zahlreiche Männer und Frauen auf, die vorher Minister und<br />
Regierungschefs gewesen waren. Der Glanz des Europäischen Parlaments hatte<br />
aufgrund seiner neuen Zusammensetzung schlagartig zugenommen. Das Interesse<br />
an seiner Arbeit ebenso.<br />
Die beste Nachricht des Wahlsonntags war jedoch die, dass die Bürger der<br />
Europäischen Union die neue Verfassung mit rund 65 Prozent der Stimmen angenommen<br />
hatten. Fast zwei Drittel der Europäer hatten damit ihrem Wunsch<br />
Ausdruck verliehen, die politische Organisation des Kontinents auf eine höhere,<br />
anspruchsvollere Ebene zu stellen. Die große europäische Krise, das drohende<br />
Schisma des alten Kontinents, war überwunden.<br />
Am 15. September 2009 wurde die erste europäische Regierung vom<br />
Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs vereidigt. Sie bestand aus 14 Ministern<br />
und 14 Minister-Stellvertretern, für die im Verlauf der Legislaturperiode noch<br />
nach einem definitiven Titel gesucht werden sollte. Binnen zehn Jahren sollte<br />
die Zahl der Mitglieder der Regierung von 28 auf 43 anwachsen. Der Europäische<br />
Präsident wurde bei der Bestimmung der Zahl der Minister-Stellvertreter nicht<br />
mitgezählt, wenn die Regierung eine ungerade Mitgliederzahl hatte. Am Europatag<br />
2020 amtierte eine europäische Regierung, die sich aus dem Präsidenten, 21<br />
Ministern und 21 Minister-Stellvertretern zusammensetzte. Im Lauf der Jahre hatten<br />
die Stellvertreter in ihren respektiven Ressorts die Zuständigkeit für interinstitutionelle<br />
Beziehungen fast gänzlich übernommen. Sie waren eine Art europäische<br />
parlamentarische Staatssekretäre geworden, die für den reibungslosen Ablauf<br />
der Koordinierung zwischen den Institutionen, die Regelmäßigkeit der europäi-<br />
223
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 224<br />
JEAN SPAUTZ<br />
schen Rechtsetzung und die Beziehungen zu den nationalen Entscheidungsinstanzen<br />
zuständig waren. Die Minister selbst kümmerten sich quasi ausschließlich<br />
um die reinen Regierungsgeschäfte der Europäischen Union. Einige Jahre<br />
nach Inkrafttreten der Verfassung mussten die Minister nicht mehr Mitglieder des<br />
Europäischen Parlaments sein. Der Ruck, den Europa 2009 durch die massiven<br />
Parlamentskandidaturen nationaler Spitzenpolitiker gebraucht hatte, war erfolgt.<br />
Man konnte zur „Regierungsnormalität“ zurückkehren, die im Sinne der<br />
Gewaltenteilung verlangt, dass ebenfalls Nichtparlamentarier europäische Minister<br />
werden konnten. Hochqualifizierte Experten aus den verschiedensten Bereichen<br />
wurden so Mitglieder der europäischen Regierung. Die Verantwortung des<br />
Parlaments blieb jedoch die Gleiche.<br />
Europa war mit seiner neuen Regierung und einem nunmehr aus Mehrheit und<br />
Opposition bestehenden Parlament handlungsfähig und konnte sich der vollinhaltlichen<br />
Umsetzung der Verfassungsbestimmungen widmen. Die Grundlagen der<br />
politischen Organisation des Kontinents waren gesichert und sollten nicht wieder<br />
zur Disposition gestellt werden. Die Europäer hatten das Vertrauen in die<br />
Europäischen Institutionen zurückgewonnen.<br />
Kurz vor Weihnachten 2009 stimmten die Norweger über den EU-Beitritt ihres<br />
Landes ab. Eine Mehrheit von über 60 Prozent stimmte dieses Mal dafür – nachdem<br />
zwei Jahre zuvor noch gut 85 Prozent nichts mit dem erschlafften Europa<br />
von Ende 2007 zu tun haben wollten. In den folgenden Jahren nahm die ermittelte<br />
Zufriedenheit der Unionsbürger mit der europäischen Politik ständig zu.<br />
Die neuen Institutionen wurden ihrer Verantwortung gerecht, und auch mit nur<br />
noch knapp zehn Amtssprachen waren die Verwaltungsabläufe in Europa eine<br />
reibungslose Angelegenheit. Die Darstellung Europas in der Welt funktionierte.<br />
Die sozialen Bestimmungen zeigten Wirkung, die Arbeitsmobilität in Europa<br />
nahm zu.<br />
Als in Weißrussland der autoritär regierende Präsident in einer dramatischen<br />
Reaktion die Armee gegen sein eigenes demonstrierendes Volk zu mobilisieren<br />
begann, stellte ihm die europäische Regierung ein Ultimatum: er habe binnen sechs<br />
Monaten zurückzutreten, freie und faire Wahlen zu organisieren und diese von<br />
der Europäischen Union überwachen zu lassen, oder aber er würde mit dem<br />
Einschreiten der europäischen Armee rechnen müssen. An den Grenzen Polens,<br />
Litauens und Lettlands zu Weißrussland wurden europäische Truppen stationiert –<br />
mit dem Einverständnis des russischen Präsidenten. Als die Machthaber in Minsk<br />
erkannten, dass sie ohne die Unterstützung Russlands, das keinen bewaffneten<br />
Konflikt mit der Europäischen Union riskieren wollte, ausgespielt hatten, kam<br />
es dort zu den ersten freien Wahlen seit 1994. Weißrussland hatte sich nun ebenfalls<br />
definitiv auf den Weg nach Europa begeben. Als letzter europäischer Staat<br />
trat es Ende 2011 dem Europarat bei. Sechs Jahre später erfolgte die Aufnahme<br />
in die Europäische Union – zusammen mit der Türkei und den früheren sowjetischen<br />
Republiken Moldawien, Ukraine, Georgien, Armenien und Aserbaidschan.<br />
224
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EUROPATAG, 9. MAI 2020<br />
So könnte die europäische Geschichte in den kommenden Jahren verlaufen.<br />
Natürlich kann sie weitaus unspektakulärer sein, aber in der Rubrik „<strong>Vision</strong>en“<br />
ist es manchmal angebracht, dramatischere Szenarien zu erdenken, um gegebenenfalls<br />
auf eben diese vorbereitet zu sein. Es ist nicht selbstverständlich, dass die<br />
letzte Erweiterungsrunde auf Dauer problemlos gemeistert wird. Es ist nicht<br />
selbstverständlich, dass alle in Referenden zu befragenden Europäer dem vorliegenden<br />
Verfassungsentwurfs des Konvents zustimmen. Und es ist nicht selbstverständlich,<br />
dass weitere Beitritte zur Union harmonisch und ruhig verlaufen. Wegen<br />
all dieser Unselbstverständlichkeiten sollte man heute, in der Union der 25, bereit<br />
sein, sich auf unkonventionelle Entwicklungen der europäischen Sache einzustellen.<br />
Und wenn die hier niedergelegte <strong>Vision</strong> etwas zeigen soll, dann letztlich die<br />
Entschlossenheit der Europäer, allen Widrigkeiten zum Trotz an ihrem historischen<br />
Einigungsprojekt festzuhalten und Europa mit Leben zu erfüllen.<br />
Das Wort Jean Monnets, nach dem „wir keine Staaten koalisieren, sondern<br />
Menschen vereinen“, wird in den kommenden Jahren von grundlegender<br />
Bedeutung sein. Mehr noch als in der Vergangenheit. Europa, das größere, das<br />
umfassendere, das erweiterte Europa muss seinen Platz in den Herzen vieler<br />
Europäer noch finden. Wir, die wir jeden Tag an diesem menschlichen, freundlichen<br />
und emotional erfassbaren Europa bauen, müssen uns dessen stets bewusst<br />
sein. Ohne dieses Bewusstsein jener, die für das Gelingen Europas verantwortlich<br />
sind, könnte die Geschichte der allernächsten Jahre so verlaufen, wie eben<br />
beschrieben. Das muss sie, wie bereits gesagt, nicht. Und, ehrlich gesagt, ich<br />
selbst sähe es lieber, wenn die kommenden Jahre weniger spektakulär verlaufen<br />
würden. Dafür aber umso erfolgreicher für das beständige und regelmäßige<br />
Gelingen der europäischen Sache.<br />
225<br />
Februar 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 226<br />
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227<br />
ˇ ˇ ´<br />
Peter STASTNY<br />
Leiter der slowakischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Ein prosperierendes und sicheres Europa im Jahr 2020<br />
Die Slowakische Republik ist am 1. Mai 2004 ein vollberechtigtes Mitglied<br />
der Europäischen Union geworden. Neben dem Beitritt unseres Landes zur<br />
Nordatlantischen Allianz ist damit das höchste Ziel in Erfüllung gegangen, dem<br />
unser Bemühen nach dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989 galt. Davon<br />
träumten Generationen von Slowaken, die mehr als 40 Jahre hinter dem Eisernen<br />
Vorhang lebten, und das war auch das Ziel der politischen Partei, die ich im<br />
Europäischen Parlament vertrete und die Mitglied der Europäischen Volkspartei<br />
ist – die Slowakische Demokratische und Christliche Union. Als vollberechtigtes<br />
Mitglied der Union haben wir jetzt die Möglichkeit, aktiv tätig zu werden und<br />
auf die europäische Politik Einfluss zu nehmen. Die <strong>Vision</strong> von der Europäischen<br />
Union im Jahr 2020 ist damit auch zu unserer <strong>Vision</strong> geworden, zur <strong>Vision</strong> der<br />
Slowakischen Republik und der politischen Partei, deren Leiter ich im Juni 2004<br />
bei den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament in der Geschichte der<br />
Slowakei war.<br />
Gemeinsam wünschen wir uns, dass bis zum Jahr 2020 ein erfolgreiches und<br />
prosperierendes Europa für alle Europäer Wirklichkeit wird, ein gemeinsamer<br />
Raum gleichberechtigter unabhängiger Staaten, ein Europa mit allen<br />
Voraussetzungen für einen hohen Lebensstandard seiner Bürger und für die<br />
Gewährleistung von Freiheit, Sicherheit und Recht. Der Erfolg dieser Ziele ist<br />
keineswegs garantiert, um sie zu erreichen, bedarf es der weiteren Festigung der<br />
grundlegenden Prinzipien und Werte, die das Fundament der Europäischen Union<br />
bilden.<br />
Es gibt viele Bereiche, die ich im Zusammenhang mit der <strong>Vision</strong> des Europa<br />
von 2020 erwähnen könnte. Neben vielen anderen Dingen sehe ich persönlich<br />
eine vordringliche Aufgabe darin, vor allem darauf hinzuarbeiten, den<br />
Lebensstandard der Bevölkerung und die Sicherheit der Bürger der Europäischen<br />
Union zu erhöhen. Diese Hauptziele sind nicht voneinander zu trennen. Während<br />
wir in der im Zeichen der Globalisierung stehenden Welt den Lebensstandard
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 228<br />
PETER STASTNY ˇˇ ´<br />
nur durch Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union und<br />
durch ein hohes Wirtschaftswachstum gewährleisten können, garantieren wir<br />
die Sicherheit der Mitgliedsländer der Europäischen Union wie ihrer Bürger nur<br />
durch Festigung und Konsolidierung des transatlantischen Bündnisses.<br />
Wenn wir wissen wollen, wie das Europa von 2020 aussehen soll, können<br />
wir unseren Blick nicht nur auf das Bild dieser fernen Zukunft richten, sondern<br />
müssen vor allem die Beseitigung negativer Erscheinungen in der<br />
Gegenwart und die Durchsetzung notwendiger und nützlicher Veränderungen<br />
in der allernächsten Zukunft anstreben. Wenn die Europäische Union in dem<br />
verstärkten Wettbewerb einer in Globalisierung begriffenen Welt bestehen soll,<br />
braucht sie ein hohes Wirtschaftswachstum. Betrachtet man jedoch den europäischen<br />
Kontinent und die Wirtschaft der Europäischen Union, so scheint<br />
diese derzeit von Stagnation erfasst. Wenn der Lebensstandard in der<br />
Europäischen Union gehalten und weiter angehoben werden soll, muss Europa<br />
vorankommen, muss sein Wirtschaftswachstum steigern. Dass gegen den<br />
Stabilitätspakt selbst in den Ländern verstoßen wird, von denen er eingeführt<br />
wurde, ist keine Neuigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland als die stärkste<br />
Volkswirtschaft Europas vermeldet ein Negativwachstum und fünf Millionen<br />
Arbeitslose. Zusammen mit Frankreich kritisiert sie die progressiven Reformen<br />
in den neuen Mitgliedstaaten und wirft diesen vor, für den Verlust von<br />
Direktinvestitionen verantwortlich zu sein, wodurch es zu einem Arbeitsplätzeschwund<br />
komme und die Einnahmen des Staatshaushalts sänke.<br />
Das Problem besteht jedoch weder in den neuen Mitgliedstaaten noch im<br />
Aufbau der offenen Marktwirtschaft bzw. einer liberalen Wirtschaft in diesen<br />
Ländern. Es geht auf eine ganz andere Ursache zurück: auf weiterhin vorhandene<br />
sozialistische Denkmuster in vielen Teilen des europäischen Kontinents.<br />
Die Slowakische Republik hat Erfahrungen mit dem Sozialismus in seiner<br />
schlimmsten Form, daher weiß ich, wie gefährlich er für ganz Europa sein<br />
kann. Die Europäische Volkspartei muss sich in den nächsten Jahren zu einem<br />
Bollwerk gegen all die sozialistischen Klischees entwickeln, die einem höheren<br />
Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union entgegenstehen. Wir müssen<br />
klar „nein“ sagen zu jeder unangebrachten Einmischung des Staates in die<br />
Wirtschaft, und wir müssen eindeutig „nein“ sagen zu der hochgradigen<br />
Umverteilung und in diesem Zusammenhang auch zur Progressivsteuer, zu<br />
hohen Abgaben und zu hohen Abzügen. Das ist die Basis, aus der sich in der<br />
Wirtschaft alles andere ergeben muss. Dies gilt heute ebenso wie im Jahr 2020.<br />
Damit die Wirtschaft Europas noch in 15 Jahren prosperiert, müssen die sozialistischen<br />
Ansätze in den europäischen Volkswirtschaften verschwinden. Doch<br />
damit ist es noch längst nicht getan mit den gebotenen Veränderungen.<br />
Einige große Länder der Europäischen Union müssen früher oder später ihre<br />
Sozialsysteme und ihr Arbeitsrecht reformieren. Die durchschnittliche<br />
Lebenserwartung in Europa nimmt zu, die Bevölkerung dagegen ab, es werden<br />
immer weniger Kinder geboren. Die Sozialisten aller Länder wollen uns indes<br />
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EIN PROSPERIEREN<strong>DE</strong>S UND SICHERES EUROPA IM JAHR 2020<br />
weismachen, man müsse noch früher in den Ruhestand eintreten als heute. Die<br />
simple Logik sagt doch, dass mehr gearbeitet werden muss, wenn die<br />
Erwerbsbevölkerung zurückgeht. Die 35-Stunden-Woche ist in einigen Ländern<br />
nicht zu halten. An den Tatsachen kommt man in keiner Weise vorbei. Wir in der<br />
Slowakei haben eine erfolgreiche Reform des Sozialsystems vorgenommen. In den<br />
meisten Ländern der Europäischen Union bestehen jedoch bis heute Sozialsysteme,<br />
die den Menschen keine Verantwortung abverlangen, sie nicht zur Arbeit motivieren,<br />
sondern ihnen nur beibringen, wie sich die Sozialsysteme auszunutzen<br />
lassen.<br />
Die Staaten der Europäischen Union können sich heute an einigen ihrer<br />
neuen Mitglieder in puncto richtige und erfolgreiche Reformen der Wirtschaftsund<br />
Sozialsysteme ein Beispiel nehmen. Das ist jedoch nicht das Einzige, was es<br />
zu verändern gilt. Niedrige Steuern und Abgaben und eine freie Wirtschaft sind<br />
zwar eine notwendige Voraussetzung, aus langfristiger Sicht jedoch längst nicht<br />
die einzige. Die Zeit ist nicht mehr fern, in der sich auch die Länder, in denen die<br />
Steuern gesenkt wurden, mit dem Abfließen von Investitionen in Länder außerhalb<br />
der Europäischen Union werden auseinandersetzen müssen, in denen die<br />
Kosten, allen voran die Personalkosten, niedriger sind. Wenn begonnen würde,<br />
außerhalb der Union zu investieren, käme es zu einem wirklichen Problem.<br />
Die Europäische Union ist sich ihrer Defizite bewusst. Eine Maßnahme zur<br />
Steigerung des Wirtschaftswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit der<br />
Europäischen Union ist die Lissabon-Strategie. Schon heute wissen wir, dass sie<br />
sich in der vorgeschlagenen Form nicht umsetzen lässt, auch nicht in Zukunft. Die<br />
Europäische Union hinkt den USA weiterhin mit großem Abstand hinterher, und<br />
dieser Abstand wird nicht geringer. Wo liegt also der Schlüssel zu einem erfolgreichen<br />
Europa als wirtschaftliche Großmacht der Zukunft? Ich meine, nicht in<br />
gleich hohen Steuern, sondern eben im steuerpolitischen Wettbewerb zwischen<br />
den Mitgliedstaaten und in einer liberalen Wirtschaft, auf der die Entwicklung<br />
von Wissenschaft, Bildung und Technologie aufbaut.<br />
Erst vor kurzem hat die neue Europäische Kommission unter Leitung von<br />
Herrn José Manuel Barroso eine neue Strategie vorgestellt, deren Ziel es ist, das<br />
Bruttoinlandsprodukt bis 2010 um 3 % anzuheben und mehr als 6 Millionen<br />
Arbeitsplätze zu schaffen. Anders als die Lissabon-Strategie, deren<br />
Prioritätensetzung auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soziale Gerechtigkeit<br />
und nachhaltige Entwicklung ausgerichtet war, stellt die neue Strategie konkrete<br />
Begriffe wie Produktivität, Wirtschaftswachstum und Schaffung von neuen<br />
Arbeitsplätzen in den Vordergrund. Diese neuen Ziele sind ungleich realistischer.<br />
Neben der erwähnten Ausmerzung der sozialistischen Klischees in der<br />
Wirtschaft müssen wir in den nächsten Jahren intensiv auf weitere wichtige<br />
Voraussetzungen hinarbeiten, von denen es abhängt, inwieweit unsere <strong>Vision</strong><br />
des Europa von 2020 Wirklichkeit wird. Dies gilt insbesondere für Bereiche wie<br />
das europäische Wirtschaftswachstum und in diesem Zusammenhang für die<br />
Lebensqualität der Bevölkerung.<br />
229
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PETER STASTNY ˇˇ ´<br />
Eine erste wichtige Voraussetzung ist beispielsweise die Aufstockung der<br />
Aufwendungen für Wissenschaft, Forschung und Bildung. In Barcelona ist die EU<br />
die Verpflichtung eingegangen, dass jeder EU-Mitgliedstaat ab 2010 jedes Jahr<br />
mindestens 3 % seines BIP für Wissenschaft und Forschung ausgibt. Derzeit ist<br />
das nur in Schweden und Finnland der Fall. Hieraus ergibt sich für mich die<br />
Frage, weshalb diese Voraussetzung erst ab 2010 gelten soll, obwohl es doch<br />
schon jetzt höchste Zeit dafür ist. Das praktische Handeln geht sogar in die entgegengesetzte<br />
Richtung. Während in den USA 2003 die Aufwendungen für die<br />
Forschung deutlich gestiegen sind, haben einige europäische Unternehmen diese<br />
sogar zurückgefahren. Zur Förderung der Bildung ist zu sagen, dass auch die<br />
älteren Erwachsenen in ihre Zielgruppe aufgenommen werden müssen. Sie stellen<br />
das Gros der Arbeitskräfte und dürfen daher nicht aus dem Bildungsprozess<br />
ausgeschlossen werden. Vielmehr muss die Betonung auf lebenslangem Lernen<br />
liegen. Manche Fähigkeiten und Fertigkeiten lassen sich nur durch Erfahrung<br />
vermitteln, daher ist es wichtig, im EU-Rahmen auch den Austausch von Studenten,<br />
Stipendiaten und Mitarbeitern mit den anderen Ländern der Welt, Begegnungen<br />
mit Forschern, Wissenschaftlern, Fachleuten und den Aufbau gemeinsamer<br />
Institutionen anzustreben, in denen ein Informationsaustausch stattfindet, denn<br />
sie sind der Motor der in rascher Veränderung und Entwicklung begriffenen Welt<br />
von heute.<br />
Für mich stand zu keiner Zeit außer Zweifel, dass Europa hervorragende<br />
Wissenschaftler, Analytiker und Experten besitzt, die den amerikanischen und<br />
anderen Fachleuten ebenbürtig sind, ja diese oft sogar übertreffen. Den<br />
Unterschied zwischen den USA und der EU sehe ich jedoch darin, dass die<br />
Vereinigten Staaten in der Lage sind, auch kleinere wissenschaftliche Erfolge und<br />
Neuheiten in die Praxis umzusetzen und zu nutzen, daher sind sie erfolgreicher<br />
als ihre europäischen Kollegen. Eine Ursache ist auch der Zugang zu „venture capital“,<br />
der bei uns fehlt. Die EU muss sich definitiv auf mehr Flexibilität konzentrieren,<br />
auf die Fähigkeit zur Anpassung an die neuen Bedingungen und<br />
Erkenntnisse, die die Wissenschaft mit sich bringt. Neben den Reformen im wirtschaftlichen<br />
und sozialen Bereich möchte die Slowakei auch auf dem Gebiet der<br />
Informationswirtschaft beispielgebend sein, wo wir die Entwicklung der<br />
Informationsgesellschaft, der Wissenschaft und Forschung, der Investition in<br />
Mensch und Bildung und die weitere Schaffung eines unternehmensgünstigen<br />
Klimas als Hauptziele ansehen.<br />
Eine weitere Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung der europäischen<br />
Wirtschaft bis 2020 ist der Einsatz neuer Technologien, wobei ich vor allem<br />
die Biotechnologie und die Nanotechnologie hervorheben möchte. Derzeit spielen<br />
Umweltfragen eine wichtige Rolle und sind viel im Gespräch, und gerade<br />
die Nanotechnologie lässt sich nutzen, um den Schadstoffausstoß zu senken und<br />
die Verschmutzung der Umwelt zu verringern.<br />
Eine hochwichtige Voraussetzung für europäisches Wirtschaftswachstum<br />
besteht im Abbau von Bürokratie. Ich habe den Eindruck, dass das juristische und<br />
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EIN PROSPERIEREN<strong>DE</strong>S UND SICHERES EUROPA IM JAHR 2020<br />
vor allem das administrative Umfeld in vielen Ländern der Europäischen Union,<br />
anders als in den Vereinigten Staaten, dem freien Unternehmertum nicht eben<br />
zugetan ist. Die Probleme, mit denen vor allem kleine und mittlere Unternehmer<br />
bei der Errichtung von Handelsgesellschaften zu kämpfen haben, könnten sie<br />
noch vor der Gründung ihrer Gesellschaft von diesem Vorhaben abhalten. Die<br />
Bürokratie macht den europäischen Unternehmern auch im Zuge ihrer weiteren<br />
Tätigkeit zu schaffen. Gerade bei der Herbeiführung geeigneter<br />
Voraussetzungen für die Unternehmen besteht viel Spielraum, in den sich die<br />
Mitgliedstaaten wie die ganze Union einbringen könnten. Dies gilt auch für die<br />
Förder- und Zuschussprogramme. Ihre Konditionen sind häufig sehr unklar spezifiziert,<br />
und die Gewährung von Zuschüssen aus EU-Fonds hängt oftmals nicht<br />
von der Qualität eines Projektes als vielmehr vom Papierverbrauch ab, wozu<br />
kleine oder mittlere Unternehmer bzw. Menschen mit guten Ideen weder Zeit noch<br />
Lust und Ausdauer haben.<br />
Europa hat somit in nächster Zeit im wirtschaftspolitischen Bereich zwei<br />
Möglichkeiten. Wenn es an seiner derzeitigen Politik und der Kritik an den neuen<br />
Mitgliedstaaten festhält und auch weiterhin verstärkte Investitionen in Wissenschaft<br />
und Forschung unterlässt, jedoch eine einheitliche gesamteuropäische Besteuerung<br />
einführt, dürfte es zu einer hochgradigen Umverteilung und progressiven<br />
Versteuerung kommen und keiner sich an eine Reform des Sozialsystems und des<br />
Arbeitsrechts heranwagen. Auf diese Weise wäre Europa im Jahr 2020 nicht nur<br />
gegenüber den USA nicht wettbewerbsfähig, sondern auch gegenüber beispielsweise<br />
dem in rascher Entwicklung begriffenen Asien. Die EU kann jedoch auch<br />
einen anderen Weg gehen – den Weg wirtschaftlicher und sozialer Reformen,<br />
der Entwicklung und Förderung von Bildung und Wissenschaft sowie der<br />
Minimierung von Bürokratie und Unternehmensrichtlinien. Für kein Mitgliedsland<br />
wären dann 2020 niedrige Steuern und billige Arbeitskräfte noch ein Anreiz, sondern<br />
vielmehr die Wertschöpfung, nämlich die angebotene Technologie, Effizienz,<br />
und Qualität, das Leistungsvermögen, und so könnte man auch mit den Vereinigten<br />
Staaten in Wettbewerb treten. Man wäre in der Lage, etwas anzubieten, womit die<br />
asiatischen und anderen Länder nicht aufwarten können. Ich bin froh, dass ich<br />
im Europäischen Parlament ein Land vertrete, das sich für diese zweite Möglichkeit<br />
entschieden hat. Nun kommt es darauf an, dass die gesamte Europäische Union<br />
mit uns diesen Weg geht.<br />
Ich habe bisher betont, dass Wettbewerb in der Wirtschaft unabdingbar ist. Die<br />
Konkurrenz zwischen Firmen führt dazu, dass den Verbrauchern möglichst billig<br />
Waren und Dienstleistungen in möglichst hoher Qualität angeboten werden.<br />
Der Wettbewerb zwischen den Steuer- und Sozialsystemen der Staaten führt<br />
dazu, dass diese ein bestmögliches Umfeld für die Unternehmen und mithin für<br />
Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze erzeugen, was letztlich wiederum<br />
den Bürgern der Europäischen Union nur zum Vorteil gereichen kann. In diesen<br />
Bereichen ist Wettbewerb nützlich und durch nichts zu ersetzen.<br />
Wirtschaftswachstum und Entwicklung sind jedoch nur in einem sicheren<br />
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PETER STASTNY ˇˇ ´<br />
Umfeld möglich. Sicherheitsfragen sind auch heute von existenzieller Bedeutung,<br />
da es gilt, zusammen mit unseren nordamerikanischen Verbündeten einen konsequenten<br />
Kampf gegen den Terrorismus zu führen. In den Zeiten des Kalten<br />
Krieges beruhte die Ausgangsprämisse für die amerikanische Präsenz auf dem<br />
europäischen Kontinent und für das transatlantische Bündnis auf dem Umstand,<br />
dass die Sicherheit Europas für die Vereinigten Staaten von herausragendem<br />
Interesse war und dass eine Bedrohung Europas gleichzeitig eine Bedrohung<br />
der Vereinigten Staaten und der ganzen westlichen Welt darstellte. Die Gefahr des<br />
Terrorismus zeigt, dass ein solches Bündnis auch heute wichtig ist. Der Terrorismus<br />
ist heute eine Bedrohung für die gesamte westliche Zivilisation, Europa wie<br />
Amerika. Nur mit vereinten Kräften können wir diesen langen und schweren<br />
Kampf gewinnen.<br />
Die Sicherheit Europas nach dem 2. Weltkrieg hing von den transatlantischen<br />
Beziehungen ab. Bereits aus dieser Zeit datieren jedoch auch Versuche einer<br />
eigenständigeren Sicherheitspolitik Europas, die vor allem von Frankreich ausgingen.<br />
Die Europäische Union wollte und will damals wie heute ihren Teil an<br />
Verantwortung für Sicherheit in der Welt übernehmen. Diese Haltung ist völlig<br />
legitim, Europa hat nachgerade die Pflicht, sich zu engagieren. Zu diesem Bestreben<br />
der Europäischen Union im Widerspruch steht jedoch die Tatsache, dass die<br />
Verteidigungsausgaben der europäischen Länder ungleich niedriger sind als die der<br />
Vereinigten Staaten. Eben daran krankt weitgehend auch das gemeinsame<br />
Verteidigungsprojekt. Die europäischen Staaten unterstützen es zwar, doch sind nur<br />
wenige von ihnen bereit, ihren Verteidigungshaushalt aufzustocken. Ohne höhere<br />
Verteidigungsausgaben wird es niemals möglich sein, sich mit den Vereinigten<br />
Staaten auch nur zu vergleichen, geschweige denn, mit ihnen in den Wettbewerb<br />
zu treten, von dem viele Köpfe in der Europäischen Union träumen.<br />
An dieser Stelle sollte jedoch Klarheit herrschen, dass es bei der Gemeinsamen<br />
Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nicht um Konkurrenz zu<br />
den Vereinigten Staaten gehen darf. Nach meinem Dafürhalten entbehrt jedoch<br />
der Gedanke einer Konkurrenz zwischen den USA und Europa in der<br />
Sicherheitsfrage jedweder Logik. Europa braucht Amerika und Amerika Europa.<br />
Unser Bündnis beruht auf gemeinsamen demokratischen Werten und auf dem Ideal<br />
einer sicheren, friedlichen Welt, in der die Rechte eines jeden Menschen geschützt<br />
und garantiert sind. Amerika braucht ein starkes Europa. Die Vereinigten Staaten<br />
sind sich dessen bewusst; daher zielten die ersten Schritte der höchsten<br />
Repräsentanten der amerikanischen Regierung unmittelbar nach dem Sieg von<br />
George W. Bush bei den Präsidentschaftswahlen direkt auf ihre europäischen<br />
Verbündeten. Es wäre gut, wenn auch wir uns auf dieser Seite des Atlantik, wo<br />
sogar oft ein primitiver Antiamerikanismus verbreitet ist, dieser Tatsache bewusst<br />
wären. Krisensituationen beschwören in vielen Teilen der Welt Bedrohungen<br />
herauf, beispielsweise in Iran, Syrien oder Nordkorea. Daher spielt unser Bündnis<br />
stets eine wichtige Rolle. Mit vereinten Kräften müssen wir alles tun, um nicht nur<br />
globalen Konflikten entgegenzutreten, sondern auch der schwer wiegenden<br />
232
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EIN PROSPERIEREN<strong>DE</strong>S UND SICHERES EUROPA IM JAHR 2020<br />
Bedrohung durch das internationale islamische Terrornetzwerk, die fatale Folgen<br />
für unseren Kontinent haben könnte.<br />
Ein Schritt zur Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist<br />
der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Ich glaube daran, dass seine Annahme<br />
in Kürze bevorsteht. Wenn diese Annahme nämlich unterbleibt, müsste ein anderes<br />
Dokument verabschiedet werden, das die gemeinsame Politik im Außenund<br />
Sicherheitssektor in institutionelle Bahnen einfügt. Dies ist notwendig, da<br />
ein nicht einiges Europa weder der Welt noch sich selbst nützt. Sicher wird es<br />
schwer werden, in sensiblen außenpolitischen Fragen zu einem gemeinsamen<br />
Standpunkt zu finden. Er ist jedoch notwendig, damit nie wieder eine Situation<br />
wie in Bosnien oder im Kosovo auftritt. Zumindest auf unserem eigenen Kontinent<br />
sollten wir Europäer in der Lage sein, auch ohne Eingreifen der Vereinigten<br />
Staaten „Ordnung zu schaffen“. Leider war dies bislang nicht der Fall. Auch das<br />
ist ein wichtiger Impuls für die Entwicklung einer wirksamen Sicherheits- und<br />
Außenpolitik. Das hat jedoch überhaupt nichts mit Konkurrenz gegen die USA<br />
zu tun. Je weniger die Vereinigten Staaten auf dem europäischen Kontinent und<br />
in dessen naher Umgebung eingreifen müssen, umso mehr haben die amerikanischen<br />
Streitkräfte die Hände frei für die Lösung von entfernteren Konflikten, die<br />
in der in rascher Veränderung begriffenen Welt von heute eine gefährliche<br />
Bedrohung für uns darstellen könnten.<br />
Die Grundstruktur, in deren Rahmen Europa und die USA zusammenarbeiten,<br />
muss auch in den nächsten Jahren das Nordatlantische Bündnis sein. Im<br />
Gründungsvertrag sind die westlichen Nationen die Verpflichtung eingegangen,<br />
ihr gemeinsames Erbe, das auf den Prinzipien der Demokratie, der persönlichen<br />
Freiheit und des Rechtsstaates beruht, zu verteidigen. Die Praxis zeigt, dass es<br />
in der heutigen Welt keine andere kollektive Sicherheitsorganisation gibt, die in<br />
der Lage wäre, ihre Ziele wirksamer zu erreichen. Wir müssen klar sagen, dass<br />
die NATO für unser gemeinsames Ziel – ein freies und sicheres Amerika und<br />
Europa – eine nicht zu ersetzende Institution darstellt.<br />
Der Aufgaben, denen wir uns bei unserer Auseinandersetzung mit der <strong>Vision</strong><br />
des Europa von 2020 stellen sollten, sind viele. Zwei von ihnen sind jedoch absolut<br />
unabdingbar: Sicherheit und gute Voraussetzungen für wirtschaftliches<br />
Wachstum. Wir europäische Politiker müssen so arbeiten, dass wir diese Aufgaben<br />
auch im Jahr 2020 erfüllen. Die Welt verändert sich schnell, und wenn Europa in<br />
der Entwicklung weiter tonangebend sein will, muss es alles dafür tun, damit<br />
seine Bürger gut und sicher leben können.<br />
233<br />
März 2005
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234
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235<br />
Ursula STENZEL<br />
Leiterin der österreichischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Eine realistische Europavision<br />
Da ich keine Zukunftsforscherin bin, sondern 10 Jahre Europaerfahrung in<br />
der größten Fraktion des Europäischen Parlamentes sammeln konnte, lasse ich<br />
mich auf Spekulationen nicht ein. Ich gehe von dem Ist-Zustand der EU aus<br />
und werde einige Entwicklungen, die absehbar sind, vorweg nehmen.<br />
Zunächst glaube ich, dass wir eine Europäische Verfassung haben werden.<br />
Es wird möglicherweise schon eine andere sein, als die – über die gerade in<br />
Referenden abgestimmt wird, bzw. die in Ratifizierungsprozessen verabschiedet<br />
wird. Ich gehe aber davon aus, dass sich – wenn auch mit Bedenken – letztlich<br />
alle bisherigen Mitglieder der Europäischen Union zu einer Verfassung der<br />
Europäischen Union bekennen werden.<br />
Wir werden aber wahrscheinlich aus dem derzeitigen Verfassungsprozess<br />
unsere Lehren ziehen. Wahrscheinlich werden wir den Abstimmungsmodus darüber<br />
vereinheitlichen. Das heißt nicht in jedem Land, das dies wünscht, eine<br />
gesonderte Volksabstimmung, sondern wenn – eine EU-weite. Egal wie diese<br />
Verfassung in 20 Jahren aussehen wird, sie wird zumindest für 28 Länder gelten.<br />
Das heißt, zu den jetzigen zähle ich natürlich Bulgarien und Rumänien, sowie<br />
Kroatien dazu.<br />
Ob sich bis dahin Albanien, Bosnien-Herzegowina und Serbien-Montenegro<br />
als europareif erweisen, wage ich jetzt nicht zu prophezeien. Obwohl ich es mir<br />
wünsche. Aber dazu bedürfte es zumindest einer endgültigen Klärung des Status<br />
des Kosovo. Und zumindest zur Zeit stehen die Aussichten für eine finale Klärung<br />
nicht sehr gut. Ja, vielleicht schafft es Mazedonien innerhalb der nächsten 20<br />
Jahre. Dies ist durchaus denkbar.<br />
Nicht dabei sehe ich die Türkei. Und zur Zeit auch nicht die Ukraine.<br />
Obwohl die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen wird und<br />
alle EU-Staats- und Regierungschefs dem auch zugestimmt haben, so nehme ich<br />
an, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei – aber auch die
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 236<br />
URSULA STENZEL<br />
Zypern-Frage solche Schwierigkeiten machen werden, und vielleicht auch einige<br />
Volksabstimmungen in EU-Ländern hier Hürden aufstellen werden, ganz<br />
abgesehen von Regierungswechseln (beispielsweise in Deutschland), sodass ich<br />
annehme, dass man sehr dankbar ein Alternativkonzept für die Türkei im Sinne<br />
einer europäisch-atlantischen Allianz anbieten wird.<br />
Dieses Modell übrigens könnte dann durchaus auch das Ergebnis von<br />
Verhandlungen zwischen der EU und der Ukraine sein.<br />
Sollte die Türkei in 20 Jahren die Vollmitgliedschaft der EU erreichen, so wird<br />
dies eine Vollmitgliedschaft mit gravierenden Ausnahmen sein. Sowohl in der<br />
Landwirtschaftspolitik, als auch im Personenverkehr. Wir werden dann sehr ausgeprägt<br />
ein Europa der unterschiedlichen Integrationskerne haben.<br />
Für manche werden die so genannten vier Freiheiten gelten. Für andere<br />
nicht.<br />
Europa ist durch seine unterschiedliche geschichtliche Entwicklung nicht in<br />
der Lage, alles über einen Kamm zu scheren. Wir sehen dies bereits jetzt – nach<br />
der Erweiterung um 10 neue Mitgliedsstaaten Zentraleuropas und des Baltikums.<br />
In 20 Jahren wird sich möglicherweise der Lebens- und Sozialstandard schon<br />
so weit angeglichen haben, dass wir hier einen mehr oder minder funktionierenden<br />
Binnenmarkt mit einem freien Arbeits- und Dienstleistungssektor vorfinden<br />
können. So lange dies allerdings nicht so ist, werden nach wie vor viele<br />
Ausnahmen die Regel bestätigen.<br />
Was ich allerdings erwarte, ist, dass die meisten Mitglieder der EU dann die<br />
gemeinsame Währung haben werden. Der Euro ist zweifellos eine der größten<br />
Errungenschaften der Europäischen Integration, weil er eben mehr ist, als nur ein<br />
gemeinsames Zahlungsmittel. Er ist natürlich auch eine gemeinsame Verpflichtung<br />
zu einer sparsamen Haushaltspolitik. Und er ist eine Absage an eine übermäßige<br />
Verschuldung.<br />
Ich würde mir wünschen, dass in 20 Jahren die Autorität der Europäischen<br />
Kommission als Hüterin der Verträge soweit gefestigt ist, dass sie in<br />
Währungsfragen auch Sanktionen ergreifen kann – so, wie dies vorgesehen ist.<br />
Und die Mitglieder der EU dieses auch akzeptieren.<br />
Zur Zeit schaut es allerdings nicht so gut aus – mit dem Euro. Und die Gefahr<br />
besteht, dass es sich hier jeder nach seinem Gusto und seinen politischen<br />
Opportunitäten richten will.<br />
Die Kleinen, Ehrlichen und Sparsamen unter uns – so wie Österreich – werden<br />
ja gerne als unbequeme Musterschüler gesehen. Ich finde aber, ihr Beispiel<br />
sollte Schule machen. Sonst bekommen nämlich jene Kritiker recht, die dem<br />
Euro kein langes Leben vorausgesagt haben, weil es eben keinen gemeinsamen<br />
europäischen Staat gibt.<br />
Diesen Staat, also die oft beschworenen so genannten Vereinigten Staaten von<br />
Europa wird es allerdings auch in 20 Jahren nicht geben. Wir werden die bishe-<br />
236
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 237<br />
EINE REALISTISCHE EUROPAVISION<br />
rige Integration zwar nicht in Frage stellen. Ob es aber gelingt, bei immer mehr<br />
und immer unterschiedlicheren Mitgliedern die Integration – also die Anpassung<br />
der Gesetze und Wirtschaftspolitiken – im Sinne einer immer engeren Union<br />
aneinander anzugleichen, wage ich zur Zeit nicht zu sagen. Es ist vielleicht auch<br />
nicht besonders wünschenswert.<br />
Natürlich wünschen sich viele eine Steuerharmonisierung. Weil man dadurch<br />
glaubt, Wettbewerbsverzerrungen auszuschließen. Allerdings glaube ich auch,<br />
dass in 20 Jahren in dieser Frage keine Einstimmigkeit erzielt werden kann.<br />
Denn ein Steuerwettbewerb in Maßen kann sehr wohl auch – wie sich jetzt wiederum<br />
am Beispiel Österreichs zeigt – ein Standort-Vorteil sein.<br />
Wo wir allerdings im Grundsatz mehr Integration brauchen, ist bei der<br />
Europäischen Antwort auf das allgemeine Phänomen der Alterung der Gesellschaft.<br />
Dass wir alle immer älter werden und weniger Kinder in die Welt gesetzt<br />
werden, ist nicht neu – erfordert aber eben die richtigen Antworten. Und diese<br />
Antworten den Mut der europäischen Politiker, denn die Auswege sind nicht<br />
im populär. Wie der Bevölkerungswissenschaftler, Univ. Prof. Dr. Rainer Münz<br />
bei einer ÖVP-Klubklausur ausführte, gelte das Schlagwort der dynamisch alternden<br />
Gesellschaft für die ganze Welt – insbesondere aber für Europa und Japan.<br />
Mitte des 21. Jahrhunderts werde es weltweit bereits 2 Milliarden über 60-Jährige<br />
geben. Der Unterschied zwischen der Europäischen Union und dem Rest der<br />
Welt besteht aber darin, dass in den europäischen Staaten nicht nur die Zahl<br />
der Älteren steige, sondern gleichzeitig jene der Menschen im Haupterwerbsalter<br />
sinke. Im Rest der Welt hingegen steige die Zahl der Erwerbstätigen stärker als<br />
die der älteren Menschen. Was schließe ich daraus?<br />
1. Für aktive ältere Menschen muss es leichter werden, im Arbeitsprozess zu<br />
bleiben. Es muss daher für Betriebe attraktiver werden, Menschen länger im<br />
Betrieb zu halten – und für den Einzelnen weniger attraktiv, früher abschlagsfrei<br />
in die Pension zu gehen. Hier sollte und könnte sich die Europäische Union<br />
sehr wohl auch ein Beispiel an der österreichischen Pensionssicherungsreform<br />
nehmen. Und auch an den Massnahmen, die wir bereits gesetzt haben, um die<br />
Erfahrung älterer Menschen in den Betrieben länger zu nützen.<br />
2. Bedeutet eine längere Lebensarbeitszeit unter diesen gesellschaftlichen<br />
Bedingungen auch mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge. Denn die staatliche<br />
garantierten Pensionen allein können uns unter diesen Umständen den<br />
lieb gewonnenen Lebensstandard nicht erhalten. Je früher man dies erkennt und<br />
den Europäern auch sagt, umso besser.<br />
3. Es bedarf für jüngere ebenso wie für ältere Menschen im Beschäftigungsprozess<br />
Lebens-begleitendes Lernen.<br />
4. Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es muss besser möglich sein, Kinder<br />
in unserer Gesellschaft zu integrieren und ihnen ein besseres Umfeld zu bieten.<br />
Dazu bedarf es flexiblerer Arbeitszeiten, aber auch entsprechender<br />
Betreuungsmöglichkeiten während des Tages. Es muss aber möglich sein, den<br />
237
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 238<br />
URSULA STENZEL<br />
Eltern bzw. den Erziehungsberechtigten die Wahlmöglichkeiten zu belassen.<br />
Ganztagsschulen dürfen keine Zwangstagsschulen sein, sondern nur eine Option.<br />
Frauen, aber auch Männer müssen die Möglichkeit haben, ihr Kind nicht in<br />
Horte und Krippen zu geben, sondern eben auch zu Hause zu betreuen.<br />
Spätestens seit Freud wissen wir, dass in den ersten drei Lebensjahren die menschliche<br />
Prägung stattfindet. Daher muss Familienpolitik in der Europäischen Union<br />
einen viel größeren Stellenwert erhalten als bisher.<br />
5. Zuwanderung kann höchstens kontrolliert stattfinden. Sie löst das<br />
Alterungsproblem, darin sind sich die meisten Wissenschaftler einig, nicht. Denn<br />
die unkontrollierte Zuwanderung von Menschen, von denen man hofft, dass sie<br />
für entsprechenden Nachwuchs und Pensions- und Sozialzahlern sorgen, bedeutet<br />
zunächst auch eine große Belastung und Überforderung der Sozialsysteme.<br />
Worum es uns gehen muss, ist, je nach Maßgabe der nationalen Erfordernisse<br />
Zuwanderung zu steuern. Auch hier darf nicht EU-Recht die Handlungsfähigkeit<br />
der einzelnen Mitgliedsstaaten einengen.<br />
Sichere Grenzen. Eine derartige Politik bedarf zwar nicht der Festung Europas,<br />
aber sie bedarf sicherer Grenzen. Sicherer Grenzen – und einer gemeinsamen<br />
Asylpolitik, sowie einem viel effizienteren europäischen System gegen organisierte<br />
Kriminalität. Auf diesem Gebiet bedürfte es mehr Europa und nicht weniger.<br />
Aber ich bin mir natürlich der Tatsache bewusst, dass selbst nach Tampere<br />
es schwierig bleiben wird, den europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit<br />
und des Rechts zu vollenden. In dem finnischen Ort Tampere haben die europäischen<br />
Regierungen die Grundlagen dafür gelegt.<br />
Ich gehe aber davon aus, dass in 20 Jahren die Effizienz von Europol gesteigert<br />
werden wird. Dass es ein europäisches Polizeicorps geben wird – und eine<br />
umfassende EU-Strategie, sowie einen Aktionsplan zu Bekämpfung der Korruption.<br />
Die Europäische Union wird aus diesem Grund auch ihre Gemeinsame Außenund<br />
Sicherheitspolitik zu einem effizienteren Instrument ausbauen müssen.<br />
Fragen der inneren und äußeren Sicherheit sind in der heutigen globalen<br />
Welt engstens miteinander verbunden. Partnerschaften mit Drittländern, gestützt<br />
von Gemeinschaftsfonds müssen in 20 Jahren greifen, um illegale Einwanderung<br />
zu verhindern, Grenzkontrollkapazitäten zu verstärken, sowie Rückkehr-<br />
Abkommen über illegale Zuwanderer mit Ländern, die bisher solche Abkommen<br />
mit der EU noch nicht getroffen haben, zu schließen. Zum Beispiel Russland.<br />
Selbstverschuldete Fehlstrategien, wie die Visa-Affäre unter der Schirmherrschaft<br />
des grünen deutschen Außenministers Joschka Fischer, sollten ein abschreckendes<br />
Beispiel sein.<br />
Natürlich muss alles getan werden, um ein Beziehungsnetz zu Drittstaaten<br />
aufzubauen, die den Drang zur Auswanderung langfristig zügeln. Dazu gehört<br />
natürlich auch ein ausgewogener Marktzugang von Ländern der Dritten Welt –<br />
nicht nur nach Europa, sondern auch in die USA, nach Japan, China, Korea – kurz<br />
in alle Länder, die wirtschaftlich dynamisch sind. Es kann nicht nur so sein, dass<br />
238
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 239<br />
EINE REALISTISCHE EUROPAVISION<br />
die Europäische Union ihren Markt einseitig öffnet – unter dem Stichwort „alles<br />
außer Waffen!“. Dieses Schlagwort ist griffig, führt aber zu schweren Problemen<br />
beispielsweise für die europäische Landwirtschaft.<br />
Das Ringen um einen liberalen und offenen Welthandel wird uns zweifellos<br />
auch in 20 Jahren beschäftigen. Es wird ähnlich sein, wie zu Zeiten des Kalten<br />
Krieges – die Abrüstung. Man hat viel über sie gesprochen, und sie nie erreicht.<br />
So ähnlich wird es dem freien Welthandel gehen. Man wird viel über ihn<br />
sprechen, aber ihn nie zur Gänze erreichen. Es ist allerdings ein Ziel, dass wir<br />
im Auge behalten sollten. Besonders wenn wir das europäische Wirtschaftswachstum<br />
ankurbeln wollen.<br />
Wachstum und Beschäftigung müssen in Europa dringend belebt werden.<br />
Vielleicht schaut dann in 20 Jahren die nächste Lissabon-Bilanz besser aus, als<br />
die derzeitige Halbzeit-Bilanz. Ich bin der Überzeugung, dass mit dem jetzigen<br />
im Europäischen Parlament mit breiter Zustimmung bedachten Arbeitsprogramm<br />
der Europäischen Kommission die Chancen für Wachstums- und<br />
Beschäftigungsimpulse gut sind. Schon allein die Konzentration auf einige wenige<br />
Ziele – wie Wirtschaftswachstum, Forschungspolitik und schrittweise<br />
Liberalisierung der Arbeits- und Dienstleistungsmärkte – weisen in die richtige<br />
Richtung. Auch wenn manche Maßnahmen dieser Strategie vorübergehend<br />
Einschnitte bedeuten, werden sie doch auf längere Sicht die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der Europäischen Union stärken. Dies ist dringend notwendig – angesichts des<br />
Drucks, dem uns die dynamische kommende Großmacht China aussetzt.<br />
Wir werden uns in 20 Jahren als Europäer nach wie vor mit der Großmacht<br />
USA messen und auseinandersetzen müssen. Wir werden uns aber auch gegenüber<br />
China behaupten müssen. Dazu kann die Erweiterung der Europäischen<br />
Union über die Nachbarschaftspolitik hinaus – zum Beispiel im Falle der EUambitionierten<br />
Ukraine – durchaus dienen. Dazu bedarf es aber auch einer klaren<br />
Strategie der Europäischen Union gegenüber Russland, gegenüber den USA<br />
und gegenüber dem asiatischen Raum.<br />
Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren nicht mit einer zügellosen Verbreitung von<br />
Massenvernichtungswaffen und regionalen Atommächten konfrontiert sein werden.<br />
Wenn wir verhindern wollen, dass zwischen China, Japan, Taiwan, Nordund<br />
Südkorea ein atomares Wettrennen stattfindet, müssen die Maßnahmen dazu<br />
jetzt getroffen werden. Dazu bedarf es einer Abstimmung vor allem der europäischen<br />
und der amerikanischen Strategie.<br />
Noch gefährlicher erscheint mir ein zweites Szenario, das einer Atommacht<br />
Irans. Ob es der Europäischen Union im Dreiklang von Deutschland, Frankreich<br />
und Großbritannnien gelingen wird, das theokratische Regime in Teheran zu<br />
einem Verzicht auf atomare Rüstung zu bewegen, wird ein Testfall für die<br />
Glaubwürdigkeit europäischer Außenpolitik sein. Wenn dies nicht gelingt, wird<br />
erstens eine schwere Krise im Nahen Osten die Folge sein. Und zweitens werden<br />
wir noch in 20 Jahren bedauern, dass uns die Vereinigten Staaten nicht ernst<br />
239
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 240<br />
URSULA STENZEL<br />
nehmen – und den scheinbar einfacheren Weg einer nicht abgestimmten, einseitigen<br />
unilateralen Politik vorziehen.<br />
Dann allerdings werden wir auch in 20 Jahren mit Bedauern feststellen, dass<br />
die Europäische Union zwar zu den „großen Payern“, aber nicht zu den „großen<br />
Playern“ zählt. Dies ist aber keineswegs ein ungeschriebenes Naturgesetz.<br />
Es lässt sich beeinflussen – vorausgesetzt der politische Wille dazu ist vorhanden.<br />
240<br />
März 2005
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241<br />
József SZÁJER<br />
Stellvertretender Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Leiter der ungarischen Delegation<br />
Eine Gemeinschaft der Gemeinschaften<br />
Einleitung: Eine <strong>Vision</strong> von Europa – eine <strong>Vision</strong> von uns selbst<br />
Unsere <strong>Vision</strong> von Europa und der Europäischen Union ist eng damit verbunden,<br />
was wir über uns selbst denken – mit unserem lokalen, nationalen und sogar<br />
regionalen Selbstbildnis sowie unseren wichtigsten Zielen. Deshalb werden wir in<br />
dieser kurzen Darstellung versuchen, das Konzept der Gemeinschaft, auf dem<br />
die Europäische Union beruht, aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.<br />
Es ist vielleicht angebracht, in diesem Zusammenhang auf eine grundlegende<br />
These der ungarischen Außenpolitik zu verweisen, die unserem Diskurs und<br />
unserer Herangehensweise an den Europäischen Integrationsprozess zugrunde<br />
liegt: Ungarn ist kein neues Mitglied des modernen Europas. Seit mehr als tausend<br />
Jahren ist Ungarn Teil dieses Kontinents und hat zur Schaffung und Gestaltung<br />
Europas beigetragen. Im Laufe unserer turbulenten Geschichte war diese<br />
Zugehörigkeit mehrmals gefährdet und sogar unterbrochen, doch die eindeutige<br />
Haltung Ungarns und der Ungarn zu Europa stand nie außer Frage. Dies trifft<br />
auch auf verschiedene andere Mitgliedstaaten zu, die der EU im Jahre 2004 beitraten<br />
oder dies in den nächsten Jahren tun werden.<br />
Oftmals wird behauptet, dass bei einer politischen Integration schwache und<br />
weniger einflussreiche Länder leicht übervorteilt werden, während mächtige,<br />
einflussreiche Länder an Stärke gewinnen. Stärke kann jedoch unterschiedlich<br />
ausgelegt werden: Der Europäische Integrationsprozess ist ein gutes Beispiel,<br />
wie ein ansonsten kleines Land durch seine intellektuelle und visionäre Stärke maßgeblich<br />
zu einem Prozess beitragen kann. Daher vertreten wir die Auffassung, dass<br />
unser Land sowie alle anderen Mitgliedstaaten über eine solide und ausgereifte<br />
<strong>Vision</strong> von der Zukunft Europas verfügen müssen und sich auch über die damit<br />
verbundenen Aufgaben im Klaren sein sollten.<br />
Das ist von entscheidender Bedeutung für die Union, denn zum ersten Mal<br />
in ihrer Geschichte ist ein wirklicher Verfassungsprozess im Gange. Anders gesagt,
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 242<br />
JÓZSEF SZÁJER<br />
die Union stellt noch kein fertiges politisches Gebilde dar: Ihre künftige<br />
Ausrichtung hängt sehr stark von den Vorstellungen ihrer Bürger und ihrer politischen<br />
Vertreter ab. All diese Punkte können beim Aufbau der Europäischen<br />
Union des 21. Jahrhunderts eine Rolle spielen.<br />
Bestimmung nationaler und europäischer Interessen<br />
Im Hinblick auf die Dichotomie der nationalen und europäischen Interessen<br />
steht ganz obenan die Frage, welchen Standpunkt man zur klassischen Kontroverse<br />
bzw. zum Streitpunkt zwischen dem „Europa über den Nationen“ und dem<br />
„Europa der Nationen“ bezieht. Zunächst einmal müssen wir unserer Ansicht<br />
nach über den Rahmen dieser Kontroverse hinausgehen und uns über diese<br />
Debatte erheben. Hierfür bieten sich zwei Dinge an: zum einen die Stärkung<br />
des Regionalismus, d. h. der Ausbau der lokalen Selbstverwaltungen, und zum<br />
anderen die Anerkennung und Einbindung von Völkergemeinschaften, die vielfach<br />
über die Grenzen eines bestimmten Gebietes hinaus verbreitet sind, zum<br />
Beispiel nationale Minderheiten. Verbindet man diese beiden Theoreme, die<br />
beide auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhen, dann müssen wir auch lokale<br />
Gebietskörperschaften, autonome Körperschaften und die lokalen Selbstverwaltungen<br />
anerkennen. Ihnen kommt bei der Gestaltung der Zukunft Europas eine<br />
entscheidende Rolle zu.<br />
Ein „Europa über den Nationen“ würde zur Schaffung der Vereinigten Staaten<br />
von Europa führen, in denen die meisten Entscheidungen fernab von den Bürgern<br />
und ihren Gemeinden gefällt werden würden. Die Union sollte sich jedoch nicht<br />
über die Mitgliedstaaten stellen, sondern für eine effiziente Zusammenarbeit zwischen<br />
ihren Mitgliedern Sorge tragen. Andererseits kann man auch das Konzept<br />
des „Europa der Nationen“ nicht gutheißen, denn zum einen ist hier der Terminus<br />
„Nation“ ungenau (er umfasst nur die politische Nation) und zum anderen gehen<br />
die Vertreter dieses Konzepts von der traditionellen Idee eines homogenen<br />
Nationalstaates aus. Wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der europäischen<br />
Integration war bisher die Abwendung von dieser Idee sowie die verstärkte<br />
Anerkennung der Grundsätze der Dezentralisierung, der Subsidiarität und der<br />
Selbstverwaltung, und dies sollte unserer Meinung nach auch künftig der Fall<br />
sein.<br />
Ich bin der festen Überzeugung, dass in Zukunft nationale Interessen sowie das<br />
Allgemeininteresse der Europäischen Union Berücksichtigung finden müssen.<br />
Die Mitgliedstaaten sollten zwar stets ihren eigenen Standpunkt vertreten, gleichzeitig<br />
aber auch dem europäischen Interesse Rechnung tragen. Die Europäische<br />
Union ist über die Anfangsphase längst hinweg, als es bei dem Prozess lediglich<br />
um die wirtschaftliche Integration und Zusammenarbeit ging. Die EU kann nicht<br />
wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden, bei dem die Anteilseigner je<br />
nach ihrem Anteil am Grundkapital Anspruch auf eine Dividende haben. Bei der<br />
Festlegung der Ziele der Union und der Auswahl der anzuwendenden Mittel<br />
242
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EINE GEMEINSCHAFT <strong>DE</strong>R GEMEINSCHAFTEN<br />
sollte die Solidarität zwischen den Nationen ausschlaggebend sein und noch<br />
weiter ausgebaut werden.<br />
Europa – Eine Gemeinschaft der Gemeinschaften<br />
Das Konzept der „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ unterstreicht die<br />
Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips und die Stärkung der lokalen Selbstverwaltungen.<br />
Zudem wird die verstärkte Anerkennung von Gemeinschaften, die nicht<br />
einem Land oder einer Region angehören müssen, hervorgehoben. Aus diesem<br />
Grund sollte der Umfang der Befugnisse, die bei den Institutionen der Union<br />
verbleiben, erweitert werden. Das ist jedoch lediglich auf die Bereiche zu beschränken,<br />
in denen die Maßnahmen der Union wirksamer sind als die Maßnahmen, die<br />
auf nationaler Ebene bzw. darunter getroffen werden können. Eine moderne<br />
Europäische Union in Form einer „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ und die<br />
Konzepte Nation und Demokratie bedingen einander. Sie stehen in enger<br />
Beziehung zueinander und können am besten im Rahmen einer europäischen<br />
Einheit umgesetzt werden.<br />
Die Union sollte ihre Befugnisse unbedingt auf transparente, verantwortungsbewusste<br />
und demokratische Art und Weise ausüben. Daher dürfen die nationalen<br />
Parlamente, von denen schließlich die Souveränität ausgeht, nicht ihrer Rolle<br />
bei der Beschlussfassung innerhalb der Union beraubt werden. Im institutionellen<br />
Dreieck der Union müssen das Europäische Parlament und der Rat in effizienter<br />
Weise zusammenarbeiten, um nicht den Anschein zu erwecken, dass<br />
Entscheidungen über die Köpfe der Bürger hinweg getroffen werden. Aber auch<br />
die Regierungen aller Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass vor der<br />
Verabschiedung eines Standpunktes im Rat die Ansichten ihrer nationalen<br />
Gesetzgebungsorgane berücksichtigt werden. Darüber hinaus muss betont werden,<br />
dass eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments – dem einzigen,<br />
unmittelbar gewählten, repräsentativen Organ der Europäischen Union – unbedingt<br />
erforderlich ist. Die weitere „Parlamentarisierung“ der EU scheint der<br />
beste Weg zu sein, um die EU zu demokratisieren und eine direktere Verbindung<br />
zwischen dem Leben der EU-Bürger und der Union herzustellen.<br />
Versöhnung als eine Vorbedingung und Bereicherung für die Union<br />
Es ist hervorzuheben, dass es die Europäische Union in ausgezeichneter Weise<br />
verstanden hat, die Versöhnung zwischen den Ländern bzw. Regionen, die sich<br />
vor ihrem EU-Beitritt feindlich gegenüberstanden, zu erreichen und sich als ein<br />
historisch hervorragender Wahrer des Friedens zwischen ihren Mitgliedstaaten<br />
erwiesen hat. Im Falle Ungarns diente beispielsweise der Beitritt zur Europäischen<br />
Union als Instrument zur nationalen Wiedervereinigung. Im Mai 2004 wurden<br />
nicht nur 10 Millionen ungarische Bürger, sondern ungefähr 10,8 Millionen Ungarn<br />
zu EU-Bürgern, wenn man die ungarischen Minderheiten in der Slowakei und in<br />
243
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JÓZSEF SZÁJER<br />
Slowenien dazurechnet. Nach dem Beitritt Rumäniens wird diese Zahl auf über<br />
12,4 Millionen ansteigen. Die Europäische Volkspartei setzt sich dafür einsetzen,<br />
dass die Autonomie der Minderheitengemeinschaften in das Konzept der<br />
Subsidiarität aufgenommen wird, da dies seit jeher als christlich-demokratischer<br />
Grundsatz gilt.<br />
Wir vertreten die Auffassung, dass die Aussöhnung und die Bewahrung des<br />
Friedens weiterhin im Mittelpunkt des Wertegefüges der EU stehen sollten. Dies<br />
ist im Bereich der außenpolitischen Prioritäten der Union und vor allem auf dem<br />
Gebiet ihrer Nachbarschaftspolitik von besonderer Bedeutung. Es ist dringend<br />
geboten, dass die Europäische Union in erster Linie eine starke und wirksame<br />
Präsenz in ihrer Nachbarschaft zeigt. Anders gesagt, die Union sollte die Probleme<br />
und Herausforderungen ihrer neuen Mitgliedstaaten berücksichtigen und sich<br />
ihrer annehmen. Die Art und Weise, wie die EU und insbesondere das Europäische<br />
Parlament die demokratische Bewegung in der Ukraine in den Jahren 2004/2005<br />
unterstützte, sollte als gutes Beispiel für eine mutige und fortschrittliche<br />
Außenpolitik dienen.<br />
Die Union wird auch ihre eigenen Verteidigungskapazitäten aufbauen: Dazu<br />
müsste sie auch in der Lage sein, falls sie nach der Konsultation mit der NATO<br />
einen eigenständigen Weg wählen möchte. Die EU sollte zwar ihre Handlungsfähigkeit<br />
im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik weiter ausbauen, doch<br />
besteht unseres Erachtens nach wie vor ein gemeinsames Interesse darin, dass<br />
die NATO weiterhin die Federführung auf dem Gebiet der globalen Sicherheit<br />
innehat.<br />
Neben der Schärfung des Bewusstseins für unsere Prioritäten müssen wir<br />
auch den Befindlichkeiten anderer Länder Rechnung tragen. Für die Union bedeutet<br />
dies, dass wir uns darüber im Klaren sein müssen, welche Bedeutung der<br />
Mittelmeerraum für die Zukunft Europas hat. Wir sollten nicht nur Verständnis für<br />
die dortigen Probleme aufbringen, sondern auch unsere eigenen Politiken entwickeln,<br />
um den Kontakt zu den Mittelmeerländern zu pflegen. Im Interesse der<br />
Sicherheit und des Fortbestands der Union müssen wir dafür sorgen, dass die<br />
Union weiterhin einen Teil der finanziellen Last trägt, die für den Schutz unserer<br />
Außengrenzen erforderlich ist.<br />
Was für ein Europa bei welchem Tempo?<br />
Angesichts der allmählichen Erweiterung der EU, in die ja der gesamte europäische<br />
Kontinent einbezogen werden soll, lautet eine der grundlegenden Fragen,<br />
wie wir zur Problematik eines Europas der zwei oder mehrerer Geschwindigkeiten<br />
stehen. Zunächst einmal sollten die verschiedenen Konzepte näher erläutert werden.<br />
Gegenwärtig ist das Europa der zwei Geschwindigkeiten zwar bereits eine<br />
Realität (beispielsweise gehören Dänemark, Schweden und das Vereinigte<br />
Königreich weder der EWU noch dem Schengener Raum an), doch kann trotz dieser<br />
freiwillig gewählten Nichtbeteiligung nicht die Rede davon sein, dass der<br />
244
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 245<br />
EINE GEMEINSCHAFT <strong>DE</strong>R GEMEINSCHAFTEN<br />
endgültige Zustand bereits erreicht sei. Aus diesem Grund ist der Begriff<br />
„Geschwindigkeit“ zutreffend, denn die Mitgliedstaaten arbeiten auf ein und dasselbe<br />
Ziel hin, das sie jedoch zu verschiedenen Zeitpunkten erreichen werden.<br />
Auch das Konzept der „verstärkten Zusammenarbeit“ ist nicht weiter problematisch,<br />
weil es in bestimmten Fällen den Integrationsprozess sogar anstoßen kann,<br />
sofern bestimmte grundlegende Kriterien, wie beispielsweise Offenheit und<br />
Motivierung der nicht beteiligten Länder zum Aufholen, eingehalten werden.<br />
Allerdings kann das Konzept eines „harten Kerns“ zu einem grundlegenden<br />
Problem führen. Denn bei einem „Europa der konzentrischen Kreise“ besteht<br />
die Gefahr, dass interne Kräfte in der Auflösung der EU bestärkt werden. In<br />
gewisser Weise würde dadurch die Gemeinsame Europäische <strong>Vision</strong> verloren<br />
gehen. Das könnte schließlich den gesamten Vereinigungsprozess gefährden.<br />
Stabilität stellt den wichtigsten Wert der Europäischen Union dar. Sie beruht<br />
auf drei Pfeilern: demokratische Beschlussfassung, ausgewogene Außenbeziehungen<br />
und ein durch das europäische System der Wirtschaftsvorschriften erzieltes<br />
Gleichgewicht sowie das fortwährende Streben der Union nach einer politischen<br />
Einheit. Aus diesem Grunde stellt die Europäische Union für uns gegenwärtig<br />
eine Realität dar, die wir im moralischen Sinne verstehen können. Aus dieser<br />
Überzeugung heraus nehmen wir schwere Lasten auf uns und ersuchen um Hilfe<br />
bei der Überwindung unserer Schwierigkeiten, und genau dies ist auch der<br />
Grund, weshalb eine erneute Teilung Europas, die vielleicht nach den Kategorien<br />
alt und neu, sie und wir, schneller und langsamer oder ärmer und wohlhabender<br />
erfolgen könnte, für uns nicht akzeptabel wäre. Die Erzielung eines Konsenses<br />
über die Richtung und Qualität des Europäischen Integrationsprozesses ist ein mühsamer<br />
und zuweilen frustrierender Prozess, und dies wird sich zweifelsohne auch<br />
in Zukunft nicht ändern. Doch die Prämisse der Gründungsväter der Europäischen<br />
Union, dass der weitere Weg nur gemeinsam und einvernehmlich zurückgelegt<br />
werden darf, muss gewahrt bleiben.<br />
Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt<br />
Die schwierigste Aufgabe, mit der Europa gegenwärtig in sozialer und wirtschaftlicher<br />
Hinsicht konfrontiert wird, besteht darin, die Wettbewerbsfähigkeit auf<br />
dem globalen Markt zu verbessern und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt<br />
zu bewahren. Eng verbunden damit ist die Frage, ob die Union in der Lage sein<br />
wird, die Lissabon-Strategie umzusetzen. Gemäß dieser Strategie, die im März<br />
2000 verabschiedet wurde, soll die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten<br />
und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden, wobei<br />
ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und<br />
einem größeren sozialen Zusammenhalt verbunden werden soll.<br />
Somit sollte der Schwerpunkt nicht auf dem Konzept der Wohltätigkeit, sondern<br />
auf der Vermittlung von Wissen, der Schaffung von Arbeitplätzen und dem<br />
Ausbau der Beschäftigungsfähigkeit liegen. Der Staat trägt zur Ausbildung der<br />
245
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 246<br />
Arbeitkräfte, zum Aufbau einer wissensbasierten Gesellschaft, zur Unterstützung<br />
kleiner und mittelständischer Unternehmen und zur Beschleunigung größerer<br />
Investitionen in die Infrastruktur bei. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass<br />
die Union das Leben auf dem Lande und die Landwirtschaft als eine Quelle der<br />
Bereicherung – sowohl in kultureller als auch in sozialer Hinsicht – und nicht als<br />
eine Last betrachten sollte.<br />
Interessen und Werte<br />
JÓZSEF SZÁJER<br />
Den äußeren Rahmen für die Berücksichtigung nationaler Interessen bildet<br />
einerseits das System der Institutionen der Union und andererseits das Netz der<br />
Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten. Diese beiden Bereiche sind eng miteinander<br />
verknüpft und stellen insgesamt ein recht komplexes Gefüge von<br />
Bedingungen dar. Im Rahmen dieses Systems setzen sich die Mitgliedstaaten für<br />
die Berücksichtigung ihrer Interessen ein und versuchen, die verschiedenen<br />
Interessen miteinander zu vereinbaren. Alle Mitgliedstaaten der EU haben die<br />
Aufgabe, zur Herausbildung der Verfahren beizutragen, mit deren Hilfe bestimmte<br />
Interessen vorgebracht und dann mit dem Gemeinschaftsinteresse so weit wie<br />
möglich in Einklang gebracht werden.<br />
In diesem Zusammenhang ist die Gleichheit der Mitgliedstaaten von entscheidender<br />
Bedeutung und muss in den kommenden Jahren eine Priorität der Union<br />
darstellen. Dieser Punkt wird weiterhin ganz oben auf der Tagesordnung stehen,<br />
denn den Beitrittskriterien zufolge gilt (zumindest bis Ende 2006) der<br />
Grundsatz der Gleichheit weder für Beihilfen aus den Struktur- und<br />
Kohäsionsfonds noch für Direktbeihilfen im Bereich der Landwirtschaft (hier<br />
wird die ungleiche Behandlung auch nach 2006 fortgeführt). Das Gleiche trifft<br />
auch auf viele andere Gebiete zu (z. B. die Möglichkeit der Anwendung von<br />
Sicherheitsklauseln und die Diskriminierung bei der Freizügigkeit von<br />
Arbeitnehmern).<br />
Wir betrachten das Prinzip der Nichtdiskriminierung als einen Grundwert der<br />
Union, der für die Zukunft von Bedeutung ist und sich aus den christlichen<br />
Traditionen ergibt. Als Mitglied der Familie der Europäischen Christdemokraten<br />
vertrete ich die Überzeugung, dass die Zukunft der Union langfristig davon<br />
abhängt, inwieweit die christlichen Grundwerte umgesetzt werden.<br />
246<br />
März 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 247<br />
247<br />
Antonio TAJANI<br />
Leiter der italienischen Delegation Forza Italia - P der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Das Europa, das wir wollen<br />
Welches Europa wollen wir? Eine Föderation von Nationalstaaten, die auf den<br />
Grundsätzen der Solidarität und Subsidiarität sowie auf der Achtung der<br />
Menschenwürde beruht.<br />
Ein politisch starkes Europa, das auf der Weltbühne die Rolle eines Vorkämpfers<br />
für den Frieden spielt und das ein privilegierter und gleichberechtigter<br />
Gesprächspartner der USA sowie künftig Chinas sein wird.<br />
Ein Europa, dessen Grenzen sich noch erweitern werden und dessen aufmerksamer<br />
Blick auf Russland gerichtet wird. Ein Europa mit einer gemeinsamen<br />
Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Einwanderungspolitik.<br />
Eine Union, die über die wichtigen Themen entscheidet und die anderen<br />
Zuständigkeiten den Nationalstaaten, den Regionen und den Großstädten überlässt.<br />
Ein Europa, das sich mit allem befasst, ist ein schwaches Europa und läuft<br />
eben wegen seiner Schwäche Gefahr, die Freiheiten der Bürger zu verletzen. Es<br />
muss das Europa der Bürger sein, in dem die Parlamente eine starke, eine stärkere<br />
Rolle als heute, wahrnehmen.<br />
Die Verabschiedung des neuen Verfassungsvertrags bietet die Gelegenheit zur<br />
institutionellen Neugestaltung der Union.<br />
Ein Europa, mit dem sich die Mehrheit der Unionsbürger zu identifizieren vermag;<br />
das aus jenen, von uns allen angestrebten transparenteren und demokratischeren<br />
Institutionen besteht, durch die Debatten in der Öffentlichkeit der verschiedenen<br />
Länder angestoßen werden und ein Forum gebildet wird, das den von<br />
der Basis vorgebrachten Anliegen Gehör schenkt.<br />
Die Bereitschaft zum Dialog mit den gesellschaftlichen und kulturellen<br />
Hauptakteuren impliziert meines Erachtens jedoch auch die Einsicht in ihre Rolle<br />
und Bedeutung, wodurch man zu einem Institutionenbegriff gelangt, dessen<br />
Grundlage die Anerkennung des Reichtums und der Vitalität unserer<br />
Bürgergesellschaften bildet.
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 248<br />
ANTONIO TAJANI<br />
Es gilt zu begreifen, dass bei dem in dem neuen Kontext der globalisierten Welt<br />
zum Durchbruch kommenden Prozess einer Souveränitätsbeschränkung der<br />
Nationalstaaten nicht gleichzeitig versucht werden darf, einen neuen europäischen<br />
Staat, der sich auf den hypothetischen Begriff einer supranationalen<br />
Souveränität stützt, zu konstruieren bzw. – schlimmer noch – einen mächtigen bürokratischen<br />
Apparat aufzubauen, der einen neuartigen Leviathan verkörpern würde;<br />
da bei solchen Lösungen die nationalen Interessen sowie die Notwendigkeit eines<br />
demokratischen Konsenses unberücksichtigt blieben, würden wir damit zu einem<br />
Europa nicht nur der Unfreiheit, sondern auch der Instabilität gelangen.<br />
Ein Europa, das den europäischen Bürgern zu Glück und Wohlstand verhilft<br />
und darüber hinaus die Vielfalt der sozialen Gebilde sowie der regionalen und lokalen<br />
Gemeinschaften anerkennt und ihnen einen höheren Stellenwert verleiht.<br />
Europa als ein System, das auf einem homogenen Rahmen gemeinsamer<br />
Regeln und auf den Grundsätzen der – horizontalen und vertikalen – Subsidiarität<br />
basiert und in dem das Bestehen mehrerer, die Koexistenz unterschiedlicher – auch<br />
nationaler Interessen – ermöglichender Ordnungen vorgesehen ist, ohne den<br />
Anspruch, alles kontrollieren und von oben planen zu wollen. Ein System, das das<br />
Problem der demokratischen Zustimmung zur Union auf allen bestehenden institutionellen<br />
Ebenen anpackt, ohne die Illusion, ein sie umgehendes<br />
Institutionengefüge zu bilden.<br />
Das „offene Modell“ ist jedoch nur unter der Voraussetzung funktionsfähig,<br />
dass die soziale Rolle der konstitutiven Elemente jener von den Institutionen zu<br />
fördernden Gesellschaften anerkannt wird.<br />
Unter diesem Aspekt möchte ich auf zwei Akteure eingehen, die aus unterschiedlichen<br />
Gründen eine Funktion von primärer Bedeutung ausüben: die<br />
Kirchen und die Unternehmen.<br />
Die Kirchen und die Religion spielen eine wichtige Rolle für die Stabilität der<br />
europäischen Gesellschaften und die Bestimmung der kulturellen Identität unseres<br />
Kontinents. Zu berücksichtigen ist dabei die Bedeutung, die die christlichen<br />
und jüdischen Wurzeln – zusammen mit denen, die wir aus der Aufklärung, dem<br />
römischen Recht, den Hochschulen und der lateinischen Sprache beziehen – für<br />
die Schaffung eines idem sentire de re publica hatten, ohne das keine politische<br />
Gemeinschaft überlebensfähig ist.<br />
Gerade weil Institutionen und Gesellschaft getrennt bleiben müssen und Erstere<br />
nicht die Zweite unterdrücken dürfen, sondern sie stützen müssen, ist es letztendlich<br />
unabdingbar, einem Subjekt – Kirchen und Religionsgemeinschaften –, das<br />
im Leben der Bürger von so großer Bedeutung ist (man denke an die<br />
Freiwilligentätigkeit) und einen so wichtigen Beitrag zur Bestimmung der Grundwerte<br />
unserer Zivilisation (zentrale Stellung des Menschen, Pluralismus der gesellschaftlichen<br />
Ausdrucksformen, Kultur der Autonomien, Solidarität) leistet, die gebührende<br />
Würdigung zuteil werden zu lassen.<br />
Diejenigen, die die von den Religionen wahrgenommene Rolle argwöhnisch<br />
betrachten, möchte ich an die Worte eines in laizistischen Kreisen beliebten ita-<br />
248
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 249<br />
DAS EUROPA, DAS WIR WOLLEN<br />
lienischen Philosophen, Noberto Bobbio, erinnern. Eines Intellektuellen, der die<br />
Notwendigkeit der Religion für die wahre Demokratie erkannte. „Sofern es – so<br />
sagte er – keine sonstige Kraft gibt, die die inneren Beweggründe zum Handeln<br />
zu bestimmen vermag, muss der Gedanke akzeptiert werden, dass das Religiöse<br />
notwendig ist“.<br />
Der zweite gesellschaftliche Akteur, auf den ich mich beziehen möchte, besteht<br />
aus den zahlreichen Personen- und Kapitalgesellschaften oder Genossenschaften,<br />
die zur Schaffung unseres Wohlstands beitragen.<br />
Nach der Lehre der Gründungsväter muss die Union den entschlossenen geistigen<br />
Willen zur Einheit Europas im Hinblick auf die Friedenswahrung mit der<br />
Förderung des Wohlstands verbinden, der an diesem Frieden einen so wesentlichen<br />
Anteil hat. Sie muss der – heute unter vielen anderen Bestimmungen in<br />
Artikel 16 der Grundrechtecharta etwas restriktiv vorgesehenen – unternehmerischen<br />
Freiheit (und der Modernisierung des Wohlfahrssystems) im Rahmen der<br />
wirtschaftlichen Liberalisierungsprozesse, durch die ein effektiver Wettbewerb<br />
ermöglicht werden soll, ein angemessenes Gewicht verleihen. Sie muss wirtschaftlich<br />
effizienter werden, um nicht bloß Planifikation und Bürokratismus zu<br />
betreiben, sondern einen „Wettbewerbsföderalismus“ zu fördern, durch den mittels<br />
des freien Wettbewerbs die Effizienz der nationalen Systeme und der leistungsfähigsten<br />
zwischenstaatlichen Systeme gesteigert werden kann und durch den<br />
ferner die Valorisierung jener von der Geografie der Nationalstaaten unabhängigen<br />
Produktionsketten, die durch die fortschreitende Interdependenz der<br />
Wirtschaftssysteme entstehen werden, ermöglicht wird.<br />
Sollten wir die große Bewährungsprobe der Ratifizierungen des EU-<br />
Verfassungsvertrags bestehen, so würden wir – um eine der treffendsten Aussagen<br />
in der Eröffnungsrede des Vorsitzenden Valéry Giscard d’Estaing vor dem Konvent<br />
zur Zukunft Europas zu zitieren – „ein Europa, in dem sich ein weiter Raum der<br />
Chancen und des Fortschritts für die Bürger eröffnet“, gestalten.<br />
249<br />
September 2005
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 250<br />
250
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 251<br />
Ioannis M. VARVITSIOTIS<br />
Leiter der griechischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Die Epoche der globalen Verflechtung –<br />
Die Ökologie der Kulturen und die Rolle der EU<br />
In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist eine neue Welt entstanden. Wir<br />
wurden Zeuge noch nie da gewesener Veränderungen, denn die Globalisierung<br />
hat die Güter-, die Dienstleistungs- und die Kapitalmärkte vereint, und im Zuge<br />
dessen haben sich neue produktive Strukturen von globaler Dimension herausgebildet.<br />
Das 21. Jahrhundert kann das Jahrhundert der sozialen Verantwortung werden,<br />
in dem jeder Bürger eine aktive Rolle spielt, unmittelbar Anteil an der<br />
Entwicklung nimmt, Beschlüsse kritisch beurteilt, sich an der Entscheidungsfindung<br />
beteiligt und schließlich einen ideologischen und produktiven Faktor darstellt.<br />
Die aktive Beteiligung der Bürger ist unabdingbar, denn nur dadurch können wir<br />
zu einer Internationalität gelangen, bei der das Individuum Träger von Ideen<br />
und Initiativen ist, und nur auf diese Weise können die drei Aspekte der so<br />
genannten Globalisierung verwirklicht werden: die wirtschaftliche Globalisierung,<br />
bei der das Gewicht insbesondere auf der individuellen Initiative und dem<br />
Unternehmergeist des Einzelnen liegt, die kulturelle Globalisierung, bei der die<br />
Bürger durch ihre aktive Beteiligung ihre ästhetischen Optionen zum Ausdruck<br />
bringen, und die politische Globalisierung, bei der sie Ideen entwickeln und<br />
umsetzen. Denn die Politiker scheinen mit ihren Initiativen ihre Möglichkeiten<br />
als Triebkraft der europäischen Integration ausgeschöpft zu haben. Diese sollte<br />
mehr und mehr in die Hände der Bürger gelegt werden, sie sollte Ausdruck der<br />
Vielfältigkeit sein, die Voraussetzung dafür besteht jedoch darin, das Neue und<br />
Besondere zu akzeptieren.<br />
Auf diese Weise gewährleisten wir auch die Mannigfaltigkeit der europäischen<br />
Kultur, die wir gleichzeitig weiterentwickeln, und wir beugen damit der<br />
Homogenität der Kultur vor, weil sie durch ihre menschliche Dimension gefestigt<br />
wird, ein Element, das das Fundament der westlichen Zivilisation bildet.<br />
Der Prozess der europäischen Integration bzw. Globalisierung, der – insbesondere<br />
nach dem Zerfall der Sowjetunion – nahezu unseren gesamten Kontinent<br />
251
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 252<br />
IOANNIS M. VARVITSIOTIS<br />
erfasst hat, fördert nicht nur die Entstehung neuer politischer Institutionen und<br />
Funktionen, sondern hat auch Einfluss auf den Alltag der Unionsbürger.<br />
Neben den wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen und den Fragen<br />
der Funktionalität trägt der Integrationsprozess zudem zur Entwicklung und<br />
Förderung neuer Ideen und kultureller Impulse bei.<br />
Wir erleben als Europäer am Beginn des 21. Jahrhunderts, wie sich unsere<br />
Zivilisation bewusst darum bemüht, die Erfahrungen unserer langen Geschichte<br />
zur Geltung zu bringen. Jetzt, in der neuen Epoche, in der das politische Denken<br />
und Handeln in den Vordergrund tritt, darf sich dieses Bemühen nicht auf die<br />
nationalen Grenzen beschränken. Wir müssen begreifen, dass wir nicht mehr<br />
die historischen Erfahrungen eines Volkes durchleben, sondern die einer ganzen<br />
Welt.<br />
Die Thematik des „Raubs der Europa“ gewinnt in der Geschichte der westlichen<br />
Zivilisation wieder an Aktualität, sie ist Ausdruck der Vielfältigkeit und<br />
schafft die Grundlage für eine neue Mythologie. Die westliche Zivilisation, deren<br />
Alterung bedrohliche Züge annimmt, sucht sich mithilfe eines „faustischen“ Ideals<br />
zu erneuern, das den Menschen von seiner euklidischen Beschränkung auf den<br />
überschaubaren Körper, den engen Begriff des Stadtstaates und seine nationalen<br />
Grenzen befreit.<br />
Durch die Bewahrung der kulturellen Werte, die in der heutigen Zeit mitunter<br />
in Zweifel gezogen wird, können wir verhindern, dass unser Vorhaben scheitert.<br />
Dazu müssen wir aber die Notwendigkeit akzeptieren, über die Grenzen<br />
hinauszuschauen, andere Perspektiven zu verfolgen und in anderen Dimensionen<br />
zu denken. Die <strong>Vision</strong> des zukünftigen Europas muss sich auf das Wesen des<br />
Humanismus stützen, die Voraussetzung dafür besteht darin, dass wir durch unsere<br />
Stellung in der Welt, durch Zweifeln und Forschen unsere Existenz begreifen.<br />
Aufgabe der kommenden Generationen wird es sein, eine globalisierte<br />
Gesellschaft zu schaffen, in der das Individuum, der Bürger, eine regulative Rolle<br />
spielt. Das 21. Jahrhundert, die Ära nach dem Ende des Kalten Krieges, ist durch<br />
eine neue globale Struktur gekennzeichnet, auf wirtschaftlicher Ebene sind die<br />
Grenzen weggefallen, eine Flut von Informationen ergießt sich täglich über die<br />
ganze Welt und durch die Entwicklung der digitalen Kommunikation ist der<br />
Zugang zu noch mehr Informationen gewährleistet. In dieser neuen Realität spielen<br />
die lokalen Gemeinschaften und die Bürger eine immer umfassendere Rolle,<br />
denn sie sehen sich gemeinsam mit sozialen Problemen, wie der Arbeitslosigkeit,<br />
der Entfremdung, der Kriminalität und der Unsicherheit, konfrontiert.<br />
Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, welch hohen Wert die regionalen<br />
Kulturen besitzen und welch besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang<br />
der Ökologie der Kulturen zukommt, so klein, so schwach und so wirkungslos<br />
sie auch zu sein scheinen. Namhafte Historiker und große <strong>Vision</strong>äre stimmen<br />
darin überein, dass die Wiedergeburt der „Metropole“ durch den Einfluss neuer<br />
Gedanken aus den Regionen gestärkt wird. Es gibt in der Weltgeschichte zahlreiche<br />
Beispiele mächtiger Reiche, die schließlich in dem Augenblick untergin-<br />
252
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 253<br />
DIE EPOCHE <strong>DE</strong>R GLOBALEN VERFLECHTUNG<br />
gen, als sie ihre letzte Region vollends aufgesogen hatten. Es handelt sich hierbei<br />
um die Theorie der Entropie, an der in isolierten Systemen festgehalten wird.<br />
Wenn es keine Reibung gibt, dann ist das System zwangsläufig zum Untergang<br />
verurteilt. Die EU sollte also bestrebt sein, neuen Einflüssen gegenüber aufgeschlossen<br />
zu sein.<br />
Ich bin der Ansicht, dass in diesem Klima der politischen und wirtschaftlichen<br />
Verflechtung mit den Nachbarländern der EU die Schaffung einer erweiterten<br />
Region der politischen Stabilität und Rechtsordnung zum gegenseitigen Austausch<br />
kultureller und ideologischer Güter und folglich zu einem umfassenderen sozialen<br />
Zusammenhalt beitragen wird. Wir müssen uns deshalb darum bemühen,<br />
immer mehr Länder zu integrieren und somit einen neuen Rechtsrahmen zu<br />
schaffen, das heißt, wir müssen Mittel und Wege finden, all jene mit einzubeziehen,<br />
die wir nicht vollständig integrieren können. Wir haben die Möglichkeit, ein<br />
Europäisches Commonwealth der Freiheit und der Prosperität (European<br />
Commonwealth of Freedom and Prosperity – ECFP) zu errichten.<br />
Seit einem Jahr verfügt die Europäische Union über eine Europäische<br />
Nachbarschaftspolitik (ENP), deren Ziel darin besteht, Kontakte zu allen angrenzenden<br />
Ländern, sowohl im Osten als auch im Süden, zu knüpfen. Langfristig<br />
gesehen wird die Europäische Union dadurch ihre Grenzen festlegen, ohne dass<br />
dabei eine engere Zusammenarbeit im Bereich der politischen und wirtschaftlichen<br />
Entwicklung mit einigen ihrer Partner ausgeschlossen ist. Die Europäische<br />
Union der 27 (die Beitrittsländer Bulgarien und Rumänien mit eingerechnet)<br />
wird sich mit der ENP weiter ausdehnen und auf internationaler Ebene einen führenden<br />
Platz einnehmen.<br />
Die ENP muss, auch wenn sie sich noch im Anfangsstadium befindet, auf<br />
eine rechtliche Grundlage gestellt werden. Die beteiligten Länder sollten sich<br />
nicht nur darauf beschränken, auf wirtschaftlichen Gebiet und im Bereich der<br />
Entwicklungshilfe zusammenzuarbeiten.<br />
Die Schaffung eines Rechtsrahmens und die Einrichtung von Instrumenten für<br />
die Partner- und Nachbarschaftspolitik würden dazu beitragen, dass die ENP für<br />
die beteiligten Länder attraktiver und folglich nützlicher wird. Zudem könnte<br />
ein Kandidatenland für den Beitritt zur EU, wenn es Schwierigkeiten bei diesem<br />
Prozess hat, die Möglichkeit nutzen, sich an der ENP zu beteiligen, zumal<br />
sie in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht davon profitieren würde.<br />
Mit der Errichtung eines Europäischen Commonwealth der Freiheit und der<br />
Prosperität, das in gewisser Weise eine verbesserte Version des Britischen<br />
Commonwealth darstellen würde, könnte die EU zusammen mit ihren Partnern<br />
einen Pol des Friedens, der Freiheit und der Prosperität schaffen.<br />
Dem Commonwealth würden die Nachbarländer der EU angehören, die<br />
bereits in die Europäische Nachbarschaftspolitik eingebunden sind und die untereinander<br />
sowie mit anderen Staaten eine „besonderes Verhältnis“ intensivierter<br />
Kooperation pflegen. Neben den im Rahmen der ENP festgelegten Bestimmungen<br />
(wie beispielsweise die Schaffung eines Finanzinstruments zur Integration des<br />
253
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 254<br />
IOANNIS M. VARVITSIOTIS<br />
TACIS- und des MEDA-Programms) werden für alle Länder die Regelungen der<br />
Zollunion gelten. Die Bürger dieser Länder werden jedoch weder das Recht<br />
haben, sich frei in den Ländern der Union niederzulassen, noch, sich an den<br />
beschlussfassenden Gemeinschaftsorganen zu beteiligen, und selbstverständlich<br />
werden diese Länder nicht in die Währungsunion aufgenommen. Sie werden<br />
jedoch in etlichen Bereichen finanzielle Unterstützung erhalten und eine Reihe<br />
weiterer Vorteile genießen. Zum Beispiel wird für die Einreise ihrer Bürger in die<br />
Union keine Visumpflicht bestehen, was im Vergleich zur ENP eine Neuerung darstellt.<br />
Die wirtschaftlichen und sonstigen Vorteile dieses „besonderen Verhältnisses“<br />
der Commonwealth-Staaten werden, was die „Drittländer“ betrifft, beträchtlich sein,<br />
sodass sie einen Anreiz für den Beitritt zum Commonwealth schaffen, mit den<br />
Vorteilen eines vollständigen Beitritts zur EU werden sie jedoch nicht vergleichbar<br />
sein.<br />
Es wird eine Parlamentarische Versammlung geben, die sich aus Vertretern der<br />
Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer (für die Mittelmeerländer)<br />
sowie aus Vertretern der nationalen Parlamente der anderen Staaten und des<br />
Europäischen Parlaments zusammensetzt. Diese kann zwei Mal jährlich zusammentreten<br />
und Entschließungen verabschieden, die sich mit Fragen bezüglich der<br />
Politiken beschäftigen, die im Hinblick auf Wirtschaftswachstum, sozialen<br />
Zusammenhalt, Sicherheit und die Wahrung der gemeinsamen Prinzipien verfolgt<br />
werden und die für die Commonwealth-Staaten Bedeutung haben bzw.<br />
von internationaler Tragweite sind. Dadurch wird die Zusammenarbeit zwischen<br />
all diesen Ländern sowohl auf Ebene der einzelnen Politikbereiche als auch auf<br />
regionaler Ebene gewährleistet.<br />
Die Beschlüsse der Parlamentarischen Versammlung werden konsultativen<br />
Charakter haben. Sie können jedoch entsprechend den Verfassungsbestimmungen<br />
der einzelnen Staaten und der Europäischen Union die Grundlage für die<br />
Ausarbeitung gesonderter Beschlüsse der nationalen Parlamente der<br />
Commonwealth-Staaten, des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments<br />
bilden.<br />
Die Länder des Commonwealth werden sich dazu verpflichten, untereinander<br />
sowie zu den Mitgliedstaaten der Union friedliche Beziehungen zu unterhalten.<br />
Wenn eines dieser Länder mit einem anderen Mitgliedsland des Commonwealth<br />
bzw. mit einem Mitgliedstaat der Union in Konflikt gerät, so kann dies einen Grund<br />
für seinen Ausschluss aus dem Commonwealth darstellen.<br />
Das Commonwealth kann relativ kurzfristig (sobald die Konsultationen über seinen<br />
Rechtsrahmen abgeschlossen sind) proklamiert und mit der Perspektive errichtet<br />
werden, dass innerhalb von zehn Jahren Länder des südlichen Mittelmeerraums<br />
(Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen, Ägypten, Syrien, der im Aufbau befindliche<br />
palästinensische Staat und Israel, sofern sie dies wünschen) aufgenommen werden.<br />
Die Voraussetzungen für ihre Mitgliedschaft werden die gleichen sein, wie sie von<br />
der EU im Rahmen der Partnerschafts- und Kooperationsabkommen bzw. der<br />
Europa-Mittelmeer-Kooperation gefordert werden.<br />
254
<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 255<br />
DIE EPOCHE <strong>DE</strong>R GLOBALEN VERFLECHTUNG<br />
Die Errichtung des Commonwealth bietet uns zudem eine Behelfslösung,<br />
falls der vollständige Beitritt eines Landes in die Europäische Union ernsthafte<br />
Probleme bereitet. Wenn ein Kandidatenland nicht aufgenommen werden kann<br />
bzw. wenn einige EU-Mitgliedstaaten seine Aufnahme ablehnen, dann kann es<br />
auf jeden Fall dem Commonwealth beitreten. Die alternative Perspektive, statt der<br />
Europäischen Union dem Commonwealth beizutreten, kann den Druck, den<br />
antieuropäische Kräfte in der EU und in den Kandidatenländern ausüben, entschärfen.<br />
Das Commonwealth wird eine wertvolle „Vorstufe“ bilden, auf der die Länder<br />
des europäischen Raums sich bei konstantem Peer-Pressure (Druck unter<br />
Gleichgestellten) der Union schneller und sicherer annähern können. Der „horizontale“<br />
Druck durch „Gleichgestellte“ ist oftmals effizienter als der „vertikale“<br />
Druck (vonseiten der EU).<br />
Schließlich wird rund um Europa eine Zone von Ländern mit europäischer<br />
Orientierung geschaffen, die seinen Wirtschaftsraum erweitert, seine Sicherheit<br />
stärkt und seine Autorität sowie seinen Einfluss auf internationaler Ebene erhöht,<br />
ohne dass damit zusätzliche finanzielle Belastungen verbunden sind und sein inneres<br />
Gleichgewicht gestört wird.<br />
In gewisser Weise wird dadurch auch das Dilemma gelöst werden, das uns<br />
seit langem quält, nämlich die Frage, wie sich die kontinuierliche Erweiterung<br />
und die Vertiefung der Integration miteinander vereinbaren lassen (das Verhältnis<br />
von Erweiterung und Konsolidierung).<br />
Mit der Errichtung des Commonwealth wird es möglich sein, die Europäische<br />
Integration zu vertiefen, ohne die Erweiterung zu behindern (da diese innerhalb<br />
des Commonwealth vorangetrieben wird). Damit können alle Probleme,<br />
die es gegenwärtig in Europa gibt (sowie andere, die künftig auftreten könnten),<br />
beizeiten entschärft und neue Dilemmata sowie neue Polarisierungen in<br />
der Union rechtzeitig vermieden und überwunden werden, bevor diese die<br />
Einheit Europas beeinträchtigen. Dies wird uns einen und zugleich stärken, und<br />
zwar ohne zusätzliche Kosten und sicherlich mit einem geringeren Risiko.<br />
Wenn unsere politische Führung bei Themen globaler Bedeutung eine wichtige<br />
Rolle spielen soll, dann muss das europäische Gebäude einen demokratischeren<br />
und folglich politischeren Charakter haben. Die Frage, wie die Demokratie<br />
mit der kontinuierlich wachsenden internationalen Verflechtung in Einklang<br />
gebracht werden kann, hängt von der Globalisierung ab. Die Nachkommen der<br />
Begründer der nationalen Philosophie müssen das supranationale Element verwirklichen.<br />
Darüber hinaus brauchen wir eine neue <strong>Vision</strong>, die die kommenden<br />
Generationen in Europa verstehen und die sich zu eigen machen können.<br />
Zudem muss das Verhältnis zwischen den Zielen der EU und ihrem Handeln<br />
sichtbar gemacht werden. Das Projekt der europäischen Integration zeigt<br />
Abnutzungs- und Ermüdungserscheinungen, und dies gilt auch für die Mehrheit<br />
derer, die damit befasst sind.<br />
255
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IOANNIS M. VARVITSIOTIS<br />
Wenn die Europäischen Institutionen sich nicht weiterentwickeln, dann werden<br />
sie in ihrem Wirken auf die Verwaltung bzw. bestenfalls auf die Regelung<br />
des Binnenmarktes beschränkt bleiben.<br />
Die Frage, wie die Demokratie mit der kontinuierlich wachsenden internationalen<br />
Verflechtung in Einklang gebracht werden kann, geht sicherlich über die<br />
Grenzen der EU hinaus und hängt mit dem gesamten Globalisierungsprozess<br />
zusammen. Die jüngsten Terrorakte haben das Stabilitätsgefühl, das sich nach dem<br />
Fall der Berliner Mauer einzustellen begann, erschüttert und das Fundament,<br />
die Menschenrechte, zum Wanken gebracht. Das humanistische Europa wird<br />
durch religiösen Fanatismus und Nationalismus untergraben, der Terrorismus<br />
bildet zudem einen fruchtbaren Nährboden für Unterentwicklung und Armut.<br />
Unsere Perspektiven besitzen die Größe unserer <strong>Vision</strong>en, eine veränderliche<br />
Größe, die unseren Leistungen auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem<br />
Gebiet entspricht. Wenn wir das, was Europa in den letzten Jahrzehnten – seit<br />
1970 – nach dem Niedergang des technologischen Humanismus durchlebt hat,<br />
überwinden und wenn wir etwas erreichen wollen, das über die unkoordinierten<br />
Leistungen unserer Zivilisation hinausgeht, dann müssen wir ein solch politisches<br />
Gefühl und eine solch politische Aktivität entwickeln, die es uns ermöglichen,<br />
große <strong>Vision</strong>en für die kommenden Jahrzehnte zu entwickeln. Diese<br />
<strong>Vision</strong>en können nur verwirklicht werden, wenn wir gutnachbarschaftliche<br />
Beziehungen pflegen und konstruktiv zusammenarbeiten.<br />
256<br />
Mai 2005
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257<br />
Bernhard VOGEL<br />
Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung<br />
Europäisches Erbe und Europäische Aufgabe –<br />
Europa 2020: Eine Werte- und Kulturgemeinschaft<br />
Herodot von Halikarnas, der griechische Geschichtsschreiber aus dem heutigen<br />
Bodrum in der Türkei, schrieb vor rund 2500 Jahren: „Von Europa weiß<br />
kein Mensch, weder ob es vom Meer umflossen ist, noch wonach es benannt<br />
ist, noch wer es war, der ihm den Namen Europa gegeben hat“. Bis heute gibt<br />
es die Schwierigkeit zu definieren, was Europa ausmacht. Europa ist eben nicht<br />
nur ein vager geographischer Begriff, sondern vor allem – wie der französische<br />
Philosoph Henri-Bernard Lévy gesagt hat – „eine Idee“.<br />
Politiker wie Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad<br />
Adenauer haben begonnen, der Idee Gestalt zu verleihen. Europa hat nicht<br />
allein, aber doch auch in der Europäischen Union eine neue Form gefunden.<br />
Die Sehnsucht nach Frieden, Stabilität und Wohlstand schuf die Bereitschaft<br />
zur Zusammenarbeit. Es war die Erfahrung mit zwei totalitären Regimen, die die<br />
Menschen zunächst in Westeuropa zueinander finden ließ. Es war aber auch das<br />
Bewusstsein um die gemeinsamen Ursprünge, das der europäischen Idee<br />
Substanz und Kraft verlieh.<br />
Gerade die Menschen in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas haben<br />
in der Zeit des Kommunismus mit Nachdruck darauf bestanden, nicht nur geographisch,<br />
sondern auch geistig-kulturell zu Europa zu gehören. „Wir sind wieder<br />
daheim!“, sagte der polnische Ministerpräsident am 1. Mai 2004, als sein Land<br />
der Europäischen Union beitrat. Das Zusammengehörigkeitsgefühl überdauerte<br />
die Jahrzehnte der europäischer Teilung, erwies sich als tragfähig genug,<br />
um die Einigung des Kontinents zu ermöglichen.<br />
Die Idee eines in Freiheit und Frieden vereinten Europa ist politische<br />
Wirklichkeit geworden. Aber ist das europäische Projekt als „einer wertefordernden<br />
und sinngebenden Anstrengung“, wie sie Raymond Aron – er wäre in<br />
diesem Jahr hundert Jahre alt geworden – gefordert hat, ans Ziel gekommen?<br />
Ohne verbindende Werte und geistige Grundlagen wäre die Union niemals<br />
zustande gekommen, ohne sie wird die Gemeinschaft nicht dauerhaft lebens-
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BERNHARD VOGEL<br />
fähig sein. Es bleibt dabei: Europa kann und darf nicht nur pragmatisch und<br />
kurzatmig organisiert werden. Europa braucht feste Fundamente, ein vertieftes<br />
Bewusstsein seiner kulturellen und wertmäßigen Dimension. Die Pflege und<br />
Wahrung unseres europäischen Erbes ist Teil des europäischen Auftrags. Die<br />
<strong>Vision</strong> Europa im Jahr 2020 ist auch die <strong>Vision</strong> einer Kultur- und<br />
Wertegemeinschaft. „Wertefordernde und sinngebende Anstrengungen“ hat es<br />
bereits gegeben, aber sie reichen nicht aus.<br />
Nach dem zweiten Weltkrieg waren die Grundwerte – Achtung der<br />
Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat und soziale<br />
Verantwortung – in der europäischen Gemeinschaft nie umstritten und bildeten<br />
die geistige Grundlage für das Zusammenwachsen der Völker. Dieses<br />
Wertefundament war für die Bürgerinnen und Bürger zwar erfahrbar, doch<br />
kaum sichtbar. „Europäische“ Grundrechte existierten nur als so genanntes<br />
„ungeschriebenes Richterrecht“ des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften.<br />
Mit dem Europäischen Verfassungsvertrag wird die europäische Grundrechtecharta<br />
Rechtsverbindlichkeit erhalten. Der Verfassungsvertrag enthält, obwohl<br />
der Gottesbezug fehlt, einiges von dem, was bisher an „Seele“ und „Geist“<br />
Europas vermisst worden ist. Gleich zu Beginn – in Artikel 2 – werden die<br />
Werte, auf denen die Union gründet, aufgezählt: „Menschenwürde, Freiheit,<br />
Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte.“<br />
Der Verfassungsentwurf macht deutlich, dass in der Union – ausgehend von der<br />
Unantastbarkeit der Menschenwürde – ein breites, gemeinsames Wertefundament<br />
vorhanden ist. Die Erwartung, man könne zu einem kurzen und für jedermann<br />
verständlichen und transparenten Text kommen, hat sich leider nicht erfüllt.<br />
Der Vertragsentwurf umfasst mehr als 400 Artikel.<br />
Es ist auch nicht gelungen, den Entwurf der Verfassung vor der EU-<br />
Osterweiterung zu verabschieden. Ob er in allen EU-Mitgliedstaaten Zustimmung<br />
findet, ist noch nicht gewiss. Hoffen wir, dass uns eine Ablehnung in einem oder<br />
gar mehreren Staaten erspart bleibt. Aber, selbst wenn es in absehbarer Zeit eine<br />
europäische Verfassung geben sollte, werden die Diskussionen um die europäische<br />
Identität nicht beendet sein.<br />
Die Frage nach den Inhalten, Entfaltungsmöglichkeiten und Zielvorstellungen<br />
der Gemeinschaft stellt sich dringlicher denn je. Sie entscheidet letztlich mit<br />
über die weitere Aufnahmefähigkeit der EU. Wie definieren wir die Union? Wo<br />
liegen ihre Grenzen? Wie bestimmen wir die langfristigen Beziehungen zu den<br />
Nachbarn der EU? Welche Rolle soll Europa in der Weltgemeinschaft spielen?<br />
Noch haben wir auf diese Fragen keine endgültigen Antworten, aber dass wir<br />
sehr bald zu einer grundsätzlichen Zukunftsvorstellung von Europa finden müssen,<br />
ist unausweichlich. Davon hängt viel ab – nicht zuletzt, ob Europa die<br />
Zustimmung seiner Bürgerinnen und Bürger gewinnt.<br />
Bislang ist die Identifikation der Bürger mit der Europäischen Union wenig<br />
ausgebildet. Jedenfalls ist sie zu schwach, als dass man von ihr einen substan-<br />
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EUROPÄISCHES ERBE UND EUROPÄISCHE AUFGABE<br />
tiellen Beitrag für eine stabile und dauerhafte Entwicklung erwarten könnte. Bei<br />
jeder Wahl zum Europäischen Parlament, auch bei der im Juni 2004, ist eine<br />
geringe Wahlbeteiligung zu beklagen. Nationale, nicht europäische Themen<br />
stehen im Mittelpunkt. Europa ist, so hat es den Anschein, eine Sache von<br />
Politikern, Bürokraten und Parteien; die Bürger bleiben auf Distanz. Die Union<br />
kann aber nicht nur von „oben“ gebildet werden, sie muss auch „von unten“<br />
wachsen.<br />
In den kommenden Jahren ist die Frage vordringlich, ob Unionsbürger den<br />
gegenwärtigen Integrationsprozess unterstützen? Bei den Deutschen stößt die<br />
Osterweiterung der EU nur auf begrenzte Zustimmung. Das ist eines der wichtigsten<br />
Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, die die Konrad-Adenauer-<br />
Stiftung Ende 2003 durchführen ließ: 59 Prozent halten den Erweiterungszeitpunkt<br />
für verfrüht, 85 Prozent befürchten, dass viele deutsche Unternehmen<br />
durch Billigkonkurrenz aus den Beitrittsländern in Schwierigkeiten kommen, 83<br />
Prozent sehen die Zuwanderung anwachsen, 74 Prozent machen sich in diesem<br />
Zusammenhang Sorgen um ihren Arbeitsplatz.<br />
Skepsis herrscht in allen alten Mitgliedstaaten, aber sie nimmt zu, je mehr<br />
man sich den Grenzen zu den neuen Mitgliedstaaten nähert. Die<br />
Solidaritätsbereitschaft stößt an Grenzen. Umfragen des Eurobarometers belegen:<br />
Die EU-15-Bürger bringen den Menschen in den Beitrittsländern nur „geringes<br />
Vertrauen“ entgegen. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Aufnahme ärmerer<br />
Länder negativ auf das transnationale Vertrauensvermögen innerhalb der EU<br />
auswirkt. Ohne Zweifel ist es daher eine ernsthafte Belastungsprobe für den<br />
Zusammenhalt in der EU, wenn der Anteil der Mitgliedstaaten, deren<br />
Sozialprodukt weit unter den Durchschnittswerten des Europäischen Union<br />
liegt, deutlich anwächst.<br />
Auch in den Beitrittsländern verliert die Europäische Union an Strahlkraft.<br />
Enthusiasmus ist mancherorts in Enttäuschung umgeschlagen. Die Letten und<br />
Esten zum Beispiel halten die EU-Mitgliedschaft nur noch zu etwa 30 Prozent<br />
für eine gute Sache. Der ökonomische Aufschwung gestaltet sich schwieriger<br />
und langwieriger als erhofft. Nicht für jeden hat sich die soziale Lage gegenüber<br />
1989 verbessert. Für viele ist sie sogar schlechter geworden. Manche Frustration<br />
hat sich eingestellt. Kein Bauer kann mehr sein Feld bestellen, kein Unternehmer<br />
kann mehr investieren und produzieren, ohne Vorgaben aus Brüssel beachten<br />
zu müssen.<br />
Weil sich die Völker Mittel- und Osteuropas gerade erst von der<br />
Unterdrückung der Sowjetunion befreit haben, ist es für sie eine sehr bedeutsame<br />
Frage, inwieweit nationale Souveränität und Kultur, die Würde und der<br />
Stolz der Nation gegenüber der Europäischen Union behauptet werden können.<br />
Längst werden Stimmen laut, die der Union die notwendige moralische Kraft<br />
und Orientierung absprechen.<br />
Ich will zu einer pessimistischen Grundstimmung nicht beitragen. Ohne<br />
Zweifel stehen den beträchtlichen Risiken der EU-Erweiterung gewaltige Chancen<br />
259
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BERNHARD VOGEL<br />
gegenüber. Aber die Vehemenz des Misstrauens und die Intensität der<br />
Befürchtungen, wie sie aus den Umfragen hervorgehen, dürfen niemanden in<br />
politischer Verantwortung gleichgültig lassen. Chancen und Risiken müssen<br />
gleichermaßen beachtet werden.<br />
Die Warnungen, dass die Europäische Union mit der Integration der zehn<br />
neuen, teils wirtschaftlich noch nicht entwickelten Mitgliedstaaten an den Rand<br />
ihrer Leistungsfähigkeit gekommen ist und dass es noch viel Mühe kosten wird,<br />
die Integration politisch, finanziell und wirtschaftlich zu verkraften, sind alles<br />
andere als aus der Luft gegriffen. Darüber hinaus besteht aber die Gefahr, dass<br />
sich die Konturen des Europa-Gedankens aufzulösen drohen und er seine integrierende<br />
Kraft verliert.<br />
Der Hinweis auf die Werte und demokratischen Grundprinzipien in der<br />
Europäischen Verfassung reicht nicht aus, um eine starke Bindungswirkung zu<br />
entfalten. Europa hat weitaus mehr zu überliefern als universale Menschenrechte,<br />
Demokratie und Freiheit; Europa hat auch eine nicht austauschbare eigene<br />
Geschichte, für die drei Traditionsstränge eine zentrale Bedeutung haben: die<br />
griechisch-römische Antike, die jüdisch-christliche und die aufklärerische<br />
Tradition.<br />
Exklusivität und Ausschließlichkeitsansprüche sind daraus freilich nicht<br />
abzuleiten. Auch die großen Kulturleistungen anderer Traditionen gehören<br />
unzweifelhaft mit zu Europa. Seit jeher ist Europa ein Kontinent des weltanschaulichen<br />
Pluralismus und der religiösen Vielfalt – er muss es auch bleiben. Das<br />
Spezifische und Verbindende einer europäischen Identität leitet sich aber vor<br />
allem daraus ab, dass es gelungen ist, die Traditionslinien Antike, Christentum<br />
und Aufklärung miteinander zu verbinden und sie in einer gegenseitigen kritischen<br />
Spannung zu halten. Wo man in Europa diese Traditionslinien zu durchtrennen<br />
versuchte, waren Diktatur und Menschenverachtung nicht weit. Wo<br />
man den Traditionen und ihrer Verbindung festhielt und sich an ihnen orientierte,<br />
hat Europa eine humane und freiheitliche Gesellschaft ausformen können.<br />
Verbindung und Spannung der zentralen Traditionsbestände heißt zum<br />
Beispiel, dass zu den Grundlagen der europäischen Identität neben der Bibel,<br />
neben dem Alten und Neuen Testament, seit der Aufklärung auch Gotthold<br />
Ephraim Lessings Ringparabel gehört, in der zu Menschlichkeit und Toleranz aufgefordert<br />
wird. Die Religionsfreiheit ist ein selbstverständlicher Bestandteil der<br />
europäischen Grundrechtecharta: Die Union achtet die Vielfalt der Religionen<br />
(Artikel 22) und verbietet Diskriminierung auf Grund der Religion (Artikel 21<br />
Abs. 1). Christ, Muslim, Jude oder Atheist können gleichermaßen und mit demselben<br />
Recht Europäer und Unionsbürger sein.<br />
Die Europäische Union ist keine Gemeinschaft ausschließlich von Christen,<br />
sie ist eine säkulare Wertegemeinschaft. Doch ist sie ohne Zweifel eine säkulare<br />
Wertegemeinschaft, in der das christliche Element eine bedeutende Rolle<br />
spielt. Dass bisher alle EU-Mitgliedstaaten in einer christlichen Traditionslinie<br />
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EUROPÄISCHES ERBE UND EUROPÄISCHE AUFGABE<br />
stehen, dass von den rund 720 Millionen Menschen in ganz Europa mehr als<br />
500 Millionen Christinnen und Christen sind, lässt sich aber nicht übersehen und<br />
kann nicht ohne Folgen bleiben.<br />
So falsch es ist, Christentum und Europa gleich zu setzen, so richtig ist es,<br />
dass der christliche Glaube zum Wurzelboden Europas gehört und eine entscheidende<br />
Klammer für die vielgestaltigen europäischen Kulturen in der Union ist.<br />
Konrad Adenauer und Charles de Gaulle verhalfen der deutsch-französischen<br />
Aussöhnung 1962 in der Kathedrale von Reims endgültig zum Durchbruch.<br />
Reims verweist auf die Anfänge Europas – für das politische Europa als<br />
Krönungsort der fränkischen Könige, aber auch für das christlich geprägte<br />
Europa, weil in Reims König Pippin der Jüngere mit Papst Stephan III. und<br />
später Karl der Grosse mit Papst Leo III. zusammentrafen.<br />
Seit dem 19. Jahrhundert stand der Universalismus der katholischen Kirche<br />
dem aufkommenden Nationalismus in Westeuropa entgegen. Die schlimmen<br />
Folgen des Nationalismus konnte er nicht verhindern, aber im 20. Jahrhundert<br />
fiel es christlich-demokratischen Politikern deshalb leichter, eine supranationale<br />
Integration der europäischen Nationalstaaten in den Köpfen der Menschen<br />
zu verankern und umzusetzen. In der Zeit der europäischen Teilung war es<br />
von außerordentlicher Bedeutung, dass die Kirchen eine Brücke über den<br />
Eisernen Vorhang hinweg bildeten. Dass wir Deutschen 2005 den 15. Jahrestag<br />
der Wiedervereinigung unseres Vaterlands feiern können, ist auch ein Verdienst<br />
der Kirchen. Denn erst der Schutz der Kirchen machte in vielen Fällen<br />
Widerstand gegen Unfreiheit und Unterdrückung möglich.<br />
Von den christlich-demokratischen Parteien Europas ging nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg die europäische Einigungsbewegung aus, sie haben den<br />
Europagedanken konzipiert und durchgesetzt. Das christlich-demokratische<br />
Werte- und Ideenspektrum hat auch die Ausgestaltung der europäischen Union<br />
maßgeblich beeinflusst. Dabei ist unbestritten: Das Neue Testament ist weder<br />
eine Staatslehre, noch enthält es eine Staatsphilosophie. Eine „christliche Politik“<br />
kann es nach meinem Verständnis daher nicht geben. Aber es gibt christliche<br />
Politiker, die ihr Handeln an ihren christlichen Überzeugungen ausrichten.<br />
Bestimmte Wertvorstellungen können wir nicht relativieren. Toleranz heißt nicht<br />
Standpunktlosigkeit.<br />
Das christlich-demokratische Gesellschaftsmodell beruht auf dem christlichen<br />
Menschenbild, auf der Idee der Unverfügbarkeit der Person. Diesen<br />
Grundsatz zu akzentuieren, ihn auch kontrovers zu vertreten, ist die Grundlage<br />
einer christlich-demokratischen Politik. Andere Wertesphären, die wir als unser<br />
Proprium pflegen und bewahren, kommen hinzu. Sie haben in den<br />
Gesellschaften der europäischen Union breiten Widerhall gefunden: unter anderem<br />
die Verbindung von Freiheit und Verantwortung, die sich in einer aktiven<br />
Zivilgesellschaft widerspiegelt; die Verankerung der repräsentativen Demokratie<br />
und die Abkehr von autoritären Staatsmodellen, die besondere Bedeutung von<br />
Ehe und Familie, die sich in einer bestimmten Form der Kindererziehung, aber<br />
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BERNHARD VOGEL<br />
auch in der gleichberechtigten Stellung der Geschlechter zueinander äußert;<br />
der Schutz von Minderheiten oder die Bereitschaft zur wechselseitigen religiösen<br />
Toleranz.<br />
Ohne Zweifel bestimmen diese Werte das kulturelle Selbstverständnis der<br />
Union mit. Wenn es um die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten geht, müssen wir<br />
darum auch fragen: Tragen eure Bürgerinnen und Bürger diese Werte mit? Oder<br />
besteht Aussicht, dass sie sie bald mittragen werden? Wir selbst müssen uns<br />
die Frage stellen: Wie steht es in der gegenwärtigen Union mit der Bereitschaft<br />
zur Identifikation? Ist der Verbund unter den EU-Staaten und Völkern fest genug,<br />
um mehr Integration verkraften zu können? Die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten<br />
ist gegenwärtig weniger eine Frage der Beitrittsfähigkeit als der Aufnahmefähigkeit.<br />
Das vierte Kopenhagener Kriterium verlangt „die Fähigkeit der Union, neue<br />
Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Union zu<br />
erhalten.“ Die Aufforderung, die Stoßkraft der Union zu erhalten, verweist<br />
darauf, dass Integration nicht allein als eine Frage der Quantität, sondern auch<br />
als eine Frage der Qualität zu beurteilen ist. Das heißt: Bevor man sich daran<br />
macht, die Integration neuer Mitglieder voranzutreiben, muss man zunächst<br />
den Zerfall von Integration vermeiden.<br />
Der 1. Mai 2004 liegt kaum ein Jahr zurück. Das Gebot der Stunde muss<br />
lauten, Europa wetterfest zu machen und die Union so zu bauen, dass sie<br />
Bestand hat und sich zu einer wirklich politischen, sozialen und Werteunion entwickeln<br />
kann. Die Vertiefung der EU muss im Vordergrund stehen. Das bedeutet:<br />
Annäherung des wirtschaftlichen und sozialen Niveaus, die Ratifizierung<br />
der EU-Verfassung und die Reform von Entscheidungsgremien und<br />
Zuständigkeiten. Vertiefung bedeutet aber auch, darauf hinzuwirken, dass die<br />
Union die Zustimmung ihrer Bürgerinnen und Bürger findet. Es gilt, das „Wir-<br />
Gefühl“ unter den Völkern zu stärken und dabei europäische Werte und<br />
„Wurzeln“ einzubringen.<br />
Es fehlt an gemeinsamer Identität und Orientierung. Václav Havel hat kürzlich<br />
von einer „Art Krise“ des „demokratischen Ethos“ gesprochen. Ohne Zweifel<br />
drohen antidemokratische Verdrossenheit und heilsversprechende Ideologien,<br />
wenn es nicht gelingt, für die Menschen Orientierungspunkte zu setzen. Als<br />
eine bessere Freihandelszone kann Europa dazu keinen Beitrag leisten. Aus<br />
seiner Analyse leitet Havel die Forderung ab: „Europa muss der Welt ein Beispiel<br />
geben!“ Für ihn ist der Erfolg der Europäischen Integration eng verbunden mit<br />
der „Erfüllung des europäischen Empfindens weltweiter Verantwortung.“<br />
In der Tat muss unsere Sorge sein, wie wir es schaffen, die Menschen nicht<br />
allein in Europa in ihrem Willen zu Demokratie, Freiheit, Frieden und<br />
Menschenrechten zu bestärken oder sie dafür zu gewinnen. Europa muss,<br />
gemeinsam mit den USA und anderen Partnern, noch mehr zu einer Kraft werden,<br />
die diese Entwicklungen fördert und in Gang bringt. Nichts wäre deshalb<br />
unklüger, als Europa zu einer Festung zu machen. Es geht ganz wesentlich<br />
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EUROPÄISCHES ERBE UND EUROPÄISCHE AUFGABE<br />
auch darum, weltweit Armut und soziale Ungerechtigkeit abzubauen. Als größter<br />
Binnenmarkt hat Europa nicht nur die Chance, sondern die Verpflichtung<br />
daran mitzuwirken, dass die globalisierte Welt eine humane und deswegen für<br />
alle sicherere Welt wird.<br />
Dazu muss sich die Europäische Union politisch besser formieren. Sonst<br />
bleiben ihr Einfluss und ihre Ausstrahlungskraft gering. Europa muss seine<br />
Interessen definieren, strategische Überlegungen dürfen nicht außen vor bleiben.<br />
Doch ebenso haben wir darauf zu achten, dass auch weltweit ein<br />
Ordnungsrahmen für die Wirtschaft geschaffen wird, der sich an ethischen<br />
Maßstäben orientiert und Wettbewerb mit Solidarität verbindet. Nur so können<br />
wir langfristig darauf hoffen, dass Demokratie, Freiheit, auch freier Handel,<br />
weltweit Wurzeln schlagen.<br />
Europa braucht ein gültiges, verbindendes Wertesystem, damit es nach innen<br />
gefestigt ist, aber auch damit es ein Ziel und eine Bestimmung hat und nach<br />
außen positive Impulse für Demokratie und Freiheit setzen kann. Der Auftrag,<br />
„wertefordernder und sinngebender Anstrengung“ ist nicht geringer geworden.<br />
Europa als ein Beispiel für die Welt. Was für eine <strong>Vision</strong> für das Jahr 2020!<br />
263<br />
Februar 2005
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265<br />
Jan ZAHRADIL<br />
Leiter der tschechischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />
im Europäischen Parlament<br />
Gegenwart und Zukunft der<br />
Europäischen Integration<br />
Der Beitritt der Tschechischen Republik zur EU, der am 1 Mai 2004 vollzogen<br />
wurde, war für uns aus wirtschaftlichen und politischen Gründen strategisches<br />
Ziel und entsprach auch der Meinung der übergroßen Mehrheit unserer<br />
Wähler. Als positives Ergebnis unseres Beitritts zur EU betrachten wir die Öffnung<br />
eines großen politischen und wirtschaftlichen Raums und die<br />
Implementierung desjenigen Teils des europäischen Rechts, der zu einer<br />
Verbesserung des Rechtssystems in der Tschechischen Republik beitrug. Die<br />
größte Errungenschaft der EU und Grundlage der europäischen Integration<br />
bleibt für uns nach wie vor der einheitliche Europäische Markt.<br />
Die EU muss man jedoch realistisch betrachten, und zwar als eine Art<br />
Mischung aus liberalisierenden und regulierenden Elementen, von zwischenstaatlichen<br />
und übernationalen Entscheidungen, von Zusammenarbeit und<br />
Interessenkollisionen. Der Europäische Integrationsprozess ist durch einige<br />
Relikte der Vergangenheit negativ belastet – es geht insbesondere um das bereits<br />
überwundene Modell des umverteilenden Sozialstaats und um die Politik der<br />
Schutzzölle (gemeinsame Landwirtschaftspolitik). Auch das Übermaß an<br />
Regulierungsmaßnahmen, die im Gemeinschaftsrecht enthalten sind, behindert<br />
das Wirtschaftswachstum der einzelnen europäischen Volkswirtschaften und<br />
verringert ihre Konkurrenzfähigkeit.<br />
Mit dem Beitritt zur Europäischen Union werden wir zum aktiven Mitgestalter<br />
der Europäischen Integration, und diese Chance müssen wir nutzen. Die<br />
Tschechische Republik gehört zu den mittelgroßen EU-Ländern, unter den<br />
neuen Mitgliedern zu den wirtschaftlich am stärksten entwickelten. Tschechien<br />
ist einerseits Bestandteil des schon immer unruhigen mitteleuropäischen Raums<br />
„zwischen Deutschland und Russland“, gleichzeitig aber auch Bestandteil einer<br />
der zwei traditionellen geopolitischen Nordsüdvertikalen, die in Europa immer<br />
einen Raum für Wirtschaftswachstum und somit für Wohlstand bildeten. In unserem<br />
Verhältnis zur Europäischen Integration und bei unserem Vorgehen innerhalb<br />
der EU müssen wir uns deshalb unsere negativen und positiven historischen
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JAN ZAHRADIL<br />
Erfahrungen vor Augen führen und eine Position einnehmen, die unserer geografischen<br />
und geopolitischen Stellung entspricht.<br />
Die heutige Europäische Union gründet sich auf eine Reihe von vertraglichen<br />
Beziehungen zwischen einer ständig steigenden Anzahl europäischer Staaten. Die<br />
Grundtendenz dieser Beziehungen war bisher das Bestreben nach einer ständigen<br />
„Vertiefung“ der Integration. Der Komplex europäischer Verträge der letzten zehn<br />
Jahre (Vertrag von Maastricht, Vertrag von Amsterdam, Vertrag von Nizza), auf<br />
dessen Grundlage sich die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften zur<br />
Europäischen Union vollzogen hat, hatte vor allem die schrittweise Schaffung<br />
einer politischen Union zum Ziel, die auf der politischen Weltbühne als geschlossene<br />
Staatengemeinschaft auftreten würde. Der Entwurf eines Vertrages über eine<br />
Verfassung für Europa ging noch weiter. In diesem Vertrag schlugen die Befürworter<br />
der Integration eine weitere „Föderalisierung“ und „Vergemeinschaftung“ im<br />
Rahmen der EU vor, d. h. die weitere Beschneidung des Vetorechts der einzelnen<br />
Mitglieder, die Änderung der Stimmgewichtung der einzelnen Mitgliedstaaten<br />
zugunsten der großen Staaten, die Erweiterung der Mehrheitsentscheidung in der<br />
EU und die weitere Verlagerung wesentlicher Rechtsbefugnisse auf die europäische<br />
Ebene. Die radikalsten Vertreter dieser Position zielen letztendlich auf die<br />
Schaffung einer gesamteuropäischen Föderation – also einer Währungs- und<br />
Finanzunion sowie einer außenpolitischen und Verteidigungsunion mit gesamteuropäischen<br />
legislativen und exekutiven Organen.<br />
Eine solche Entwicklung hätte allerdings eine erheblichen Aushöhlung oder<br />
sogar die Aufgabe der staatlichen Souveränität der einzelnen Mitgliedsländer der<br />
EU zur Folge. Davon wären selbstverständlich die großen und dichtbevölkerten<br />
Staaten weitaus weniger betroffen als die mittelgroßen oder kleinen Staaten, deren<br />
Einfluss auf den Entscheidungsprozess in der EU und damit auch im Hinblick auf<br />
ihre eigenen nationalen Interessen schwinden würde. Mit diesem System würde<br />
sich angesichts der komplizierten EU-Strukturen auch die Distanz zwischen der<br />
Politik und dem Bürger weiter vergrößern, das demokratische Defizit der EU verstärken,<br />
und die demokratische Kontrolle der Wähler über die gewählten politischen<br />
Repräsentanten würde schwieriger werden.<br />
Diese Vorstellungen von einer einseitigen, ständig fortschreitenden<br />
Vereinheitlichung werden jedoch immer mehr mit der heutigen Realität in der<br />
Welt und in Europa konfrontiert und stoßen an die Grenzen dessen, was hinsichtlich<br />
der Integration erreichbar ist. Jede Erweiterung der EU, die jüngste<br />
Aufnahme der zehn neuen Mitgliedstaaten eingeschlossen, erfolgte letztlich auf<br />
Kosten ihres inneren Zusammenhalts und ihrer Handlungsfähigkeit. Sie verringerte<br />
die Chancen der EU, einen Konsens zu erzielen und auf die aktuelle politische<br />
und wirtschaftliche Entwicklung in der Welt zu reagieren. Die EU verliert<br />
damit allmählich ihren „Mehrwert“ als eine Gemeinschaft, die insbesondere die kleinen<br />
und mittelgroßen Staaten (z. B. Tschechische Republik) bei der Durchsetzung<br />
ihrer nationalen Interessen auf internationaler Ebene unterstützen könnte. Die<br />
Erweiterung der EU führt zur Lockerung der inneren Bindungen und beeinträchtigt<br />
die Möglichkeiten, von der europäischen Ebene aus die Politik der<br />
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GEGENWART UND ZUKUNFT <strong>DE</strong>R EUROPÄISCHEN INTEGRATION<br />
Mitgliedsländer zu beeinflussen. Viele Mitgliedstaaten sind sich dessen sehr wohl<br />
bewusst und beginnen deshalb, die europäische Rhetorik nur als Deckmantel für<br />
ihre eigenen nationalen Interessen zu verwenden. Die Linie der Integration verfolgen<br />
sie nur dort, wo es für sie von Vorteil ist (z. B. Versuche der großen Länder,<br />
eine gemeinsame Außenpolitik zu schaffen). Sehen sie keine Vorteile, stellen sie<br />
sich hartnäckig dagegen (Widerstand derselben Länder gegen die Bemühungen<br />
um Finanzdisziplin, wie sie im so genannten Stabilitätspakt der EU festgeschrieben<br />
ist). Die Rolle der Nationalstaaten als Grundbausteine der Europäischen<br />
Integration wird sich daher nicht nur nicht verringern, sondern in Zukunft möglicherweise<br />
weiter wachsen. Eine realistische Außenpolitik sollte deshalb berücksichtigen,<br />
dass sich der Schwerpunkt der politischen Entscheidung schrittweise<br />
von der zentralen europäischen Ebene auf die Ebene bilateraler Beziehungen<br />
zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten verlagern wird, wo es zur Bildung<br />
von Interessenkoalitionen kommen wird. Für die Zukunft muss das bisherige einseitige<br />
Paradigma der Vereinheitlichung der Europäischen Integration grundsätzlich<br />
zu einem Modell der Integration „der verschiedenen Geschwindigkeiten“<br />
umgewandelt werden, in dem verschiedene Gruppen von Staaten mit unterschiedlichem<br />
Integrationsgrad entsprechend ihren eigenen Interessen und Prioritäten<br />
koexistieren. Die Institutionen und Entscheidungsverfahren der EU müssen weitestgehende<br />
Gleichberechtigung aller Mitgliedstaaten – ungeachtet ihrer Größe<br />
und Einwohnerzahl – gewährleisten.<br />
Eine Gemeinsame Europäische Außenpolitik muss auch weiterhin auf dem<br />
Prinzip der Freiwilligkeit und des Konsenses beruhen. Der Versuch, eine gemeinsame<br />
Position zu erzwingen oder willkürliche Abstimmungsmechanismen in diesem<br />
Bereich einzuführen, kann nicht hingenommen werden. Die gemeinsame<br />
europäische Außenpolitik darf nicht zu einem bloßen Instrument einiger europäischer<br />
Mächte werden, um ihre Position im System der internationalen<br />
Beziehungen zu stärken. Das entscheidende Organ zur Schaffung einer gemeinsamen<br />
Außenpolitik muss nach wie vor der Rat der Europäischen Union sein,<br />
der den Standpunkt der nationalen politischen Vertreter zum Ausdruck bringt.<br />
Die Positionen der europäischen Außenpolitik dürfen nicht zu einer Schwächung<br />
der transatlantischen Bindungen oder sogar zu einer Konkurrenz zwischen Europa<br />
und den USA führen. Das Hauptaugenmerk einer gemeinsamen europäischen<br />
Außenpolitik muss darauf gerichtet sein, die Standpunkte gegenüber ihrem nächsten<br />
Umfeld und den Nachbarn der EU (Nordafrika, Naher und Mittlerer Osten,<br />
Türkei, Osteuropa) zu koordinieren, die Entwicklung von Stabilität und Wohlstand<br />
in diesen Regionen zu fördern und damit auch zu Stabilität und Sicherheit der<br />
EU beizutragen. Die EU muss eine offene Struktur bleiben, die in ihrer künftigen<br />
flexiblen Gestalt in der Lage ist, verschiedene Formen der Partnerschaft anzubieten,<br />
einschließlich der Vollmitgliedschaft für diejenigen ihrer Nachbarn, die daran<br />
interessiert sind und für eine solche Partnerschaft oder Mitgliedschaft die erforderlichen<br />
Bedingungen erfüllen.<br />
Im Hinblick auf die Gewährleistung der inneren Sicherheit in Europa wurde<br />
nach dem Ende der bipolaren Welt der internationale Terrorismus (neben ande-<br />
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JAN ZAHRADIL<br />
ren Formen des organisierten Verbrechens) zur größten Bedrohung für unsere<br />
Zivilisation, jener Terrorismus, der gegen die modernen, liberalen und demokratischen<br />
Auffassungen der westlichen Gesellschaft gerichtet ist. Das verzweigte Netz<br />
des internationalen Terrorismus macht den Kampf gegen ihn außerordentlich<br />
schwierig. Bei einer direkten (bewaffneten) Auseinandersetzung können die bisherigen<br />
Methoden der Kriegsführung meist nicht angewandt werden. Auch bietet das<br />
Völkerrecht keine wirksame Handhabe gegen terroristische Aktivitäten. Die<br />
Terrorismusprävention (Kontrollen, neue Methoden der Identifizierung,<br />
Einschränkung der Freizügigkeit von Personen usw.) wiederum kann leicht in die<br />
Privatsphäre der persönlichen Freiheiten der Bürger eingreifen. Auch das muss bei<br />
der Schaffung gemeinsamer Instrumente der europäischen Politik bedacht werden.<br />
Der Europäische Integrationsprozess sollte die Veränderungen im System der<br />
internationalen Beziehungen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts besser als bisher<br />
widerspiegeln. Es geht insbesondere um die Folgen der so genannten<br />
Globalisierung. Diese Erscheinung ist nicht neu, und es gibt sie schon seit<br />
Jahrzehnten. In der letzten Zeit hat sie jedoch vor allem dank der dynamischen<br />
Entwicklung neuer Technologien und des beschleunigten Informationsaustauschs<br />
spürbar an Tempo gewonnen und ist damit deutlicher sichtbar geworden.<br />
Globalisierung bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass willkürlich große<br />
Integrationskomplexe geschaffen werden. Voraussetzung für den Erfolg in einer<br />
globalisierten Welt ist nicht Größe, sondern Geschwindigkeit, Mobilität,<br />
Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Internationale und multinationale<br />
Organisationen können zwar expandieren, doch büßen sie dadurch gleichzeitig<br />
an Handlungsfähigkeit ein. Sind sie in ihrer Handlungsfähigkeit geschwächt, können<br />
sie nicht mehr in dem Maße wie bisher zur Bewältigung neuer<br />
Herausforderungen beitragen. Nationalstaaten können als große Gruppierungen<br />
schneller und effektiver handeln, und es besteht auch ein stärkerer innerer<br />
Zusammenhalt. Damit muss sich auch die Europäische Union abfinden.<br />
Es wäre ein Fehler, die Europäische Union als eine für immer gegebene, unveränderliche<br />
und endgültige Form des Zusammenlebens der europäischen Völker<br />
und Staaten zu betrachten. Kein System internationaler Beziehungen (weder in<br />
Europa, noch sonst wo auf der Welt) ist dauerhaft stabil, sondern nur vorübergehend.<br />
Es gibt keine „Finalität“, nur ein zeitweiliges Gleichgewicht des Systems,<br />
das sich dynamisch verändert. In dieser sich verändernden Umwelt sind die internationalen<br />
und multinationalen politischen, Wirtschafts- und Sicherheitsorganisationen<br />
nie das Ziel einer Politik, sondern lediglich Mittel und Instrument zu deren<br />
Umsetzung. Einziger Maßstab für den Erfolg dieser Organisationen muss deshalb<br />
sein, dass sie für diejenigen, denen sie dienen sollen, von Nutzen sind und dazu<br />
beitragen, unsere grundlegenden gemeinsamen Interessen – Sicherheit, Stabilität<br />
und Wohlstand – durchzusetzen. Das gilt ebenso für die Europäische Union, und<br />
unter diesem Blickwinkel muss sie auch beurteilt werden.<br />
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Herausgabe im Februar 2006<br />
D/2006/2682/3<br />
Printed in Belgium<br />
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