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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 1<br />

Unsere <strong>Vision</strong> von Europa 2020<br />

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Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten)<br />

und europäischer Demokraten im Europäischen Parlament<br />

Unsere <strong>Vision</strong> von<br />

Europa 2020<br />

2006<br />

PUBLISHING – BRÜSSEL<br />

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Herausgeber EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament<br />

Vorsitzender Hans-Gert Pöttering<br />

Generalsekretär Niels Pedersen<br />

Verantwortlich Dienststelle Dokumentation - Veröffentlichungen - Forschung<br />

Pascal Fontaine<br />

stellvertretender Generalsekretär<br />

Koordinatoren Andrea Cepová-Fourtoy<br />

ˇ<br />

Emma Petroni<br />

Kooperation Eugenia Bellino<br />

Patricia Halligan<br />

Pascaline Raffegeau<br />

Adresse Europäisches Parlament<br />

60, rue Wiertz<br />

B-1047 Brüssel<br />

Belgien<br />

Telefon + 32 2 283 1293<br />

+ 32 2 284 2284<br />

Internet http://www.europarl.eu.int<br />

E-mail epp-ed@europarl.eu.int<br />

Photos © Europäisches Parlament<br />

© Mediathek der Europäischen Kommission<br />

Beiträge © EVP-ED-Fraktion, Brüssel, 2006<br />

All rights reserved<br />

Layout © Studio Delta<br />

Jean-Claude Grafé (Einband) – Myriam Lequenne<br />

Daniel Van Den Meerssche (Paginierung)<br />

Die Beiträge in diesem Buch spiegeln die Sicht der Autoren wider und nicht<br />

notwendigerweise jene der EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament.<br />

ISBN: 2-8029-0169-9<br />

Editions Delta SA<br />

416, avenue Louise – B-1050 Brüssel – editions.delta@skynet.be<br />

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Inhaltsverzeichnis<br />

Hans-Gert PÖTTERING 9<br />

EINFÜHRUNG: Unsere <strong>Vision</strong> von Europa 2020<br />

1. Roselyne BACHELOT-NARQUIN 17<br />

Dem europäischen Zukunftsgedanken treu bleiben<br />

2. Jan Peter BALKENEN<strong>DE</strong> 25<br />

Europa: Für eine sichere Zukunft müssen wir zurück<br />

zu den Anfängen<br />

3. José Manuel BARROSO 35<br />

Unsere <strong>Vision</strong> von Europa<br />

4. Jacques BARROT 41<br />

Auf dem Weg ins Jahr 2020: Wiederbelebung Europas<br />

5. Simon BUSUTTIL 51<br />

Europas Zukunft gestalten<br />

6. Panayiotis <strong>DE</strong>METRIOU 59<br />

Quo vadis Europa?<br />

7. Armando DIONISI 65<br />

Christentum, Europa und Abendland<br />

8. Valdis DOMBROVSKIS 71<br />

Lettland und Europa für die zukünftigen Generationen –<br />

Wie wird es aussehen?<br />

9. Avril DOYLE 81<br />

Gesundheit – Unsere <strong>Vision</strong> für Europa<br />

Steuerung durch Gesetze oder durch Gerichte?<br />

10. Camiel EURLINGS 91<br />

Den europäischen Traum aufrechterhalten<br />

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INHALTSVERZEICHNIS<br />

11. Jonathan EVANS 99<br />

Europa im Jahr 2020: Die Wirtschaftliche Revolution ist vollendet<br />

12. Benita FERRERO-WALDNER 107<br />

Europa als globaler Partner<br />

13. Ján FIGEL’ 115<br />

Europa – Raum der Hoffnung<br />

14. Vasco GRAÇA MOURA 121<br />

Die neue Dynamik Europas<br />

15. Mathieu GROSCH 127<br />

Die Europäische Integration vor dem Hintergrund<br />

der Globalisierung<br />

16. Gunnar HÖKMARK 133<br />

Europas Erfolge basieren auf dem Mut,<br />

über die Grenzen von heute hinaus zu sehen<br />

17. Piia-Noora KAUPPI 143<br />

<strong>Vision</strong> für Europa 2020<br />

18. Vytautas LANDSBERGIS 151<br />

<strong>Vision</strong>en und Handlungsmöglichkeiten<br />

19. Wilfried MARTENS 155<br />

Die Zukunft der Lissabon-Strategie:<br />

Europa auf den Wachstumspfad bringen<br />

20. Jaime MAYOR OREJA 161<br />

Europa: Eine Geschichte der Freiheit<br />

21. Henryk MUSZYŃSKI 167<br />

Europa im Jahr 2020<br />

22. Markus FERBER und Hartmut NASSAUER 175<br />

Europa als Wertegemeinschaft<br />

23. Ana PALACIO 181<br />

Unsere Sicherheit<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 7<br />

INHALTSVERZEICHNIS<br />

24. Alojz PETERLE 185<br />

<strong>Vision</strong> für ein Europa 2020<br />

25. Zuzana ROITHOVÁ 187<br />

Gemeinsames Erbe, gemeinsame Aufgaben, gemeinsamer Wille<br />

26. Ivo SANA<strong>DE</strong>R 193<br />

Kroatien und Europa im Jahre 2020<br />

27. Jacek Emil SARYUSZ-WOLSKI 201<br />

Europäische Nachbarschaftspolitik<br />

28. Gitte SEEBERG 211<br />

Gemeinsame Werte – Gemeinsame Zukunft<br />

29. Jean SPAUTZ 217<br />

Europatag, 9. Mai 2020<br />

30. Peter ŠŤASTNÝ 227<br />

Ein prosperierendes und sicheres Europa im Jahr 2020<br />

31. Ursula STENZEL 235<br />

Eine realistische Europavision<br />

32. József SZÁJER 241<br />

Eine Gemeinschaft der Gemeinschaften<br />

33. Antonio TAJANI 247<br />

Das Europa, das wir wollen<br />

34. Ioannis M. VARVITSIOTIS 251<br />

Die Epoche der globalen Verflechtung –<br />

Die Ökologie der Kulturen und die Rolle der EU<br />

35. Bernhard VOGEL 257<br />

Europäisches Erbe und europäische Aufgabe –<br />

Europa 2020: Eine Werte- und Kulturgemeinschaft<br />

36. Jan ZAHRADIL 265<br />

Gegenwart und Zukunft der europäischen Integration<br />

7


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Hans-Gert PÖTTERING<br />

Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Unsere <strong>Vision</strong> von Europa 2020<br />

„Where there is no vision, people perish.“<br />

I<br />

Als Jean Monnet 1 im September 1939 mit diesem Bibelzitat sein Memorandum<br />

an Winston Churchill und Franklin Roosevelt schloss, rief er eine alte Weisheit in<br />

Erinnerung: Völker, Nationen, Organisationen, ja selbst Familien – wir alle brauchen,<br />

um dem Leben einen Sinn zu geben, eine <strong>Vision</strong> von der Zukunft. Eine<br />

<strong>Vision</strong> ist nicht einfach ein Bild oder eine bloße Fortschreibung der Gegenwart; eine<br />

<strong>Vision</strong> beinhaltet einen Plan, eine Hoffnung. Ohne Plan und ohne Hoffnung fehlt<br />

uns die Energie, die notwendig ist, um das Leben zu genießen und etwas zu<br />

bewirken.<br />

1939 galt es, die Demokratien zu mobilisieren, um sich auf die gewaltigste<br />

Kriegsanstrengung vorzubereiten, die von Europäern und Amerikanern je unternommen<br />

wurde, um den Albtraum des Nazi-Totalitarismus und des Faschismus zu<br />

überwinden und um die Freiheit und die Menschenrechte wiederherzustellen.<br />

Auch Johannes Paul II. eröffnete den von der kommunistischen Diktatur jahrzehntelang<br />

unterdrückten Völkern Mittel- und Osteuropas eine <strong>Vision</strong> ihres Schicksals<br />

und ihrer Zukunft, als er sie in ihrer Hoffnung bestärkte. Der Glaube an den<br />

Menschen, getragen von der Liebe zur Freiheit und zur Spiritualität, ließ diese<br />

Völker den langen Winter überstehen, der ihnen von der Geschichte aufgezwungen<br />

wurde.<br />

Zur gleichen Zeit hat im Westen unseres Kontinents die gemeinsame <strong>Vision</strong><br />

von Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi 1950 das möglich<br />

werden lassen, was für die Opfer des Krieges unerreichbar schien: Vergebung,<br />

Versöhnung und Brüderlichkeit. Wie es Hannah Arendt in ihrem Buch Vita activa<br />

oder Vom tätigen Leben 2 meisterhaft formulierte, ist das Wunder der Vergebung<br />

als Ausweg aus der Unabänderlichkeit des Getanen eng mit der Fähigkeit verbunden,<br />

als Rettung vor der Unvorhersehbarkeit des Zukünftigen Versprechen abzugeben<br />

und sie zu halten. Die <strong>Vision</strong> von einer besseren Welt, das Versprechen<br />

eines Europas des Friedens und der Toleranz waren die ureigenste Triebkraft und<br />

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HANS-GERT PÖTTERING<br />

der Schlüssel zum Erfolg des Schuman-Plans vom 9. Mai 1950, der die Europäische<br />

Gemeinschaft für Kohle und Stahl ins Leben rief, aus der das politische und institutionelle<br />

System der Europäischen Union hervorgegangen ist.<br />

Jean Monnets <strong>Vision</strong> von 1939, die <strong>Vision</strong> der Gründungsväter der Union von<br />

1950 und die <strong>Vision</strong> von Johannes Paul II., die von den Führern der Solidarnorść<br />

1980, mit Lech Wałęsa an der Spitze, aufgegriffen wurde – sie alle sind Quellen,<br />

aus denen unsere Völker schöpften, um ihre Verzweiflung und Verstörung zu<br />

überwinden und Orte für das Glück zu erobern.<br />

II<br />

„Ohne <strong>Vision</strong> sind die Völker dem Untergang geweiht “. An dieses Zitat wurden<br />

wir auch im Frühjahr 2005 erinnert, als viele Europäer im Zusammenhang<br />

mit der Ratifizierung der Europäischen Verfassung Notsignale aussandten und<br />

Symptome 'kollektiver Ermüdung' zeigten. Steigende Arbeitslosigkeit, Existenzangst,<br />

aufkeimender Populismus, Angst vor Identitätsverlust, Überdruss an übertriebenen<br />

und wirklichkeitsfremden Rechtsvorschriften, die Globalisierung der Wirtschaft<br />

und ihre Folgen für Europa – diese Fragen bewegen heute die Europäer.<br />

Dabei ist in der Union der 25 Mitgliedstaaten mit ihrer immensen historischen<br />

und kulturellen Vielfalt, ihren so unterschiedlichen Traditionen und<br />

Wahrnehmungen die Zahl der Fragen noch weitaus größer. Sie stellen sich im<br />

Norden des Kontinents anders als im Süden, im Osten anders als im Westen. Das<br />

ethnische Gefüge der europäischen Bevölkerung ist so komplex, dass von einem<br />

europäischen Volk nicht die Rede sein kann, nicht einmal von einem öffentlichen<br />

europäischen Raum – trotz der neuen Kommunikationstechniken, die den Austausch<br />

erleichtern und in Realzeit eine Vielzahl von Informationen liefern.<br />

Einen Vorschlag, den die EVP-ED-Fraktion den Europäern am 7. Juni – einige<br />

Tage nach dem 'Nein' im Referendum über die Europäische Verfassung am 29.<br />

Mai in Frankreich und am 1. Juni in den Niederlanden – gemacht hatte, griff der<br />

Europäische Rat am 17. Juni 2005 auf und einigte sich auf eine „Zeit des<br />

Nachdenkens“. Damit wird dem europäischen Aufbauwerk eine demokratische<br />

Atempause gegönnt, die für Foren, Diskussionsveranstaltungen und einen intensiven<br />

Meinungsaustausch genutzt werden kann.<br />

Es ist an der Zeit, dass sich die Europäer besser kennen lernen, denn der historische<br />

Prozess, der vor fünfzehn Jahren – einer halben Generation – zur Niederlage<br />

des Kommunismus und zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums führte,<br />

kam jäh und einschneidend.<br />

Die Erweiterung der EU von 15 auf 25 Staaten innerhalb weniger Jahre ist<br />

zweifellos einer der großartigsten Erfolge, an denen die EVP-ED-Fraktion je maßgeblich<br />

mitgewirkt hat (was übrigens auch für die Einführung des Euro gilt). An<br />

der Verwirklichung des größten politischen und kulturellen Vorhabens dieser Zeit,<br />

nämlich der Einigung Europas in Frieden und Freiheit beteiligt zu sein, ist der<br />

Traum eines jeden Entscheidungsträgers auf unserem Kontinent. Wir waren zugleich<br />

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UNSERE VISION VON EUROPA 2020<br />

aktiv Beteiligte und Augenzeugen einer Bewegung, die schneller verlief, als wir es<br />

uns vorzustellen vermochten. Nur wenige hatten eine große und kühne <strong>Vision</strong>: Das<br />

gemeinsame Engagement von Bundeskanzler Helmut Kohl, von Staatspräsident<br />

François Mitterrand und von Kommissionspräsident Jacques Delors wird in die<br />

Annalen unserer Geschichte eingehen.<br />

Heute haben wir in diesem vereinigten Europa viel voneinander zu lernen.<br />

Die Erfahrungen, welche die Menschen im Osten des Kontinents in den unheilvollen<br />

Jahrzehnten des Kommunismus gemacht haben, unterscheiden sich von<br />

den Erfahrungen Westeuropas, das im Schutz des transatlantischen Schildes seit über<br />

50 Jahren von der Wachstums- und Konsumgesellschaft geprägt wurde. Ich bin<br />

davon überzeugt, dass das reiche geistige und kulturelle Potenzial, über das die<br />

Gesellschaften Mittel- und Osteuropas verfügen, für die Völker Westeuropas eine<br />

enorme Bereicherung darstellen wird.<br />

Kommunikation und verstärkter Gedankenaustausch werden der Schlüssel zu<br />

unserem Erfolg als Europäer auf dem Weg ins Jahr 2020 sein, etwa auf der Ebene<br />

der Kontakte zwischen jungen Menschen (Begegnungen auf Hochschulebene,<br />

Reisen, religiöse und ökumenische Veranstaltungen, Kunstfestivals), als Kontakte<br />

zwischen Städten und Regionen (in Form von Partnerschaften und gemeinsamen<br />

Projekten, auch im karitativen Bereich) oder auch als Kontakte zwischen den<br />

europäischen und den nationalen Institutionen, vor allem zwischen den<br />

Abgeordneten und den gewählten Kommunalvertretern.<br />

Wir müssen einander besser kennen lernen, um uns zu akzeptieren, uns mittels<br />

unserer Unterschiede gegenseitig zu bereichern und die Zukunft gemeinsam<br />

zu gestalten. Das erfordert natürlich Zeit und Geld. Sind wir heute alle davon<br />

überzeugt, dass Europa Frieden bedeutet? Dass jeder Tag, der in den Frieden<br />

investiert wird, die bestmögliche Investition überhaupt ist? Dass aber nationaler<br />

Egoismus, Misstrauen, Überlegenheitsgefühle und Diskriminierungstendenzen<br />

schleichend und unausweichlich zum Konflikt führen, dessen Preis – Leid und<br />

Zerstörung – immer unerträglich hoch ist?<br />

Mit dem Buch Unsere <strong>Vision</strong> von Europa 2020 möchten wir uns als erste<br />

Fraktion im Europäischen Parlament in die demokratische Diskussion einschalten,<br />

die auf das „Versprechen für die Zukunft“ setzt, um die Schwierigkeiten der<br />

Gegenwart und den nagenden Groll der Vergangenheit zu überwinden. Unsere<br />

Fraktion – die als einzige im Europäischen Parlament in allen 25 Mitgliedstaaten<br />

der Union vertreten ist – und die uns nahestehenden oder zu unserer politischen<br />

Familie zählenden politischen Persönlichkeiten haben für das Europa der kommenden<br />

15-20 Jahre nicht nur ein- und dieselbe <strong>Vision</strong>. Das breite Meinungsspektrum<br />

der Parteien, aus denen sich die EVP-ED-Fraktion zusammensetzt, ist gleichermaßen<br />

bekannt wie erwünscht. Wichtig ist aber, was das politische Handeln in den<br />

Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament angeht, dass sich alle über das<br />

Wesentliche einig sind, nämlich die unverrückbare Vorstellung, das alle Menschen<br />

unantastbar und von Geburt an frei sind und dieselben Rechte und Pflichten<br />

gegenüber der Schöpfung haben. Niemand von uns wird den geringsten Abstrich<br />

an diesem Glaubensbekenntnis machen, mit dem alle materiellen Unterschiede, alle<br />

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HANS-GERT PÖTTERING<br />

oberflächlichen und flüchtigen Rivalitäten, alle unterschiedlichen Ansätze überwunden<br />

werden können, um Wirtschaft und Gesellschaft bestmöglich zu gestalten.<br />

An den Menschen glauben, weil der Mensch Mysterium und Hoffnung zugleich<br />

ist; für das Gemeinwohl arbeiten und dabei die Werte bewahren, die in unserem<br />

jüdisch-christlichen Erbe zutiefst verwurzelt sind; sich unermüdlich für die<br />

Durchsetzung von Recht, Solidarität und zwischenmenschlicher Achtung einsetzen –<br />

das sind die Aufgaben, denen sich alle in diesem Buch vertretenen Mitglieder der<br />

EVP-ED-Familie verpflichtet fühlen.<br />

III<br />

Ein solches Erbe fordert unsere Verantwortung als politische Kraft. Bis zum<br />

Jahre 2020 werden die Europäer Stellung beziehen müssen hinsichtlich der<br />

Konsequenzen, die sich – in immer kürzeren Abständen – aus den Fortschritten<br />

der Grundlagenforschung in der Biologie und in der Gentechnik ergeben. Wir<br />

werden ethische Entscheidungen treffen und abwägen müssen zwischen der<br />

Notwendigkeit, der Medizin zur Linderung menschlichen Leidens alle Möglichkeiten<br />

zu eröffnen, und dem Gebot, die Grenzen abzustecken, innerhalb derer wir<br />

Christdemokraten und europäische Demokraten dem Begriff vom Menschen als<br />

Geschöpf Gottes höchste Bedeutung zumessen. Ein solches Abwägen kann nur<br />

demokratisch erfolgen, sollte aber auch durchdrungen sein von der Weisheit geistlicher<br />

Institutionen, mit denen sich die Menschen identifizieren. Die Charta der<br />

Grundrechte, die Teil II des Vertrags über eine Verfassung für Europa bildet, muss<br />

ergänzt werden, um unsere ethischen Werte auch in Anbetracht der Entwicklungen<br />

in der Biotechnologie in den kommenden 15 Jahren berücksichtigen zu können.<br />

Wissenschaft und Technik waren die Triebkräfte der Entwicklung der westlichen<br />

Gesellschaften und ihrer wirtschaftlichen und strategischen Stärke im 19.<br />

und 20. Jahrhundert. In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts werden sich<br />

die Errungenschaften der Forschung und der Informationstechnologie auch auf<br />

anderen Kontinenten ausbreiten, vor allem im bevölkerungsreichen und pulsierenden<br />

Asien. Europa kann sich dem Wettlauf um Produktivität, Kostensenkung und<br />

Mehrung des Wohlstands nicht entziehen.<br />

Unsere <strong>Vision</strong> von Europa im Jahr 2020 basiert auf einer zweifachen Forderung:<br />

— einerseits weltweit dahingehend Einfluss zu nehmen, dass die Naturschätze,<br />

die Umwelt und das ökologische Erbe der Erde – nach unserem Verständnis die<br />

Schöpfung Gottes – nicht durch rücksichtslose Ausbeutung vernichtet werden.<br />

Der steigende Verbrauch von Rohstoffen und Erdöl ist beunruhigend. Er kann<br />

Kriege zur Folge haben, die zunächst über Preise und später vielleicht mit Waffen<br />

ausgetragen werden. Auch die natürliche Knappheit der Ressource Wasser kann<br />

sich durch den Klimawandel sowie den rasanten Anstieg der Bevölkerung zunehmend<br />

verschärfen und wird die strategische Bedeutung des Wassers erhöhen, es<br />

zum Mittelpunkt neuer inner- und zwischenstaatlicher Konflikte werden lassen.<br />

Bei der Lösung dieser Probleme wird unsere Bereitschaft, Frieden zu stiften, in<br />

besonderer Weise herausgefordert werden.<br />

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UNSERE VISION VON EUROPA 2020<br />

Das Überleben der Menschheit wird morgen vielleicht gleichbedeutend sein mit<br />

unserem eigenen Überleben als sehr alte Völker dieses kleinen „Zipfels von<br />

Eurasien“, den Europa darstellt. Wenn Europa in den bestehenden internationalen<br />

Strukturen nicht mit einer Stimme spricht, wäre es dafür mitverantwortlich, falls die<br />

Welt langsam in die Anarchie abdriftet oder erneut Machtkämpfe aufflammen.<br />

Wenn nötig, muss Europa seine Macht dazu nutzen, auf internationaler Ebene das<br />

Entstehen von Regierungsformen zu stärken und zu fördern, die den künftigen<br />

Generationen eine optimale Bewirtschaftung der Ressourcen dieses Planeten<br />

sichern. Diese Forderung zieht die Schaffung einer europäischen politischen<br />

Autorität nach sich, die von den Menschen nachdrücklich legitimiert wird, in deren<br />

Namen handelt und sich auf die Übereinstimmung der Europäer in ihren gemeinsamen<br />

Werten stützt. Bis 2020 müssen wir das Amt eines Präsidenten der<br />

Europäischen Union eingeführt haben, eines Präsidenten, der, ausgestattet mit der<br />

Autorität und dem Mandat der Union, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten<br />

und dem Präsidenten Chinas auf gleicher Augenhöhe begegnet. Aufgrund unserer<br />

im Wesentlichen gleichen Werte bleibt dabei das Bündnis zwischen Europa<br />

und den USA im 21. Jahrhundert von großer Bedeutung.<br />

— andererseits in Forschung und Wissenschaft die personellen und finanziellen<br />

Ressourcen wesentlich zu steigern, die Europa bereitstellt, um im Rennen um<br />

die globale Wettbewerbsfähigkeit weiterhin mithalten zu können. Der „Lissabonner<br />

Prozess“, der im März 2000 vom Europäischen Rat eingeleitet wurde, hatte das<br />

Ziel gesetzt, die Europäische Union bis 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und<br />

dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem<br />

Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und<br />

besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“.<br />

Dieser durchaus berechtigte Ehrgeiz würde an Glaubwürdigkeit gewinnen und<br />

die Öffentlichkeit mobilisieren, könnte er sich in jedem Mitgliedstaat auf entsprechende<br />

nationale Maßnahmen stützen, an denen es aber die Regierungen oft noch<br />

mangeln lassen. Unsere Fraktion fordert deshalb, für eine optimale Nutzung der<br />

finanziellen Mittel der Union zu sorgen, damit Wissenschaft und Technik der<br />

Europäer Fortschritte machen und ihre Wirtschaft im globalen Wettbewerb an<br />

Dynamik gewinnt.<br />

2020 sollte die Europäische Union über ein Forschungs- und Entwicklungspotenzial<br />

im Bereich der neuen Technologien verfügen, das mindestens dem der<br />

Vereinigten Staaten von Amerika entspricht. Dafür muss aus dem EU-Haushalt ein<br />

stetig wachsender Anteil bereitgestellt werden, um eine „gegenseitige Befruchtung<br />

der grauen Zellen“ zu gewährleisten und eine Bündelung der Ressourcen zu<br />

ermöglichen.<br />

IV<br />

Unsere moderne Gesellschaft hat eine Phase erreicht, die vom „Prinzip der<br />

Unsicherheit“ geprägt ist. Die Entscheidungsmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt,<br />

die Rahmenbedingungen machen jede Planung ungewiss. Es wird für die<br />

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HANS-GERT PÖTTERING<br />

Politik immer schwieriger, alle Faktoren vorherzusehen, die die Politik eines<br />

Kontinents bestimmen, der mehr und mehr von der Globalisierung beeinflusst<br />

wird.<br />

Nach Auffassung des griechischen Philosophen Epiktet besteht Weisheit darin,<br />

unterscheiden zu können zwischen Dingen, die in unserer Macht stehen, und<br />

denen, die nicht in unserer Macht stehen:<br />

— Wir wollen unseren Einfluss als größte politische Kraft im Europäischen<br />

Parlament zum Nutzen einer Europäischen Union einsetzen, die das institutionelle<br />

System der Gemeinschaft bewahrt, welches mit den Gründungsverträgen geschaffen<br />

wurde. Das Gleichgewicht und der Dialog zwischen einem demokratischen<br />

Europäischen Parlament, einer starken Kommission, die ihre Aufgaben als Garant<br />

der gemeinsamen Interessen der Europäer wahrnimmt, und einem Rat, der die<br />

Staaten zur Festlegung und Anwendung des europäischen Rechts auf nationaler<br />

Ebene verpflichtet, sind unverzichtbar. Dies ist für uns nicht verhandelbar. Die<br />

Rückkehr zum Europa der Achsen und Koalitionen kann nur zu Konfrontation<br />

und in die Sackgasse führen. Wir werden die Achtung des Rechts stets über die<br />

Anwendung von Gewalt stellen, Mehrheitsentscheidungen über den Gebrauch<br />

des Vetos und die Gleichheit zwischen den Staaten über die Neigung zur<br />

Blockbildung. Unsere Union kann nicht überleben, wenn sie hinter die institutionellen<br />

Prinzipien der Gemeinschaft zurückfällt. Eine Rückbildung der Union zu einer<br />

einfachen Freihandelszone wäre die schleichende Rückkehr zu einem Europa des<br />

Populismus und schließlich des Nationalismus, was wir entschieden ablehnen.<br />

— Angesichts der Ungewissheit, aber auch der Chancen, die die Zukunft bietet,<br />

muss Europa bereit sein, zuzuhören und sich in Bescheidenheit zu üben, und<br />

zwar in zwei Richtungen:<br />

– Einerseits innerhalb der Binnengrenzen, die über den Grad der anzustrebenden<br />

Integration und Vergemeinschaftung entscheiden. Jede europäische Gesetzgebung<br />

muss im Hinblick auf Subsidiarität, Kosten-Nutzen-Verhältnis und Zusatznutzen<br />

für den Bürger sorgfältig begründet werden. Wir werden Schritt für Schritt dafür<br />

sorgen, dass der Binnenmarkt optimal funktioniert – zum Vorteil der Verbraucher,<br />

der Beschäftigung, des Wachstums und der nachhaltigen Entwicklung. Aber ist es<br />

überhaupt möglich und wünschenswert, für die kommenden 15 Jahre die endgültige<br />

Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen europäischer und nationaler<br />

Ebene streng festzulegen? Wäre nicht eher Pragmatismus angebracht, wenn man<br />

bedenkt, dass der Aufbau Europas von Anfang an vor allem ein realistischer Prozess<br />

der Anpassung unserer Länder an eine sich unablässig wandelnde Welt gewesen<br />

ist? Ich bin überzeugt, dass jeder Versuch, Europa anhand eines „Idealmodells“<br />

aufzubauen, dass jede systematische Planung, die ohne Rücksicht auf die sich verändernde<br />

Realität unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft durchgesetzt werden<br />

soll, zum Scheitern verurteilt wäre und von der Öffentlichkeit abgelehnt würde.<br />

Die Union des Jahres 2020 muss Qualität über Quantität stellen. Bürokratische<br />

Auswüchse müssen sowohl auf der Ebene unserer Staaten und unserer Regionen<br />

als auch in Brüssel bekämpft werden. Als Europäisches Parlament könnten wir<br />

das geltende Gemeinschaftsrecht mit seinen Verordnungen und Richtlinien inner-<br />

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UNSERE VISION VON EUROPA 2020<br />

halb kürzester Zeit gemeinsam mit Kommission und Rat auf seine Zweckmäßigkeit<br />

und Aktualität hin überprüfen.<br />

– Bei Aussagen über die Funktionsfähigkeit einer bis 2020 auf 28 oder mehr<br />

Mitglieder erweiterten Union stellt sich unwillkürlich die Frage der zukünftigen<br />

Außengrenzen bzw. der Erweiterungsfähigkeit der Union. Ohne Ausweitung<br />

der Mehrheitsentscheidungen im Rat und gleichberechtigter Mitentscheidung des<br />

Europäischen Parlaments besteht die Gefahr einer zunehmenden Lähmung der<br />

Organe der Union.<br />

Die genannte Zahl von 28 Staaten würde neben den gegenwärtig 25 Mitgliedern<br />

noch Bulgarien, Rumänien und Kroatien einschließen. Weitere Balkan-Staaten sollten<br />

schrittweise an die europäischen Strukturen herangeführt werden, mit dem<br />

langfristigen Ziel einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Andere (ost-)<br />

europäische Staaten, darunter beispielsweise die Ukraine, müssen zunächst selbst<br />

nach einer Antwort auf die Frage suchen, ob sie die Voraussetzungen für eine<br />

Annäherung an die Europäische Union – oder gar eine Mitgliedschaft – schaffen<br />

wollen. Mit Russland muss die Europäische Union stabile und geordnete<br />

Sonderbeziehungen anstreben. Mitglied der Europäischen Union kann Russland<br />

nicht werden; es würde mit seiner Größe die anderen Länder dominieren. Aber die<br />

Stabilität und Sicherheit des europäischen Kontinents im 21. Jahrhundert wird auf<br />

den beiden Säulen Europäische Union und Russland und den guten Beziehungen<br />

zwischen ihnen beruhen.<br />

Heute, da Europa an einem Scheideweg steht, stellt sich die Frage: Will man<br />

nicht nur eine wirtschaftliche oder sich aus sicherheitspolitischen Erwägungen<br />

erweiternde Union, sondern auch eine politische mit einer eigenen Europäischen<br />

Verfassung? Dann müssen künftigen Beitrittsentscheidungen auch solche Überlegungen<br />

zugrunde gelegt werden. Beispielsweise würde sich der Charakter der<br />

Europäischen Union durch einen Beitritt der Türkei nicht nur entscheidend ändern,<br />

sondern die Europäische Union würde in absehbarer Zeit dadurch auch in geographischer,<br />

politischer, kultureller und finanzieller Hinsicht überfordert. Die<br />

Grenzen der Gemeinschaft würden verlagert und Beitrittsforderungen anderer<br />

Staaten folgen. Vor allem würde der Beitritt der Türkei die Gemeinschaft "überdehnen",<br />

das heißt, die identitätsstiftende Kraft, das Gemeinsame, das die Europäer<br />

Verbindende könnte verloren gehen.<br />

Der Türkei und anderen – europäischen – Ländern könnte als Alternative zur<br />

Mitgliedschaft in der Europäischen Union eine „privilegierte Partnerschaft“ angeboten<br />

werden, um ihre demokratische Stabilität und ihre wirtschaftliche Entwicklung<br />

zu fördern. Das setzt seitens der Union voraus, dass sie tatsächlich in der Lage ist,<br />

finanzielle und technische Hilfe zu leisten, um die innere Sicherheit und die<br />

Modernisierung des gesamten Kontinents zu gewährleisten. Beispielsweise müssen<br />

wir in unser aller Interesse den Ausbau der kontinentalen Verkehrs- und<br />

Energienetze fördern und gemeinsam den Kampf gegen Terrorismus, Kriminalität<br />

und illegale Einwanderung führen.<br />

Die beiden zuletzt genannten Aspekte – Terrorismus und Immigration – erfordern<br />

von uns eine neue Perspektive für unsere Beziehungen mit dem Mittelmeer-<br />

15


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 16<br />

HANS-GERT PÖTTERING<br />

Raum, unserem wichtigen Nachbarn. Uns verbinden Geschichte, Handel und auch<br />

Migration. Der Barcelona-Prozess als umfassendes Konzept der Zusammenarbeit<br />

und der gleichberechtigten Teilhabe zwischen der Europäischen Union und den<br />

südlichen und östlichen Mittelmeer-Anrainern wird an Bedeutung gewinnen mit<br />

dem Ziel, Frieden, Stabilität und Wohlstand im Mittelmeer-Raum zu sichern – durch<br />

Verringerung der Armut, Schaffung eines Raums gemeinsamen Wohlstands und<br />

gemeinsamer Werte, stärkere wirtschaftliche Integration und verstärkte politische<br />

und kulturelle Beziehungen mit den an die erweiterte Europäische Union angrenzenden<br />

Nachbarregionen.<br />

Der politische Dialog Europa-Mittelmeer soll helfen, eine Antwort auf die Frage<br />

zu finden, wie wir den Terrorismus durch eine Politik der Verständigung der<br />

Kulturen im Keim ersticken können und durch eine konstruktive Zusammenarbeit<br />

dem Terror den Nährboden entziehen können. Dabei spielt der Dialog mit dem<br />

Islam eine entscheidende Rolle. Der Islam prägt die Menschen und die Kultur des<br />

Mittelmeer-Raumes. Wir müssen versuchen, durch eine Politik der Verständigung<br />

einen "clash of civilizations " zu verhindern, und zwar auf beiden Seiten des<br />

Mittelmeers: durch einen Beitrag zu mehr Wohlstand in ihrer Heimat müssen wir<br />

jungen Menschen eine Perspektive auf Arbeitsplätze und einen Anreiz geben, in<br />

Ihrer Heimat zu bleiben. Denen, die nach Europa gekommen sind und noch in einer<br />

geordneten Entwicklung kommen werden, müssen wir eine Integration bei uns<br />

ermöglichen.<br />

Am Ende dieser Einleitung zu einem Buch, das dazu beitragen soll, den europäischen<br />

Bürgern unsere politischen Ziele für Europa zu erläutern, steht mein<br />

Wunsch, damit auch einen Beitrag zur Wiederherstellung des unverzichtbaren<br />

Vertrauens zwischen der Öffentlichkeit, den Bürgern, den treibenden Kräften der<br />

Gesellschaft und der Jugend einerseits sowie den Organen der Union und den<br />

auf europäischer Ebene organisierten politischen Kräften wie der EVP-ED-Fraktion<br />

andererseits zu leisten. Nur mit Vertrauen und der Wiederaufnahme dieses Dialogs<br />

hat das historische Vorhaben der notwendigen Einigung unseres europäischen<br />

Kontinents Aussicht auf Erfolg.<br />

Es freut mich, dass alle von uns angesprochenen Persönlichkeiten einen Beitrag<br />

zu diesem Werk beigesteuert haben. Die Liste der Verantwortungsträger, die in<br />

diesem Buch zu Wort kommen, ihr Engagement und ihr Ideenreichtum erfüllen<br />

unsere politische Familie mit Stolz. Ihnen gilt mein Dank und den Lesern der<br />

Wunsch, dass diese Initiative unserer Parlamentsfraktion gut aufgenommen werden<br />

möge als Beweis unserer Absicht, die öffentliche Diskussion über Europa zu<br />

bereichern.<br />

1 Jean MONNET, Memoiren eines Europäers, München, 1980.<br />

November 2005<br />

2 Hannah ARENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, 1981.<br />

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Roselyne BACHELOT-NARQUIN<br />

Mitglied der französischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Dem europäischen Zukunftsgedanken treu bleiben<br />

Plenarsaal des Europäischen Parlaments, 9. Mai 2020<br />

Für die Einberufung der feierlichen Sitzung des Europäischen Konvents, auf<br />

der die Rechtsgültigkeit der Änderung des Grundgesetzes der Union – des<br />

Verfassungsvertrags für Europa – bestätigt werden sollte, hatte die Präsidentin<br />

der Europäischen Union im Jahr 2020 das symbolträchtige Datum des 9. Mai<br />

gewählt. Vom Präsidium aufgefordert, das Wort zu ergreifen, erläutert die<br />

Präsidentin im Namen der Staats- und Regierungschefs die Gründe für diese<br />

außerordentliche Sitzung: Es gehe darum, wie der neue, von der Union im<br />

Rahmen der Weltorganisation für Handel und nachhaltige Entwicklung (WOHNE)<br />

ausgehandelte internationale Vertrag berücksichtigt werden soll. Erstmalig tritt<br />

ein Europäischer Konvent auf Initiative einer internationalen Bewegung und<br />

nicht auf Ersuchen einer europäischen Staatengruppe oder einer europäischen<br />

Petition mit den Unterschriften von einer Million Bürgern zusammen.<br />

Danach spricht der Präsident der Europäischen Kommission zu den<br />

Konventsmitgliedern – europäischen und nationalen Abgeordneten. Als Hüterin<br />

der Verfassung und des allgemeinen gemeinschaftlichen Interesses befürwortet<br />

die Kommission diesen bedeutenden innovativen Akt in der Verfassungsgeschichte<br />

Europas. Der ehemalige konservative Ministerpräsident Norwegens, auf den das<br />

Referendum zum EU-Beitritt seines Landes zurückgeht, beginnt aus gegebenem<br />

Anlass seinen Beitrag mit einer Würdigung der „Gründerväter“, darunter Robert<br />

Schuman, dessen inzwischen an allen Schulen des Kontinents immer wieder<br />

zitierten Worte er in Erinnerung ruft: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden<br />

ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.<br />

Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation<br />

leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen [...]<br />

Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine<br />

einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 18<br />

ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN<br />

zunächst eine Solidarität der Tat schaffen“. Anschließend zeichnet der<br />

Kommissionspräsident ein kompromissloses Bild der schwerwiegenden diplomatischen<br />

Probleme in den Vereinten Nationen und in der WOHNE, denn die<br />

Verschlechterung der Umweltsituation, die Verschmutzung des Weltraums und<br />

die damit einhergehenden Schwierigkeiten beeinträchtigen den freien Verkehr<br />

von Personen, Waren und Dienstleistungen. Das Verdienst Europas in Partnerschaft<br />

mit Russland und der Türkei ist es, dass in einer gemeinsamen Erklärung der<br />

Wille zur Unterzeichnung dieses neuen Vertrags bekräftigt wurde, mit dem neue<br />

Umweltstandards eingeführt werden sollen. Europa möchte mit der Übernahme<br />

dieses internationalen Rechts in sein Verfassungsrecht beispielgebend sein, nachdem<br />

der heftige Konflikt, zu dem es in diesem Zusammenhang zwischen China<br />

und den USA gekommen war, ausgeräumt werden konnte. Die im Umfeld von<br />

Präsident Deng sehr einflussreichen chinesischen Neoimperialisten lehnen es ab,<br />

sich diesen Regelungen unterzuordnen, indem sie einerseits geltend machen,<br />

dass die Umweltverschmutzungen weitgehend vom Westen herrühren, und sich<br />

andererseits weigern, ein internationales Gesetz anzuerkennen, das dem derzeit<br />

für anderthalb Milliarden Einwohner der Bundesrepublik China geltenden Gesetz<br />

übergeordnet sein soll. Präsident George Prescott Bush, der Neffe des ehemaligen<br />

Präsidenten und erster Präsident spanischer Herkunft in der Geschichte der<br />

USA, der vom gesamten, im Mercosur vereinten Lateinamerika unterstützt wird,<br />

setzt sich aktiv für die Ratifizierung des Vertrags ein, muss jedoch mit der deutlichen<br />

Feindseligkeit des mehrheitlich republikanischen Kongresses fertig werden.<br />

Anschließend erhalten die einzelnen Fraktionsvorsitzenden des Konvents das<br />

Wort, wobei jeder seine Meinung zum Ausdruck bringt und die ihm gebotene<br />

Tribüne nutzt, um die Bilanz der Veränderungen zu ziehen, die sich in den 15 Jahre<br />

nach der bedeutsamen Krise im Jahr 2005 vollzogen haben.<br />

— Die griechische Vorsitzende der EVP-Fraktion (Europäische Volkspartei)<br />

würdigt besonders Russland und die Türkei für den gemeinsamen Standpunkt,<br />

den sie in Partnerschaft mit der EU zum Vertrag der WOHNE vertreten haben<br />

und der es dem eurasischen Kontinent erlaubt, den Kompromiss mit einer gewichtigeren<br />

Stimme zu vertreten. Die EVP-ED-Vorsitzende nimmt dies zum Anlass,<br />

um das umfassende Bündnis zwischen den drei Zivilisationen und die friedliche<br />

Regelung zu würdigen, die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Erdogan und seinem<br />

griechischen Amtskollegen Karamanlis anlässlich der bedeutsamen<br />

Begegnung am Bosporus im Jahr 2009 konzipiert worden war. Dieser Kompromiss,<br />

der ursprünglich aufgrund der unüberwindlichen technischen und politischen<br />

Probleme des EU-Beitritts der Türkei als Erfolg versprechende und konstruktive<br />

Alternative galt, der gleichwohl über eine einfache „privilegierte Partnerschaft“<br />

hinausging, mit der keine ausreichend soliden institutionellen Bindungen zustande<br />

kamen, ermöglichte es durch die Modernisierung der ehemaligen Institution<br />

des Europarates, den in seiner damaligen Form bestehenden europäischen<br />

Kontinent um das umfassende Bündnis der drei großen Zivilisationen des eurasischen<br />

Kontinents zu bereichern. Zu lange hatte die politische Klasse Europas<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 19<br />

<strong>DE</strong>M EUROPÄISCHEN ZUKUNFTSGEDANKEN TREU BLEIBEN<br />

versucht, die beiden Europa – das kontinentale, von Beziehungen auf<br />

Regierungsebene geprägte Europa des Europarates und die Europäische Union<br />

mit ihrer gemeinschaftlichen Ausrichtung – gegeneinander auszuspielen, ohne zu<br />

begreifen, dass sie sich in Wirklichkeit ergänzten und zwei Seiten eines gleichen<br />

Ziels, eines gleichen Projekts und einer gleichen Hoffnung waren, nämlich die<br />

Menschen zu einen. Die Verhandlungen des Jahres 2009 brachten neben der<br />

endgültigen Regelung der Zypernfrage auch die Antwort auf die Erwartungen<br />

Russlands, das nach dem Niedergang des Sowjetregimes auf der Suche nach seinem<br />

Platz war und ausgeglichene und konstruktive Beziehungen zu seinen<br />

Nachbarn in der Europäischen Union und nicht selten sogar zu seinen Partnern<br />

der GUS (Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten) anstrebte. Mit dem neuen<br />

Vertrag des Europarates, einer modernisierten Fassung des Vertrags von 1949,<br />

wurden übrigens die neuen Institutionen mit weiter reichenden Kompetenzen ausgestattet.<br />

Über die Bekämpfung des Terrorismus, die Verbreitung von<br />

Massenvernichtungswaffen und die Schwerkriminalität hinaus verfolgte das kontinentale<br />

Europa energie- und umweltpolitische Ziele, wobei diese Bereiche aufgrund<br />

der grenzüberschreitenden Wirkung von Umweltverschmutzungen miteinander<br />

verknüpft sind.<br />

In wesentlichen Punkten der Debatte kommen die Abgeordneten der EVP<br />

überein, für den Vorschlag zu stimmen, mit Ausnahme einer Minderheit, die sich<br />

gegen den Gedanken wehrt, nicht institutionelle, sondern materiell-rechtliche<br />

Vorschriften zur Verfassungsnorm zu erheben. Schließlich hatten die<br />

Europaabgeordneten nach langen Debatten im Pöttering-Saal ihrer Vorsitzenden<br />

das klare Mandat zur Unterstützung der EU-Präsidentschaft erteilt. Der überaus<br />

dynamische Vorsitzende der ebenfalls im Konvent vertretenen britischen konservativen<br />

Partei hatte versprochen, im Rat der Republikanischen Partei der USA<br />

mit allem Nachdruck aufzutreten, wo er demnächst als Abgeordneter sprechen<br />

solle, um zu versuchen, den Kongress zu beeinflussen.<br />

— Der britische Vorsitzende der PS<strong>DE</strong>-Fraktion (Partei der Europäischen<br />

Sozialdemokraten) würdigt nachdrücklich den ehemaligen Premierminister Tony<br />

Blair. Aufgrund des Vorrangs, der vor 15 Jahren unter seiner Führung der Energie,<br />

Forschungs- und Weltraumpolitik eingeräumt wurde, sah sich nämlich die EU in<br />

die günstige Lage versetzt, die Ziele der Minderung von Umweltverschmutzungen<br />

zu erfüllen. Unabhängigkeit im Energiebereich ist im 21. Jahrhundert gleichbedeutend<br />

mit der Unabhängigkeit im Agrarsektor im 20. Jahrhundert. Die europäische<br />

Politik hatte durch eine drastische Reduzierung der Verwendung fossiler<br />

Energiequellen, die Neubelebung der Atombranche auf der Grundlage der<br />

Forschungsarbeiten mit dem ITER-Reaktor, durch die Modernisierung des bestehenden<br />

Atomkraftwerksparks, den verstärkten Einsatz erneuerbarer und alternativer<br />

Energien wie Biokraftstoffe sowie die Steuerung des Verbrauchs durch eine<br />

wirksame Energieeffizienzpolitik Weitblick bewiesen. Die Europäische Union<br />

erwarb Verdienste als Weltraum-Großmacht, indem sie sich für die<br />

Vergemeinschaftung der entsprechenden nationalen Programme und die<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 20<br />

ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN<br />

Entwicklung aktiver Partnerschaften mit Russland und der Türkei entschied. Der<br />

Fraktionsvorsitzende beglückwünscht die europäischen Raumfahrer, die sich<br />

neben einem Russen und einem Türken auf eine Mars-Mission vorbereiten.<br />

Abschließend begrüßt er die Einheit des eurasischen Kontinents und den<br />

Kompromiss, der zwischen den 35 Staats- und Regierungschefs in der<br />

Europäischen Union erzielt wurde. Überdies bringt die PS<strong>DE</strong>-Fraktion die Überzeugung<br />

zum Ausdruck, dass die neuen Grenzen der Europäischen Union, die<br />

mit der letzten EU-Erweiterung um die bis dahin außerhalb der Union stehenden<br />

Republiken des ehemaligen Jugoslawiens im Jahr 2018 auf symbolträchtige Weise<br />

100 Jahre nach dem selbstmörderischen ersten Weltkrieg in Europa gezogen wurden,<br />

endgültig sind und von einem ausgewogenen Verhältnis zeugen.<br />

— Der Vorsitzende der Fraktion der Liberalen (EL<strong>DE</strong>) stellt die Menschenrechtsfrage<br />

an den Anfang seiner Ansprache. Menschenrechte sind überaus wichtig<br />

und die Suche nach einem Kompromiss mit China darf nicht als Alibi dienen,<br />

um die in diesem Land beobachteten häufigen Angriffe auf die entstehende<br />

Demokratie zu kaschieren. In diesem Zusammenhang wurde es durch die<br />

Regelung der institutionellen Frage möglich, den Einfluss der EU auf der internationalen<br />

Bühne zu verankern. Mit einem europäischen Sitz im UN-Sicherheitsrat<br />

ist die europäische Außenpolitik heute wirklich integriert, wobei die ehemaligen<br />

ständigen europäischen Mitglieder nach wie vor präsent sind. Der Vorsitzende<br />

der liberalen Fraktion verweist darauf, dass seine Fraktion häufig zu den<br />

Vordenkern gehört habe, wenn es darum ging, die Gründungsdokumente der<br />

Europäischen Union auf den neuesten Stand zu bringen. Heute werde durch die<br />

vorliegenden Dokumente die Rechtmäßigkeit Europas in zweifacher Hinsicht<br />

bestätigt – als Union der Nationen und als Bürgerunion. In diesem Zusammenhang<br />

habe die dringend erwartete Reform des institutionellen Dreiecks – Parlament, Rat<br />

und Kommission – die Sanierung dieser Institutionen ermöglicht.<br />

Das Europäische Parlament zählt 700 Europaabgeordnete, die nach einem<br />

einheitlichen Gesetz gewählt werden.<br />

Der Rat der EU und der Europarat haben sich vereinigt und bilden nunmehr<br />

einen Rat der Staaten unter einheitlichem Vorsitz, wobei die Abstimmung mit<br />

qualifizierter Mehrheit zur Regel geworden ist, während Verfassungsänderungen<br />

bei gemeinsamen Politikbereichen einer noch darüber hinausgehenden Mehrheit<br />

bedürfen.<br />

Die Europäische Kommission umfasst 12 Mitglieder, die von assoziierten delegierten<br />

Kommissionsmitgliedern unterstützt werden. Sie ist dem Europäischen<br />

Parlament gegenüber verantwortlich.<br />

Der Vorsitzende der Liberalen bringt den Wunsch zum Ausdruck, auf lange<br />

Sicht bei der Einbindung bestimmter Politikbereiche noch weiter gehen zu können,<br />

räumt jedoch ein, dass zweifellos eine Pause erforderlich ist, um Störungen<br />

in der Art zu vermeiden, wie sie Europa vor 15 Jahren derart aus dem<br />

Gleichgewicht gebracht haben.<br />

— Die Co-Sprecherin der Fraktion der Grünen verweist auf den überaus gro-<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 21<br />

<strong>DE</strong>M EUROPÄISCHEN ZUKUNFTSGEDANKEN TREU BLEIBEN<br />

ßen Rückstand, der in den vergangenen 20 Jahren trotz aller Appelle seitens der<br />

Grünen im Bereich der Bekämpfung des Treibhausgaseffekts und der<br />

Klimaänderungen zu verzeichnen ist. Ihr Angriff richtet sich direkt gegen die<br />

sozialdemokratischen und konservativen europäischen Regierungsparteien, die<br />

sie beschuldigt, die Probleme nicht richtig eingeschätzt und die Atomkraftwerksbranche<br />

wiederbelebt zu haben. Im Jahr 2019 kam es erneut zu Naturkatastrophen<br />

großen Ausmaßes mit Überschwemmungen, die Tausende Todesopfer forderten.<br />

Die italienische Abgeordnete verweist darauf, dass diese Umweltanomalien<br />

vor einem Hintergrund stattfinden, der durch Wassermangel und<br />

Wasserverschmutzung und die Verdrängung traditioneller landwirtschaftlicher<br />

Kulturen durch GVO-Pflanzen geprägt ist, die in der EU inzwischen auf mehreren<br />

Millionen Hektar angebaut werden, die Verbrauchergesundheit bedrohen<br />

und Gewinne generieren, die amerikanischen Investmentfonds zugute kommen,<br />

während die europäischen Rentner zusehen müssen, wie ihre Einkommen<br />

schrumpfen.<br />

— Der slowakische Vorsitzende der UEN-Fraktion (Union für das Europa der<br />

Nationen) kündigt an, dass seine Fraktion keine Abstimmungsanweisungen geben<br />

wird. Die Vertreter der nationalen Rechten, die hinsichtlich der Stichhaltigkeit<br />

der unterbreiteten Verfassungsänderungen geteilter Meinung sind, verfügen somit<br />

über eine unbeschränkte Abstimmungsfreiheit und können ihrem Gewissen entsprechend<br />

entscheiden. Dennoch identifiziert sich die Fraktion nicht mit der<br />

Einführung eines Rechts, das auf dem Gedanken der internationalen Gemeinschaft<br />

beruht und unmittelbar in das Recht der regionalen politischen Gemeinschaften<br />

überführt werden kann. Die UEN setzt sich für eine Solidarität ein, die die multipolare<br />

Welt reflektiert, so wie sie ist, und die auf der Zusammenarbeit und nicht<br />

auf der Integration der verschiedenen Pole beruht. Der Fraktionsvorsitzende<br />

spricht auch über seine Zweifel hinsichtlich des Inhalts der zur Verfassungsnorm<br />

erhobenen Regeln, u.a. beim Vorsorgegrundsatz, und deren Auswirkungen auf die<br />

Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Schließlich bringt der aus<br />

Bratislava stammende Fraktionsvorsitzende seine ganz persönliche Meinung verbunden<br />

mit dem Wunsch zum Ausdruck, Europa möge wieder an die <strong>Vision</strong><br />

einer Diplomatie anknüpfen, wie sie von Václav Havel erstmals in seiner historischen<br />

Rede vor der französischen Nationalversammlung im Jahr 1999 konzipiert<br />

worden war . Im Sinne dieses großen Dramatikers und ehemaligen<br />

Präsidenten der Tschechoslowakischen und später der Tschechischen Republik<br />

kann die „Vorstellung einer Verantwortung für die Welt“, die er den Europäern<br />

wünscht, sich nicht zu einer Form eines europäischen Imperialismus entwickeln.<br />

Diese Vorstellung beinhaltet sogar das ganze Gegenteil, denn ihr geht es darum,<br />

ein Beispiel zu geben, in aller Demut den Weg zu weisen, „das Kreuz der Welt<br />

auf seine Schulter zu laden“. Abschließend fordert der Europaabgeordnete den<br />

alten Kontinent auf, vor allem gründlich über sein Gesellschaftsmodell nachzudenken,<br />

damit es als Beispiel dienen kann, anstatt zu versuchen, neue weltweit<br />

geltende rechtliche und materielle Zwänge mit höchst ungewissen Auswirkungen<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 22<br />

ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN<br />

festzulegen. Die Europäer dürfen vor den wirklichen Gründen von Auseinandersetzungen<br />

auf internationaler Ebene nicht davonlaufen, deren Quelle unsere kollektiven<br />

Irrtümer und ein schrankenloser Individualismus sind. Daher schließt<br />

der Fraktionsvorsitzende seine Ansprache mit der Verlesung eines Auszugs aus<br />

der Rede von Václav Havel vor dem Europäischen Parlament am 16. Februar<br />

2000, dessen Empfehlungen von damals immer noch weitgehend aktuell sind: „An<br />

dieser Zeitenwende ist es meines Erachtens Aufgabe Europas, mutig über die<br />

Ambivalenz seiner Rolle in der Welt nachzudenken, zu verstehen, dass wir die<br />

Welt nicht nur die Menschenrecht gelehrt, sondern ihr auch den Holocaust<br />

gebracht haben, dass wir sie nicht nur geistig in die industrielle Revolution und<br />

die Informationsgesellschaft geführt, sondern auch dazu getrieben haben, im<br />

Namen der Anhäufung materieller Reichtümer die Natur zu misshandeln, Raubbau<br />

an ihren Ressourcen zu betreiben und die Luft zu verschmutzen... Bescheidenheit,<br />

Entgegenkommen, Freundlichkeit, die Achtung vor dem, was wir nicht verstehen,<br />

das tiefe Gefühl der Solidarität mit den Anderen, die Achtung alles Andersartigen,<br />

die Bereitschaft, Opfer zu erbringen oder gute Taten zu vollbringen, die erst in<br />

der Ewigkeit belohnt werden, in der uns allezeit ganz leise im Unterbewusstsein<br />

begleitenden Ewigkeit: dies alles sind Werte, auf denen das europäischen<br />

Einigungswerk beruhen könnte und sollte.“<br />

— Im Namen der GUE (Vereinigte Europäische Linke) greift die französische<br />

Fraktionsvorsitzende die EVP-Führung an, gegen die der Vorwurf der Hörigkeit<br />

gegenüber dem Großkapital besteht, und verweist auf die Marx’sche Prophezeiung<br />

der Selbstzerstörung. Ihr Beitrag wird von heftigen Pfiffen begleitet. Sie schließt<br />

vorzeitig ab, denn sie wird ihrerseits von den Mitgliedern des Flügels der<br />

Globalisierungsgegner ihrer eigenen Fraktion angegriffen, die sie überkommenen<br />

Denkens und der Unfähigkeit bezichtigen, die verschiedenen Strömungen der<br />

GUE zusammen zu bringen. Die französische Abgeordnete wiederum kontert<br />

mit Anschuldigungen eines unverantwortlichen Revisionismus. Als das allgemeine<br />

Durcheinander seinen Höhepunkt erreicht, flüchtet sich die Fraktion in die<br />

Stimmenthaltung, bezüglich derer man berechtigte Zweifel haben kann, ob sie den<br />

Sieg des Kapitalismus ins Wanken zu bringen vermag.<br />

— Der Redner der Fraktion Unabhängigkeit und Demokratie widersetzt sich<br />

leidenschaftlich der Abänderung der Europäischen Verfassung. Der isländische<br />

Europaabgeordnete sieht in diesem Verweis auf die WOHNE eine Unterordnung<br />

des europäischen Rechts unter das internationale Recht, das auf keinem politischen<br />

Zugehörigkeitsgefühl, wie es zu einer Nation oder – in geringerem Maße – zur<br />

Europäischen Union bestehen könnte, basiere. Mit dem Ergebnis der als undurchsichtig<br />

und technokratisch qualifizierten Verhandlungen würden sich die Bürger<br />

einer Gefahr aussetzen, wenn sie ein anderes als das europäische und das nationale<br />

Recht anerkennen.<br />

— Für die Fraktionslosen spricht ein unabhängiger bosnischer Abgeordneter.<br />

Die Abgeordneten dieser Nationalität, die als Letzte zur EU hinzugekommen sind<br />

und sich daher besonders beeindruckt und besonders aufmerksam zeigen, wer-<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 23<br />

<strong>DE</strong>M EUROPÄISCHEN ZUKUNFTSGEDANKEN TREU BLEIBEN<br />

den stets mit grenzenlosem Respekt angehört. Der an die Spitze einer Liste von<br />

Philosophen und Verantwortlichen von Vereinigungen für die Versöhnung gewählte<br />

Abgeordnete hat Verständnis für das Anliegen seiner Kolleginnen und Kollegen,<br />

sich an eine nicht weit zurückliegende Zeit zu erinnern, da die Union unter der<br />

Last gescheiterter Referenden und der anschließenden erheblichen politischen<br />

Meinungsverschiedenheiten zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Krieges auf dem<br />

Gebiet der heutigen Bundesrepublik Mesopotamien ins Wanken geriet. Der<br />

Parlamentarier hat Verständnis dafür, ist aber unentschlossen. Angehöriger eines<br />

gepeinigten Volkes, das zusätzlich darunter litt, dass es keine eigene Identität<br />

besaß, ruft er unter dem Beifall der anderen Fraktionen dazu auf, den Blick auf<br />

die Zukunft und die neuen Herausforderungen zu richten, anstatt ständig dem<br />

Reflex der Heraufbeschwörung der Vergangenheit zu erliegen, als noch alles<br />

Trennende zwischen den Europäern bestand. Der Abgeordnete, der muslimischen<br />

Glaubens ist, findet weder in unserer Geschichte, noch in der Geschichte<br />

Bosniens die Aufforderung zur Einheit vor. Nur die Zukunft und gemeinsame<br />

Projekte könnten den europäischen Kontinent zusammenschweißen. Dann stellt<br />

der europäische Abgeordnete die Frage, ob man sich immer noch auf die<br />

Gründerväter berufen und mehr noch, ihren Empfehlungen folgen solle. Er gibt<br />

auch gleich die Antwort, wobei er von Otto von Habsburg unterstützt wird, der<br />

in den Mémoires d'Europe schrieb „Wer nicht weiß, woher er kommt, kann auch<br />

nicht wissen, wohin er geht, weil er nicht weiß, wo er steht!“, und einige Zeilen<br />

später weiter sinngemäß differenzierte „die Geschichte darf als Ratgeber dienen,<br />

aber niemals Tyrann sein“.<br />

Fünfzehn Jahre zuvor, im Jahr 2005, erlebte die Europäische Union eine<br />

schwere politische Krise, die zu einer allmählichen Schwächung der Europäischen<br />

Kommission und einer Lähmung ihrer Funktionsfähigkeit führte. Diese Krise<br />

zeigte sich noch deutlicher nach dem Scheitern des französischen Referendums<br />

über die Europäische Verfassung am 29. Mai. Es gab zahlreiche Politiker, die<br />

nicht ohne Grund die Auflösung der europäischen Zukunftsvision zugunsten<br />

einer einfachen Freihandelszone ohne wirkliche politische Ziele befürchteten.<br />

Damit wäre nicht nur der Plan der Gründerväter zunichte gemacht worden, sondern<br />

viel sicherer noch die Fähigkeit der europäischen Völker, ihre Interessen und<br />

Werte sowie ihre Lebensweise in der Welt des Jahres 2020 zu vertreten. Aber die<br />

schlimmsten Befürchtungen müssen nicht unbedingt wahr werden und das politische<br />

Leben ist kein ruhig dahin fließender Fluss. Der Gang der Geschichte<br />

bringt viele Herausforderungen mit sich und bietet den Verantwortungsträgern<br />

Europas zahllose Gelegenheiten, wieder an die gemeinschaftlichen Ziele anzuknüpfen,<br />

sodass die Zweifel und Bedenken des Jahres 2005 seinerzeit genutzt werden<br />

konnten, um neu Atem zu holen und den Beweis anzutreten, dass Europa<br />

im Herzen der Bürger verwurzelt ist. Was können die Abgeordneten der EVP-ED-<br />

Fraktion und ihre führenden Persönlichkeiten tun, um dem europäischen<br />

Zukunftsgedanken treu zu bleiben?<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 24<br />

ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN<br />

Stefan Zweig, derjenige unter unseren Schriftstellern des 20. Jahrhunderts,<br />

der dem europäischen Gedanken am meisten verbunden war, gibt uns in seiner<br />

Biografie des Erasmus die Antwort: „Immer werden jene vonnöten sein, die auf<br />

das Bindende zwischen den Völkern jenseits des Trennenden hindeuten und im<br />

Herzen der Menschheit den Gedanken eines kommenden Zeitalters höherer<br />

Humanität gläubig erneuern“.<br />

September 2005<br />

1 „Pour une politique post-moderne“ (Für eine postmoderne Politik), Reden 1992-1999,<br />

Übersetzung aus dem Tschechischen von Jan Rubes. Verlag L'Aube, „Monde en cours.<br />

Intervention“.<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 25<br />

Jan Peter BALKENEN<strong>DE</strong><br />

Ministerpräsident der Niederlande<br />

Europa: Für eine sichere Zukunft<br />

müssen wir zurück zu den Anfängen<br />

Einleitung: globale Herausforderung<br />

Ende vergangenen Jahres veröffentlichte das Goldman Sachs Global Research<br />

Centre eine Studie mit dem schönen Titel The Path to 2050. Forscher sagen in dieser<br />

Studie voraus, wie sich die Weltwirtschaft in den kommenden Jahrzehnten entwickeln<br />

wird. Diese Prognose fällt spektakulär aus. Innerhalb der Weltwirtschaft<br />

wird eine drastische Schwerpunktverlagerung stattfinden. Von den derzeitigen<br />

sechs wirtschaftlichen Großmächten – USA, Japan, Deutschland, Frankreich,<br />

Großbritannien und Italien – werden in einigen Jahrzehnten nur noch zwei zu<br />

den ersten sechs gehören, und zwar die USA und Japan. Die europäischen Länder<br />

werden ihren Rang an China, Indien, Brasilien und Russland abtreten müssen. In<br />

zwölf Jahren wird China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt besitzen und<br />

bis voraussichtlich 2040 die USA als größte Wirtschaftsmacht eingeholt haben.<br />

Nun sind Prognosen natürlich stets mit vielen Unwägbarkeiten behaftet. Die<br />

Wirklichkeit sieht letzten Endes häufig anders aus. Die Forscher von Goldman<br />

Sachs sind die Ersten, die dies einräumen. Sie weisen ausdrücklich auf die<br />

Unsicherheiten in ihren Modellen hin. Beispielsweise setzen sie voraus, dass die<br />

aufstrebenden Volkswirtschaften ihre Wachstumspolitik unvermindert fortsetzen<br />

werden.<br />

Wenn wir etwa China und Indien betrachten, wird diese Voraussetzung vorerst<br />

mehr als erfüllt. 2050 scheint heute noch in weiter Ferne zu liegen. Der<br />

Schein trügt jedoch.<br />

2050 ist das Jahr, in dem sich unsere Kinder auf ihre Rente vorbereiten und<br />

unsere Enkelkinder Familien gründen. Ist dieser Zeitpunkt noch weit entfernt?<br />

Meiner Ansicht nach nicht.<br />

Uns stehen gravierende Veränderungen bevor; in der Wirtschaftskraft der<br />

Länder und der Regionen, in den Handels- und Investitionsströmen, im<br />

Kapitalverkehr, in der Verbreitung von Wissen und Wohlstand in der Welt. Dabei<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 26<br />

JAN PETER BALKENEN<strong>DE</strong><br />

spreche ich hier nur von den wirtschaftlichen Veränderungen. Unsere gesamte<br />

politische und kulturelle Orientierung könnte einen Wandel erfahren. Daher geht<br />

es um viel mehr als nur um ein Fließband, das von Rotterdam nach Shanghai verlagert<br />

wird. Oder eine IT-Abteilung, die von Amsterdam nach Neu Delhi umzieht.<br />

Dass die Welt sich ändert, wissen wir genau, wir wissen nur nicht genau, wie.<br />

Wie stark wird Europa in einigen Jahrzehnten sein? Dabei geht es nicht in erster<br />

Linie um unsere wirtschaftliche Machtposition. Es geht darum, ob die Menschen<br />

in Europa sich künftig ein gutes Leben aufbauen können und ob es ein soziales<br />

Netz für diejenigen geben wird, die darauf angewiesen sind. Wohlgemerkt: Dies<br />

ist alles andere als selbstverständlich.<br />

Wird Europa in einigen Jahrzehnten stark und flexibel genug sein, um sich<br />

auf Veränderungen einzustellen? Um neue Chancen beim Schopf zu ergreifen<br />

und Bedrohungen abzuwehren? Welche Rolle wird die Europäische Union dabei<br />

spielen?<br />

Das Wesen der Union liegt darin, dass sie sich grenzüberschreitenden<br />

Problemen stellt. Hier stehen wir nun vor einem „grenzüberschreitenden Problem“<br />

par excellence bzw., positiver formuliert, einer „grenzüberschreitenden<br />

Herausforderung“. Nach meiner Überzeugung können die Länder Europas nur<br />

gemeinsam eine hinreichende sozialökonomische Dynamik und Spannkraft hervorbringen,<br />

um in der sich rasch verändernden Welt weiterhin den eigenen<br />

Wohlstand und Solidarität garantieren zu können. Das geht sicherlich nicht von<br />

allein. Daran wird hart gearbeitet werden müssen. Unser Wohlstand, unsere<br />

sozialen Einrichtungen für diejenigen, die diese wirklich benötigen, unsere<br />

Wehrhaftigkeit in einer im raschen Wandel befindlichen Welt – all dies sind Dinge,<br />

die wir nur sicherstellen können, wenn wir europäische Lösungen für unsere<br />

Probleme finden. Und wenn wir der EU wirklich die Chance geben, als<br />

Wirtschaftsgemeinschaft aufzutreten – nach innen und nach außen.<br />

Dazu müssen „Institutionen und Politik an die strukturellen Veränderungen<br />

angepasst werden“. Die Einstellung „nach dem Konjunkturtief wird schon alles<br />

von allein besser“ hilft daher nicht weiter. Es wird Zeit, dass Europa sich aus<br />

dem Sessel der Bequemlichkeit erhebt.<br />

Lissabon-Strategie muss ihre Unverbindlichkeit verlieren<br />

Nun mangelt es bestimmt nicht an Plänen und Strategien. Wir alle sind mit der<br />

Lissabon-Strategie vertraut. Woran es vorerst noch mangelt, ist der Wille, die festgelegten<br />

Strategien auch tatsächlich umzusetzen.<br />

Damit spielt Europa ein gefährliches Spiel. Die Union setzt auf diese Weise ihre<br />

eigene Lebensfunktion – ihre spezifische Wertschöpfung – aufs Spiel. Gerade<br />

bei den Dingen, die nur im europäischen Rahmen eine Chance auf Gelingen<br />

haben, müssen wir den Mut haben, unser Wollen in die Tat umzusetzen, wie<br />

schwierig die dafür erforderlichen Maßnahmen auch sein mögen. Dabei denke<br />

ich nicht nur an die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, sondern auch an die<br />

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EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU <strong>DE</strong>N ANFÄNGEN<br />

Reform der Sozialversicherungssysteme und an den Aufbau einer soliden Basis<br />

für die Alterssicherung. Hierbei stoßen wir auf ein verzwicktes Problem, betrifft<br />

doch ein großer Teil der internationalen Lissabon-Agenda wirtschaftliche Reformen,<br />

die von den Regierungen der Einzelstaaten durchgeführt werden müssen.<br />

Wir in den Niederlanden arbeiten daran. Wir reformieren das Sozialversicherungs-<br />

und das Gesundheitssystem, um sie für die Zukunft zu erhalten. Wir flexibilisieren<br />

den Arbeitsmarkt. Nicht um Menschen einfacher entlassen zu können,<br />

sondern um mehr Menschen Lohn und Brot zu bringen. Tatsache ist, dass die<br />

Arbeitslosenquote der EU 9,1 % beträgt. Die USA, die einen flexibleren<br />

Arbeitsmarkt haben, stehen mit 5,6 % weitaus besser da. Nicht umsonst ist die amerikanische<br />

Wirtschaft erheblich schneller als die europäische in der Lage, sich<br />

von einer wirtschaftlichen Rezession zu erholen.<br />

Im Allgemeinen kommen Reformen in Europa – insbesondere in den „alten“<br />

Mitgliedstaaten – nur mühsam in Gang. Den europäischen Bestrebungen und<br />

Absprachen haftet eine gewisse Unverbindlichkeit an, die für die Zukunft der<br />

450 Millionen europäische Bürgern fatale Folgen haben könnte.<br />

Die Europäische Union ist keine Meisterin im Verändern bestehender Gefüge,<br />

Strukturen und Systeme. Wir neigen bisweilen dazu, uns am Vorhandenen festzuklammern<br />

wie ein Schwimmer an einer undichten Luftmatratze. Doch wohin<br />

führt uns das, wenn die Strömung immer stärker wird?<br />

Was gebraucht wird, ist politischer Schneid. An diesem politischen Schneid<br />

mangelt es dem neuen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso jedenfalls<br />

nicht. In seinen Vorschlägen für die Reform der Lissabon-Strategie beweist er<br />

Leidenschaft, aber auch Realitätssinn. Er spricht die Mitgliedstaaten auf ihre<br />

Verantwortung an. Ihnen wird mehr Freiheit bei der Umsetzung ihrer<br />

Reformagenda eingeräumt, jedoch auch mehr Nachdruck auf die Umsetzung<br />

getroffener Vereinbarungen gelegt. Barroso ist überzeugt, dass Lissabon nur dann<br />

einen glaubwürdigen Start haben kann, wenn wir eine Partnerschaft bilden. Eine<br />

Partnerschaft aus den Mitgliedstaaten, den Sozialpartnern und der Kommission.<br />

Die Kommission zeigt sich uneingeschränkt bereit, das ihre zu tun.<br />

Barroso geht mit Fug und Recht davon aus, dass es zur Lissabon-Agenda<br />

keine aussichtsreiche Alternative gibt, wenn wir in Europa nachhaltiges Wachstum<br />

wollen.<br />

Unsere Aufgabe ist es, den nationalen Politikern und der Bevölkerung unseres<br />

Landes deutlich zu machen, was das bedeutet, nämlich Erneuerung unserer<br />

alten vertrauten Gefüge und Systeme. Das ist nicht einfach, denn es umfasst<br />

Maßnahmen, die für die Bürger kurzfristig wenig attraktiv sind.<br />

Die Politiker müssen demnach – um mit Franz Walter zu sprechen - angeben,<br />

„wohin die Reise gehen soll, wo sich das gelobte Land am Ende der Wüste aus<br />

Sparsamkeit, Einschränkungen, Verzicht und Abbau befindet, wie es dort aussieht<br />

oder auch nur: aussehen sollte“.<br />

Um diese Frage direkt zu beantworten: zu einem starken, sicheren und soli-<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 28<br />

JAN PETER BALKENEN<strong>DE</strong><br />

darischen Europa für unsere Kinder und Enkelkinder und für uns selbst. Dorthin<br />

geht die Reise. Wir müssen den Mut haben zuzugeben und deutlich zu machen,<br />

dass die Entscheidung für das Kurzfristige auf die Entscheidung für eine<br />

Verliererstrategie hinausläuft, die strukturelles Wachstum untergräbt und die<br />

Bürger der Union schon bald verletzlich in einer sich rasch verändernden Welt<br />

zurücklässt.<br />

Was können wir tun, um dies zu verhindern?<br />

Erstens: Die Regeln des Binnenmarkts und der Währungsunion fest in der<br />

Hand halten. Sie bilden die Basis für unseren Wohlstand. Die Wahrung dieser<br />

Regeln muss noch immer täglich erkämpft werden. Es ist von größter Wichtigkeit,<br />

dass die Europäische Kommission als Hüterin des gemeinsamen, gemeinschaftlichen<br />

Interesses hier standhaft bleibt.<br />

Zweitens muss auch der Europäische Rat dem Wirtschaftswachstum erheblich<br />

mehr Aufmerksamkeit schenken. Was mich betrifft, ist das wirtschaftliche<br />

Wachstumsvermögen Europas bei jedem Halbjahres-Treffen ein wichtiger Punkt<br />

für den Europäischen Rat, d.h. nicht nur beim Frühjahrs-, sondern auch beim<br />

Herbstgipfel. Für die niederländische Präsidentschaft galt dies ebenfalls. Die<br />

Stärkung unserer Volkswirtschaften ist eine Kernaufgabe Europas.<br />

Drittens müssen wir uns vor Augen halten, dass wir ein Problem mit der<br />

Rechenschaft über die Ausführung der gemeinsamen Politik haben. Wir gehen<br />

zwar Verpflichtungen ein, brauchen jedoch nirgendwo Rechenschaft über die<br />

Umsetzung dieser Versprechen abzulegen. Die Mitgliedstaaten untereinander<br />

sind häufig nicht zu Peer-pressure bereit. Aber auch von den nationalen<br />

Parlamenten geht zu wenig Druck aus. Möglicherweise ist dies ja der mangelnden<br />

Transparenz des Prozesses geschuldet. Es gibt zu viele verschiedene<br />

Berichterstattungsmechanismen. Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats<br />

sind zum Teil sehr umfangreich. Verantwortlichkeiten sind auf mehrere Räte und<br />

Minister verteilt. Die Vorschläge der neuen Kommission enthalten kreative und<br />

kühne Anregungen, wie sich die Transparenz und die Rechenschaftspflicht innerhalb<br />

der Lissabon-Strategie verbessern ließe. Es kommt eine Vereinheitlichung von<br />

Leitlinien und Berichterstattungsmechanismen. Dies fördert gleichzeitig eine stärkere<br />

Verknüpfung mit den politischen Gestaltungs- und Verantwortungsprozessen<br />

auf nationaler Ebene.<br />

Viertens müssen wir neue Wege suchen, wie die Kommission die<br />

Mitgliedstaaten bei der Umsetzung wirtschaftlicher Reformen unterstützen kann.<br />

Kampf gegen den Terrorismus: Zusammenarbeit ist bittere Notwendigkeit<br />

Das Wesen der Union besteht darin, dass sie grenzüberschreitende Probleme<br />

anpackt. Dies gilt nicht nur für die Beseitigung von Hindernissen für ein nachhaltiges<br />

Wirtschaftswachstum. Es gilt auch für die Sicherheit. Sicherheit ist die<br />

Kernaufgabe Nummer eins der Regierung. Die Bürger Europas erleben immer<br />

mehr am eigenen Leibe, dass Kriminalität und Terrorismus grenzüberschreitend<br />

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EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU <strong>DE</strong>N ANFÄNGEN<br />

sind. Sie erwarten, dass die Europäische Union entschlossen und effizient darauf<br />

reagiert. Ein Gefühl der Sicherheit ist für die Bürger in dieser Zeit der offenen<br />

Grenzen dringlicher denn je. Die Menschen verstehen und akzeptieren es nicht,<br />

wenn Verbrecher aufgrund fehlender Koordination in Europa davonkommen oder<br />

wenn sie sich ihrer Bestrafung durch Flucht in ein anderes EU-Land entziehen.<br />

In den kommenden Jahren müssen wir alles daransetzen, die Zusammenarbeit<br />

zu verstärken und die Lücken im justiziellen Netz zu schließen. Ein freies, offenes<br />

und sicheres Europa kann es nicht geben ohne ein hohes Maß an Übereinstimmung<br />

darüber, was in unserer Rechtsgemeinschaft zulässig ist und was nicht,<br />

und über das Vorgehen gegen Menschen, die diese Grenzen überschreiten. Es ist<br />

daher unverzichtbar, unsere Strafrechtssysteme aufeinander abzustimmen. Die<br />

langfristige Lebensfähigkeit der Union hängt zu einem erheblichen Teil von der<br />

Frage ab, ob uns das gelingt.<br />

Ich begreife sehr wohl, dass hier an ein heikles Thema gerührt wird. Die<br />

Mitgliedstaaten sind bisweilen stark ihren nationalen Eigenheiten in den Bereichen<br />

Justiz und Polizei verhaftet. Man nehme als Beispiel nur die niederländische<br />

Drogenpolitik. Wir dürfen unsere Traditionen nicht einfach so in Frage stellen.<br />

Lücken im Europäischen justiziellen Netz, die eine Gefahr für die Bürger der<br />

Union darstellen, müssen jedoch geschlossen werden, insbesondere und an erster<br />

Stelle die Lücken, die dem Terrorismus und dem organisierten Verbrechen<br />

Vorschub leisten. So kann die Politik in Sachen Koffieshops zwar vielleicht noch<br />

als eine Angelegenheit der Niederlande betrachtet werden, doch müssen wir<br />

gegen den internationalen Drogenhandel wirklich gemeinsam vorgehen.<br />

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Drogenhandel, ebenso wie der Menschenund<br />

Waffenhandel, eine wichtige Finanzierungsquelle für den Terrorismus ist.<br />

Um den internationalen Terrorismus wirksam bekämpfen zu können, ist es von<br />

wesentlicher Bedeutung, einen Überblick zu haben, wer und was die<br />

Außengrenzen der Union passiert. Eine stärkere Überwachung dieser<br />

Außengrenzen – insbesondere der neuen Grenzen im Osten der Union – ist dringend<br />

erforderlich. Dies muss auf kluge Weise geschehen, die Handelsströme<br />

zwischen der EU und ihren Handelspartnern dürfen nämlich nicht behindert und<br />

verzögert werden. Geschwindigkeit und Qualität müssen Hand in Hand gehen.<br />

Die USA wenden 15 Milliarden Dollar für die Verstärkung ihrer Grenzkontrollen<br />

auf und investieren stark in biometrische Techniken und automatisierte Systeme.<br />

Im Vergleich dazu steht Europa kümmerlich da. Auch auf diesem Gebiet reagieren<br />

wir nicht hinreichend adäquat auf die veränderte Welt um uns herum.<br />

Zusammenhalt an den Grenzen: innen und außen<br />

Außer im Sicherheitsbereich müssen wir auch auf dem Gebiet Asyl und<br />

Migration unsere Zusammenarbeit deutlich intensivieren. Die Freizügigkeit von<br />

EU-Bürgern ohne Kontrollen an den Binnengrenzen bedeutet nämlich auch<br />

Freizügigkeit von Asylsuchenden und legalen wie illegalen Einwanderern.<br />

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Ein Beispiel: Neuere Zahlen belegen, dass 7 % der Personen, die Asyl in<br />

einem Mitgliedstaat beantragen, dies bereits zu einem früheren Zeitpunkt in<br />

einem anderen EU-Land getan haben. Für Asylsuchende in den Niederlanden<br />

liegt dieser Prozentsatz bei 13.<br />

Fortwährende Politikkonkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich<br />

Asyl, Migration und Rückkehrpolitik ist kein gangbarer Weg. Das sind eben die<br />

Probleme, bei denen die EU ihren Mehrwert unter Beweis stellen muss. Es wurden<br />

bereits beachtliche Fortschritte erzielt. So haben wir in Europa Mindestnormen<br />

für Asylverfahren vereinbart. Das reicht jedoch noch nicht aus. Vielleicht ist das<br />

ein Blick weit voraus, doch wir müssen zu einem gemeinsamen Asylverfahren<br />

kommen – mit Zulassungskriterien, die von allen EU-Ländern unterschrieben<br />

und angewandt werden, und zu einer gemeinsamen Rückkehrpolitik.<br />

Langfristig setzt dies unter anderem den Aufbau gemeinsamer<br />

Auffangeinrichtungen für Flüchtlinge und die Registrierung von Asylsuchenden<br />

auf EU-Ebene voraus. Es bedeutet auch eine europäische Finanzierung der<br />

Asylpolitik und europäische Vereinbarungen über die Verteilung zugelassener<br />

Flüchtlinge. Nur mit einer intensiven Grenzüberwachung in Kombination mit<br />

einem europäischen Asyl- und Migrationskonzept können wir die illegale<br />

Einwanderung in Europa bekämpfen.<br />

Europa als Wertegemeinschaft<br />

JAN PETER BALKENEN<strong>DE</strong><br />

Die Union ist mehr als ein wirtschaftliches Projekt. Sechzig Jahre nach dem<br />

D-Day ist sie noch immer ein Projekt von Respekt, Freiheit und Solidarität, das<br />

weiter an Breite und Tiefe gewinnt.<br />

Die inhaltliche Rückbesinnung auf die Werte, die uns Europäer verbinden,<br />

ist meiner festen Überzeugung nach entscheidend für die Lebenskraft und die<br />

Tatkraft der Europäischen Union. Sie ergibt sich aus der historischen Dimension<br />

der europäischen Zusammenarbeit. Und sie ist erforderlich, wenn wir in die<br />

Zukunft blicken.<br />

Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Unsere Gemeinschaft ist<br />

das Produkt großer religiöser und philosophischer Traditionen. Die Ideen der<br />

Klassiker, das Christentum, das Judentum, der Humanismus und die Aufklärung<br />

haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Auch der Dialog mit der islamischen<br />

und arabischen Kultur hat zu unserer Identität beigetragen. Der Zweite<br />

Weltkrieg hat uns die Bedeutung eines gemeinsamen Wertesystems nachhaltig vor<br />

Augen geführt. Im zerrissenen und verarmten Europa sehnten sich die Menschen<br />

nach Frieden, Freiheit, Stabilität und einer neuen Chance auf Wohlstand.<br />

Die Begründer der europäischen Integration – Monnet, Schuman, Adenauer,<br />

De Gasperi und andere – begriffen, dass diese Ideale nur durch eine Bündelung<br />

und Verflechtung der praktischen Interessen der Länder Europas erreichbar sein<br />

würden. Jean Monnet nannte dies in seinen Memoiren „la solidarité de fait“.<br />

Damit wollte er sagen, dass eine Gemeinschaft nicht durch freundschaftliche<br />

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EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU <strong>DE</strong>N ANFÄNGEN<br />

Gefühle entsteht. Monnet drehte diesen Satz um: Gerade die gemeinschaftliche<br />

Zusammenarbeit erzeugt die Freundschaft.<br />

So errichteten die Gründerväter das empfindliche Haus des Friedens auf einem<br />

Fundament von Kohle und Stahl.<br />

In der Verfassung werden die Werte genannt, auf die sich die Union gründet:<br />

Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit<br />

und Wahrung der Menschenrechte. Dort heißt es: „Diese Werte sind allen<br />

Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus,<br />

Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet“. Diese<br />

gemeinsamen Werte sind der Zement zwischen den Steinen des immer größer werdenden<br />

europäischen Gebäudes. Sie sind das Bindemittel zwischen Regierungen,<br />

die begreifen müssen, dass es nicht vernünftig ist, nur an den eigenen Interessen<br />

festzuhalten, wenn das gemeinsame Interesse gerade eine gemeinschaftliche<br />

Strategie erfordert. Als Partner in der Europäischen Union sollten wir nämlich<br />

nicht im Wettbewerb stehen, sondern uns gegenseitig ergänzen. Je größer das<br />

Bewusstsein für gemeinsame Werte ist, desto größer kann die politische<br />

Entschlusskraft der Europäischen Union sein.<br />

Bauen an Europa nur möglich mit Menschen, die sich als Europäer fühlen<br />

Mit der neuen Verfassung wird Europa unbestreitbar klarer, effizienter und<br />

demokratischer.<br />

Ist das jedoch ausreichend? Wie sorgen wir dafür, dass der europäische Bürger<br />

den Nutzen Europas weiterhin vor erkennt und sich dem europäischen Gedanken<br />

nicht entfremdet?<br />

Entscheidend ist, dass wir jederzeit deutlich machen, welchem Zweck Europa<br />

dient. Nämlich dem, für die Bürger notwendige Dinge zu tun, bei denen die einzelne<br />

Länder aus eigener Kraft überfordert wären. Ich erwähnte bereits das strukturelle<br />

Wirtschaftswachstum und die Sicherheit. Die einzelstaatlichen Politiker<br />

müssen den Mut haben, sich hierzu klar zu äußern. Sie müssen den Wählern<br />

deutlich machen, dass dabei nur ein europäischer Ansatz Erfolg verspricht und<br />

dass die Übertragung bestimmter Befugnisse und Verantwortlichkeiten auf die<br />

Union unverzichtbar ist.<br />

„Aber Europa ist so kompliziert“, hört man dann oft. „Die Bürger verstehen<br />

das nicht.“ Ist das wirklich so? Viele Dinge sind gerade dank Europa einfacher<br />

geworden. Niemand wünscht sich die Zeit zurück, als wir noch 25 nationale<br />

Zollverordnungen hatten. Wir erreichen auch sehr konkrete Dinge gemeinsam.<br />

Derzeit sind gut 1,8 % des BIP der Europäischen Union dem Funktionieren des<br />

Binnenmarkts zuzuschreiben. Damit einhergegangen ist die Schaffung von 2,5<br />

Millionen Arbeitsplätzen. So gibt es noch weit mehr Beispiele für Ergebnisse, die<br />

wir Europa zu verdanken haben und die den Menschen sehr gut zu erklären<br />

sind.<br />

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JAN PETER BALKENEN<strong>DE</strong><br />

Gemeinsam nur das, was gemeinsam erfolgen muss<br />

Um die grenzüberschreitenden Probleme, von denen die Bürger unmittelbar<br />

betroffen sind, wirksam anpacken zu können, müssen wir uns für ein starkes<br />

föderales Europa entscheiden, das mit einem starken gemeinschaftlichen Motor<br />

ausgestattet ist.<br />

Dazu gehört jedoch, dass die Union nicht zu hoch pokert, indem sie sich um<br />

Dinge kümmert, die die Länder, Regionen, Gemeinden oder Bürger sehr gut<br />

selbst entscheiden können. Wenn etwas Irritationen und Misstrauen bei den<br />

Menschen hervorruft, dann dies. Wenn Europa sich zu sehr aufdrängt, wird bei<br />

den Menschen Ablehnung wach, und die Unterstützung für die europäische<br />

Zusammenarbeit – die von so entscheidender Bedeutung ist – bricht weg. Wir müssen<br />

weg von der zwangsweisen Politikgestaltung in Brüssel in Bereichen, in<br />

denen die Brüsseler Einmischung nicht angebracht ist.<br />

Europa gründet sich auf das christdemokratische Prinzip, dass das, was nahe<br />

an den Menschen geregelt werden kann, nicht aus der Ferne entschieden werden<br />

darf (Subsidiarität). Bisher ist das Protokoll über die Anwendung der<br />

Grundsätze der Subsidiarität im Vertrag von Amsterdam jedoch zu sehr toter<br />

Buchstabe geblieben. Die neue Verfassung enthält konkrete Ansatzpunkte für<br />

die Parlamente der Einzelstaaten, um diese Subsidiarität notfalls zu erzwingen. Es<br />

ist wichtig, dass wir dies fest in der Hand behalten. Begrüßenswert wäre eine<br />

Zulässigkeitsdebatte im Rat, bevor dieser sich mit dem Inhalt einer Gesetzesvorlage<br />

der Kommission beschäftigt. In einer solchen Debatte müsste die Kernfrage lauten,<br />

ob die Vorlage in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsgrundsatz steht.<br />

Die Frage dieses Buches ist: Wie funktioniert Europa in etwa zwanzig Jahren?<br />

Präsentiert sich die Union dann als starker Herkules oder als Koloss auf tönernen<br />

Füßen? Ist es mit so vielen Ländern und so vielen nationalen und regionalen<br />

Interessen möglich, gemeinsam in Bewegung zu bleiben? Oder wird die<br />

Union auseinander fallen?<br />

Rasch fallen Begriffe aus dem Radrennsport wie „Spitzengruppe“, „Peloton“<br />

oder „Nachzügler“. An ein solches Europa glaube ich nicht. Solange die<br />

Mitgliedstaaten der Union untereinander Ballotage betreiben, ist das Projekt<br />

Europa zum Untergang verurteilt. Um den Begriff „Spitzengruppe“ kreisen jedoch<br />

auch viele Missverständnisse. Spitzengruppen abzulehnen bedeutet noch nicht,<br />

dass Ländergruppen nicht gemeinsam Ansätze für Erneuerung geben können.<br />

Sie bezeichne ich nicht als Spitzengruppe, sondern als Vorhut, die unbekanntes<br />

Terrain für andere erkundet. Solange derartige Gruppen keine exklusiven<br />

Gesellschaften bilden, können sie eine treibende Kraft in Europa sein. Also: Jeder,<br />

der teilnehmen will, muss teilnehmen können.<br />

Im kommenden Jahrzehnt wird diese Art von Zusammenarbeit – die von der<br />

Verfassung auch ermöglicht wird – eine immer wichtigere Rolle spielen. Vor<br />

allem vom Standpunkt der Dynamik aus ist das zu begrüßen. Es ist nämlich nicht<br />

auszuschließen, dass man sonst mit 25, 28 oder mehr Ländern an Geschwindigkeit<br />

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und Beweglichkeit verliert. Die europäische Integration kennt bereits gute Beispiele<br />

für eine verstärkte Zusammenarbeit. Man denke nur an die Eurozone oder das<br />

Schengen-Gebiet. Wir werden erleben, dass um Länder mit spezifischem<br />

Sachverstand oder komparativen Vorteilen neue Gruppen entstehen werden.<br />

Beispielhaft wäre hier die Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten, wie<br />

Entwicklungszusammenarbeit, Steuern, Umwelt oder Sicherheit, zu nennen.<br />

Übrigens erwarte ich auch zahlreiche Erneuerungsimpulse von den neuen<br />

Mitgliedstaaten. Wenn man sieht, wie viel Erfahrung die Länder in Mittel- und<br />

Osteuropa mit der Reform ihrer wirtschaftlichen Struktur haben, kann man daraus<br />

Hoffnung für die anderen Mitgliedstaaten schöpfen. In den neuen Mitgliedstaaten<br />

steckt eine große wirtschaftliche „Zugkraft“.<br />

Zusammenfassung<br />

EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU <strong>DE</strong>N ANFÄNGEN<br />

Europa muss zurück zur Basis und stärker von dieser Basis aus operieren.<br />

Warum haben wir mit der europäischen Integration begonnen? Um Frieden,<br />

Freiheit und Sicherheit zu garantieren und um Wohlstand für die heutige wie<br />

künftige Generationen zu erreichen. Das sind Dinge, die kein Land im Alleingang<br />

realisieren kann.<br />

Daher müssen wir die europäische Zusammenarbeit auf diesen Gebieten kräftig<br />

vorantreiben.<br />

Aus diesem Grunde gilt es das institutionelle Gleichgewicht in der Union zu<br />

bewahren und darüber zu wachen. Wenn die großen Länder der Verlockung<br />

nachgeben, das Spiel an sich zu ziehen, wird in Europa eine Desintegration einsetzen.<br />

Also müssen wir in die Zukunft schauen und mit unseren langfristigen<br />

Zielsetzungen Ernst machen. Übermäßige Einmischung im Verein mit mangelnder<br />

Tatkraft auf Gebieten, wo ein gemeinsames Vorgehen dringend erforderlich<br />

wäre, untergräbt nicht nur das Vertrauen der Bürger in Europa, sondern setzt<br />

die unmittelbare Zukunft der europäischen Bürger aufs Spiel.<br />

Wer Europa eine Zukunft geben will, muss zurück zu den Absichten und<br />

Gedanken der Anfänge.<br />

33<br />

März 2005


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José Manuel BARROSO<br />

Präsident der Europäischen Kommission<br />

Unsere <strong>Vision</strong> von Europa<br />

Es bestehen wohl kaum Zweifel daran, dass die Errungenschaften der<br />

Europäischen Union während der letzten 50 Jahre außerordentlich sind.<br />

Möglicherweise wären selbst ihre visionärsten Gründungsväter, insbesondere diejenigen,<br />

welche zu Beginn die Widerstände gegen den Prozess erlebten, erstaunt<br />

über das Europa der Gegenwart. Die Flexibilität der Methode und der sektorspezifische<br />

Ansatz, die zunächst nur als zweitbeste Strategie galten, haben sich als<br />

Schlüssel zum Erfolg erwiesen. Wenn wir uns ansehen, was wir seither erreicht<br />

haben, beeindruckt uns vor allem der schiere Umfang dessen, was in so relativ<br />

kurzer Zeit geschehen ist. Die Überwindung der Ost-West-Teilung und die einheitliche<br />

Währung sind nur zwei Beispiele aus jüngster Zeit für dieses viel umfassendere<br />

Projekt, auf das wir alle stolz sind. Das Europa der Gegenwart lebt in Frieden,<br />

genießt Wohlstand, weist eine kulturelle Vielfalt auf, leistet Hilfe und wird (hoffentlich)<br />

bald über seine erste Verfassung verfügen. Die Verfassung stellt einen weiteren<br />

großen Schritt voran dar. Sie wird für mehr Demokratie sorgen, indem sie<br />

die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente und des Europäischen Parlaments stärkt;<br />

sie wird für mehr Transparenz, eine stärkere Mitwirkung der Bürger und einen<br />

weiter gefassten Dialog mit der Zivilgesellschaft sorgen, und sie wird die Kohärenz<br />

und Effizienz unseres auswärtigen Handelns stärken.<br />

Dies mag außerordentlich sein, ist aber nach wie vor erst der Anfang. Es wäre<br />

nicht nur naiv, sondern auch gefährlich für das gesamte Projekt, käme man zu dem<br />

Schluss, dass sich diese Entwicklung automatisch fortsetzt und die erwarteten<br />

Ergebnisse mit sich bringt. Die Erfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart<br />

lehren uns doch, wie flüchtig und anfällig die Projekte des Menschen sind, und<br />

diese Regel gilt auch für das Projekt „Europa“. Die Kommission ist weit davon entfernt<br />

zu glauben, dass wir mit dieser Erweiterung und möglicherweise einer neuen<br />

Verfassung unser Ziel erreicht oder anstehende Probleme gelöst haben. Vielmehr<br />

hat sie sich einem längerfristigen, schwieriger zu erreichenden Ziel verschrieben,<br />

nämlich die Unterstützung der Europäer zu gewinnen. Der Rückgang der Beteiligung<br />

an den Europawahlen, die negativen Ergebnisse von Meinungsumfragen, das<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 36<br />

JOSÉ MANUEL BARROSO<br />

Entstehen und Erstarken politischer Gruppierungen, die gegen Europa gerichtet<br />

sind, sowie schlichte Gleichgültigkeit zeigen uns, dass die größte Herausforderung<br />

der Gegenwart innerhalb der Grenzen der Union besteht und ihre eigentlichen<br />

Akteure betrifft: ihre Bürger. Deren Mangel an Sympathie kommt nicht von ungefähr,<br />

sondern ist das Ergebnis der sich täglich vor ihnen auftürmenden<br />

Schwierigkeiten, einem Gefühl der Unsicherheit und fehlenden Perspektiven. Brüssel<br />

ist immer noch weit weg, der Nutzen der Union wird zumeist nicht wahrgenommen,<br />

und ihre Arbeit wird als Einmischung, wenn nicht gar als feindseliges Handeln<br />

angesehen. Viele Bürger sind der Meinung, dass sich das Europa der Gegenwart nicht<br />

in die richtige Richtung bewegt.<br />

Wie können wir diese Entwicklung umkehren?<br />

– Die Strategie, die wir unterstützen, besteht darin, die Ängste der Menschen zu zerstreuen.<br />

– Das vorrangige Ziel, das wir anstreben, ist der langfristige Wohlstand.<br />

– Die Grundlage für diesen Neubeginn besteht in unserem nicht ausgeschöpften<br />

Potenzial.<br />

Kürzer gesagt: Wir mögen dieses Europa, und wir müssen jetzt dafür sorgen, dass<br />

es zeigt, was in ihm steckt. Ich habe dies die 'Europäische Erneuerung' genannt. Sie<br />

ist von entscheidender Bedeutung für unsere Zukunft und erfordert einen umfassenden<br />

Ansatz, der für die komplexen Herausforderungen einer im raschen Wandel<br />

begriffenen Welt zweckdienlich ist. Am Anfang steht hierbei das von Überzeugung<br />

getragene Engagement, unsere Volkswirtschaften zu unterstützen, effizienter zu<br />

werden, und sie zu ermutigen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Mehr denn je müssen<br />

wir uns jetzt mit dem Bestreben auseinandersetzen, das dynamische Wachstum<br />

vor dem Hintergrund ungünstiger Konjunkturbedingungen wieder anzukurbeln.<br />

Die Globalisierung rückt Europa in eine zunehmend wettbewerbsorientierte<br />

Weltwirtschaft, während aufgrund der alternden Bevölkerung in naher Zukunft auf<br />

zwei erwerbstätige Personen eine Person im Ruhestand entfallen wird. Diese<br />

Variablen allein stellen den Kern unseres Wirtschaftsmodells in Frage und bedrohen<br />

die Nachhaltigkeit unserer Wohlfahrtsprogramme. Es sind genau diese<br />

Herausforderungen, die die Union aufgreifen muss, wenn sie das Vertrauen ihrer<br />

Bürger (zurück-)gewinnen will.<br />

Um das vordringlichste Problem unserer Zeit anzugehen, hat die Kommission<br />

in erster Linie eine weit reichende Partnerschaft für Europa gefordert, in der sich die<br />

Organe der EU, die Mitgliedstaaten und Sozialpartner gemeinsam für eine ehrgeizige<br />

Strategie einsetzen. Dies gilt insbesondere für das Europäische Parlament und<br />

dessen politische Fraktionen: Die Kommission hat sich verpflichtet, dem Parlament<br />

monatlich einen vorläufigen Plan der vorgeschlagenen, in Vorbereitung befindlichen<br />

Rechtsakte vorzulegen, und einen auf die bestmögliche Umsetzung des<br />

Legislativprogramms ausgerichteten Dialog zu beginnen. Darüber hinaus – und<br />

dies ist noch wichtiger – hat die Kommission die Initiative ergriffen und unabhängig<br />

von methodischen Vorgaben ein Bündel von Prioritäten, die zu verfolgen sind,<br />

und eine klare Strategie, die umzusetzen ist, benannt: Dies ist unsere <strong>Vision</strong> davon,<br />

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UNSERE VISION VON EUROPA<br />

wie die Union 2010 aussehen soll. Mit unserem kombinierten Ansatz wollen wir ein<br />

stärkeres Wachstum fördern und neue Arbeitsplätze schaffen, aber die sozialen<br />

Grundlagen des europäischen Wirtschaftsmodells erhalten. Daher baut dieser Ansatz<br />

auf die zusammenhängenden und sich gegenseitig verstärkenden Ziele des<br />

Wohlstands, der Solidarität und der Sicherheit auf.<br />

Wohlstand: Bereits im Jahr 2000 griffen wir in der Lissabonner Strategie mit<br />

großer Hoffnung und viel Ehrgeiz die Herausforderung auf, die das Thema<br />

„Wohlstand“ mit sich bringt, und versprachen, die EU bis zum nächsten Jahrzehnt<br />

zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum zu machen. Das Ergebnis dieser Initiative<br />

sollte nicht unterschätzt werden: In den meisten Mitgliedstaaten sind Reformen in<br />

die Wege geleitet worden, einige Märkte wurden weiter liberalisiert, während die<br />

Erweiterung dazu beigetragen hat, neue Möglichkeiten für Investoren zu schaffen.<br />

Diese Bemühungen haben sich jedoch nicht als Wendepunkt erwiesen. Ein neues<br />

Konzept für Wachstum sollte auf einem gesunden makroökonomischen Umfeld, einer<br />

stabilen Währung, mehr Unternehmertum und einer besseren Regulierung aufbauen.<br />

Zu diesem Zweck benötigen wir für die Lissabonner Strategie einen unverbrauchten<br />

Neustart sowie einen erheblichen Einsatz, um ihre überfrachtete Agenda<br />

zu verkleinern und für eine sachgerechte Koordinierung zu sorgen. Erstens sollten<br />

Ziele einer rigorosen Neuausrichtung von Prioritäten folgen, so dass der Weg für<br />

neues Wachstum und neue Arbeitsplätze frei ist. Zweitens sollten die Mitgliedstaaten<br />

die wichtigsten Befürworter dieser Strategie werden und sich bemühen, die breite<br />

Öffentlichkeit über diese Herausforderungen zu informieren. Die Lissabon-Strategie<br />

sollte zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Debatte auf einzelstaatlicher<br />

Ebene werden. Drittens und letztens sollte ein vereinfachtes, klareres<br />

Berichtswesen vorgesehen werden, um den Prozess verständlicher zu gestalten.<br />

Wenn man diese weiter gefassten Ziele vor Augen hat, so können die Bedenken<br />

wegen der angeblich Starrheit des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht isoliert<br />

angegangen werden, sondern müssen in eine kohärente Strategie zur Erneuerung<br />

der Lissabonner Strategie eingebettet sein. Es gibt zahlreiche, gut begründete<br />

Forderungen nach Reformen, jedoch nur im Zusammenhang mit unseren langfristigen<br />

Zielen kann ein dauerhaftes Engagement zugunsten bedeutender wirtschaftlicher<br />

Reformen garantiert werden. In den Schlüsselsektoren sollten Forschung und<br />

Innovation gefördert werden. Die Wirtschaft von Heute braucht kostspielige, langfristige<br />

Investitionen, die Europa tätigen muss. Unsere Konzentration auf Arbeitsplätze<br />

und Wachstum bliebe rein rhetorisch, würde sie nicht durch konkrete Bemühungen<br />

um Investitionen in den Bereichen, die das Rad antreiben und die Grundlage hierfür<br />

bilden, untermauert. Daher stehen Forschung und Entwicklung ganz oben auf<br />

der Liste. Die Mitgliedstaaten sollten mehr Mittel für die Forschung vorsehen, da diese<br />

für die Art einer gerechten und integrativen Gesellschaft, die wir schaffen möchten,<br />

nach wie vor zu gering sind. Auch die Dienstleistungsmärkte können einen wertvollen<br />

Beitrag zur Ankurbelung von Beschäftigung und Wachstum leisten: Sie sollten<br />

zu einem wichtigeren Bestandteil unseres Binnenmarktes werden.<br />

Seiner Geschichte folgend, darf sich das heutige Europa nicht von seiner Berufung<br />

zurückziehen, die Kluft zwischen den armen und den reichen Teilen seines<br />

37


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 38<br />

JOSÉ MANUEL BARROSO<br />

Hoheitsgebietes zu verkleinern, und sollte daher seine Verpflichtung zur Erreichung<br />

von Solidarität erneuern. Neue Maßnahmen zur Kohäsionspolitik dürften besser<br />

geeignet sein, um das Wachstum zu fördern und gleichzeitig den benachteiligten<br />

Gebieten und Gruppen zu helfen. Diese Bemühungen sollten auch darauf ausgerichtet<br />

werden, eine neue Sozialagenda zu unterstützen, so dass die wirtschaftliche<br />

durch die soziale Solidarität ergänzt wird, auch zwischen den Generationen. Auch<br />

der Schutz der Umwelt, der sorgfältige Umgang mit unserem Reichtum an Ressourcen<br />

und die Erforschung der Möglichkeiten für alternative Energien tragen zum Aufbau<br />

von Solidarität mit den neuen Generationen bei. Wachstum und Solidarität schließen<br />

sich nicht gegenseitig aus: Wir versuchen, ersteres anzukurbeln, um Mittel zur<br />

Finanzierung von letzterem zu gewinnen. Dies ist der Kern unseres Wirtschaftsmodells,<br />

und wir müssen uns bemühen, seine Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Solidarität<br />

sollte aber nicht auf das Gebiet innerhalb unserer Grenzen beschränkt sein: Im<br />

Rahmen einer neuen Migrationspolitik sollten wir nach Wegen suchen, um die<br />

Lebensbedingungen von Zuwanderern zu verbessern, und gleichzeitig deren jeweilige<br />

Rechte und Pflichten umreißen.<br />

Auch die beispiellosen Ereignisse der vergangenen fünf Jahre schließlich haben<br />

dazu beigetragen, dass das Erfordernis, die Sicherheit der Bürger zu garantieren, in<br />

der Agenda der Union einen höheren Stellenwert erhalten muss. Die Aufhebung der<br />

nationalen Grenzen in einer erweiterten EU hat unvermittelt neue Möglichkeiten für<br />

Freizügigkeit, Verkehr und Austausch geschaffen. Dies hat wiederum rigorose<br />

Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung des organisierten Verbrechens<br />

erforderlich gemacht, wodurch unsere bestehenden Vorstellungen von Sicherheit und<br />

Bedrohung erheblich verändert oder gar durch neue abgelöst wurden. Nur in einem<br />

vollständig integrierten Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit können wir<br />

auf die Herausforderungen dieser neuen Belange reagieren. In weiterem Sinne<br />

müssen wir jedoch die sonstigen Bedrohungen der Sicherheit (Naturkatastrophen,<br />

Krisen im Gesundheitswesen oder Gefährdungen der Energieversorgung) auch auf<br />

europäischer Ebene angehen, da sich die Union in einer besseren Position befindet,<br />

um Anstrengungen zu koordinieren und rasch zu reagieren.<br />

Wenn man von Sicherheit spricht, ist es inzwischen auch überaus wichtig, dass<br />

die Union ihre Aufmerksamkeit nicht auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt, sondern<br />

ihre Bemühungen auch aktiv und stetig auf die übrige Welt richtet. Die Grenzen<br />

innerhalb der EU existieren nicht mehr, aber auch ihre Außengrenzen büßen nach<br />

und nach den größten Teil ihres Zwecks ein: Willkürliche gewählte Beispiele für dieses<br />

wesentlich umfassendere Phänomen sind die Internationalisierung der<br />

Volkswirtschaften und das Entstehen von Cybergesellschaften. Unter diesen<br />

Umständen müssen die herkömmlichen Instrumente zur Überwachung von<br />

Hoheitsgebieten einfach versagen, und die Vorstellung einer sich selbst genügenden<br />

Insel des Friedens ist nur ein Wunschtraum. Internationales Engagement im Rahmen<br />

einer multilateralen Strategie und getreu dem Mandat der Vereinten Nationen – das<br />

ist der richtige Weg für Europa, um seine Meinung und sein Gewicht geltend zu<br />

machen. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass sich in unseren<br />

Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika seit Beginn des Jahres eine<br />

38


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 39<br />

UNSERE VISION VON EUROPA<br />

positivere Stimmung verbreitet: Die stärkere Orientierung an unseren gemeinsamen<br />

Werten und die intensivere Zusammenarbeit bei der Verfolgung unserer jeweiligen<br />

außenpolitischen Ziele sind notwendig, um das Beste aus unserer engen<br />

Partnerschaft und gemeinsamen <strong>Vision</strong> zu machen. Es gibt keine Alternative: Für<br />

uns beide bestehen die gleichen Gefahren, wir benötigen beide die Unterstützung<br />

des anderen, wir erkennen beide den Nutzen unseres Bündnisses. Der Besuch des<br />

amerikanischen Präsidenten George W. Bush symbolisiert einen Wendepunkt in<br />

den transatlantischen Beziehungen.<br />

Wegen unseres Ansehen und unserer Position in der Welt haben wir auch die<br />

Aufgabe, unsere Sichtweise zu erweitern und aktiv zu werden, um unsere <strong>Vision</strong><br />

auch in anderen Gebieten dieses Planeten zu beschließen, darzulegen und umzusetzen.<br />

Uns stehen multilaterale und bilaterale Kanäle zur Verfügung, um die nachhaltige<br />

Entwicklung zu fördern, und wir sollten in unserem außenpolitischen Handeln<br />

der Überzeugung folgen, dass nur aktives Engagement Sicherheit und Stabilität garantieren<br />

kann. Afrika ist ein anschauliches Beispiel: Wie können wir seinen Niedergang<br />

umkehren? Wie können wir unsere abgestimmten Bemühungen optimieren, um<br />

seine Entwicklung voranzubringen? Und wie sieht es mit unserem langfristigen<br />

Engagement für diesen Kontinent aus? Die gleichen Sorgen und Ziele gelten für eine<br />

erfolgreiche Nachbarschaftspolitik: Nun, da die größte Erweiterung der Union<br />

Wirklichkeit geworden ist, sollte das auswärtige Handeln Europas zum Ziel haben,<br />

die Beziehungen zu unseren Nachbarn zu intensivieren und zu konsolidieren.<br />

Darüber hinaus hat die kürzliche Tsunami-Katastrophe ganz deutlich die Vorteile<br />

einer gemeinsamen Reaktion Europas gezeigt. Statt diesen Ansatz auf außergewöhnliche<br />

Umstände und schwere Krisen zu beschränken, werden wir daran arbeiten,<br />

diese Strategie zum Standardverfahren für alle internationalen Herausforderungen zu<br />

machen, ob nun nie dagewesene Ereignisse oder alltägliches Geschehen. Abgesehen<br />

vom Aspekt der Sicherheit ist es auch für den Handel von grundlegender Bedeutung,<br />

wenn man Akteur auf der Weltbühne ist. Europa sollte erkennen, dass sein<br />

Wettbewerbspotenzial die Nutzung der Gelegenheiten ermöglicht, die sich durch die<br />

Globalisierung ergeben. Wir müssen unsere Vorzüge kennen und die internationale<br />

Offenheit zu unseren Gunsten nutzen. Europas strategische Beziehungen zu den traditionellen<br />

Handelspartnern sollten ausgebaut und bei neuen Partner entwickelt werden,<br />

insbesondere auf dem asiatischen Markt.<br />

Der Aufbau eines stärkeren und wohlhabenderen Europas geht jedoch über die<br />

Notwendigkeit hinaus, sich in verschiedenen Bereichen mit mehr Entscheidungskraft<br />

und größerer Abstimmung einzubringen. Er verlangt auch eine bessere Methodik.<br />

Zwar hat man in den letzten zehn Jahren sehr viel unternommen, um eine bessere<br />

Transparenz herzustellen, doch das reicht noch nicht aus, um den politischen<br />

Prozess in jeder Hinsicht verständlich zu machen. Abgesehen von der zwingend erforderlichen<br />

Vereinfachung, zu der die neue Verfassung erheblich beitragen wird, gibt<br />

es nach wie vor zu viele Verfahren und Einrichtungen, was die Rechenschaftspflicht<br />

und die Nachprüfbarkeit durch die Öffentlichkeit erschwert. Wenn diese<br />

Grundvoraussetzungen nicht gegeben sind, kann sich das Interesse der Bürger<br />

Europas daran, zu verstehen, mitzuwirken und letztendlich zu entscheiden, wohl<br />

39


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 40<br />

JOSÉ MANUEL BARROSO<br />

kaum einstellen. Besser wäre es, die Kommunikationsstrategie so zu gestalten, dass<br />

Europa auf der nationalen Ebene vermehrt in Erscheinung tritt, um so eine echte,<br />

vielleicht auch kritische Debatte über das Handeln der Union zu fördern. Dabei<br />

kommt den politischen Parteien Europas sicher eine führende Rolle zu, und wir<br />

begrüßen die Bemühungen, die diese während der letzten Europawahlen unternahmen,<br />

um ihre jeweilige <strong>Vision</strong> der Wählerschaft nahe zu bringen. Dieses Engagement<br />

sollte beibehalten und während der gesamten Wahlperiode gefestigt werden.<br />

Europa sollte auch seine Grenzen erkennen. Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip<br />

sollte Europa handeln, wenn seine Bemühungen einen Mehrwert für eine<br />

alternative Maßnahme einer nationalen oder subnationalen Behörde bedeuten. Ist<br />

diese Voraussetzung erfüllt, dann ist unser Eingreifen gerechtfertigt und willkommen;<br />

andernfalls ist unser Handeln unangebracht und sollte systematisch unbeachtet<br />

bleiben.<br />

Die neue Verfassung, wenn und falls sie ratifiziert wird, wird dann noch deutlicher<br />

machen, dass die Legimitation der Union auf ihren Mitgliedsaaten und ihren<br />

Völkern beruht. Die Union respektiert die jeweilige nationale Souveränität und<br />

erweitert daher die Zuständigkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten wie auch die<br />

Rechte und Pflichten ihrer Bürger.<br />

Die Europäische Union des 21. Jahrhunderts ist eine Realität, die vor 50 Jahren<br />

vielleicht niemand voraussehen konnte: 25, demnächst 27 oder 28 Länder, die wirklich<br />

vereint sind und zusammenarbeiten! Die erweiterte Union wird großer<br />

Koordinierungs-bemühungen und eines großen politischen Gewichts bedürfen,<br />

um erfolgreich eine echte europäische Politik zu betreiben. Hierüber dürfen wir<br />

jedoch auf gar keinen Fall vergessen, dass die Mitgliedstaaten der Union souveräne<br />

Nationen sind. Wir müssen daher <strong>Vision</strong>, Ausgewogenheit und Realitätssinn<br />

kombinieren. Die Tatsache, dass die meisten Dinge nicht auf europäischer Ebene<br />

erledigt werden können und sollten, mindert nicht die Stärke der Union, im Gegenteil!<br />

Betrachten wir zum Beispiel das zentrale Projekt, dass diese Kommission sich zu<br />

Eigen gemacht hat: die Lissabon-Strategie wieder mit Leben zu erfüllen und zum<br />

Erfolg zu führen. Wir haben uns weitgehend für einen Bottom-up-Ansatz entschieden,<br />

und zwar einfach deshalb, weil der Löwenanteil dessen, was getan werden<br />

muss, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Dies zu ignorieren oder zu versuchen,<br />

von oben herab Entscheidungen aufzuzwingen, die möglicherweise von<br />

Land zu Land variieren müssen, und dann denen die Schuld zu geben, die sich<br />

nicht an die vorgegebene Linie halten, kann nur zu Scheitern führen.<br />

Wenn man diese Warnungen beachtet, ist Europe in der Lage, zu führen: Wir verfügen<br />

über solide Grundlagen, um weltweit wirtschaftlich zu konkurrieren, wir<br />

genießen einen Ruf, der uns in der Weltpolitik Respekt verschafft, und wir haben<br />

einen Fahrplan aufgestellt, der unseren ehrgeizigen Zielen gerecht wird. Alles, was<br />

wir brauchen, ist eine gemeinsame Strategie, ein gemeinsames Engagement zur<br />

Verfolgung unserer gemeinsamen Ziele, und die feste Entschlossenheit, nicht zu<br />

zögern und zu zaudern.<br />

40<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 41<br />

Jacques BARROT<br />

Vizepräsident der Europäischen Kommission<br />

Auf dem Weg ins Jahr 2020: Wiederbelebung Europas<br />

Für die europäischen Bürger stellt das Jahr 2005 in vielerlei Hinsicht einen entscheidenden<br />

Wendepunkt dar. Im Jahr 2004 erfuhr die Europäische Union eine<br />

nie dagewesene Erweiterung, so dass die Spaltungen des 20. Jahrhunderts der<br />

Vergangenheit angehören. Die neuen, mit dem Vertrag von Nizza eingesetzten<br />

Institutionen, eine neue Kommission mit 25 Mitgliedern, ein neues Europäisches<br />

Parlament erfüllen diese neue Union der 25 im Alltag mit Leben. Des Weiteren<br />

stellt die Europäische Verfassung die Erfüllung eines politischen Traums und<br />

einen einmaligen Fortschritt dar und wird diesem erweiterten Europa ein neues<br />

Gesicht geben: Zum ersten Mal geben sich auf ein und demselben Kontinent<br />

Staaten unter Beibehaltung ihrer Souveränität eine gemeinsame Verfassung, die<br />

für alle gilt, sowie gemeinsame politische Entscheidungsmechanismen und von<br />

allen vertretene Werte. Inmitten der Kampagne für die Ratifizierung dieses grundlegenden<br />

Textes werden die <strong>Vision</strong> und die Zukunft, die wir Europa geben wollen,<br />

zu einer wichtigen Herausforderung. Eine der immer wiederkehrenden<br />

Fragen ist die nach den Grenzen Europas: über die physischen Grenzen hinaus<br />

gilt es das wieder zu finden, was den europäischen Traum, die europäische<br />

Identität und die Zukunft, die wir ihr geben wollen, ausmacht.<br />

Die äußersten Grenzen Europas<br />

Die Frage, wo die äußersten Grenzen Europas liegen, ist nicht nur von der<br />

Geografie her und auch nicht ausschließlich von der Identität her zu beantworten.<br />

Natürlich stellt sich die Frage, welche Länder berufen sind, Teil Europas zu werden,<br />

und welche nicht. Darüber hinaus sind die Grenzen aber auch zeitlich bedingt:<br />

Sie haben mit der Zeit zu tun, die einerseits die Europäische Union für die<br />

Vollendung ihres politischen Aufbauwerks braucht, und andererseits mit der Frist,<br />

die die Kandidatenländer benötigen, um sich zufrieden stellend zu integrieren.<br />

Die Definition der Grenzen Europas ist wesentlich für die Auffassung von<br />

41


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 42<br />

JACQUES BARROT<br />

der europäischen Identität. Manche heben häufig den Charakter einer nicht greifbaren<br />

Evidenz einer europäischen Identität hervor, die es erst zu schaffen gelte.<br />

Ich glaube im Gegenteil dazu, dass diese Identität existiert, dass sie bereits in<br />

den Anfängen der Europäischen Union präsent war: Die Erklärung zur europäischen<br />

Identität, die die Mitgliedstaaten am 14. Dezember 1973 verabschiedet haben, formuliert<br />

dies ganz klar. Dort heißt es, dass diese Vielfalt der Kulturen im Rahmen<br />

ein und derselben europäischen Zivilisation, diese Verbundenheit zu gemeinsamen<br />

Werten und Prinzipien, diese Annäherung der Lebensauffassungen, dieses<br />

Bewusstsein, gemeinsam spezifische Interessen zu haben, und diese<br />

Entschlossenheit, am europäischen Aufbauwerk mitzuwirken, den eigenständigen<br />

Charakter und die Eigendynamik der europäischen Identität begründen. Die<br />

Eigenständigkeit und die Einzigartigkeit der Europäischen Union beruht vor allem<br />

auf diesem freiwilligen Bekenntnis zu einem politischen Ideal und einer<br />

Wertegemeinschaft über die nationalen Identitäten hinaus. Dieser europäische<br />

Wille stützt sich natürlich auf gemeinsame historische Fundamente: die Beiträge der<br />

griechisch-römischen Zivilisation, die jüdischen und arabischen Einflüsse, das mittelalterliche<br />

Christentum haben ein und denselben europäischen Raum geprägt. Die<br />

Renaissance und der Humanismus, die Aufklärung waren Höhepunkte, zu denen<br />

die Europäer sich bewusst waren, dass sie dieselben Hoffnungen, dieselben<br />

Auseinandersetzungen, dieselben Bezugspunkte teilten. Galileo Galilei, Sokrates,<br />

Leonardo da Vinci oder auch Erasmus sind Teil eines europäischen Gedächtnisses,<br />

und ihre Forschungen, ihre Werke fanden Widerhall weit über ihre nationalen<br />

Grenzen hinaus. Nicht zufällig wollte die Europäische Union in so ambitionierten<br />

Vorhaben wie dem europäischen Satellitensystem Galileo, der Entwicklung<br />

einer europäischen Studentengemeinschaft (Programm Sokrates/Erasmus) oder<br />

der europäischen Berufsbildung (Leonardo Da Vinci) auf diese Weise jene großen<br />

europäischen Persönlichkeiten ehren. Der Glaube an die Vernunft, der Wille,<br />

die Menschenwürde in den Mittelpunkt der Politik zu rücken, sind große gemeinsame<br />

Ideen aller Europäer, die es ermöglicht haben, demokratische Institutionen<br />

aufzubauen, die Grundrechte und die Sicherheit jedes Einzelnen zu wahren. Und<br />

die Verfassung mit der einbezogenen europäischen Charta der Grundrechte, die<br />

allen gleiche politische und soziale Rechte garantiert, sowie die Erweiterung der<br />

Befugnisse von Eurojust zeugen von dieser humanistischen <strong>Vision</strong> als Herzstück<br />

der europäischen Dynamik.<br />

Die Frage der Grenzen ist in diesem Zusammenhang von besonderer Brisanz.<br />

Wenngleich die Dynamik und der Wille, bestehende Grenzen zu überwinden,<br />

Bestandteil des europäischen Geistes sind, muss man sich doch Grenzen setzen,<br />

um diese Energie vor Zersplitterung zu bewahren. Über das von der Verfassung<br />

bewirkte Zusammenrücken um die Werte der Union hinaus muss man sich über<br />

die tatsächlichen Motivationen jedes Einzelnen vergewissern. Alle Erweiterungen<br />

in der Vergangenheit beweisen dies: Der Beitritt zur Europäischen Union bedeutete<br />

stets sehr viel mehr als den Beitritt zum Binnenmarkt und das Aufholen wirtschaftlicher<br />

Rückstände. Die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung kon-<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 43<br />

AUF <strong>DE</strong>M WEG INS JAHR 2020: WIE<strong>DE</strong>RBELEBUNG EUROPA'S<br />

kretisiert den Traum von einem wirklichen politischen Europa, das von Anbeginn<br />

des europäischen Aufbauwerkes an präsent war, und dieser grundlegende Text<br />

hat einen wesentlich tieferen historischen Sinn als die bloße Marktöffnung. Es ist<br />

sehr viel leichter, eine Freihandelszone oder eine Zollunion zu schaffen, als sich<br />

über die Existenz von europäischen Küstenwachen oder eine europäische polizeiliche<br />

Zusammenarbeit zu verständigen. Um des Gelingens des europäischen<br />

Projekts willen muss man heute bei jeder Prüfung eines neuen Beitritts noch<br />

mehr als in der Vergangenheit den daraus resultierenden Nutzen für die Union<br />

insgesamt, der über die bloßen nationalen Interessen der ihr angehörenden<br />

Länder hinausgeht, im Auge haben.<br />

Die geografische Auffassung von den Grenzen der Europäischen Union muss<br />

diese neuen Gegebenheiten berücksichtigen, die den Sinn des Beitritts beeinflussen.<br />

Die Europäische Union muss dabei auf pragmatische Weise vorgehen. Die<br />

Osterweiterung Europas würdigte die Wiedervereinigung und die Rückkehr der<br />

einst von kommunistischen Regimes unterdrückten Länder zur Demokratie: Ost<br />

und West können nun wieder in die gleiche Richtung blicken. Für künftige<br />

Erweiterungen müssen in erster Linie Kriterien festgelegt werden, die es den neu<br />

beitretenden Ländern ermöglichen, zu ermessen, was der Beitritt zu einer politischen<br />

Union bedeutet, und die sämtliche rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen<br />

Errungenschaften der Europäischen Union bewahren. Von lebenswichtiger<br />

Bedeutung ist dabei, sich davon zu überzeugen, dass die <strong>Vision</strong> und der<br />

Sinn, den man Europa geben möchte, von allen geteilt wird, um ein<br />

Auseinanderplatzen und ein Scheitern zu vermeiden. Angesichts der Vielfalt der<br />

Situationen und der Bestrebungen eines Jeden, scheint es mir zunehmend erforderlich<br />

zu sein, dass man eine Antwort findet, die weniger einschneidend ist als<br />

der volle und uneingeschränkte Beitritt oder seine Ablehnung, und dabei hat<br />

der Verkehrssektor eine Rolle zu spielen.<br />

Als Vizepräsident der Europäischen Kommission, der für den Verkehrsbereich<br />

zuständig ist, möchte ich unterstreichen, welch hervorragendes Instrument der<br />

Verkehrssektor für den europäischen Zusammenhalt darstellt. Die<br />

Transeuropäischen Verkehrsnetze tragen, indem sie beispielsweise Lyon mit<br />

Budapest und Ljubljana verbinden, zu einer besseren Integration des europäischen<br />

Raumes bei. Indem sie die Abstände verringern, helfen sie auch mit, die<br />

„mentalen Barrieren“ zwischen den Europäern abzubauen. Die Errichtung dieser<br />

Verkehrsnetze zur Anbindung der Nachbarländer erleichtert auch den Zugang<br />

der Europäer zu diesen Märkten und lässt diese Länder von der<br />

Anziehungswirkung der europäischen Wirtschaft profitieren. Gute Verkehrsverbindungen,<br />

Handelsaustausch und eine entsprechende Nachbarschaftspolitik<br />

können diesen benachbarten Ländern, die von den positiven Auswirkungen des<br />

europäischen Aufbauwerks profitieren wollen, ohne sich auf das mit dem Beitritt<br />

verbundene politische Projekt einlassen zu wollen, eine Perspektive bieten.<br />

43


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Gegen ein altes Europa: Streben nach Wettbewerbsfähigkeit<br />

Abgesehen von den Werten und der Ausrichtung, die wir Europa geben wollen,<br />

kommt es darauf an, Europa zu einer Region der Innovation zu machen und<br />

den künftigen Generationen die Mittel zu hinterlassen, um dies zu erreichen.<br />

1. Die Strategie von Lissabon<br />

JACQUES BARROT<br />

Die Halbzeitüberprüfung der Strategie von Lissabon ist Teil dieses Konzepts. Im<br />

März 2000 wurde mit der Strategie von Lissabon eine große Ambition verkündet:<br />

Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.<br />

Fünf Jahre später sind die Ergebnisse nicht auf der Höhe dieses ehrgeizigen Ziels:<br />

Im Jahr 2004 lag die Wachstumsrate des realen BIP in der EU-25 bei 2,3 %, gegenüber<br />

4,4 % in den USA. Die Produktivität der Arbeitskräfte pro Arbeitsstunde ist in<br />

Europa immer noch niedriger als in den USA: einem Indexwert von 100 in der EU-<br />

15 steht ein Wert von 113,7 in den USA gegenüber. Zudem belaufen sich die europäischen<br />

Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Jahr 2003 für die EU-15 auf<br />

kaum 2 % des BIP, gegenüber 2,7 % in den USA und 3 % in Japan.<br />

Also machten sich eine bessere Abstufung der Prioritäten und eine rationellere<br />

Gestaltung der Strategie von Lissabon erforderlich. Künftig kommt es darauf<br />

an, ein vorrangiges Ziel festzulegen: mehr Wachstum und mehr qualifiziertere<br />

Arbeitsplätze, um eine nachhaltigere Wettbewerbsfähigkeit unter Einbeziehung<br />

der sozialen Dimension zu entwickeln. Die Wettbewerbsfähigkeit ist von einer<br />

Fülle von Faktoren abhängig, deshalb sieht ein Aktionsplan etwa 200 konkrete<br />

Aktionen in zehn Politikbereichen vor (Binnenmarkt, Öffnung der Märkte,<br />

Rechtsvorschriften, Infrastruktur, Forschung, Industrie, Beschäftigung, berufliche<br />

Bildung, allgemeine Bildung). Allerdings ist der Erfolg dieses für die europäische<br />

Wirtschaft erforderlichen Programms aus meiner Sicht vor allem von drei Faktoren<br />

abhängig.<br />

Einer der wichtigsten Hebel sind Investitionen in Forschung und Entwicklung:<br />

So hat sich die Union das Ziel gesetzt, den für diesen Bereich aufgewendeten<br />

Anteil des BIP bis zum Jahr 2010 auf 3 % des europäischen BIP zu erhöhen.<br />

Weitere Mittel zur Förderung der europäischen Forschung sind die Gründung<br />

eines europäischen Instituts für Technologie und technologischer Plattformen<br />

sowie die Bereitstellung von Kofinanzierungen der Union zur Entwicklung umweltfreundlicher<br />

Technologien. Deshalb hat die Europäische Union weiterhin beschlossen,<br />

eine Finanzierungsanstrengung im Rahmen des 6. Rahmenprogramms für<br />

Forschung und Entwicklung (FTE-Rahmenprogramm) zu unternehmen, die sich auf<br />

17,5 Mrd. Euro für den Zeitraum 2002-2006 beläuft. Schließlich hat die Kommission<br />

im Rahmen der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 ebenfalls 10 Milliarden jährlich<br />

für Forschungszwecke beantragt.<br />

Der Dienstleistungssektor, der 71 % der Bruttowertschöpfung und 69,2 % der<br />

Beschäftigung der erweiterten Union ausmacht, ist der Sektor, der am meisten<br />

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AUF <strong>DE</strong>M WEG INS JAHR 2020: WIE<strong>DE</strong>RBELEBUNG EUROPA'S<br />

Arbeitsplätze schafft und am besten geeignet ist, einen Beitrag gegen die<br />

Arbeitslosigkeit zu leisten. Deshalb ist die Öffnung des Dienstleistungsmarktes<br />

erforderlich: Sie wird es ermöglichen, dass der Dienstleistungsverkehr zunimmt, dass<br />

die Verbreitung der Dienstleistungen erleichtert wird und dass Arbeitsplätze entstehen.<br />

Allerdings verlangen einige Sektoren (Verkehr, audiovisueller Sektor,<br />

Gesundheitsbereich) einen spezifischen Ansatz, und das Prinzip der Anwendung<br />

des Rechts des Herkunftslandes darf nicht zu Sozialdumping und unlauterem<br />

Wettbewerb führen. Schließlich gilt es, die Spezifik der Gemeinwohlverpflichtungen<br />

zu berücksichtigen: Die Aufrechterhaltung eines Universaldienstes von hoher<br />

Qualität und die Wahrung des sozialen und territorialen Zusammenhalts der erweiterten<br />

Union sind wesentliche Ziele für ein Europa im Dienste der Bürger. Die<br />

Strategie von Lissabon muss also eindeutig als die Herstellung eines Gleichgewichts<br />

zwischen Marktöffnung und öffentlichen Dienstleistungen konzipiert werden.<br />

Der Erfolg der Strategie von Lissabon und der damit verbundenen Maßnahmen<br />

hängt nicht allein von den europäischen Institutionen ab, sondern von der<br />

Mobilisierung aller. Einer der Gründe für das Ausbleiben des Erfolgs der Strategie<br />

von Lissabon liegt in der unzureichenden Umsetzung der auf Gemeinschaftsebene<br />

festgelegten Orientierung durch die nationalen Behörden. Erforderlich wären eine<br />

echte Aneignung dieses Dokuments sowie eine Überwachung der Ergebnisse.<br />

Von besonderem Nutzen wird ein Vergleich der Leistungen der Mitgliedstaaten<br />

sein. Es geht nicht darum, abstrakte Ziele auf sehr unterschiedliche nationale<br />

Situationen zu übertragen, sondern die Mitgliedstaaten in die Verantwortung zu nehmen,<br />

indem sie aufgefordert werden, ihre Erfolge in einigen Schlüsselbereichen vorzustellen.<br />

Dabei könnte es sich beispielsweise um die Schaffung von Arbeitsplätzen,<br />

die FuE-Ausgaben oder die Investitionen in Infrastrukturen handeln. Voraussetzung<br />

für die Aneignung durch die Mitgliedstaaten ist auch eine größere Einbeziehung<br />

der nationalen Parlamente und der Gebietskörperschaften. Außerdem ist die<br />

Einbeziehung der Zivilgesellschaft von Bedeutung. Unter diesem Blickwinkel stellt<br />

die Jugend eine vorrangige Zielgruppe dar, vor allem die Frage des Eintritts in das<br />

Erwerbsleben: Es sei daran erinnert, dass Ende 2004 in der EU-25 18,2 % der<br />

Jugendlichen von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Das von J. Figel’ vorgeschlagene<br />

Instrument (eine Charta anstelle eines Pakts), bei dem alle Partner (Hochschulen,<br />

Unternehmen usw.) in eine große europäische Initiative zugunsten der Jugend<br />

eingebunden werden, wird die Eingliederung der Jugendlichen in den Arbeitsmarkt<br />

fördern. Schließlich sollen die Unternehmen nicht nur die letztlich Begünstigten der<br />

Strategie von Lissabon sein, sondern auch vollwertige Akteure. Es gilt, die Strategie<br />

von Lissabon aus den Büros der Beamten herauszuholen und sie Sektor für Sektor<br />

mit den Akteuren vor Ort zu konkretisieren. Das setzt voraus, dass regelmäßige<br />

Treffen zwischen europäischen Institutionen, Mitgliedstaaten und Unternehmen<br />

stattfinden, um Bilanz über den Fortgang der Projekte zu ziehen. Im Verkehrssektor<br />

könnte ein solches Treffen die Form eines großen jährlichen Mobilitätsforums<br />

haben.<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 46<br />

JACQUES BARROT<br />

2. Der Verkehrssektor als wesentliches Element der Strategie von Lissabon<br />

und der europäischen Wettbewerbsfähigkeit:<br />

Während es immer dringlicher wird, die Union mit leistungsfähigen<br />

Verkehrsinfrastrukturen auszustatten, um ihr Wachstumspotenzial zu entwickeln,<br />

ist die Erfolgsbilanz des transeuropäischen Verkehrsnetzes in den letzten zehn<br />

Jahren doch eher bescheiden. In zehn Jahren wurde nur ein Drittel der vorgesehenen<br />

Investitionen realisiert. Das heißt, bei dem gegenwärtigen Tempo würde man<br />

noch 20 Jahre brauchen, um diese Projekte abzuschließen. Die größten Rückstände<br />

sind im Wesentlichen bei den grenzüberschreitenden Verbindungen zu verzeichnen,<br />

was paradox ist, handelt es sich doch hierbei um die Streckenabschnitte mit<br />

dem höchsten „europäischen Mehrwert“.<br />

Diese Situation ist der Wettbewerbsfähigkeit der Union insgesamt sehr abträglich,<br />

denn das Fortbestehen von Verkehrsengpässen und fehlenden<br />

Verbindungsstücken auf den wichtigsten transeuropäischen Strecken bringt hohe<br />

staubedingte Kosten mit sich, abgesehen von den Kosten infolge der<br />

Umweltverschmutzung und der Unfälle als Begleiterscheinungen. Im Jahr 2020<br />

werden die staubedingten Kosten sich auf ca. 1 % des Gemeinschafts-BIP belaufen.<br />

Nach Studien der Kommission würde die Realisierung des Transeuropäischen<br />

Verkehrsnetzes es ermöglichen einen Wachstumszuwachs von ca. 0,2 bis 0,3<br />

Prozentpunkten des Bruttoinlandsprodukt zu erreichen, was einem Potenzial von<br />

einer Million neu geschaffenen ständigen Arbeitsplätzen entspräche. Darüber<br />

hinaus würde die Realisierung des TEN eine Verringerung der Treibhausgasemissionen<br />

von etwa 4 % ermöglichen, womit die Union den Zielen des Kyoto-Protokolls<br />

näher käme.<br />

Vor nunmehr zehn Jahren haben wir die Barrieren für den freien Personen- und<br />

Güterverkehr aus dem Wege geräumt. Durch unser fehlendes Engagement und den<br />

fehlenden politischen Willen, unsere Union mit den unerlässlichen<br />

Verkehrsinfrastrukturen auszustatten, schaffen wir nicht nur neue physische<br />

Barrieren, sondern untergraben vor allem die Fundamente des Wachstums und<br />

der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union, die wir aufzubauen versuchen.<br />

Die Anstrengungen, die in anderen Bereichen unternommen werden, um den<br />

Lissabon-Prozess wieder in Gang zu bringen, werden nur Sinn haben, wenn die<br />

betroffenen Akteure sich mutig zu ihren Ambitionen bekennen und die Union<br />

mit den für ihre Weiterentwicklung erforderlichen Infrastrukturen ausstatten.<br />

Um mit den unendlichen Listen unausgeführter Projekte Schluss zu machen, sehe<br />

ich konkret fünf Bedingungen, die es zu erfüllen gilt, wenn wir unsere Ambitionen<br />

im Bereich der Verkehrsinfrastrukturen realisieren wollen. Erstens gilt es die<br />

Mittelausstattung des TEN-Haushalts in Höhe von 20,3 Mrd. Euro für sieben Jahre<br />

einzuhalten, die von der Kommission vorgeschlagen und durch das Europäische<br />

Parlament unterstützt wurde. Es sei daran erinnert, dass aus diesem Haushalt ehrgeizige<br />

Projekte finanziert werden, wie SESAM oder ERTMS, die es ermöglichen<br />

werden, Engpässe im Luftraum und auf der Schiene zu bekämpfen und die damit<br />

46


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 47<br />

AUF <strong>DE</strong>M WEG INS JAHR 2020: WIE<strong>DE</strong>RBELEBUNG EUROPA'S<br />

verbundenen Verluste an Wettbewerbsfähigkeit zu verringern. Ebenso wird Galileo<br />

mit der Entwicklung eines unabhängigen europäischen Satellitennavigationssystems<br />

Zeugnis von der Exzellenz der europäischen Forschung ablegen. Für dieses<br />

Satellitenpositionierungssystem wird es verschiedene Anwendungen geben, die<br />

allen zugute kommen: Galileo wird die Entwicklung des intelligenten<br />

Straßenverkehrs deutlich beschleunigen und durch eine bessere Lokalisierung ein<br />

effizienteres Verkehrsmanagement auch im Luft- und Eisenbahnverkehr ermöglichen.<br />

Bei einer Verringerung der von der Kommission geforderten Haushaltsmittel<br />

werden solche Entwicklungen unmöglich sein. Die zweite Bedingung ist, dass<br />

rasch eine Einigung über die Überarbeitung der Richtlinie „Eurovignette“ erzielt wird.<br />

So würde beispielsweise die Genehmigung einer Erhöhung der Mautgebühren<br />

auf den Alpenautobahnen um mindestens 25 % zusätzliche Einnahmen ermöglichen,<br />

um beispielsweise die Finanzierung der Tunnel am Mont Cenis und am<br />

Brenner abzudecken. Die dritte Bedingung ist die Koordinierung der Durchführung<br />

der vorrangigen Projekte. Folglich werde ich in Kürze der Kommission vorschlagen,<br />

sechs „europäische Koordinatoren“ mit anerkanntem Gewicht und anerkannten<br />

Kompetenzen für sechs grenzüberschreitende prioritäre Projekte zu<br />

benennen. Die vierte Bedingung ist die Entwicklung von innovativen<br />

Finanzierungsinstrumenten und Finanzkonstruktionen von der Art „Öffentlichprivate<br />

Partnerschaft“: Die Kommission (mein Kollege Joaquín Almunia und ich<br />

selbst haben intensiv daran gearbeitet) wird im Laufe des Monats März die Schaffung<br />

eines Garantieinstruments vorschlagen, das aus Mitteln des europäischen TEN-<br />

Haushalts für den Zeitraum 2007-2013 finanziert wird und dazu bestimmt ist, die<br />

Risiken abzudecken, die in den ersten Jahren nach Inbetriebnahme der<br />

Infrastrukturen bestehen. Schließlich gehört zum Verkehrssektor wie zu jeder anderen<br />

Gemeinschaftspolitik, dass die Mitgliedstaaten ihre finanziellen Verpflichtungen<br />

einhalten. Der europäische Haushalt ist nicht die einzige Quelle zur Finanzierung<br />

des transeuropäischen Verkehrsnetzes und darf auf keinen Fall an die Stelle der<br />

finanziellen Anstrengungen der betroffenen Mitgliedstaaten treten, die eine unerlässliche<br />

Voraussetzung für die Freigabe der europäischen Mittel sind. Ich bin ein<br />

strenger Finanzverwalter. Nur ausgereifte Projekte, für die die Mitgliedstaaten ihr<br />

entschlossenes Engagement zur Realisierung der Infrastruktur bis 2020 beweisen,<br />

können Mittelzuweisungen aus dem TEN-Haushalt erhalten.<br />

3. Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts:<br />

Die Erneuerung der Strategie von Lissabon und die Entwicklung des<br />

Verkehrswesens schließt die Festlegung eines wachstumsfreundlicheren Rahmens für<br />

die Haushaltsdisziplin ein, ohne die Währungsstabilität der Union in Frage zu stellen.<br />

So geht es bei der Debatte über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts<br />

nicht nur darum, sich arithmetischen Kriterien anzupassen, sondern einen Weg zu<br />

finden, um die Früchte des Wachstums besser zur Vorbereitung der Zukunft zu nutzen,<br />

um in Zeiten der Flaute über Handlungsspielräume zu verfügen und den künftigen<br />

Generationen gesunde öffentliche Finanzen zu hinterlassen.<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 48<br />

Der derzeitige Zustand der europäischen öffentlichen Finanzen ist weit entfernt<br />

von den Zielen, die bei der Annahme der einheitlichen Währung im Vertrag<br />

von Maastricht festgelegt wurden: Die öffentliche Verschuldung lag im Jahr 2003<br />

bei 63,3 % des BIP in der EU-25 und 64,3 % des BIP in der EU-15. In der Eurozone<br />

war das Schuldenniveau mit 70,7 % noch besorgniserregender, obwohl es sich<br />

doch dabei um die Länder handelt, die das größte Interesse daran haben, den<br />

Stabilitäts- und Wachstumspakt als Garanten für die Stabilität ihrer Währung einzuhalten.<br />

Die Lage verschlechtert sich aber weiter mit einem durchschnittlichen<br />

Defizit von – 2,7 % in der Eurozone und – 2,8 % in der EU-25.<br />

Die Änderung der Anwendungsmodalitäten des Pakts müsste also mehr<br />

Flexibilität in Krisenzeiten ermöglichen und zugleich die Mitgliedstaaten dazu<br />

anhalten, in Zeiten des Wachstums ihre Schulden abzubauen und ihre öffentlichen<br />

Finanzen zu sanieren. Nur unter dieser Voraussetzung können wir den künftigen<br />

Generationen mit Blick auf das Jahr 2010 die finanziellen Mittel hinterlassen,<br />

die es ihnen erlauben, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und eine<br />

langfristige Stabilität des Euro zu sichern.<br />

Der Platz Europas in der Welt<br />

JACQUES BARROT<br />

Auf dem internen Markt wettbewerbsfähig zu sein, wird den europäischen<br />

Bürgern mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze bringen, zugleich aber Europa<br />

dabei helfen, sich auf internationaler Ebene zu behaupten.<br />

Die europäischen Handelserfolge sind die erste Illustration der Vorteile Europas.<br />

Als erste Handelsmacht in der Welt mit etwa 20 % des Welthandels und weltweit<br />

wichtigster Exporteur von Dienstleistungen (mit 324 Mrd. Euro im Jahr 2002, das<br />

sind 25,8 % der Exporte weltweit) konnte die Europäische Union den Nachweis<br />

erbringen, dass die Methode, die darin bestand, sich zusammenzuschließen, um<br />

eine gemeinsame Handelspolitik zu betreiben und die Märkte zu öffnen, sich<br />

bewährt hat. Das Vorgehen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten<br />

innerhalb der Welthandelsorganisation und die bilateralen Abkommen zwischen<br />

der Europäischen Union und anderen Ländern (USA, Kanada usw.) sowie regionalen<br />

Zonen (Mittelmeerländer, Asien, Golfstaaten, AKP-Länder) kam den europäischen<br />

Exporten in hohem Maße zugute. Bis 2010 besteht eine der Ambitionen<br />

darin, es den Europäern zu ermöglichen, dass sie weiterhin von den Vorteilen der<br />

Liberalisierung des Handels dank der Fortsetzung der multilateralen Verhandlungen<br />

innerhalb der Welthandelsorganisation profitieren. Der Erfolg der bilateralen<br />

Abkommen im Verkehrsbereich ist Teil dieser Entwicklung: Die Wiederbelebung<br />

der „Open Sky “-Luftverkehrsabkommen mit den USA, China und Russland wird es<br />

den europäischen Fluggesellschaften ermöglichen, Aktivitäten auf diesen Märkten<br />

zu entwickeln und besser von den weltweiten Auswirkungen der Zunahme des<br />

Handels zu profitieren.<br />

Wenn auch die Marktöffnung positive Auswirkungen hat, so erfordern doch<br />

bestimmte Sektoren, vor allem der Kultur- und der Gesundheitsbereich, einen<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 49<br />

AUF <strong>DE</strong>M WEG INS JAHR 2020: WIE<strong>DE</strong>RBELEBUNG EUROPA'S<br />

spezifischen Ansatz. Dies findet Berücksichtigung im Allgemeinen Übereinkommen<br />

über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), das auf der Ebene der<br />

Welthandelsorganisation ausgehandelt wurde. Solidarität muss auch künftig<br />

Bestandteil der Handelspolitik bleiben: Die Abkommen von Cotonou vom 23.<br />

Juni 2000 und das Allgemeine Präferenzsystem symbolisieren diese gegenseitige<br />

Hilfe gegenüber Ländern mit geringem Einkommen.<br />

Die Europäische Union ist bereits heute ein wichtiger Akteur im Bereich der<br />

Entwicklung. Im Jahr 2001/2002 machte die von den Mitgliedstaaten und der<br />

Europäischen Kommission aufgebrachte öffentliche Entwicklungshilfe 19.143 Mio.<br />

Dollar aus, davon stammten 5.213 Mio. Dollar von der Europäischen Kommission.<br />

In 20 Ländern (darunter Afghanistan, Elfenbeinküste, Burundi, Ruanda, Osttimor)<br />

macht die europäische Hilfe mehr als 50 % der insgesamt geleisteten Hilfe aus. Im<br />

humanitären Bereich hat das europäische Amt für humanitäre Hilfe, ECHO, im<br />

Jahr 2004 mehr als 570 Mio. Euro zur Verfügung gestellt, sei es als Hilfe für Länder<br />

nach Konflikten, Flüchtlingshilfe oder Hilfe nach Naturkatastrophen. Diese<br />

Antworten müssen noch vertieft werden, vor allem im Lichte der dramatischen<br />

Ereignisse in Südostasien, um eine reaktionsschnellere Hilfe und eine bessere<br />

Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen. Dieses Vorgehen muss<br />

mit den bestehenden internationalen Institutionen (Vereinte Nationen, Institutionen<br />

von Bretton Woods) koordiniert werden, innerhalb derer, wann immer möglich,<br />

eine bessere Konzertierung zwischen den Mitgliedstaaten anzustreben ist.<br />

Die Europäische Union könnte sich auch stärker in die Lösung bestimmter<br />

Konflikte einbringen und nach außen das Friedensmodell propagieren, das zu<br />

erreichen ihr im Innern gelungen ist. Operationen wie Artemis in der<br />

Demokratischen Republik Kongo, EUFOR (Althea) in Bosnien und Herzegowina,<br />

EUPOL-Kinshasa, Concordia in Mazedonien sind europäische Beiträge zur Erhaltung<br />

des Friedens, die vertieft und auf andere Teile der Welt ausgeweitet werden sollten.<br />

Solche Aktionen werden durch die Europäische Verfassung beträchtlich erleichtert<br />

werden, die einen europäischen Außenminister einsetzen und die Fälle erweitern<br />

wird, in denen die Europäische Union militärisch intervenieren kann, und<br />

die mittelfristig die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Verteidigung<br />

vorsieht, sobald der Europäische Rat dies beschlossen hat.<br />

Schließlich muss die Europäische Union sich bis zum Jahr 2010 um ausgewogenere<br />

Beziehungen zu den USA auf dem Gebiet der Außenpolitik bemühen. Der<br />

Europabesuch von Präsident George W. Bush kann aus dieser Sicht die erste<br />

Etappe einer Annäherung und gemeinsamer Überlegungen zu bestimmten Fragen<br />

darstellen. Die Wiederaufnahme der „Open Sky “-Verhandlungen wird ein erster<br />

konkreter Ausdruck dieser neuen Beziehung im Bereich des Luftverkehrs sein.<br />

Wenngleich die europäische Identität an die Grenzen gebunden ist, die Europa<br />

sich geben wird, so hängt sie doch vor allem von dem Gesicht ab, das wir Europäer<br />

dem Europa von morgen geben wollen: das Gesicht eines wettbewerbsfähigen<br />

und ambitionierten Europas, das das Potenzial und die Kreativität der Jugend nutzbar<br />

macht, und eines Europas, das seinen Platz nach außen stärker behauptet,<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 50<br />

JACQUES BARROT<br />

nämlich den eines Kontinents, dem es nach Jahrhunderten von Bruderkriegen<br />

gelungen ist, Frieden zu erlangen und ein in der Welt einzigartiges politisches<br />

Projekt zu entwickeln.<br />

50<br />

Februar 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 51<br />

Simon BUSUTTIL<br />

Leiter der maltesischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Europas Zukunft gestalten<br />

Von der Vergangenheit zu reden ist leicht, weil viel über sie bekannt ist. Sich<br />

die Zukunft vorzustellen ist schwierig, hier ist alles unbekannt. Dennoch haben<br />

Zukunftsvisionen in der Politik – und nicht zuletzt in der Geschichte der europäischen<br />

Einheit – stets eine wichtige Rolle gespielt. Die Schuman-Erklärung war<br />

eine solche Zukunftsvision: Ihre unmittelbaren Aufgaben waren leicht zu verstehen.<br />

Ihr längerfristiges Ziel, die Erreichung einer Europäischen Föderation,<br />

war nur in Umrissen in weiter Ferne auszumachen. Und doch sind mit ihrer Hilfe<br />

Entwicklungen in Gang gesetzt und der Lauf der Dinge beeinflusst worden.<br />

Da wir nichts Genaues über die Zukunft wissen, können wir uns ihr nur<br />

anhand gegenwärtiger Trends nähern. Und doch ist Nachdenken über die Zukunft<br />

kein utopisches Ausweichen vor drängenden Problemen der Gegenwart. Es ist<br />

vielmehr die nützliche Kunst, zu versuchen, den Gang künftiger Entwicklungen<br />

zu beeinflussen, soweit uns dies möglich ist, denn Überraschungen und ungeplante<br />

Ereignisse wird es immer geben. Zugleich ist es eine Möglichkeit, gegenwärtigen<br />

Schwierigkeiten Alternativen gegenüberzustellen. Letzten Endes ist es ein<br />

kreativer Akt. Aber trotz der vielen Vorteile ist der Blick in die Zukunft nicht sehr<br />

beliebt bei Politikern, die ihre Tätigkeit oft im Bismarckschen Sinne als „Kunst des<br />

Möglichen“ verstehen. Diese Haltung verrät natürlich Anpassung an das Gegebene<br />

und Scheu vor Veränderung. Ich möchte deshalb den Förderern dieses Buches<br />

danken, die mir Gelegenheit geben, an diesem fantasievollen Projekt mitzuwirken,<br />

das versucht, ein Bild von der Zukunft zu malen.<br />

Die Diskussion „einer <strong>Vision</strong> für Europa 2020“ erfordert eine Definition von<br />

Europa und seinen äußersten Grenzen. Bis zum Jahr 2020 wird die EU aller<br />

Wahrscheinlichkeit nach bereits die Türkei und die Ukraine und vielleicht noch<br />

weitere Staaten aufgenommen haben. Die Grenzen Europas zu diskutieren ist<br />

weder leicht noch eindeutig. Wo man die europäische Grenze auch zieht, es<br />

wird immer willkürlich sein und nie wird man es allen Recht machen können.<br />

Wenn wir Europa jedoch anhand von Geografie, Kultur und seinen Grundwerten<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 52<br />

SIMON BUSUTTIL<br />

definieren, gelingt es uns schon, eine bessere Vorstellung von Europa zu entwickeln,<br />

wohl wissend, dass die „idealen“ Grenzen Europas stets unklar bleiben werden.<br />

Ich stimme zu, dass die EU an einem gewissen Punkt zu wachsen aufhören<br />

und sich festigen muss. Aufgrund seiner territorialen Ausdehnung und Vielfalt<br />

besteht bereits jetzt die Gefahr, dass Probleme von „Gigantismus“ auftreten, nämlich<br />

viele Bürger das Gefühl haben, sich weit weg vom Zentrum der Ereignisse<br />

zu befinden, und bei der Anbindung der entlegensten Ecken an jene Orte, an<br />

denen Entscheidungen getroffen werden, Kommunikationsprobleme auftreten. Von<br />

daher würde ich die Vermutung wagen, falls und wenn es der EU gelungen sein<br />

wird, die Türkei und die Ukraine sowie vielleicht einige kleinere Staaten einzugliedern,<br />

wozu Länder wie die Moldau und Belarus im Osten, Island und<br />

Norwegen im Norden gehören könnten, hätte sie ihre Möglichkeiten weitestgehend<br />

ausgeschöpft. Alles darüber hinaus würde die Gefahr des Zerfalls in sich<br />

bergen. Wichtig für die Stärkung des Zusammenhalts der Union sind nicht die physischen<br />

Grenzen, sondern vielmehr die Grundwerte Demokratie, Menschenrechte<br />

und Rechtsstaatlichkeit sowie eine gemeinsame <strong>Vision</strong> von der Rolle der EU in<br />

der Welt, die als gemeinsames Band die unterschiedlichen Mitgliedstaaten zusammenhalten.<br />

Ein solches Europa könnte der Kernpunkt eines „Großeuropa“ werden,<br />

das Russland als Partner ebenso einschließt wie andere benachbarte Staaten.<br />

Es wird auch Brennpunkt einer stärkeren Partnerschaft im Mittelmeerraum sein.<br />

In fünfzehn Jahren wird sich die europäische Landschaft erheblich verändert<br />

haben. Die EU wird aller Wahrscheinlichkeit nach gewachsen sein. Ich nehme an,<br />

dass die „Wissensgesellschaft“ bis dahin konkrete Gestalt angenommen haben<br />

wird. Das Rätsel der europäischen Wettbewerbsfähigkeit ist bis dahin zufrieden<br />

stellend gelöst. In Verbindung mit einer sichereren Umwelt und entsprechenden<br />

Verbesserungen im Gesundheitswesen würde dies die Voraussetzungen für eine<br />

spürbar höhere Lebensqualität der Mehrheit der Bürger Europas schaffen.<br />

Soziologisch betrachtet wird sich Europa ebenfalls verändert haben: Seine<br />

Bevölkerung ist gealtert. Wenn wir die gegenwärtige Geschwindigkeit des technologischen<br />

Wandels zugrunde legen, steht zu erwarten, dass sich auch die<br />

Lebensweise drastisch verändert haben wird.<br />

Es wäre jedoch falsch, Europas materiellen Fortschritt als vorherbestimmte<br />

lineare Entwicklung zu betrachten. So liegen die Dinge nicht, und die Gefahr<br />

eines Rückschlags ist immer gegeben. Politiken können misslingen, das passiert<br />

sogar recht häufig, und wenn wir uns zu ehrgeizige Ziele setzen, riskieren wir,<br />

diese nicht zu erreichen. Deshalb müssen sie ständig überprüft werden.<br />

Europa expandiert und arbeitet daran, seinen inneren Zusammenhalt zu stärken;<br />

daher besteht immer die Gefahr, dass es zu sehr mit sich selbst beschäftigt<br />

ist und nur nach innen schaut. Um dieser Gefahr entgegenzusteuern, hat die EU<br />

ihre Nachbarschaftspolitik ins Leben gerufen, die zwar noch ganz am Anfang<br />

steht, aber trotzdem in den unmittelbaren Nachbarstaaten der Union auf großes<br />

Interesse stößt.<br />

In einer globalen Welt wie der unseren wäre es jedoch kurzsichtig, nicht über<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 53<br />

EUROPAS ZUKUNFT GESTALTEN<br />

die unmittelbare Nachbarschaft hinauszublicken. Tatsächlich haben weitaus mehr<br />

verhängnisvolle Risiken für die Stabilität der Union ihren Ursprung jenseits dieser<br />

Nachbarstaaten. Die Union muss hierauf reagieren, vielleicht mit mehr<br />

Nachdruck als bisher.<br />

Die von jenseits unserer europäischen Nachbarn ausgehenden Herausforderungen<br />

sind bedrohlich, weil technischer Fortschritt und die Revolution in der<br />

Telekommunikation die Entfernungen verringert haben.<br />

Zu den größten Herausforderungen gehören meiner Ansicht nach:<br />

Erstens, die Ziele der Millenniumserklärung. Immer wieder wird beklagt, sie<br />

würden nicht erreicht. Es wurden Schritte eingeleitet, das Problem der globalen<br />

Erwärmung anzugehen, aber das Kyoto-Protokoll kratzt nur ein wenig an der<br />

Oberfläche. Es wäre schlecht, wenn es Zufriedenheit statt erneuter Anstrengungen<br />

nach sich zöge, der globalen Erwärmung Einhalt zu gebieten. Ich bin sicher,<br />

dass die globale Erwärmung auch in fünfzehn Jahren noch ein Thema sein wird.<br />

Dann ist da die Gefahr einer HIV-Pandemie: Die UNO möchte, dass in diesem<br />

Jahr 10 Milliarden und im kommenden Jahr 15 Milliarden Dollar zur<br />

Bekämpfung dieser Krankheit ausgegeben werden. Man schätzt jedoch, dass es<br />

im laufenden Jahr nur etwa 4,7 Milliarden Dollar sein werden. Da sich Europa auf<br />

weitere Erleichterungen bei Flugreisen einstellt und dies für die nächsten beiden<br />

Jahrzehnte kennzeichnend sein wird, muss es sich selbst noch besser auf die<br />

Abwehr der damit einhergehenden Gefahren wie einer eventuellen Zunahme<br />

übertragbarer Krankheiten vorbereiten, wie der jüngste Ausbruch der asiatischen<br />

Geflügelpest zeigte.<br />

Wir können das Schuldenproblem nicht ignorieren: Die 38 am stärksten verschuldeten<br />

Länder schulden ihre Rückzahlungen nicht anderen Staaten, sondern<br />

multilateralen Organisationen wie der Weltbank und dem Internationalen<br />

Währungsfonds. Dieses Jahr haben die G-7 einen Schuldenerlass zugesagt – wir<br />

müssen dafür sorgen, dass dieser auch eintritt. Der Schuldenerlass ist nur Teil der<br />

Gleichung, es müssen Entwicklungsressourcen mobilisiert werden, um diesen<br />

Ländern zu Wachstum zu verhelfen. Auch die drängenden Fragen von Demokratie<br />

und verantwortungsvoller Staatsführung sind für die Verbesserung der<br />

Entwicklungsaussichten unverzichtbar. Das Analphabetentum in den<br />

Entwicklungsländern muss bekämpft und die Anstrengungen zur Überwindung der<br />

Zweiteilung der Welt hinsichtlich der Beherrschung der Informationstechnologien<br />

müssen verdoppelt werden. Ebenso wichtig ist es, dafür zu sorgen, dass<br />

Regierungen die Bodenschätze ihres Landes zum Wohle ihrer Bürger einsetzen –<br />

hierbei denke ich insbesondere an Rohölprodukte in Afrika – und die so gewonnenen<br />

Einnahmen nicht in dubiosen Projekten verschwenden, wenn nicht gar<br />

durch blanke Korruption einbüßen. Die moderne Technik rückt all diese Aufgaben<br />

in den Bereich des Möglichen.<br />

Sie fragen sich vielleicht, warum die EU hier Verantwortung übernehmen soll.<br />

Ich möchte betonen, dass all diese Probleme die hierfür zur Verfügung stehenden<br />

Ressourcen der EU übersteigen. Die EU muss ferner alles vermeiden,<br />

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SIMON BUSUTTIL<br />

was den Anschein erweckt, sie verstünde sich als „Heilsbringerin“ oder wolle<br />

versuchen, Dinge im Alleingang zu tun. In vielen Fällen ist ihr eigenes gutes<br />

Beispiel, nämlich Friede, Wohlstand und Stabilität auf dem europäischen Kontinent,<br />

wirksamer als alle diplomatischen Vertretungen und Demarchen. Ein Rückzug<br />

von der Welt in Isolationismus, wenn er denn möglich wäre, kommt für die EU<br />

nicht in Betracht.<br />

Zum Glück denkt auch niemand daran.<br />

Die EU erkennt, dass die Erweiterung ihr neue Fähigkeiten verliehen hat,<br />

und damit einhergehend eine neue Rolle. Diese Rolle muss verantwortungsvoll<br />

ausgefüllt werden. Ein kurzer Ausflug in die Welt der internationalen Beziehungen<br />

in fünfzehn Jahren macht deutlich, was ich meine:<br />

Die EU wird einer von vielleicht nicht mehr als sechs Akteuren sein, die weltweit<br />

eine Rolle spielen können. Dazu werden die USA und Nordamerika, China,<br />

Indien, Japan und eventuell eine Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten<br />

gehören. Wenn sich die Zahl der Akteure, die tatsächlich Einfluss nehmen können,<br />

so drastisch verringert, müsste es theoretisch leichter sein, weltweite Fragen<br />

gemeinsam anzugehen. Doch es werden neue Konflikte und Gefahren auftauchen.<br />

Es wird ein Wettlauf um Märkte und die immer knapper werdenden materiellen<br />

Ressourcen und Energievorräte einsetzen, um schnelles Wirtschaftswachstum<br />

voranzutreiben. Man muss nur einige der jüngsten Entwicklungen nehmen, um<br />

nahe liegende Schlussfolgerungen ziehen zu können: Die erfreuliche dynamische<br />

Entwicklung in Regionen außerhalb Europas und Nordamerikas, insbesondere<br />

in Asien, hat auch eine Kehrseite, nämlich die gestiegene Nachfrage nach<br />

Rohöl sowie Preiserhöhungen, was die Ökonomien destabilisiert. Außerdem hat<br />

eine weltweite Verlagerung der Produktion nach Asien stattgefunden, was die<br />

wirtschaftliche Situation anderer Regionen beeinträchtigt. Tatsächlich könnte der<br />

Kampf um die knappen ökonomischen Ressourcen – mehr noch als der Kampf<br />

der Kulturen – internationale Turbulenzen nach sich ziehen, weshalb multilaterale<br />

Institutionen natürlich nach Wegen zur friedlichen Lösung solcher Konflikte<br />

suchen.<br />

Deshalb sind Überlegungen, wie in den nächsten fünfzehn Jahren in den<br />

Entwicklungsländern verantwortungsvolle Staatsführung erreicht und die hierzu<br />

erforderlichen Institutionen aufgebaut werden können, keinesfalls von weit hergeholt,<br />

sondern dringend geboten. Auch auf die Gefahr hin, dass man mir vorwirft,<br />

neuen Imperialismus zu schüren – die Schaffung von Institutionen für weltweite<br />

verantwortungsvolle Staatsführung in so vielen Bereichen kommt praktisch<br />

der Errichtung eines „globalen Staates“ gleich, was Fragen aufwirft und heftige<br />

Gefühle auslöst. Natürlich stellt die Verwendung des Begriffs „Staat“ hier nur eine<br />

Annäherung dar, weil es ein treffenderes Wort noch nicht gibt. Beim Aufbau weltweiter<br />

Institutionen hat Europa anderen Staaten eine Menge zu bieten. Die EU<br />

als Union von Staaten mit dynamischen und immer effektiveren Institutionen –<br />

die unablässig nach Konsens streben – eignet sich gut als Vorbild für die Schaffung<br />

ähnlicher Einrichtungen auf regionaler Ebene, die lokale Bedingungen und glo-<br />

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EUROPAS ZUKUNFT GESTALTEN<br />

bale Institutionen gleichermaßen berücksichtigen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

entstandenen internationalen Organisationen sind für die internationale<br />

Gemeinschaft hilfreich gewesen, sie sind jedoch nicht in der Lage, den<br />

Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Die Institutionen der EU, die<br />

die Zusammenarbeit auf zwischenstaatlicher Ebene durch überstaatliche<br />

Institutionen ergänzen, wozu ein Gerichtshof und ein direkt gewähltes Parlament<br />

ebenso gehören wie gemeinsame Rechtsvorschriften aller Mitgliedstaaten, bieten<br />

ein sowohl einzigartiges als auch solides Vorbild, das in abgeänderter Form<br />

die Sache der verantwortungsvollen Staatsführung weltweit voranbringen könnte.<br />

Eine Reform des Systems der Vereinten Nationen muss deshalb versuchen, über<br />

die Entscheidung, welche Länder einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat haben<br />

sollten, hinauszugehen und einen ganzheitlicheren Blick auf die vielen Agenturen<br />

und Organisationen zu entwickeln, die eingerichtet wurden, um sich für ein<br />

gemeinsames Ziel enger zusammenzuschließen.<br />

Deshalb hilft die Aufgabe der Schaffung einer stärkeren und einheitlicheren<br />

EU Europa bei seiner Vorbereitung auf eine Rolle in der Weltpolitik mit mehr<br />

Durchsetzungsvermögen, wobei es den besten Beweis dafür liefert, dass freiwillige<br />

Zusammenschlüsse von Staaten auf der Grundlage demokratischer Prinzipien<br />

und gemeinsamer Ziele und Werte sowie von Rechtsstaatlichkeit die besten<br />

Bedingungen für Frieden und Wohlstand schaffen. Die EU kann nur dann eine<br />

entscheidende Rolle in internationalen Angelegenheiten spielen, wenn sie die<br />

Herausforderungen und ihre Verantwortung erkennt, wenn es ihr gelingt, ihre<br />

Einheit und ihren Zusammenhalt zu stärken und wenn sie entschlossen und<br />

rechtzeitig handeln kann. Ich hoffe, die Ratifizierung des Entwurfs der Verfassung<br />

für Europa wird den notwendigen Rahmen für rechtzeitige Entscheidungen schaffen.<br />

Deshalb hat die kurzfristige Priorität der Gewährleistung ihrer Ratifizierung<br />

für uns mehr als nur lokale Bedeutung. Sie wird die Art der Rolle Europas in<br />

der Welt bestimmen. Jedoch ist es für die Union auch wichtig, besser vorbereitet<br />

zu sein, um auf internationaler Ebene mutigere und kreativere Entscheidungen<br />

zu treffen.<br />

Europas größte Stärke beruht zunächst einmal auf seiner grundlegenden<br />

Entscheidung, Gewalt nicht als wichtigstes politisches Mittel einzusetzen. Weder<br />

nutzt Europa regionale Rivalitäten aus noch schürt es lokale Konflikte, um zu<br />

teilen und zu herrschen. Eine Politik der Machtbalance wird nicht angestrebt.<br />

Stattdessen setzt Europa auf Wirtschaftshilfe, Zugang zu seinen Märkten, die<br />

Bereitstellung von Fachwissen und den ständigen Dialog mit all seinen Nachbarn.<br />

Wenn gegenübergestellt wird, was „gefällt“ und was „nicht gefällt“, wird der<br />

Erfolg der EU vielfach mit demselben Maßstab gemessen wie der von<br />

Nationalstaaten. So wird Europas Unentschlossenheit im Handeln beklagt, die<br />

Tatsache, dass niemand für die EU insgesamt spricht sowie die Tendenz der<br />

Mitgliedstaaten, in wichtigen Fragen viele unterschiedliche Meinungen zu vertreten.<br />

Der Spruch, die Union sei „wirtschaftlich ein Riese, politisch hingegen<br />

ein Zwerg“ scheint so einleuchtend, dass sich eine Diskussion darüber erübrigt.<br />

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SIMON BUSUTTIL<br />

Die Europäische Verfassung wird hoffentlich viele dieser Unzulänglichkeiten<br />

beseitigen. Allerdings ist die EU weder daran interessiert eine Supermacht im<br />

herkömmlichen Sinne zu sein, noch strebt sie nach Hegemonie, vielmehr geht es<br />

ihr darum, den weltweiten Konsens zu befördern.<br />

Die Welt kennt zahllose Beispiele für die Sinnlosigkeit von Krieg oder dem<br />

Einsatz militärischer Mittel zur Beseitigung von – realem oder empfundenem –<br />

Unrecht. Deutlich wurde dies im Irak, in Tschetschenien, im Nahen Osten, auf<br />

dem Balkan, in Sri Lanka, im Kongo, in Ruanda, Haiti und an zahllosen anderen<br />

Orten. Gleichzeitig wird nichtmilitärischer Druck auf Schurkenstaaten nicht länger<br />

vom Tisch gewischt. Jüngste Beispiele von Staaten, die „aus der Kälte kommend“<br />

ihre schwierige Rehabilitation in der internationalen Gemeinschaft angehen,<br />

sind ein gutes Zeichen dafür, dass friedliche Bemühungen ebenfalls<br />

erfolgreich sind: Sie brauchen nur mehr Zeit, Beharrlichkeit und Geduld. Weitere<br />

Anhaltspunkte aus dem Bereich der Nachbarschaftspolitik der EU zeigen auch:<br />

Die Grenzen der Demokratie sind vorgerückt und schließen jetzt Länder wie<br />

Georgien und die Ukraine ein; in der arabischen Welt gibt es eine wiedererwachende<br />

Demokratie. Arabische Intellektuelle und die Medien fordern uneinsichtige<br />

Regierungen heraus, die Reformen blockieren und Veränderungen unterdrücken.<br />

Die Wahlen in Palästina, die Entschlossenheit, mit der die Wähler im Irak<br />

dem Terror trotzten, um ihr Wahlrecht auszuüben, die Protestbewegung im<br />

Libanon und die vor kurzem angekündigten Verfassungsänderungen in Ägypten<br />

sind nur Symptome einer breiteren Bewegung, die unter der scheinbar verkrusteten,<br />

starren Oberfläche von Europas Nachbargesellschaften brodelt.<br />

Europa hat in den Beziehungen zu seinen Nachbarn stets auf Dialog gesetzt<br />

und muss diesen verstärkt anbieten. Wenn ich fünfzehn Jahre in die Zukunft blicke,<br />

sehe ich ein Europa, das mehr Ideen anbietet: Was kann in diesen Nachbarstaaten<br />

getan werden, um den Wandel zu fördern? Europa kann auch ihren technologischen<br />

Bedürfnissen nach Lösung von Problemen wie dem Vordringen der Wüste<br />

und Wassermangel Rechnung tragen. Es kann ihnen helfen, ihre Landwirtschaften<br />

zu revolutionieren und die Nahrungsmittelproduktion zu erhöhen. Es kann, wie<br />

in der Vergangenheit bereits geschehen, diesen Staaten helfen, ihre Reformen<br />

im Sinne verantwortungsvoller Staatsführung vergleichend zu bewerten. Es kann<br />

seine Bemühungen verstärken, sie bei der Schaffung besserer Gesetze zu unterstützen,<br />

um Bürokratie und Korruption abzuwehren und ein effizientes und<br />

unabhängiges Gerichtswesen aufzubauen. Europa kann sie dabei unterstützen,<br />

rentable Kommunikationsnetze einzurichten, die Menschen und Märkte besser<br />

untereinander verbinden. Weiterhin kann die EU auch an der Mobilisierung von<br />

Kapital für ihre Nachbarregion mitwirken. Sie hat ihnen in Fragen der Erzielung<br />

nachhaltiger Entwicklung und Effizienz bei der Energienutzung und Erhaltung von<br />

Ressourcen viel zu bieten.<br />

Der Erfolg wird sich nicht von selbst einstellen, und Europas Nachbarn müssen<br />

für das Projekt der Modernisierung gewonnen werden, indem man sie als<br />

ebenbürtige Partner behandelt. Man muss sogar sagen, so wichtig es für die EU<br />

56


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 57<br />

EUROPAS ZUKUNFT GESTALTEN<br />

ist, nachdrücklicher auf der Umsetzung politischer und wirtschaftlicher Reformen<br />

in ihren Nachbarstaaten zu beharren, noch wichtiger ist es, Länder, die sich dieser<br />

Herausforderung stellen, zu belohnen, indem sie mehr und mehr als gleichgestellte<br />

Partner behandelt werden.<br />

Dies erfordert natürlich ein neues Herangehen an die Art und Weise, in der<br />

die EU ihre Nachbarschaftspolitik gestaltet. Dieses Jahr ist für die Einleitung dieses<br />

Prozesses ein günstiger Augenblick, da wir den 10. Jahrestag der Partnerschaft<br />

Europa-Mittelmeer begehen. Die rohstoffreichen Länder des südlichen<br />

Mittelmeerraumes, durch die praktisch undurchdringliche Sahara vom Rest Afrikas<br />

abgeschnitten, schätzen ihre Bindungen zur EU ebenso, wie die EU die<br />

Beziehungen zu ihnen. Wir müssen den Dialog zu gemeinsam interessierenden<br />

Fragen und gemeinsamer Sicherheit für alle in der Region intensivieren. Ohne nach<br />

wie vor bestehende Herausforderungen wie Terrorismus oder die Weitergabe<br />

von Massenvernichtungswaffen, illegale Einwanderung und andere derartige<br />

Fragen aus den Augen zu verlieren, muss an beiden Seiten der Küste begonnen<br />

werden, aktiv über globale Partnerschaften wie auch neue gemeinsame Initiativen<br />

nachzudenken.<br />

Kurz und gut, die Reform der südlichen Länder ist schon deshalb ein erstrebenswertes<br />

Ziel, weil sie das Wohlergehen der Bürger aller Länder verbessert, darüber<br />

hinaus ist sie aber auch wichtig, weil sie die Möglichkeit zu konzertierterem<br />

Vorgehen auf internationaler Ebene bietet.<br />

Um all dies zu erreichen, ist ein entscheidender Aspekt zu beachten, den die<br />

EU erkannt hat und an dem sie arbeitet, nämlich die Tatsache, dass sich ihre<br />

Ausgangsposition in der globalen Wirtschaft verändert hat. Das Erstarken Chinas<br />

zu einer Weltwirtschaftsmacht, die niedrigere Arbeitskosten mit einem höheren<br />

Grad an technischer Innovation und Know-how verbinden kann, führt noch zu<br />

einer Verschärfung des Problems. Wenn die EU ihre Position in der<br />

Wertschöpfungskette behaupten will, muss sie von den Produkten, denen sie<br />

einstmals ihre Stellung verdankte, wegkommen und sich stärker auf Erzeugnisse<br />

und Dienstleistungen mit höherem Mehrwert konzentrieren. Sie muss also ihre<br />

Forschung und Entwicklung wie auch ihre Innovationsfähigkeit stärken. Hierzu<br />

gehören eine bessere Koordinierung und Vernetzung von Forschungseinrichtungen<br />

ebenso wie höhere Investitionen in wissenschaftliche Forschung und Innovation.<br />

Das bedeutet auch, dass wir unsere Bildungssysteme auf den Prüfstand stellen und<br />

stärker auf Naturwissenschaften ausrichten müssen.<br />

Natürlich werden sich die Erfolge dieser Umorientierung erst allmählich und<br />

auf längere Sicht einstellen. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass eine<br />

so gravierende Reorientierung auf Wissenschaft und Innovation in unseren<br />

Gesellschaften zahlreiche ethische und moralische Fragen aufwirft. In der<br />

Vergangenheit ging es bei solchen ethischen Fragen um Evolution, später um<br />

Abtreibung und Sterbehilfe. Diese moralischen Fragen haben immer noch hohen<br />

Stellenwert, der Übergang zur wissensbasierten, naturwissenschaftlich ausgerichteten<br />

Gesellschaft wird jedoch zahlreiche weitere Fragen aufwerfen, weil die<br />

57


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 58<br />

SIMON BUSUTTIL<br />

Wissenschaft auf Fragen des „Seins“ keine wirklichen Antworten geben kann.<br />

So berühren zum Beispiel die Fortschritte auf dem Gebiet der Genetik wichtige<br />

ethische Fragen: Wie weit darf der Mensch gehen, wenn er in den natürlichen<br />

Prozess der menschlichen Reproduktion eingreift, wo liegen die Grenzen?<br />

Wenn also Europa seine Anstrengungen auf wissenschaftlichem Gebiet verdoppelt,<br />

gehe ich davon aus, dass es auch Antworten geben oder zumindest<br />

unser Wissen in ethischen Fragen zu Problemen der Innovation und wissenschaftlichen<br />

Forschung vertiefen muss, da sonst die Gefahr einer Unterminierung<br />

der humanistischen Werte unserer Gesellschaften droht.<br />

Heute in fünfzehn Jahren wird sich Europa der äußeren Form, seiner<br />

Produktion und dem Grad seiner Einheit nach verändert haben, nicht jedoch in<br />

seiner Vielfalt. Es wird in einer veränderten Welt leben, in der die Kräfte der<br />

Globalisierung und die Verbindungen zwischen Ländern und Völkern enorm<br />

zugenommen haben.<br />

Daraus werden neue Chancen erwachsen, aber auch neue Aufgaben.<br />

Europas Rolle in der Welt wird weitgehend davon abhängen, wie es ihm<br />

gelingt, sich den neuen Bedingungen anzupassen und zu erkennen, wo es sich<br />

positionieren will. Sie wird auch davon abhängen, wie erfolgreich Europa nutzbringende<br />

Bündnisse mit anderen Akteuren, insbesondere seinen Nachbarländern,<br />

schmieden kann. An der Spitze einer solchen Koalition kann Europa dann als<br />

Koordinator eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Globalisierung übernehmen.<br />

Geschehen kann dies im Rahmen neuer globaler Institutionen, die wiederum<br />

auf den Erfahrungen heute tätiger internationaler Organisationen sowie den<br />

im Laufe der Zeit von der EU selbst erworbenen praktischen Erfahrungen mit<br />

transnationaler Integration und Überstaatlichkeit aufbauen.<br />

Bei alledem ist äußerst wichtig, dass die EU nicht das Image einer Supermacht<br />

anstrebt, sondern vielmehr weiterhin auf sein bewährtes Konzept von Dialog<br />

und Konsensbildung vertraut.<br />

So sollte sich Europa den globalen Herausforderungen stellen.<br />

58<br />

Mai 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 59<br />

Globalisierung<br />

Panayiotis <strong>DE</strong>METRIOU<br />

Mitglied der zyprischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Quo vadis Europa?<br />

Wir leben im Jahrhundert der Globalisierung. Jeder Staat und jede Gesellschaft,<br />

in welcher Region der Erde auch immer, ist direkt oder indirekt von allen wichtigen<br />

Ereignissen auf der Welt betroffen. In unserem, dem 21. Jahrhundert, ähnelt<br />

die Welt mit ihren Staaten zunehmend einem System kommunizierender Röhren.<br />

Der Bürger des einzelnen Staates wird immer mehr zum Weltbürger.<br />

Probleme der Umweltverschmutzung und der Migrationsströme, die sich weiter<br />

verschärfen, erlangen globale Dimensionen. Wissen, Informatik und<br />

Automatisierung bestimmen zunehmend die Entwicklung und den Forschritt in<br />

dieser neuen Welt. Der Dogmatismus weicht dem rationellen Denken. Ideologien<br />

trennen die Menschen nicht länger unüberbrückbar voneinander, und die<br />

Auffassungen über verschiedene politische, soziale und wirtschaftliche Fragen<br />

sind zunehmend weniger durch Vorurteile geprägt. Der Anthropozentrismus<br />

bestimmt alle Seiten des modernen politischen Lebens. Der Mensch rückt zunehmend<br />

ins Zentrum des gesellschaftlichen Ganzen. Die durch den Tsunami angerichteten<br />

Zerstörungen zeigen, dass auch die Sorge umeinander und die Solidarität<br />

miteinander globale Ausmaße annehmen.<br />

Im globalen Umfeld des 21. Jahrhunderts hat die Europäische Union die historische<br />

Aufgabe, ihre entscheidende Rolle im Weltgeschehen zu bestimmen.<br />

Die Europäische Union muss das Weltgeschehen entscheidend prägen und dabei<br />

den Menschen und seine Werte, d. h. die Quintessenz der europäischen Idee, in<br />

den Mittelpunkt stellen.<br />

Historische Mission der EU<br />

Um ihrer historischen Mission gerecht zu werden, muss die Europäische<br />

Union in diesen ersten Jahren des neuen Jahrhundert ein festes Fundament für<br />

59


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 60<br />

ihr Aufbauwerk errichten. Die Erweiterung der Europäischen Union ist begrüßenswert,<br />

doch ohne Vertiefung wird es ihr an historischer Substanz fehlen. Und die<br />

Vertiefung lässt sich wirksam und tiefgreifender durch die Ratifizierung der<br />

Verfassung für Europa voranbringen. Dieser höchst bedeutsame politische Akt ist<br />

der Prüfstein dafür, ob es gelingt, die Zukunft Europas zu sichern.<br />

Die Europäische Union entstand als rein wirtschaftlicher Zusammenschluss und<br />

entwickelte sich innerhalb eines halben Jahrhunderts zu einer politischen Union.<br />

Diese Entwicklung hält bis heute an. Europa ist dazu bestimmt, sich aus einem<br />

ausschließlich zwischenstaatlichen Bündnis in eine Union der Staaten und Bürger<br />

zu entwickeln. Ob dies nun als Entwicklung zum Föderalismus bezeichnet wird<br />

oder anders, ist nicht von Bedeutung. Wichtig ist, dass heute und auch in Zukunft<br />

auf die europäische Integration hingearbeitet wird.<br />

Die <strong>Vision</strong> der europäischen Bürger darf sich nicht an geografischen Kriterien<br />

orientieren, sondern muss inhaltlich ausgerichtet sein und sich auf gemeinsame<br />

Werte stützen. Wie weit Europa im geografischen Sinne reicht, muss jedoch<br />

irgendwann festgelegt werden. Die Europäische Union hat sich bisher ohne<br />

Vorurteile und ohne vorgefasste, starre Beschlüsse entwickelt. In den kommenden<br />

zwei oder drei Jahren muss jedoch die Frage beantwortet werden, wie weit<br />

die Grenzen der Europäischen Union reichen können und was für eine<br />

Europäische Union wir anstreben. Eine privilegierte Beziehung kann in diesem<br />

Zusammenhang eine Alternative zu einer ungewissen Erweiterung sein.<br />

Die politische Kultur der Europäischen Union wirkt schon jetzt über ihre geografischen<br />

Grenzen hinaus und beeinflusst die benachbarten Regionen und die<br />

ganze Welt. Ist dies bereits eine weltweite qualitative Erweiterung ? Menschenrechte,<br />

Demokratie und das Legalitätsprinzip, die die drei Eckpunkte für das Wirken der<br />

Europäischen Union bilden, sind gleichzeitig Kompass und Maßstab für das korrekte<br />

Funktionieren jedes modernen Staates.<br />

Die politische Kultur der EU<br />

PANAYIOTIS <strong>DE</strong>METRIOU<br />

Der multikulturelle und multinationale Charakter der Europäischen Union<br />

gibt ihr die Möglichkeit, den Grundsatz der Toleranz, der Achtung der Unterschiede<br />

und der Zusammenarbeit der Staaten, Nationen und Bürger zu entwickeln und<br />

weiter zu festigen. Die Europäische Union muss ihre Katalysatorrolle bei der<br />

Lösung von nationalistischen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfen verstärken,<br />

damit die friedliche Koexistenz sowohl auf nationaler als auch auf sozialer<br />

und individueller Ebene zur Regel wird.<br />

Toleranz, Konvergenz und Kompromissfähigkeit, die drei Hauptmerkmale<br />

der Union, müssen als Regeln für das Wirken der Europäischen Union weiter<br />

gestärkt werden. Der Ausgleich der nationalen, wirtschaftlichen und klassenbezogenen<br />

Interessen bietet eine realistische Möglichkeit, wie diese hochkomplexe<br />

Union funktionieren kann. Wenn sich die Europäische Union auf internationaler<br />

Ebene und jeder einzelne Mitgliedstaat auf europäischer und innerstaatlicher<br />

60


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 61<br />

Ebene für die europäischen Grundsätze und Werte einsetzt, dann wird die Zukunft<br />

Europas auf eine sichere und solidere Grundlage gestellt.<br />

Unsere Vorstellungen für die Zukunft der Europäischen Union und für die<br />

Rolle, die sie auf internationaler Ebene spielen muss, dürfen nicht von Eigennutz<br />

geprägt sein. Wir wollen die Union weder zu einer politischen Supermacht noch<br />

zu einem Wirtschaftsgiganten machen, dem es nur um die Befriedigung der eigenen<br />

Interessen geht. Die Union hat eine weltweite historische Mission. Die<br />

Europäische Union ist keine Reinkarnation eines untergegangenen Imperiums, und<br />

sie knüpft auch nicht an ein politisches oder wirtschaftliches Gebilde aus der<br />

Vergangenheit der Weltgeschichte an. Unsere <strong>Vision</strong> der Europäischen Union ist<br />

nicht einseitig, sie ist komplex und umfassend. Sie beinhaltet wirtschaftliche,<br />

politische, kulturelle, soziale, ökologische und technische Aspekte und stellt<br />

dabei stets den Menschen in den Mittelpunkt.<br />

Die EU auf der internationalen Bühne<br />

Die Beziehungen der Europäischen Union zu den Vereinigten Staaten von<br />

Amerika müssen ausdrücklich und eindeutig auf die Prinzipien der<br />

Gleichberechtigung und der fairen Zusammenarbeit gegründet sein. Die<br />

Europäische Union will nicht in Konkurrenz, sondern in einen Wettbewerb<br />

mit den USA treten. Im Bereich der Außenpolitik müssen die Europäische<br />

Union und die USA einander ergänzen. Die Europäische Union strebt keine<br />

Konflikte mit anderen Akteuren auf internationaler Ebene an. Sie will die ehrliche<br />

Zusammenarbeit, auch mit Russland und den arabischen Ländern sowie<br />

mit allen Ländern des Fernen Ostens, Asiens und Afrikas. Im Rahmen einer<br />

ehrlichen Zusammenarbeit und der Verständigung mit allen Völkern kann und<br />

muss die Europäische Union bei der wirksamen Prävention und Bekämpfung<br />

des Terrorismus vorangehen und dabei vor allem die Ursachen dieses<br />

Phänomens beseitigen.<br />

Lebensqualität<br />

QUO VADIS EUROPA?<br />

Die Verbesserung der Lebensqualität der europäischen Bürger und die<br />

Schaffung weltweiter Modelle für funktionierende Gesellschaften und Staaten<br />

bilden den Rahmen unserer Bestrebungen für Europa. Die nachhaltige<br />

Entwicklung, die wichtigste Priorität der erweiterten Europäischen Union, darf nicht<br />

nur ein Schlagwort sein, sondern muss zu unserem zentralen strategischen Ziel<br />

werden – zu einem Ziel, das sowohl auf gemeinschaftlicher wie auf nationaler<br />

Ebene methodisch und planvoll umgesetzt wird. Der wirtschaftliche Zusammenhalt<br />

im Rahmen des Ziels der nachhaltigen Entwicklung muss zu einem wesentlichen<br />

Bestandteil der europäischen Politik werden. Ziel ist die kontinuierliche<br />

Verbesserung des Lebensstandards und des Wohlergehens der europäischen<br />

Bürger und die ständige Verbesserung ihrer Lebensqualität.<br />

61


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 62<br />

Wirtschaft<br />

Wenn die Wirtschaft auf einem festen Fundament ruht, wird die Europäische<br />

Union die erforderliche Dynamik entwickeln können, um im weltweiten<br />

Wettbewerb eine Führungsrolle einzunehmen. Dazu ist es aber nötig, dass sich<br />

die Europäische Union von veralteten und überkommenen Gewohnheiten und<br />

anachronistischen Regeln im Hinblick auf die Struktur und das Wachstum der<br />

Wirtschaft befreit. Inzwischen ist anerkannt, dass sich die Dynamik einer modernen<br />

Wirtschaft aus Forschung, Bildung und Wissen speist, und auf diese Aspekte<br />

müssen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sowie alle Unternehmer<br />

und die anderen Sozialpartner ihre Aufmerksamkeit richten. Die Union muss<br />

dem erstickenden Druck in Wirtschaft und Handel entrinnen, der von konkurrierenden<br />

Wirtschaften ausgeübt wird, und eine führende Rolle in der Entwicklung<br />

der Technik und bei Entwicklung und der Neustrukturierung der großen wie<br />

auch der mittleren und kleinen Unternehmen spielen.<br />

Bildung<br />

Früher herrschte die Auffassung, Investitionen in die Bildung hätten keinen<br />

direkten Einfluss auf die Produktivität. Heute ist man dagegen völlig gegensätzlicher<br />

Meinung. Zum Glück hat man in der Europäischen Union inzwischen<br />

begriffen, dass die Bildung über die intellektuelle, psychische und ästhetische<br />

Entwicklung des Menschen hinaus auch direkt zur wirtschaftlichen Entwicklung<br />

einer organisierten Gesellschaft beiträgt. Die Mitgliedstaaten der Union dürfen<br />

ihre Bildungsausgaben deshalb nicht länger kürzen, wie es in einigen europäischen<br />

Staaten leider der Fall ist, sondern müssen vielmehr den Anteil des BIP, der<br />

für Bildungszwecke aufgewandt wird, schrittweise erhöhen. Die Europäische<br />

Union muss eine Gemeinschaftspolitik umsetzen, was den Mindestanteil der<br />

Bildungsausgaben am BIP betrifft. Die Bildung ist der Eckpfeiler des Fortschritts,<br />

und Ziel der Union muss es sein, sie zur obersten Priorität ihrer Politik zu machen.<br />

Das lebenslange Lernen darf nicht länger nur ein wohlklingendes Schlagwort<br />

sein, sondern muss lebendige Praxis werden. Die Europäische Union muss grundlegende<br />

und tiefgreifende Reformen vornehmen und die Bildungsprogramme<br />

auf gesamteuropäischer Ebene ständig modernisieren.<br />

Soziale Gerechtigkeit<br />

PANAYIOTIS <strong>DE</strong>METRIOU<br />

In der Europäischen Union kann nicht von sozialer Gerechtigkeit die Rede sein,<br />

solange es in der Beschäftigung, im Sozialschutz und im Gesundheitswesen<br />

Mängel und Unzulänglichkeiten gibt, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar<br />

sind. Die sozialen Modelle, die sich in der Europäischen Union herausbilden<br />

werden, müssen für den Bürger ein Mindestmaß an sozialem Schutz und an<br />

sozialen Rechten gewährleisten und festgelegte Mindestleistungen und -ansprü-<br />

62


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 63<br />

che umfassen. Das damit zusammenhängende ernste soziale Problem der<br />

Einwanderung und des politischen Asyls muss von der Union human und rational<br />

gelöst werden. Vor allem jedoch muss die Union die Ursachen dieses Problems,<br />

nämlich Armut und Arbeitslosigkeit, bekämpfen.<br />

Zur Entwicklung der sozialen Solidarität und des Zusammenhalts in jedem<br />

Mitgliedstaat der Europäischen Union müssen europäische Programme zur<br />

Stärkung der sozialen Rolle der Mitgliedstaaten mit beschränkten wirtschaftlichen<br />

Möglichkeiten aufgelegt und umgesetzt werden. Durch kontinuierliche und<br />

intensive gemeinschaftliche Bemühungen kann ein Ausgleich des Pro-Kopf-<br />

Einkommens zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten erzielt werden. Auf diese<br />

Weise lässt sich vermeiden, dass Staaten mit verschiedenen Geschwindigkeiten<br />

und europäische Bürger verschiedener Klassen, je nach Nationalität, existieren.<br />

Es geht nicht nur darum, dass die europäische Integration überhaupt funktioniert,<br />

sie muss auch so tiefgreifend sein, dass jeder europäische Bürger unabhängig<br />

von seiner Nationalität davon profitiert.<br />

Umwelt<br />

Wenn wir wirklich meinen, dass Europa eine weltweite Mission hat und globale<br />

Verantwortung trägt, dann darf auch der Umweltschutz nicht vergessen werden.<br />

Der Schutz unserer natürlichen Umwelt und des Gleichgewichts des Ökosystems,<br />

in dem der Mensch als einziges vernunftbegabtes Wesen auf unserem<br />

Planeten lebt, ist eine weitere wichtige Priorität der Europäischen Union. Die<br />

Europäische Union muss weltweiter Vorkämpfer für den Schutz der Umwelt sein.<br />

Der Schaden, den die Umweltverschmutzung vor allem infolge der industriellen<br />

Entwicklung auf unserem Planeten anrichtet, wird das Leben des Menschen auf<br />

der Erde bedrohen und unsere Welt unbewohnbar machen, wenn wir dem nicht<br />

Einhalt gebieten. Die Europäische Union muss sich weltweit an vorderster Stelle<br />

für den Schutz der Umwelt einsetzen.<br />

Europäische Verfassung<br />

QUO VADIS EUROPA?<br />

Die Werte und Ziele der Europäischen Union sowie die Politik, die die Union<br />

in den einzelnen Fragen verfolgt, sind umfassend in der europäischen Verfassung<br />

niedergelegt. Besonderes Gewicht weist der historische Verfassungstext jedoch der<br />

Frage der Demokratie und der Menschenrechte zu. Die Errungenschaften Europas,<br />

die bewahrt und noch ausgebaut werden müssen, sind darauf zurückzuführen,<br />

dass die Staaten und die Bürger eine besondere Sensibilität für die demokratischen<br />

Institutionen und die individuellen Rechte und Freiheiten entwickelt haben.<br />

An diesen Punkten dürfen unter keinen Umständen Abstriche gemacht werden.<br />

Weil sich Europa dem Legalitätsprinzip und den individuellen Rechten verpflichtet<br />

fühlt, müssen wir möglicherweise höhere Kosten für die Bekämpfung des<br />

Terrorismus und des organisierten Verbrechens tragen, doch darf Europa des-<br />

63


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 64<br />

halb diese ihm zugrunde liegenden Prinzipien nicht missachten. Die Europäische<br />

Union muss noch deutlicher zum Leuchtturm werden, der in alle Gegenden<br />

unserer Erde das Licht der ewigen menschlichen Werte und Ideale aussendet.<br />

Europäische Integration<br />

PANAYIOTIS <strong>DE</strong>METRIOU<br />

Die Integration Europas wird vollendet werden, wenn jeder europäische<br />

Bürger über seine nationale Identität hinauswächst und auch als Bürger eines<br />

vereinten Europa handelt. Die Europäische Union muss Programme entwickeln,<br />

vor allem im Bereich der Bildung, und eine gesamteuropäische Politik umsetzen,<br />

die das europäische Bewusstsein bei ihren Bürgern stärkt.<br />

Unsere europäische <strong>Vision</strong> trägt globale Züge. Wir wollen eine starke und<br />

glaubwürdige Europäische Union aufbauen, die auf internationaler Ebene ein<br />

erstklassiger Partner ist. Die Europäische Union kann und muss zu einem Faktor<br />

der Stabilität werden, Gerechtigkeit und Sicherheit gewährleisten und zum effizientesten<br />

Bewahrer und Förderer des Friedens auf unserem Planeten werden.<br />

Die europäischen Werte sind ihr Speer und ihr Schild. Sie sind die Grundlage<br />

für die Existenz der Union. Sie sind der Kompass des Lebens.<br />

64<br />

Januar 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 65<br />

Armando DIONISI<br />

Leiter der italienischen UDC-SVP Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Christentum, Europa und Abendland<br />

In seinen Betrachtungen aus dem Jahr 1946 erklärte der Katholik Romano<br />

Guardini, einer der bedeutendsten Exponenten der europäischen Kultur des zwanzigsten<br />

Jahrhunderts, in Anbetracht der Katastrophe, in die die totalitären Ideologien<br />

den Kontinent gestürzt hatten: „Wenn Europa auch in Zukunft noch existieren soll,<br />

wenn die Welt Europa weiter brauchen soll, muss es seine durch die Gestalt Christi<br />

determinierte geschichtliche Einheit bewahren; muss es sich mit neuer Ernsthaftigkeit<br />

zu dem entwickeln, was es von seinem wahren Charakter her ist. Wenn Europa<br />

von dieser Grundlage abgeht, hat das, was dann noch davon übrig ist, keine große<br />

Bedeutung mehr 1 .“ Diese christliche Einschätzung Europas wird auch von der einsichtigen<br />

weltlichen Kultur anerkannt.<br />

Sergio Romano, einst NATO-Botschafter und Lehrkraft an den Universitäten<br />

Berkeley und Harvard und an der Bocconi-Univerität Mailand, hat kürzlich festgestellt:<br />

„Europa und Christentum sind zwei voneinander untrennbare Begriffe mit<br />

einer langen gemeinsamen Geschichte, und es ist unmöglich, die Geschichte des einen<br />

ohne die des anderen zu erzählen... Schon Croce hat gesagt, dass die rationalistische<br />

Strömung des Christentums den Boden bereitet habe für die Philosophie der<br />

Aufklärung und in der Politik für die Demokratie mit deren Hang zu Gleichheit und<br />

Ausgleich. Das Christentum hat im Leben des Abendlands den Begriff der Erwartung<br />

eingeführt und der europäischen Zivilisation neben zusammengehörigen Begriffen<br />

wie Dekadenz und Fortschritt auch den Begriff der Geschichte als kontinuierliche<br />

menschliche Schöpfung gebracht 2 .“<br />

Diese Einschätzung bringt so wie die vielen anderen, die sich hier zitieren ließen,<br />

die Notwendigkeit zum Ausdruck, dass der Aufbau Europas über die engen Grenzen<br />

eines allein auf das internationale Gleichgewicht ausgerichteten geopolitischen<br />

Konzepts hinausgeht und die Inhalte einer politischen <strong>Vision</strong> annimmt, die sich auf<br />

Freiheit und Demokratie nach christlichem Vorbild gründet.<br />

Namentlich dieser Gedanke ermöglichte es in der Nachkriegszeit, die ersten entscheidenden<br />

Schritte auf dem langen Weg zur europäischen Einigung zu gehen.<br />

65


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 66<br />

ARMANDO DIONISI<br />

Der sicherlich schwere Anfang wurde nichtsdestotrotz geprägt durch die geistige<br />

Stärke von Denkern und Politikern, die frei von jedem nationalistischen Beigeschmack,<br />

ohne ideologisches Gepräge, jedoch in dem konkreten Wissen um die geschichtlichen<br />

Wurzeln Europas ein sicheres und effizientes „Direktorium“ gebildet haben, das<br />

in kürzester Zeit einen Weg zurücklegte, der mit dem Zustandekommen der<br />

Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bei einem politischen Ergebnis angelangt<br />

wäre, von dem wir heute vielleicht noch weit entfernt sind.<br />

Adenauer, de Gasperi und Schuman, alle drei Christdemokraten, entwickelten konkret<br />

eine Perspektive der endgültigen Überwindung nationalistischer Hürden und<br />

zogen einen Schlussstrich unter die ideologischen Konflikte, die in der Geschichte<br />

der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so große Bedeutung hatten.<br />

Die Bestärkung dieser Perspektive erfordert eine nachdrückliche Konsolidierung<br />

des Fundaments der europäischen Ideale, was ohne Verbindung mit den natürlichen<br />

Grundwerten nicht möglich ist.<br />

An erster Stelle stehen die Menschenwürde und die Menschenrechte, die die<br />

Grundlage der Rechtsprechung bilden und die aus eigenem Recht heraus bestehen,<br />

durch den Gesetzgebers stets zu respektieren sind und von ihm von vornherein als übergeordnete<br />

Werte vorgegeben sind 3 .<br />

Die Menschenwürde, die nach christlicher Auffassung als Garant wahrer Freiheit<br />

auf unveränderlichen Werten beruht, wird heute durch Machenschaften der<br />

Wissenschaft bedroht, die von starken neuen Kreisen aus Wirtschaft und Geschäftswelt<br />

unterstützt werden.<br />

Auf der Ebene der wesentlichen Aspekte des sozialen Lebens schließen sich Ehe<br />

und Familie an, die Grundzelle des sozialen Aufbaus und der auf unserem Kontinent<br />

verankerten Tradition, die im Christentum vom biblischen Glauben her geformt ist.<br />

Ein Aufgeben dieser Werte hätte schwerwiegende Auswirkungen auf das<br />

Menschenbild und das Schicksal des Menschen.<br />

Und schließlich stellt auch die Frage der Religion und der Meinungsfreiheit –<br />

als höchstes Gut und Grundlage jedes Elements der Toleranz und Freiheit im<br />

Allgemeinen – einen Grundpfeiler der europäischen Gesellschaft dar.<br />

Diese natürlichen Grundwerte sind nicht so vollständig und wahrheitsgetreu in<br />

die Verfassung eingeflossen, wie es sich die Christliche Gemeinde Europas gewünscht<br />

hätte. Dies gilt vor allem für den Hinweis auf die jüdisch-christlichen Wurzeln, auf<br />

den auch der Heilige Vater besonderen Wert legte und zu dem er sogar ein wichtiges<br />

Apostolisches Schreiben („Ecclesia in Europa“) herausgab.<br />

Es versteht sich von selbst, dass dies nicht als Ausdruck des Pochens auf eine<br />

Vorrangstellung verstanden werden sollte, sondern vielmehr als Erwiderung auf eine<br />

sehr missverständliche Tendenz, in deren Rahmen der Multikulturalität der Vorrang<br />

vor jedem Wert eingeräumt wird. Hierzu hat Kardinal Ratzinger, dem wir auch den<br />

Hinweis auf die vorgenannten natürlichen Werte verdanken, festgestellt: „Die immer<br />

wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage<br />

an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen 4 .“<br />

66


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 67<br />

CHRISTENTUM, EUROPA UND ABENDLAND<br />

Zu den Risiken und Gefahren der Multikulturalität und der notwendigen<br />

Positionierung Europas im Rahmen der Konfrontation und Begegnung mit anderen<br />

Zivilisationen und mit der Existenz immer größerer religiöser und kulturellen Gruppen<br />

in der eigenen Gesellschaft als Folge massiver Zuwanderungswellen besonders eindrucksvoll<br />

geäußert hat sich Edgar Morin: „Für uns geht es um die Übernahme von<br />

Denkweisen, die sich von den europäischen, denen ,mit europäischer Seele‘, unterscheiden<br />

und die von neuen Gesprächspartnern in den europäischen Kulturdialog<br />

eingebracht werden. Die Begegnung mit einer starken fremden Kultur oder Zivilisation<br />

stellt vor die Alternative, diese zu assimilieren oder selbst assimiliert zu werden. Der<br />

Hang zur Assimilation anderer setzt eine kulturelle Vitalität voraus, die ihrerseits<br />

bestimmte wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen hat. Für diese Assimilation<br />

unverzichtbar sind das Bewahren und die Rückkehr zu den Ursprüngen 5 .“ Nun<br />

darf diese Notwendigkeit zur Integration der in Europa „einfallenden“, Kulturen<br />

nicht auf eine Beseitigung der Unterschiede hinauslaufen, die im Gegenteil ungemein<br />

wichtige Komponenten für eine solche Erneuerung der europäischen Kultur darstellen,<br />

die geschichtlich betrachtet ein Charakteristikum des Kontinentallimes war.<br />

Wie der bekannte Philosoph H. G. Gadamer einmal sinngemäß ausgeführt hat, dürfe<br />

ein derart verwurzelter Pluralismus von Kulturen, Sprachen und historischen<br />

Schicksalen nicht ausgelöscht werden. Vielmehr könne die Aufgabe darin bestehen,<br />

im Innern einer zur Gleichschaltung tendierenden Gesellschaft eine<br />

Schatzkammer der Regionen und einzelnen Gruppen und ihrer Lebensstile aufzubauen.<br />

Das Fehlen der Vaterlandes, eine Gefahr der modernen Industriegesellschaft,<br />

treibe den Menschen zur Suche nach einer „Heimat“. Zu welchen Konsequenzen<br />

werde das führen? Man sollte sich davor hüten, das Nebeneinander von Unterschieden<br />

in einen falschen Geist der Toleranz oder, besser gesagt, in ein falsches Konzept<br />

der Toleranz umzusetzen. Es sei ein weit verbreiteter Fehler zu meinen, Toleranz bestehe<br />

darin, auf die eigenen Eigenarten zu verzichten, bei der Betrachtung des Anderen<br />

sich selbst auszulöschen 6 .<br />

Dieses „Sich-selbst-Auslöschen“ in Anbetracht des Anderen kommt zustande<br />

durch eine Sicht der Geschichte und der Werte, für die keine Notwendigkeit einer<br />

Identität besteht. Giovanni Reale, Philosophiehistoriker mit dem Spezialgebiet Antike<br />

Philosophie an der Universität Vita Salute S. Raffaele in Mailand, hat ganz richtig<br />

festgestellt: „Hinter der Erklärung, alle Werte seien gleich, verbirgt sich die Aufhebung<br />

der Werte. Die unterschiedlichen Kulturen wären alle gleich; [...] keine könnte mehr<br />

Wert haben als eine andere, weil nämlich keine einen eigenen Wert hätte, oder es<br />

wären, genauer gesagt, alle ohne Wert, weil die Werte ihre ontologische Realität<br />

verloren hätten 7 .“<br />

Dieses Herausreißen der Werte aus ihrer ontologischen Realität – oder eben die<br />

Dechristianisierung der modernen Gesellschaft, wie sie in Europa vonstatten geht –<br />

kann als Nihilismus definiert werden – er ist ein Übel, das an den Grundpfeilern<br />

der europäischen Realität rüttelt.<br />

Auf diese Weise würde sich die europäische Identität auf die Tatsache gründen,<br />

dass es außer einem allgemeinen Kosmopolitismus keine ideellen Grundsätze gibt.<br />

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ARMANDO DIONISI<br />

Diese kulturelle und politische Richtung, der heute vor allem die linken Parteien<br />

unseres Kontinents anhängen, führt dazu, dass sich Europa der Wirklichkeit, des<br />

Hier und Heute weniger bewusst ist. Es hat eine Zukunftsvorstellung Verbreitung<br />

gefunden, die von irgendjemandem der „europäische Traum“ genannt worden ist:<br />

Im Rahmen dieser Vorstellung wird es für möglich gehalten, dass Europa sich in<br />

seiner kontinentalen Hülle abschottet wie auf einer friedlichen Insel – und das alles<br />

vor einem konfliktgeladenen Hintergrund, der nach dem 11. September durch den<br />

Angriff des islamischen Terrors auf das Abendland an Dramatik gewonnen hat.<br />

Europa, oder zumindest ein Teil davon, kultiviert die Illusion, von dieser<br />

Herausforderung verschont bleiben zu können. Vielleicht hält man ja die Thesen<br />

des Philosophen Fukujama für richtig, wonach das Ende der Geschichte angebrochen<br />

sei, das wäre jedoch das Ende der Geschichte Europas.<br />

Nun definieren sich die kulturellen und politischen Lager, die am stärksten auf<br />

die These des Multikulturalismus pochen und dazu beigetragen haben, dass die<br />

Erarbeitung einer im christlichen Sinne gehaltenen Definition der europäischen<br />

Wurzeln abgelehnt wird, selbst als das „neue Europa“ im Gegensatz zum „alten<br />

Europa“. Diese grundsätzliche Unterscheidung war außerdem bezeichnend für diejenigen,<br />

die ein aktives Eingreifen für notwendig erachteten, was im schlimmsten Fall<br />

auch das Konzept eines gerechten Krieges gegen den Terrorismus einschloss, aber<br />

auch diejenigen, die gegen eine Intervention der USA im Irak zur Zerschlagung der<br />

Saddam-Hussein-Diktatur waren und damit einem extremen Pazifismus das Wort<br />

redeten.<br />

In angemessenere politische Worte gefasst, scheint sich eine Unterscheidung<br />

herauszubilden zwischen einem Europa, das sich aus Gründen seiner westlichen<br />

Identität grundsätzlich an die USA gebunden fühlt, und einem Europa, das eine<br />

Funktion des Zurückdrängens und der Abgrenzung von Amerika entwickelt oder,<br />

kurz gesagt, ein Europa, das sich als Gegenpol zu der einpoligen Welt präsentiert,<br />

in der die USA den Ton angeben.<br />

Die Entscheidungen, die Europa in den nächsten Jahren zu treffen hat, sind ideeller<br />

und politischer Natur. So oder so muss entschieden werden, ob Europa<br />

Bestandteil des Abendlands bleibt – dies gilt sowohl für den Aufrechterhaltung seiner<br />

christlichen Identität als auch hinsichtlich seiner Bereitschaft, die Herausforderung<br />

durch den Terrorismus anzunehmen und zur Verteidigung und Bekräftigung der<br />

Demokratie anzutreten, und darüber hinaus muss auch über den Fortbestand der<br />

Allianz mit den USA und die Fortsetzung der gemeinsamen Entscheidungsfindung<br />

mit ihnen entschieden werden.<br />

Sollte sich die Europäische Union von dieser Perspektive abwenden, würde der<br />

derzeit weltweit bestehende Konflikt zum Ende des Projekts Europa und zu immer<br />

häufigeren unabhängigen Entscheidungen einzelner Staaten führen, das haben die<br />

letzten Jahre gezeigt. Dennoch schließt auch Robert Kagan, einer der besorgtesten<br />

US-amerikanischen Beobachter der politischen Beziehungen zwischen Amerika und<br />

Europa, sein bekanntestes Werk Of Paradise and Power mit den Worten: „Es ist<br />

schon wahr, dass die Vereinigten Staaten und Europa im Grunde eine Reihe west-<br />

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CHRISTENTUM, EUROPA UND ABENDLAND<br />

licher Werte gemeinsam haben. Sie verfolgen mehr oder weniger die gleichen humanitären<br />

Ziele, auch wenn sie derzeit ein enormer Machtunterschied trennt.Vielleicht<br />

ist der Glaube, dass ein klein wenig an gegenseitigem Verständnis noch viel ausrichten<br />

könnte, nicht allzu naiv-optimistisch.“<br />

Februar 2005<br />

1 Romano GUARDINI, Europa, compito e destino, Brescia, 2004, p. 61.<br />

2 Sergio ROMANO, Europa, storia di un’ idea, Milan, 2004, p. 63.<br />

3 G. HIRISCH in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12 octobre 2000.<br />

4 J. RATZINGER, Europa, Milan, 2004, p. 28.<br />

5 E. MORIN, Penser l’Europe, Paris, 1987.<br />

6 H.G. GADAMER, L'héritage de l'Europe, Paris, 1996, pp. 43-44.<br />

7 G. REALE, Radici culturali e spirituali dell’Europa, Milan, 2003, p. 155.<br />

8 R. KAGAN, Of Paradise and Power, New York, 2004, p. 117.<br />

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Valdis DOMBROVSKIS<br />

Leiter der lettischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Lettland und Europa für die zukünftigen Generationen –<br />

Wie wird es aussehen?<br />

Die Europäische Union im Jahr 2020. Lettland wird bereits über fünfzehn<br />

Jahre Mitglied der Europäischen Union sein. Das ist eine ebenso lange Zeit, wie<br />

sie für Lettland seit der Wiedererlangung seiner staatlichen Unabhängigkeit im<br />

Jahre 1990 vergangen ist. Wie wird Lettland nach diesem weiteren Schritt in<br />

Richtung eines demokratischen Staates und einer Wohlstandsgesellschaft aussehen?<br />

Wie wird das Europa des Jahres 2020 aussehen?<br />

Da sich die Entwicklung der Europäischen Union und Lettlands in den<br />

nächsten Jahren immer stärker wechselseitig beeinflussen wird, suche ich die<br />

Antworten auf diese beiden Fragen zusammen.<br />

In der dynamischen Welt von heute ist es schwer und oft sogar unmöglich,<br />

die Entwicklung auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technologie auch<br />

nur für wenige Jahre vorauszusagen. Überraschungen halten auch die kulturellen<br />

und geistigen Prozesse der Gesellschaft bereit, und Naturkatastrophen<br />

sowie durch den Menschen verursachte Katastrophen lassen sich ebenso wenig<br />

vorhersehen.<br />

Dennoch zeichnen sich heute sowohl auf globaler als auch auf europäischer<br />

Ebene Entwicklungstendenzen ab, die sich fortsetzen werden, und die<br />

Herausforderungen, auf die die Europäische Union in den nächsten zehn Jahren<br />

gewollt oder ungewollt reagieren muss, treten immer deutlicher zutage.<br />

Wie schnell diese Reaktion kommt und wie sie aussieht, hängt von der<br />

Fähigkeit der Europäischen Union ab, einen gemeinsamen Aktionsplan zu erarbeiten<br />

und die Mitgliedstaaten zu dessen Umsetzung zu mobilisieren.<br />

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VALDIS DOMBROVSKIS<br />

1. Möglichkeiten der Erweiterung und Herausforderungen für die<br />

Europäische Union<br />

Auch wenn die konkrete Zahl der Mitgliedstaaten und Grenzen der EU des<br />

Jahres 2020 heute noch nicht bekannt sind, lässt sich mit großer Sicherheit sagen,<br />

dass die Europäische Union im Jahr 2020 anders aussehen wird als heute.<br />

Außer für Bulgarien und Rumänien, die die Schwelle zur EU als erste im Jahr<br />

2007 überschreiten werden, liegt dieser Schritt auch für Kroatien zum Greifen<br />

nahe, während die anderen Balkanstaaten etwas weiter davon entfernt sind<br />

und die Türkei schon lange darauf wartet. Die Ukraine und die Republik<br />

Moldau schauen ebenfalls voller Hoffnung in Richtung EU. Würden z. B.<br />

Norwegen und die Schweiz ihren Wunsch nach einem Beitritt kundtun, wäre<br />

ihre Aufnahme keine Angelegenheit von Jahren.<br />

Wenn wir uns anschauen, wie sich Lettland in Richtung Europäische Union<br />

bewegt hat, so waren fünfzehn Jahre für das Land eine ausreichende Zeit, um<br />

sich von einer Sowjetrepublik zu einem Mitgliedstaat der EU zu entwickeln.<br />

Keiner der oben genannten Staaten muss theoretisch einen längeren Weg<br />

zurücklegen, denn in allen herrscht mehr oder weniger schon das Prinzip der<br />

Marktwirtschaft und der politischen Demokratie.<br />

Die fortgesetzte Erweiterung der Europäischen Union ist eine der größten<br />

Herausforderungen, der sich die Europäische Union stellen muss.<br />

Einerseits ist es die historische Möglichkeit zur Erweiterung der Grenzen<br />

der Europäischen Union, die heute eine günstige geopolitische Situation Europas<br />

und damit den Wunsch fast aller europäischen Staaten nach einem Beitritt zur<br />

Europäischen Union entstehen lässt. Andererseits ist es die Notwendigkeit, die<br />

Europäische Union als ein Staatenbündnis zu erhalten, das sich auf einheitliche<br />

Prinzipien stützt und operativ verwaltet werden kann.<br />

Der künftige Erweiterungsprozess muss proportional zur Vertiefung der<br />

Integration verlaufen, wobei die Handlungsfähigkeit der Institutionen der<br />

Europäischen Union verstärkt werden muss.<br />

Ist die fortgesetzte Erweiterung der Europäischen Union für Lettland vorteilhaft<br />

und in welchem Umfang ?<br />

Vom politischen Standpunkt ist die Erinnerung für uns als neuer Mitgliedstaat<br />

noch sehr lebendig; wir verstehen den Wunsch der neuen Beitrittskandidaten<br />

nach Aufnahme in die Europäische Union und sympathisieren mit ihnen.<br />

Bedenkt man jedoch den möglichen wirtschaftlichen Erfolg und die Verluste<br />

durch die fortgesetzte Erweiterung der Europäischen Union, so wird unsere<br />

Position weitgehend davon abhängen, wie schnell Lettland ein entsprechend<br />

hohes wirtschaftliches Entwicklungsniveau erreicht, dass wir mit den potenziellen<br />

Mitgliedstaaten nicht mehr auf dem Markt billiger Arbeitskräfte, billiger<br />

Waren und Dienstleistungen konkurrieren müssen.<br />

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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN<br />

Die Aussicht auf Neuankömmlinge in der Europäischen Union ist ein guter<br />

Anreiz, der es Lettland nicht erlaubt, untätig zu bleiben, und es anspornt, sich<br />

schneller zu entwickeln und so weit wie möglich in die Europäische Union<br />

zu integrieren.<br />

Auch wenn wir auf der Liste zahlreicher Wirtschaftsindikatoren wie<br />

Bruttoinlandsprodukt und Gehälter am unteren Ende der EU-Mitgliedstaaten rangieren,<br />

dicht gefolgt von den potenziellen neuen Mitgliedstaaten, so besteht<br />

unser gegenwärtiger Vorteil doch in dem Mitgliedsstatus.<br />

Die Antwort Lettlands auf die Herausforderung der EU-Erweiterung könnte<br />

demzufolge lauten: politische Sympathien für die potenziellen neuen<br />

Mitgliedstaaten bei gleichzeitiger Beibehaltung der gegenwärtigen wirtschaftlichen<br />

Entwicklungsdynamik Lettlands sowie Nutzung der Möglichkeiten als<br />

Mitgliedstaat, sich weiter in die Europäische Union zu integrieren.<br />

2. Verschlechterung der demografischen Situation und deren Einfluss auf<br />

Wirtschaft und Gesellschaft<br />

Eine weitere wesentliche Herausforderung sowohl für Europa als auch für<br />

Lettland ist die Verschlechterung der demografischen Situation. Hier ist die<br />

Zukunft bereits in der derzeitigen Altersstruktur und den Entwicklungstendenzen<br />

in diesem Bereich zu erkennen.<br />

Die Gesellschaft Europas altert, die Zahl der Einwohner, die nicht mehr im<br />

erwerbsfähigen Alter sind, nimmt zu, die Zahl der Kinder und Jugendlichen geht<br />

zurück. Diese demografische Tendenz kann sich sehr negativ auf die Wirtschaft<br />

Europas auswirken. Die Einwohnerzahl Lettlands schrumpft bereits seit Beginn<br />

des letzten Jahrzehnts ständig.<br />

Sinkt der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung, gehen auch die Ersparnisse<br />

und die Ressourcen für Investitionen zurück, was wiederum zur Verringerung<br />

des Wachstumstempos des Bruttoinlandsprodukts führen kann. Schätzungen von<br />

Experten des Internationalen Währungsfonds zufolge kann Europa in den<br />

nächsten Jahrzehnten durch die Verschlechterung der demografischen Situation<br />

jährlich bis zu 0,4 % des Bruttoinlandsprodukts einbüßen. Bedenkt man, welch<br />

große Streitigkeiten über den EU-Haushalt allein der Rückgang des<br />

Bruttoinlandsprodukts um ein Zehntel Prozent auslöst, so sind das beachtliche<br />

Beträge, zurzeit mindestens 40 Milliarden Euro jährlich.<br />

Durch die Alterung der Gesellschaft verringert sich auch die Einkommenssteuergrundlage,<br />

während die Ausgaben im sozialen Bereich und der medizinischen<br />

Versorgung beträchtlich steigen, wodurch sich das Problem des<br />

Haushaltsdefizits verschärft, das in den letzten Jahren bereits im Zusammenhang<br />

mit dem EU-Stabilitätspakt zutage getreten ist.<br />

Die Europäische Union sucht schon heute nach Lösungen, um die negati-<br />

73


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 74<br />

VALDIS DOMBROVSKIS<br />

ven Auswirkungen der demografischen Situation abzuwenden. So werden<br />

Maßnahmen im Rahmen der Lissabonner Strategie und anderer programmatischer<br />

Dokumente umgesetzt: Heraufsetzen des Rentenalters, lebenslange<br />

Bildung, Einbindung der Frauen in den Arbeitsmark sowie direkte Maßnahmen<br />

zur Verbesserung der demografischen Situation wie Geburtenförderung. Auf<br />

wirtschaftlichem Gebiet könnte der demografische Einfluss durch ein rascheres<br />

Wachstum der Arbeitsproduktivität verringert werden.<br />

Gleichzeitig sucht der europäische Arbeitsmarkt, ohne die Ergebnisse dieser<br />

Politik abzuwarten, selbst nach Lösungen, die nicht immer den langfristigen<br />

Entwicklungsinteressen entsprechen, wie zum Beispiel der Import von<br />

Arbeitskräften, der das Defizit auf dem Arbeitsmarkt zwar kurzfristig deckt,<br />

jedoch viele andere Probleme verschärft.<br />

Können die „alten“ Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Arbeitskräfteproblem<br />

noch weitgehend durch den „Import“ von Arbeitskräften aus dem<br />

neuen Mitgliedstaaten lösen, so wird sich die Situation auf diesem Gebiet in den<br />

folgenden Jahrzehnten ändern.<br />

Durch die Verringerung des Lohn- und Gehaltsgefälles werden die Arbeitskräfte<br />

aus Osteuropa die Motivation zur Arbeit im Westen zumindest für solche Arbeiten<br />

verlieren, wie sie sie gegenwärtig zum großen Teil ausführen. Das Arbeitskräftedefizit<br />

wird auch in den Staaten, einschließlich Lettland, wachsen, die gegenwärtig<br />

Arbeitskräfte zur Verfügung stellen, und so die Arbeitsmarktsituation und das<br />

Immigrationsproblem in diesen Staaten verschärfen.<br />

Wegen des hohen Durchschnittsverdienstes und des hohen Niveaus der<br />

sozialen Garantien in der Europäischen Union wird dieser Arbeitsmarkt auch<br />

in den kommenden Jahrzehnten für andere Regionen der Welt attraktiv bleiben.<br />

Somit lässt sich vorhersehen, dass sich die demografische Entwicklung und<br />

die Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten Jahrzehnten weiterhin<br />

günstig auf den Arbeitskräfteimport auswirken, die Probleme des Nebeneinanders<br />

verschiedener Nationalitäten und Religionen in der Europäischen Union<br />

jedoch deutlicher zutage treten lassen, woraus sich die nächste große<br />

Herausforderung ergibt.<br />

3. Europäische Identität, gemeinsame Werte, Nebeneinanderbestehen verschiedener<br />

Nationalitäten und Religionen<br />

Schon heute gestalten sich die Beziehungen zwischen den verschiedenen<br />

Nationen und Nationalitäten nicht immer reibungslos und friedlich. Sollten<br />

sich diese Probleme bei einer Verschärfung der nationalen und religiösen<br />

Konflikte weiter zuspitzen, können sie viele andere Fragen überschatten.<br />

Diese Schwierigkeiten lassen sich weder allein durch die strikte Wahrung<br />

der Rechte und Freiheiten des Einzelnen noch durch die Einschränkung die-<br />

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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN<br />

ser Rechte und Freiheiten lösen. Auch strengere Immigrationsbestimmungen verringern<br />

sie nicht. Erforderlich ist ein starkes, attraktives europäisches<br />

Identitätsmodell, das sich nicht nur auf die Wohlstandsideologie, d. h. auf eine<br />

Art „amerikanischen Traum in europäischer Ausführung“ stützt, sondern auch<br />

auf ein Gefühl gemeinsamer europäischer Werte. Je attraktiver und „moderner“<br />

diese europäische Identität sein wird, desto stärker tritt die Kraft und<br />

Bedeutung anderer Identitäten im europäischen Leben in den Hintergrund und<br />

desto besser verläuft die Integration. Das ist nicht nur die Aufgabe der<br />

Institutionen der Europäischen Union, sondern auch eine Frage der breiten<br />

kulturellen und geistigen Initiative.<br />

Selbstverständlich ist die europäische Identität keine abstrakte „innere<br />

Identität aller EU-Mitgliedstaaten“, sondern eine Wechselwirkung und Synthese<br />

sowohl der kulturellen und historischen Erfahrungen als auch der Religionen.<br />

4. Wirtschaftliche Entwicklung, Steuern und Energiewirtschaft<br />

Die zunehmende Integration auf wirtschaftlichem Gebiet bildete schon seit<br />

den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft die Grundlage für die europäische<br />

Integration, und sie tut es auch heute noch. Diese Tendenz wird sich mit<br />

der Vervollkommnung der institutionellen Grundlage des Binnenmarktes, der<br />

schrittweisen Beseitigung der Barrieren für die Unternehmertätigkeit innerhalb<br />

der Europäischen Union und der Unterstützung der weniger entwickelten<br />

Regionen aus EU-Mitteln fortsetzen.<br />

Die Europäische Union konnte das wirtschaftliche Entwicklungstempo im<br />

Jahr 2004 zwar deutlich steigern und erreichte ein Wachstum von 2,6 %, die<br />

Weltwirtschaft entwickelte sich im vergangenen Jahr jedoch fast doppelt so<br />

schnell und erreichte ein Wachstum von 5 %. Kennzeichnend für die vergangenen<br />

Jahre ist, dass nicht wie früher nur die USA oder Ostasien, sondern<br />

Staaten in verschiedenen Regionen der Welt – in Südamerika, Russland, den übrigen<br />

GUS-Staaten und sogar in Afrika – die treibende Kraft der internationalen<br />

Entwicklung sind.<br />

Deshalb muss Europa, das nach der Erweiterung seine Position als eines der<br />

größten wirtschaftlichen Zentren der Welt gefestigt hat, auf dem Gebiet der<br />

globalen Konkurrenz auf neue Herausforderungen reagieren, möglicherweise<br />

auch auf Probleme der politischen Koordinierung im globalen Maßstab, was im<br />

Rahmen des Modells der drei Wirtschaftszentren einfacher war.<br />

Allerdings kann und muss die Europäische Union, was das Wachstum des<br />

Bruttoinlandsprodukts anbelangt, zumindest in den kommenden Jahrzehnten<br />

nicht mit den Entwicklungsländern konkurrieren.<br />

Entscheidend ist für die Europäische Union, unter Wahrung des erreichten<br />

Niveaus der Wirtschaftsentwicklung und des Wohlstands die ausgeglichene,<br />

75


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 76<br />

VALDIS DOMBROVSKIS<br />

harmonische wirtschaftliche Entwicklung fortzuführen und die hohen<br />

Qualitätsanforderungen, das Niveau der sozialen Sicherheit sowie die<br />

Umweltstandards beizubehalten.<br />

Der Vorteil der Europäischen Union besteht in der hohen Lebensqualität, die<br />

mit Hilfe eines institutionellen Systems, wenn nötig auch auf Kosten der kurzfristigen<br />

wirtschaftlichen Effektivität, garantiert wird.<br />

Es sind die derzeitigen und die zukünftigen neuen Mitgliedstaaten, die zur<br />

dynamischen Entwicklung der Europäischen Union beitragen. Für Lettland,<br />

dessen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung zurzeit nur 42 % des<br />

Durchschnitts der Europäischen Union beträgt, reicht eine langsame Entwicklung<br />

nicht aus, für uns ist das Wachstumstempo sehr wichtig.<br />

Durch Ausnutzung des Potenzials des gemeinsamen Marktes der<br />

Europäischen Union und der EU-Fonds hat Lettland die Möglichkeit, das<br />

Durchschnittsniveau der EU zu erreichen, was jedoch ernsthafte Anstrengungen<br />

über mehrere Jahre erfordert. Selbst nach sehr optimistischen Prognosen wird<br />

Lettland das Durchschnittsniveau der EU nicht eher als in 15 Jahren erreichen.<br />

Lettland muss seine inneren Wachstumsressourcen aktivieren, indem es den<br />

Anteil an Waren und Leistungen mit höherer Umsatzsteuer steigert, die innovativen<br />

und wissenschaftlichen Ressourcen, die in unserem Land noch nicht<br />

genügend in den wirtschaftlichen Kreislauf eingebunden sind, stärker einsetzt<br />

und auch das Potenzial seiner Regionen nutzt. Das ist keine neue Erkenntnis,<br />

sondern diese Entwicklungsrichtungen sind bereits Bestandteil mehrerer, in<br />

Lettland erarbeiteter Strategien. Eine wesentliche Aufgabe wird für die kommenden<br />

Jahre darin bestehen, nach der Aufnahme in die Europäische Union nicht<br />

nachzulassen und alle staatlichen Institutionen, einschließlich der<br />

Selbstverwaltungen, die die Wirtschaftspolitik umsetzen, sowie die<br />

Unternehmerkreise und die Gesellschaft für die Erreichung dieses Ziels zu<br />

mobilisieren.<br />

Von den Bereichen, die in den nächsten 15 Jahren auf der wirtschaftlichen<br />

Tagesordnung der Europäischen Union stehen werden, seien zwei hervorgehoben:<br />

die Steuern und die Energiewirtschaft.<br />

Steuern. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da es für Lettland von entscheidender<br />

Bedeutung ist, das rasche Wirtschaftswachstum fortzuführen und ein<br />

dynamisches, investitionsfreundliches Wirtschaftsklima aufrechtzuerhalten,<br />

kann sich das Land nicht für eine Harmonisierung der direkten Steuern in der<br />

Europäischen Union einsetzen.<br />

Mit gleich hohen Steuern können wir das Abwandern der Investitionen aus<br />

den alten in die neuen Mitgliedstaaten nicht verhindern, durch eine<br />

Verschlechterung des Investitionsklimas in den neuen Mitgliedstaaten würden<br />

wir jedoch erreichen, dass die Investitionen außerhalb der Europäischen Union<br />

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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN<br />

in den USA, in Asien und anderen europäischen Staaten getätigt werden und<br />

die EU als Ganzes ihre Wettbewerbsfähigkeit einbüßt. In diesem Fall wären<br />

alle die Verlierer: sowohl die neuen Mitgliedstaaten, in denen sich das<br />

Wachstumstempo verringern würde, als auch die alten Mitgliedstaaten, die<br />

mehr Mittel investieren müssten, um einen wirtschaftlichen und sozialen<br />

Ausgleich innerhalb der Europäischen Union zu erzielen.<br />

Ein der Wirtschaftsentwicklung und Investitionsbereitschaft förderliches<br />

System direkter Steuern in den neuen Mitgliedstaaten ist ein gemeinsamer<br />

Gewinn für die Europäische Union, da es eine schnellere Angleichung des<br />

wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus sowie Investitionen nicht nur aus den<br />

EU-Mitgliedstaaten sondern auch vom globalen Markt begünstigt.<br />

Dennoch müssten die Staaten der Europäischen Union langfristig über eine<br />

höhere Besteuerung von Verbrauchsressourcen, einschließlich Energieressourcen<br />

und andere Naturressourcen, nachdenken, um durch eine solche Politik den<br />

Anteil erneuerbarer Energieressourcen an der gemeinsamen Energiebilanz zu<br />

erhöhen und eine nachhaltige umweltfreundliche Wirtschaftspolitik zu fördern.<br />

Die Energiewirtschaft ist seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts<br />

besonders in der an Energieressourcen armen Europäischen Union ein überaus<br />

wichtiger Bereich und wird es auch weiterhin bleiben. Auch wenn die<br />

Preissteigerungen für Erdöl Europa heute weit weniger Sorgen bereiten, ist<br />

das Problem der Versorgungssicherheit und der Konkurrenz des Imports von<br />

Energieressourcen vor allem in den neuen Mitgliedstaaten der EU weiterhin<br />

aktuell.<br />

Auf dem Elektrizitätsmarkt der baltischen Staaten vollzieht sich in diesem<br />

Jahrzehnt die Liberalisierung des Marktes unter den Bedingungen einer drastischen<br />

Verringerung der Produktionskapazitäten durch Abschalten des<br />

Atomkraftwerks Ignalina und der alten Blocks des Wärmekraftwerks Narva in<br />

Estland, in dem Brennschiefer als Energiequelle genutzt wird. Sollten die baltischen<br />

Staaten keine neuen Kapazitäten für die Stromerzeugung erschließen<br />

und ihre Elektrizitätsnetze nicht an die Netze der übrigen EU-Mitgliedstaaten<br />

angeschlossen werden, wird die Abhängigkeit der baltischen Staaten von<br />

Russland in diesem Sektor zunehmen.<br />

Eine mögliche langfristige Lösung für eine höhere Versorgungssicherheit<br />

der baltischen Staaten könnte der Bau eines neuen Atomkraftwerks nach den<br />

Sicherheitsstandards der EU sein. Eine solche Politik würde auch den<br />

Anforderungen des Kyoto-Protokolls über die Begrenzung des<br />

Schadstoffausstoßes zur Reduzierung des Treibhauseffekts – das Problem der<br />

gegenwärtigen Wärmekraftwerke – entsprechen.<br />

Die Liberalisierung des Erdgasmarktes in Lettland ist angesichts der technischen<br />

Abhängigkeit des Landes von den russischen Erdgasimporten, d. h. von<br />

77


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 78<br />

VALDIS DOMBROVSKIS<br />

der Gasprom als Monopolunternehmen, nur durch Umsetzung alternativer<br />

Gasversorgungsprojekte möglich. Solche Projekte lassen sich nur mit vereinten<br />

Kräften, mit der Hilfe der Europäischen Union realisieren, da die Frage der<br />

Versorgungssicherheit und der Ausweitung des Energieimports auch für die<br />

übrigen Staaten Osteuropas aktuell ist. Obwohl es im Moment kein konkretes<br />

Projekt gibt, kann davon ausgegangen werden, dass die Tendenzen in der<br />

Energiepreisentwicklung diese alternativen Gasversorgungsvarianten schrittweise<br />

auch wirtschaftlich günstiger machen. Ein liberalisierter Energiemarkt<br />

in Osteuropa ist nicht nur im Strom-, sondern auch im Gassektor ein Ziel, das<br />

bis zum Jahr 2020 erreicht werden kann.<br />

5. Entwicklung von Wissenschaft und Technologie<br />

Die Entwicklung dieses Bereichs ist am wenigsten vorhersehbar, obwohl<br />

er große Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und anderen<br />

Prozesse hat. Bis jetzt hat die Europäische Union, die diese Prozesse allgemein<br />

und nicht unter dem Gesichtspunkt einzelner Wirtschaftszweige und<br />

Bereiche bewertete, vorwiegend auf die globalen Herausforderungen auf dem<br />

Gebiet von Wissenschaft und Technologie reagiert.<br />

So stellte die Lissabonner Strategie zum großen Teil eine Antwort auf den<br />

raschen Vorstoß der USA bei neuen Technologien zur Jahrtausendwende dar.<br />

In den kommenden 15 Jahren reicht ein solches Herangehen nicht aus,<br />

wenn die Europäische Union weltweit führend sein will. Es genügt nicht, die<br />

fundamentalen Wissenschaften und das Bildungssystem zu vervollkommnen,<br />

obwohl dies ohne Zweifel sehr wichtig ist. Die Europäische Union muss nicht<br />

nur auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technologie, sondern auch in anderen<br />

Bereichen selbst Prioritäten setzen, indem sie diese Herausforderungen<br />

gegenüber der Welt formuliert und sich somit Vorteile im globalen Maßstab<br />

sichert.<br />

Das verlangt auch eine verstärkte Koordinierung bei der Ausarbeitung der<br />

Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten in den verschiedenen<br />

Bereichen.<br />

Geopolitik, Demografie, europäische Identität, Wirtschaft sowie Wissenschaft<br />

und Technologie stehen im Hinblick auf unser Europa 2020 in einem wechselseitigen<br />

Zusammenhang.<br />

Langfristige Lösungen auf einem einzelnen Gebiet sind ohne Berücksichtigung<br />

der Entwicklungsprozesse in anderen Bereichen nicht möglich. Nur<br />

eine ausgeglichene und nachhaltige Entwicklung kann zur Lösung dieses<br />

Problems beitragen.<br />

Auf der Ebene der Mitgliedsländer und der Institutionen der Europäischen<br />

Union muss das demokratische Umfeld für die Lösung von Problemen erhalten<br />

bleiben, bildet es doch die Gewähr dafür, dass bei der Entwicklung Europas<br />

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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN<br />

alle Gebiete berücksichtigt werden und nicht nur ein einzelnes Problem hervorgehoben<br />

wird, während alle anderen außer Acht gelassen werden.<br />

Der Diskussionsgeist, die gemeinsame Wertvorstellung, die Möglichkeit zur<br />

Verwirklichung einer gemeinsamen Politik und Lettland als Mitglied der<br />

Europäischen Union sind von ebenso großer Bedeutung wie die Chancen des<br />

Marktes und die Finanzmittel, die uns durch diese Mitgliedschaft zur Verfügung<br />

stehen.<br />

79<br />

März 2005


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Avril DOYLE<br />

Leiterin der irischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Gesundheit – Unsere <strong>Vision</strong> für Europa.<br />

Steuerung durch Gesetze oder durch Gerichte?<br />

Eine gute Gesundheitsversorgung gehört zum Kern unserer Zivilisation. Sie<br />

ist ein so wesentlicher Bestandteil des europäischen Modells, dass sie als selbstverständlich<br />

angesehen wird. Jedoch wurde bis vor kurzem, bis zur<br />

Veröffentlichung der Mitteilung der Kommission über die gesundheitspolitische<br />

Strategie der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 2000 und den daran<br />

anschließenden Reflexionsprozessen, das Gesundheitswesen auf europäischer<br />

Ebene noch nicht systematisch in Angriff genommen. Obwohl ihr im Vertrag der<br />

Auftrag übertragen wurde im Gesundheitsbereich eine Rolle zu spielen, hat<br />

die Gemeinschaft die politischen Entscheidungen weitgehend allein den<br />

Mitgliedstaaten und, als deren Vertreter, dem EuGH überlassen. Jetzt ist der<br />

Zeitpunkt gekommen, das Thema direkt anzugehen und die Gesundheitsversorgung<br />

so in das abgeleitete Gemeinschaftsrecht aufzunehmen, dass umfassend<br />

gezeigt wird, welch zentrale Rolle die Gesundheit sowohl in wirtschaftlicher<br />

und sozialer als auch kultureller Hinsicht im Leben unserer Bürger spielt. Es ist<br />

an der Zeit, dass die Gesundheitspolitik durch Gesetze und nicht durch Gerichte<br />

gesteuert wird.<br />

Recht auf Gesundheitsversorgung ist im Vertrag verankert<br />

Gemäß EG-Vertrag ist „bei der Festlegung und Durchführung aller<br />

Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen […] ein hohes Gesundheitsschutzniveau“<br />

sicherzustellen.<br />

Darüber hinaus wurde das Gesundheitswesen als Bereich, in dem die Union<br />

beschließen kann, eine Koordinierungs-, Ergänzungs -oder Unterstützungsmaßnahme<br />

durchzuführen, in den neuen Verfassungsvertrag aufgenommen. Der Verfassungsvertrag<br />

nennt ferner als eines der drei grundlegenden Ziele der Union, dass „das<br />

Wohlergehen ihrer Völker“ gefördert wird.<br />

Durch die Aufnahme der Charta der Grundrechte der Union in den<br />

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AVRIL DOYLE<br />

Verfassungsvertrag wurden auch das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche<br />

und geistige Unversehrtheit gestärkt.<br />

Der Verfassungsvertrag liefert eine klare Beschreibung der Zuständigkeiten<br />

der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, sodass die Sorge, Brüssel könne die<br />

nationalen Zuständigkeiten beschneiden, nicht länger als Gegenargument für<br />

konzertierte Maßnahmen auf EU-Ebene angeführt werden kann. Wir benötigen<br />

ein effektives und praktisches Gleichgewicht zwischen der Gemeinschaft und<br />

den Mitgliedstaaten, das auf klaren und unmissverständlichen rechtlichen<br />

Grundlagen aufbaut. Es ist an der Zeit, dass wir die Verantwortung unserer<br />

Mitgliedstaaten für die Bereitstellung einer allgemein zugänglichen, nachhaltigen<br />

und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung festlegen und den<br />

„Mehrwert“ nutzen, den die Koordinierung auf EU-Ebene für den<br />

Gesundheitsbereich darstellen kann.<br />

Welche Rolle kann die EU in der Gesundheitspolitik spielen?<br />

Die EU hat in erster Linie die Aufgabe, die Bürger zu schützen. Die<br />

Gemeinschaft kann und sollte einen „Mehrwert“ erbringen, indem sie die<br />

Forschung fördert, Informationen für die Bürger und die Akteure des<br />

Gesundheitswesens bereitstellt; die bewährtesten Praktiken ermittelt; die<br />

Koordinierung und den Dialog zwischen den Mitgliedstaaten erleichtert;<br />

Partnerschaften mit Akteuren der Zivilgesellschaft begünstigt; Stärken und<br />

Schwächen in den Gesundheitssystemen feststellt; Synergieeffekte fördert und<br />

Hindernisse beim Zugang zu medizinischer Versorgung beseitigt. Die Gemeinschaft<br />

hat gute Chancen, aus den Entwicklungen Nutzen zu ziehen, sich auf internationaler<br />

Ebene Wissen und Fachkenntnisse zu erschließen und ihre externen und<br />

internen Politikbereiche an die bewährtesten Praktiken der WHO anzupassen.<br />

Die in der erweiterten Union bestehenden Diskrepanzen bei der Ausstattung<br />

mit Kapazitäten erfordern eine Verstärkung der länderübergreifenden Verwaltung<br />

von Gesundheit und Gesundheitsfürsorge durch die Gemeinschaft, insbesondere<br />

im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Problemen.<br />

Speziell für die Bekämpfung länderübergreifender Gesundheitsprobleme wie<br />

der Begegnung der Gefahr, die von epidemischen Infektionskrankheiten und<br />

mit der Nahrungskette verbundenen Vorfällen ausgeht, ist die Gemeinschaft sehr<br />

gut platziert. Ausbrüche von BSE und Maul- und Klauenseuche und die von<br />

SARS und Geflügelpest ausgehende Bedrohung haben allesamt, und diese<br />

Erfahrung mussten wir erst machen, die dringende Notwendigkeit koordinierter<br />

aktiver Präventivmaßnahmen im Gesundheitsbereich aufgezeigt.<br />

Die Errichtung mehrerer EU-Agenturen in diesem Bereich, d. h. des<br />

Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten<br />

(ECDPC), der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und der<br />

Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), ist eine zu begrüßende und notwendige<br />

Entwicklung, jedoch können diese Agenturen ohne eine klare<br />

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GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA<br />

Gemeinschaftspolitik und die nötigen zu ihrer Unterstützung bereitgestellten<br />

Mittel nicht richtig funktionieren.<br />

Durch die Integration des Gesundheitsaspekts in alle Gemeinschaftspolitiken,<br />

die Durchführung von umfassenden Bewertungen der gesundheitlichen<br />

Auswirkungen aller EU-Rechtsakte sowie durch die Förderung einer gesunden<br />

Lebensweise kann die EU die notwendige Plattform für gemeinsames<br />

Denken bieten.<br />

Die allgemeinen verhaltensabhängigen, sozialen und ökologischen Faktoren,<br />

die die Gesundheit beeinflussen, können auf Gemeinschaftsebene optimal behandelt<br />

werden, indem ein solcher ganzheitlicher, der Zersplitterung entgegengesetzter<br />

Ansatz gewählt wird. Die ganze Palette der unterschiedlichen Bereiche, die<br />

von der REACH-Chemikalienpolitik über die Verkehrspolitik und die<br />

Rechtsvorschriften über Arbeitsbedingungen bis hin zu den einzelstaatlichen<br />

Umwelt- und Raumplanungspolitiken reichen, wirkt sich direkt oder indirekt auf<br />

die Gesundheit aus.<br />

Die EU darf nicht unsystematisch und engstirnig an das Thema Gesundheit<br />

herangehen oder versuchen, die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der<br />

Gesundheitsdienstleistungen in verschiedene Bereiche aufzuteilen oder sie voneinander<br />

abzutrennen. Sämtliche Gesundheitssysteme in der Union weisen trotz<br />

ihrer Unterschiede hinsichtlich Organisation, Struktur und Finanzierungsweise<br />

die gemeinsamen Grundsätze Solidarität, Gerechtigkeit und allgemeine<br />

Zugänglichkeit auf.<br />

In der Gesundheitspolitik laufen eine Reihe von Kernwerten und -zielen der<br />

EU zusammen: marktorientierter Wettbewerb und soziale Solidarität; unveräußerliche,<br />

vom Staat garantierte Menschenrechte und die Freiheit, die<br />

Wahlmöglichkeit und die Verantwortung der einzelnen Bürger... Die Geschichte<br />

hat uns gezeigt, dass zu einfache und manichäische Unterscheidungen keine<br />

Grundlage für gutes Regieren schaffen. Schwarz-Weiß-Denken ist nur insofern nützlich,<br />

als es uns ermöglicht, die Fragen klar zu identifizieren. Wir dürfen diese<br />

künstlichen Aufspaltungen nicht mit unvereinbaren politischen Optionen verwechseln<br />

– bei ihnen handelt es sich lediglich um Instrumente zur<br />

Entscheidungsfindung. Wir stehen vor der Herausforderung, einen kohärenten und<br />

in die Praxis umsetzbaren europäischen Ansatz für Gesundheitsfragen zu entwickeln,<br />

der den von Grund auf komplementären Charakter dieser Kernwerte und<br />

-ziele zusammenfasst.<br />

Auswirkungen der Überalterung Europas auf die Gesundheit<br />

Der vielleicht dringendste Grund für eine strukturelle und förmliche<br />

Koordinierung im Gesundheitssektor ist die Überalterung der europäischen<br />

Bevölkerung – die so genannte „Vergreisung Europas“. Die Europäische Union<br />

steht vor einem beispiellosen demografischen Wandel, der sich massiv auf die<br />

gesamte Gesellschaft auswirken wird. Die Zahlen in dem von der Kommission<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 84<br />

vorgelegten Grünbuch „Demografischer Wandel“ zeigen, dass im Jahr 2030 zwei<br />

Erwerbstätige (zwischen 15 und 65 Jahren) für einen Nichterwerbstätigen (von<br />

über 65 Jahren) aufkommen müssen. In der Union leben dann 18 Millionen<br />

Kinder und Jugendliche weniger als heute.<br />

Wenn die EU im Jahr 2050, wie Eurostat prognostiziert, statt der heutigen<br />

14,8 Millionen, 38 Millionen Menschen über 80 Jahren zählen wird, ist ein bedeutender<br />

Anstieg der Ausgaben im Gesundheitswesen – laut dieser Prognosen um<br />

mindestens 2,7 % des BIP – unvermeidbar. Das Verhältnis von abhängigen jungen<br />

und alten Menschen gegenüber Erwerbstätigen wird von 49 % im Jahr 2005<br />

auf 66 % im Jahr 2030 zunehmen. Um den Verlust der Erwerbstätigen auszugleichen,<br />

werden wir eine Beschäftigungsquote von über 79 % brauchen. Um dies<br />

zu erreichen, werden jedoch mehr Frauen – die traditionellen Betreuer älterer<br />

Menschen – erwerbstätig müssen, und ein größerer Anteil der Langzeitbetreuung<br />

wird folglich dem Staat zufallen.<br />

Wenn die niedrigen Geburtenraten in den 25 Mitgliedstaaten mit eingerechnet<br />

werden, sieht der Abhängigenquotient langsam Besorgnis erregend aus. Im Jahr 2003<br />

war die Geburtenrate in der EU auf 1,48 gesunken und lag somit unter der für die<br />

Reproduktion der Bevölkerung erforderlichen Marke von 2,1 Kindern pro Frau.<br />

Im Vergleich hierzu wird die US-Bevölkerung zwischen 2000 und 2025 um 25,6 %<br />

wachsen. Diese Zahl stellt den EU-Durchschnitt der 25 Mitgliedstaaten dar, und<br />

hinter ihr verbergen sich sehr unterschiedliche, z. T. beunruhigende Tendenzen<br />

in einigen Ländern, insbesondere den neuen Mitgliedstaaten, wo die Geburtenraten<br />

stark im Sinken begriffen sind. Lettland beispielsweise wies einen natürlichen<br />

Bevölkerungsrückgang (die Differenz zwischen der Anzahl der Lebendgeburten<br />

und der Anzahl der Sterbefälle innerhalb eines Jahres) von – 4,9 auf, während<br />

Irland, ein Land mit vergleichbarer Bevölkerungszahl, eine natürliche Wachstumsrate<br />

von 8,2 verzeichnete. Wenn wir die Herausforderungen berücksichtigen, denen<br />

sich die neuen Mitgliedstaaten bereits stellen müssen, um ihre Gesundheitssysteme<br />

zu reformieren und zu modernisieren, wird klar, dass die Lage kritisch ist. Wir<br />

müssen nun für die Zukunft planen, indem wir auf Gemeinschaftsebene einen<br />

kohärenten Rahmen für das Gesundheitswesen bereitstellen.<br />

Beitrag der Gesundheit zur Wirtschaft<br />

AVRIL DOYLE<br />

Für die europäische Wirtschaft wird der Gesundheitsbereich immer wichtiger.<br />

So wendet die EU einen ständig steigenden Anteil des BIP für die Gesundheit<br />

auf: 8,6 % ist der derzeitige Durchschnitt der EU-15, wobei die neuen<br />

Mitgliedstaaten im Durchschnitt 5,8 % ausgeben. Für die USA lautet die Ziffer: 14,6<br />

% des BIP. Durch die Bevölkerungsalterung, die oft sehr kostspielige Entwicklung<br />

von medizinischen Technologien und Behandlungsmethoden und die sich daraus<br />

ergebenden steigenden Erwartungen wird diese Zahl wahrscheinlich bedeutend<br />

ansteigen.<br />

Die Frage ist nicht, wie viel wir ausgeben, sondern wie wir es am besten ein-<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 85<br />

GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA<br />

setzen können. Die gemeinschaftliche Gesundheitspolitik kann viel dazu beitragen,<br />

diese schwierigen Fragen, zu denen die Themen rund um die beste<br />

Managementpraxis und das seit jeher bestehenden Spannungsfeld zwischen<br />

Verwaltungskosten und der Erbringungen der Leistungen vor Ort gehören, zu<br />

beantworten. Eine zunehmende finanzielle Unterstützung oder „Geld in das<br />

Gesundheitssystem zu pumpen“ ist keine Lösung. Wieder einmal müssen wir<br />

aufpassen, Mittel und Zweck nicht miteinander zu verschmelzen.<br />

Es müssen Maßnahmen getroffen werden, um festzustellen, wie man diese<br />

Mittel am besten einsetzt, um eine flexible, auf den Patienten ausgerichtete<br />

Gesundheitsversorgung zu entwickeln, die dem Bedürfnis und Recht eines jeden<br />

europäischen Bürgers, Zugang zu den besten medizinischen Behandlungsmethoden<br />

zu haben, nachkommt. Die Zusammenstellung vergleichbarer Daten auf EU-<br />

Ebene und die Förderung des Informationsaustauschs sind Grundvoraussetzungen<br />

für eine verbesserte Bereitstellung medizinischer Leistungen.<br />

Systeme zur objektiven Beurteilung der Qualität des Gesundheitswesens, wie<br />

internationale Zulassungssysteme, müssen geprüft und genutzt werden, um den<br />

Verbrauchern zu helfen, sich in den besten Einrichtungen behandeln zu lassen.<br />

Dies wird die Entscheidungsmöglichkeiten der Verbraucher verbessern, einen<br />

verantwortungsbewussten Wettbewerb zwischen den Gesundheitseinrichtungen<br />

fördern und einen Wettstreit um die Spitzenposition auslösen. Die Mitgliedstaaten<br />

müssen auf diese Weise unterstützt und ermutigt werden, voneinander zu lernen,<br />

um, insbesondere vor dem Hintergrund eines sich wandelnden demografischen<br />

Gleichgewichts, die Ausgaben im Gesundheitswesen so gut wie möglich<br />

einzusetzen.<br />

Wir müssen einen Paradigmenwechsel in unserer Sicht der Gesundheitspolitik<br />

einleiten und die offenkundige Tatsache akzeptieren, dass die Gesundheit keineswegs<br />

eine unberechenbare finanzielle Belastung darstellt, sondern ein Motor<br />

für Wirtschaftswachstum und nachhaltige Entwicklung ist und als der Schlüssel<br />

für das Erreichen der Lissabon-Ziele erkannt werden sollte, Europa bis 2010 zu<br />

dem wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.<br />

Die WHO hat einen direkten Zusammenhang zwischen der Lebenserwartung<br />

bei der Geburt und dem Wirtschaftswachstum festgestellt. Ihren Schätzungen<br />

zufolge führt ein Anstieg der Lebenserwartung bei der Geburt um 10 % zu einem<br />

Anstieg des Wirtschaftswachstums um 0,35 % pro Jahr.<br />

Umgekehrt stellen Erkrankungen eine erhebliche Bremse für Produktivität<br />

und Wettbewerbsfähigkeit dar. Schätzungen der Kosten, die von einigen größtenteils<br />

vermeidbaren Krankheiten verursacht werden, sprechen für sich. Die jährliche<br />

durch Atemwegserkrankungen verursachte volkswirtschaftliche Belastung<br />

der EU beträgt beispielsweise über 100 Milliarden Euro, und für die Behandlung<br />

von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die Haupttodesursache in Europa, werden<br />

sogar 135 Milliarden ausgegeben. Allein die Kosten für die seelische Gesundheit,<br />

einschließlich der Bewältigung von Stress, Ängsten und Depressionen, werden<br />

auf 3-4 % des BIP geschätzt. Die volkswirtschaftliche Belastung durch Krankheiten<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 86<br />

AVRIL DOYLE<br />

schlägt sich in hohen volkswirtschaftlichen Kosten für Arbeitsunfähigkeit, Ersatz<br />

am Arbeitsplatz und Produktivitätseinbußen bis hin zur Frühverrentung nieder.<br />

Europa verliert mehr als 500 Millionen Arbeitstage pro Jahr durch mit der Arbeit<br />

verbundene Gesundheitsprobleme.<br />

Gesundheitsfaktoren und Lebensführung<br />

Bei Investitionen muss mehr Wert auf die Verhütung von Krankheit gelegt<br />

werden, statt allein auf die Behandlung ihrer Auswirkungen. In der EU gehen fast<br />

10 % der behinderungsbereinigten Lebensjahre (DALY) durch Krankheiten verloren,<br />

die mit der Lebensführung zusammenhängen und mit Fettleibigkeit, übermäßigem<br />

Alkoholgenuss und Tabakkonsum verbunden sind. Schlechte Ernährung<br />

(4,5 %), Fettleibigkeit (3,7 %) und Bewegungsmangel (1,4 %) sind verantwortlich<br />

für eine erhebliche Minderung der Lebensqualität unserer Bürger und stellen<br />

eine bedeutende Gefahr für die Produktivität dar. Unsere Investitionen werden<br />

sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch was die Verbesserung der<br />

Lebensqualität unserer Bürger angeht bedeutend mehr Früchte tragen, wenn wir<br />

uns den Faktoren zuwenden, die für das Erkranken ausschlaggebend sind.<br />

Natürlich muss der Einzelne das Recht behalten, über seine Lebensführung zu<br />

bestimmen, und es ist nicht die Aufgabe der Europäischen Union, das Privatleben<br />

ihrer Bürger zu steuern. Es gibt jedoch zahlreiche Bereiche, in denen der Einzelne<br />

dazu ermutigt werden kann, sich für eine gesündere Lebensweise zu entscheiden.<br />

Hierzu sind die Faktoren zu bestimmen und herauszustellen, die zum<br />

Entstehen von Krankheiten beitragen.<br />

Tabakkonsum ist ein offensichtlicher Fall für eine konzertierte Aktion. Den<br />

Tabakkonsum zu reduzieren, sollte das Ziel jeder Gesundheitspolitik auf<br />

Gemeinschaftsebene sein. Zusätzlich zur Verschlechterung der Gesundheit und<br />

der Lebensqualität – Tabakkonsum ist verantwortlich für eine von drei<br />

Krebserkrankungen – stellen Lungenkrankheiten eine volkswirtschaftliche<br />

Belastung von über 100 Milliarden Euro pro Jahr dar. Initiativen der Mitgliedstaaten<br />

zur Abschreckung vom Tabakkonsum in öffentlichen Räumen sollten sorgfältig<br />

beobachtet werden, und Beispiele bester Vorgehensweisen sollten verbreitet werden,<br />

sobald sich Erfolge, aber auch Gefahren auf dem Weg dahin, abzeichnen.<br />

Die Europäer sind die größten Trinker weltweit. Alkohol ist in vielen Bereichen<br />

sehr stark kulturell verankert, obwohl unverantwortliches Trinkverhalten eine<br />

der Hauptursache für Gesundheitsprobleme und soziale Missstände ist. Die<br />

Gesamtbelastung durch Krankheit, Verletzung und vorzeitigen Tod (vor dem 65.<br />

Lebensjahr eintretender Tod), die auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind,<br />

beträgt zwischen 8 % und 10 %. Exzessiver Alkoholkonsum ist nicht nur ein in<br />

der Jugend auftretendes Phänomen, sondern besonders bei jungen Erwachsenen<br />

weit verbreitet. Unverantwortlicher Alkoholkonsum, mit allen daraus entstehenden<br />

sozialen Problemen wie gewalttätiges und unsoziales Verhalten und Zerrüttung<br />

von Familien, sollte in den Mitgliedstaaten durch Kampagnen thematisiert wer-<br />

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GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA<br />

den, die durch das auf Gemeinschaftsebene größer werdende Bewusstsein unterstützt<br />

werden.<br />

Ernährung ist eine wesentliche Gesundheitsdeterminante. Fettleibigkeit ist<br />

ein Faktor, der zur Verschärfung der Symptome zahlreicher Krankheiten beiträgt.<br />

Die Verbreitung von Typ-2-Diabetes, die heutzutage fast ein Zehntel der<br />

Bevölkerung betrifft, steht, so wie auch zahlreiche Herz-Kreislauf-Erkrankungen,<br />

in direkter Verbindung mit den Ernährungsgewohnheiten. Herzkrankheiten, die<br />

für fast die Hälfte aller Todesfälle verantwortlich sind, bilden die Haupttodesursache<br />

in Europa. Die EU muss sich darauf konzentrieren, den Bürgern die Informationen<br />

zu geben, die sie benötigen, um die Risiken zu mindern, die sie durch ihre tägliche<br />

Ernährung eingehen. Die besten Ergebnisse können erzielt werden, indem<br />

man junge Menschen aufklärt, bevor sich lebenslange schlechte Gewohnheiten<br />

herausgebildet haben. Auch hier müssen wir sorgfältig zwischen der Unterrichtung<br />

der Bürger einerseits und der Bemutterung und Einmischung in die Wahlfreiheit<br />

der Verbraucher andererseits unterscheiden. Jeder Mensch trifft letzten Endes die<br />

Entscheidung und trägt die Verantwortung für seine eigene Lebensführung.<br />

Es wird nie möglich sein, die menschliche Natur gesetzlich zu regeln, und<br />

Bürger dazu ermutigen, ihre Lebensführung grundlegend und dauerhaft zu ändern<br />

und ein gesunderes, aktiveres Leben zu führen, ist ein Unterfangen, für das mehr<br />

Anreize als Strafen nötig sein werden.<br />

Sektor der medizinischen Versorgungsleistungen<br />

Immerhin 10 % der Erwerbstätigen in Europa arbeiten mittelbar oder unmittelbar<br />

für die Erbringung medizinischer Leistungen. Von 1995 bis 2001 wurden<br />

im Gesundheitsbereich über zwei Millionen Stellen geschaffen. Bei der Betrachtung<br />

von Gesundheitsdienstleistungen dürfen wir unseren Blick nicht einengen, da<br />

sie sich qualitativ von anderen Dienstleistungen unterscheiden und mehr als nur<br />

finanziellen Gewinn erbringen.<br />

Der beste Weg, das Wachstumspotenzial des Gesundheitssektors zu erhöhen,<br />

ist eine Steigerung des Wettbewerbs, stets unter der Bedingung, dass die Sicherheit<br />

des Patienten das Hauptanliegen bleibt. Die Frage der besseren Regulierung ist<br />

im Gesundheitssektor von größter Wichtigkeit, wenn wir die Erleichterung der<br />

Patientenmobilität, der beruflichen Mobilität, des grenzüberschreitenden Erwerbs<br />

von Gesundheitsleistungen und der Bereitstellung von Dienstleistungen miteinander<br />

in Einklang bringen möchten. Eine bessere Koordinierung der einzelstaatlichen<br />

Gesundheitspolitiken ist eine unumgehbare Grundvoraussetzung für<br />

ein stärkeres Zusammenwachsen des europäischen Sektors der medizinischen<br />

Versorgungsleistungen. Angesichts des gemeinwirtschaftlichen Elements in diesem<br />

Sektor und angesichts der Patientenrechte handelt es sich um einen<br />

Wirtschaftsbereich, der klarer geregelt werden muss als andere. Das bedeutet, an<br />

dem Grundprinzip festzuhalten, dass es Rechtsvorschriften geben muss, dass sie<br />

einfach, unzweideutig, gründlich überprüft und mit einer Bewertung der Risiken<br />

87


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 88<br />

und Gesundheitsauswirkungen versehen sein müssen. Im Zuge der Überprüfung<br />

unserer Rechtsvorschriften auf ihre Tauglichkeit für den Lissabon-Prozess werden<br />

auch die Rechte der Patienten deutlicher herausgestellt und die Patienten<br />

befähigt, von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Gleichzeitig wird es immer<br />

Einzelfälle geben, bei denen die Notwendigkeit besteht, einen Regressanspruch<br />

für fehlgeschlagene Behandlungen geltend zu machen. Die verschiedenen<br />

Krankenversicherungssysteme der Mitgliedstaaten, die Vielfalt der<br />

Berufshaftpflichtversicherungssysteme, die unterschiedlichen Ansätze in Bezug auf<br />

Haftung und ärztliche Kunstfehler, ganz zu schweigen von der Verantwortung für<br />

die Nachsorge, die innerhalb der Union existieren, müssen alle neu bewertet<br />

und „in Paketen gebündelt“ werden, um das Zusammenwirken der verschiedenen<br />

Systeme im Interesse der Patienten zu gewährleisten. Eine allgemeine<br />

Dienstleistungsrichtlinie ist meiner Meinung nach nicht das geeignete<br />

Rechtsinstrument, um einen Binnenmarkt für Gesundheitsdienstleistungen zu<br />

erzielen und sämtliche notwendigen Vorkehrungen für die Patientenmobilität<br />

innerhalb der EU zu treffen.<br />

Die wirtschaftlichen Aspekte der medizinischen Versorgung können nicht isoliert<br />

betrachtet werden. Sie stehen im Mittelpunkt einer Verbindung von gleichermaßen<br />

bedeutenden moralischen und ethischen Aspekten. Dieser alles umfassende<br />

Charakter von Gesundheit muss in Rechtsinstrumenten zum Ausdruck<br />

gebracht werden, um den Sektor der medizinischen Versorgungsleistungen effektiver<br />

zu gestalten und vollständig in den Binnenmarkt zu integrieren. Dazu sind<br />

eine allgemeinere Sichtweise und ein umfassenderer Ansatz als in der<br />

Vergangenheit erforderlich. Damit die beiden Ziele, eine Überschneidung und<br />

Verdoppelung von Rechtsvorschriften zu vermeiden und durch einen stabilen<br />

Rechtsrahmen Rechtssicherheit zu schaffen, erreicht werden können, muss die<br />

Hochrangige Gruppe für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung<br />

einen kohärenten Ansatz wählen. Wenn wir es nicht schaffen, unsere<br />

Rechtsvorschriften, soweit sie die Gesundheit berühren, vollständig zu überprüfen,<br />

könnte dies weit ernstere Auswirkungen als rein finanzielle Verluste haben.<br />

Die Methodik für die Prüfung der gesundheitlichen Auswirkungen sollte vervollkommnet<br />

und dann auf alle Rechtsvorschriften der Gemeinschaft angewandt<br />

werden. Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Kommission demnächst eine<br />

Richtlinie über die Erbringung medizinischer Leistungen in Betracht zieht?<br />

Gesundheit und Forschung<br />

AVRIL DOYLE<br />

Das europäische Modell der Wettbewerbsfähigkeit basiert auf einer<br />

Wissensgrundlage. Der Schwerpunkt muss stärker auf medizinische Ausbildung,<br />

berufliche Weiterbildung und angesichts des chronischen Mangels an medizinischem<br />

Personal überall in der EU auf Investitionen in Humanressourcen gelegt werden.<br />

Eine verbesserte berufliche Mobilität ist unverzichtbar, um die Verbreitung<br />

der besten medizinischen Methoden und Verfahren zu garantieren. Die berufli-<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 89<br />

che Mobilität sollte durch ein weit reichendes System für Informationsaustausch<br />

und die EU-weite automatische Anerkennung medizinischer Fachrichtungen<br />

durch die lang erwartete Richtlinie über die Anerkennung beruflicher<br />

Befähigungsnachweise so transparent und einfach wie möglich gestaltet werden.<br />

Als logische Konsequenz wird die berufliche Mobilität die Ausarbeitung<br />

spezifischer Rechtsvorschriften für Gesundheitsdienstleistungen beschleunigen,<br />

nicht zuletzt, um der Abwanderung hochqualifizierter Personen und dem Druck<br />

auf das Gesundheitsbudget der Mitgliedstaaten entgegenzuwirken, der sich aus<br />

der Abwanderung hoch qualifizierter Ärzte, Krankenschwestern und anderer<br />

Mediziner aus ihrem Herkunftsland in Mitgliedstaaten mit besseren Arbeitsbedingungen<br />

und Gehältern ergeben kann. Die Mitgliedstaaten haben ein berechtigtes<br />

Interesse daran, eine koordinierte Aktion zu fördern, um sicherzustellen, dass<br />

sich die Investitionen, die sie im Bereich der medizinischen Ausbildung getätigt<br />

haben, für sie auszahlen. Die Zusammenarbeit zwischen nationalen Behörden und<br />

Programmen für lebenslanges Lernen, die soweit wie möglich angeglichen wurden,<br />

muss garantiert werden, um EU-weit höchste Standards aufrechtzuerhalten.<br />

Forschungsinvestitionen im Gesundheitsbereich sollten sowohl auf einzelstaatlicher<br />

als auch auf Gemeinschaftsebene gestärkt werden, um das Potenzial<br />

für Wachstum und eine verbesserte Bereitstellung von dem neuesten Stand der<br />

Technik entsprechenden Behandlungstechnologien zu erhöhen. Es sollten finanziell<br />

gut ausgestattete „Referenzzentren“, insbesondere Fachkrankenhäuser und<br />

Forschungsinstitute, die Vorreiter für medizinische Innovation sein werden, errichtet<br />

werden. Eine verbesserte Patientenmobilität wird den Nutzen solcher medizinischer<br />

Exzellenzzentren maximieren und für Größenvorteile sorgen.<br />

Die Finanzierung des siebten Forschungsrahmenprogramms sollte bedeutend<br />

angehoben und auf Haushaltslinien für Forschungsarbeiten im Gesundheitsbereich<br />

großes Gewicht gelegt werden, um diesen Sektor in das in der Übereinkunft von<br />

Barcelona festgelegte Ziel, 3 % des BIP für die Forschung aufzuwenden, aufzunehmen.<br />

Wir sind noch weit davon entfernt, dieses Ziel zu erfüllen. Die<br />

Mitgliedstaaten sowie private und gewerbliche Einrichtungen sollten sich ebenfalls<br />

an der Forschung im Bereich Medizintechnik und ihrer Entwicklung beteiligen,<br />

um Europa zu einer Hochburg der Innovation zu machen.<br />

Schlussfolgerung<br />

GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA<br />

Gesundheitsdienstleistungen sind unentbehrliche Dienstleistungen und nicht<br />

rein wirtschaftliche Tätigkeiten. Der Grundsatz des allgemeinen Zugangs zu hochwertigen,<br />

aber finanziell tragbaren medizinischen Leistungen muss auf EU-Ebene<br />

aufrechterhalten und in einem umfassenden und gut durchdachten Rechtsrahmen<br />

verankert werden. Im Idealfall sollten diese Leistungen dem Patienten möglichst<br />

wohnortnah bereitgestellt werden. Die Nutzung von Behandlungsmöglichkeiten<br />

in einem anderen Land ist jedoch ein Recht, das die Patienten problemlos wahrnehmen<br />

können müssen, ohne die Hilfe von Gerichten in Anspruch zu nehmen.<br />

89


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 90<br />

AVRIL DOYLE<br />

Diese Mobilität, so begrenzt sie auch sein mag, müsste zu einer Erhöhung der<br />

Versorgungsstandards im Herkunftsland des Patienten führen, denn das ist das<br />

eigentliche Ziel. Die Schwerpunktverschiebung von der Behandlung zur Vorsorge,<br />

indem an den für die Entstehung von Krankheiten verantwortlichen Faktoren<br />

angesetzt wird, vermeidet unnötiges Leid und erspart der Staatskasse Ausgaben<br />

für Behandlungen, die vermieden werden können. Die Beteiligung öffentlicher<br />

und privater Akteure und öffentlich-privater Partnerschaften an Investitionen<br />

wird die Wettbewerbsfähigkeit stärken und die Qualität der medizinischen<br />

Versorgung verbessern. Diese Initiativen müssen im Rahmen des sozialen Pfeilers<br />

der Lissabon-Agenda durch Unterstützung und Dialog auf Gemeinschaftsebene<br />

gefördert werden. Ohne Wirtschaftswachstum werden wir das Niveau der<br />

Investitionen im Gesundheitsbereich, das erforderlich sein wird, um die<br />

Herausforderung einer alternden Gesellschaft zu bewältigen, nicht halten können.<br />

Wirtschaftswachstum und soziale Solidarität schließen sich nicht gegenseitig aus,<br />

sondern sind zwei Seiten derselben Münze.<br />

90<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 91<br />

Camiel EURLINGS<br />

Leiter der niederländischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Den europäischen Traum aufrechterhalten<br />

Als Schuljunge erlebte ich den Fall der Berliner Mauer mit. Überall in<br />

Mitteleuropa lebte die Zivilgesellschaft durch mutig und konkret handelnde<br />

Bürger wieder auf, die sich nach Demokratie und Freiheit sehnten, von der<br />

Samtenen Revolution in Prag bis hin zu den Unabhängigkeitsbestrebungen von<br />

Letten und Esten. Was viele mutige Menschen in Polen ausgelöst hatten, erwies<br />

sich als unaufhaltsam. Es wurde eine Bürgerbewegung, von unten, die imstande<br />

war, nationale Grenzen und Sprachunterschiede zu überwinden. Eines war mir<br />

und den Gefährten aus meiner Generation völlig klar geworden: das Europa vor<br />

diesem Zeitpunkt, die Welt der 80er Jahre und früher, sie gehörte der Vergangenheit<br />

an.<br />

Was dafür an ihre Stelle treten würde, konnten wir Schüler und Studenten<br />

von damals schwerlich erahnen. Nur vage Konturen und idealistische Perspektiven<br />

konnte man damals noch wahrnehmen. Wer hätte zu diesem Zeitpunkt daran<br />

denken können, dass der Traum Robert Schumans und Jean Monnets von<br />

Versöhnung zwischen Staaten sich nicht nur in Westeuropa verwirklichen würde,<br />

sondern auch einmal den Rest unseres Kontinents umfassen sollte? Dass schon<br />

innerhalb eines Jahres die Wiedervereinigung Deutschlands eine Tatsache sein<br />

würde, ohne dass ein Schuss entlang der so schwer bewachten Grenze fiel? Dass<br />

die durch den Vertrag zwischen Hitler und Stalin einverleibten und geknechteten<br />

baltischen Völker in einigen Jahren wieder frei sein würden? Dass ein dissidenter<br />

Bühnenautor aus dem Gefängnis auf den Präsidentenstuhl in Prag kommen<br />

würde? Dass Bürger mit orangenen Schals und Zelten auf dem großen Platz<br />

endlich auch faire Wahlen in Kiew erzwingen würden?<br />

Tiefgreifend veränderte Rahmenbedingungen<br />

Der Schüler aus dem Limburgischen Valkenburg von 1989 schreibt nun dieses<br />

Essay aus dem Europäischen Parlament, in dem Menschen aus 25 Nationen<br />

zusammenarbeiten und versuchen, einem neuen Europa mit Höhen und Tiefen<br />

91


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 92<br />

CAMIEL EURLINGS<br />

Gestalt zu verleihen. Das Europa „15 Jahre danach“ ist für jemand, der auf jene<br />

Wochen des Mauerfalls zurückblickt, nicht mehr erkennbar. Nicht nur geographisch<br />

und politisch, sondern auch nicht erkennbar in der Entwicklung, vor der dieses<br />

Europa in den kommenden 15 Jahren, mit Blick auf das Jahr 2020, steht.<br />

Der gesamte Rahmen in Bezug auf Europa, auf die durch die Zusammenarbeit<br />

gebotenen Möglichkeiten sowie auf die weltweiten Bedingungen, innerhalb dessen<br />

die EU funktionieren muss, hat sich grundlegend verändert. Damit ist es<br />

zugleich ebenso unlogisch wie riskant geworden, die – sowohl mentalen als<br />

auch politischen – Reaktionen und die Prämissen der Vergangenheit vor 1989<br />

weiterhin der zukünftigen Entwicklung aufoktroyieren zu wollen und diese<br />

dadurch zu verzerren. Es ist unser Auftrag als Christdemokraten – die die<br />

Wegbereiter der Europäischen Zusammenarbeit waren - uns innerhalb der veränderten<br />

Gesellschaft mit voller Kraft einzusetzen, um das Haus Europa, den<br />

Traum Schumans, Monnets und De Gasperis weiter zu verwirklichen. Dies ist<br />

vielleicht keine leichte, aber doch eine dankbare und inspirierende Aufgabe.<br />

Betrachten wir einmal genauer einige dieser großen Umwälzungen und völlig<br />

veränderten Bezugsrahmen:<br />

Die Sowjetunion war die größte Militärmacht in Europa, das Gefängnis dutzender<br />

Völker und Nationen, das stark koloniale Züge trug. Nicht nur sie ist verschwunden,<br />

sondern die unterdrückten Völker im damaligen Imperium sind nunmehr<br />

freie Demokratien geworden. Die „Kastanienrevolution“ in der Ukraine im<br />

Herbst 2004 hat diese beispiellose historische Tatsache noch einmal unterstrichen.<br />

Kein europäisches Volk lässt sich seines Existenzrechts und der Perspektive<br />

auf einen pluralistischen Rechtsstaat, auf eine demokratische Zivilgesellschaft<br />

sowie auf Religions- und Meinungsfreiheit berauben. Und kein einziges europäisches<br />

Volk lässt geschehen, dass eine solche pluriforme Kultur durch<br />

Gewaltandrohung und Intoleranz wieder zunichte gemacht wird. Imperialistische<br />

und hegemonistische Tendenzen haben unter uns keinen Platz mehr. Darin liegt<br />

der Kern des gemeinsamen Engagements, dem wir als Europäer verpflichtet sind<br />

und das wir in der Zukunft aufrechterhalten müssen, nämlich: nicht Unterdrückung,<br />

Intoleranz und Machtdenken, sondern gegenseitiger Respekt und Gleichheit zwischen<br />

Staaten und Völkern als zentrales Element unserer Zusammenarbeit.<br />

Eine weitere beispiellose Veränderung gegenüber den vergangenen 15 Jahre<br />

ist Folgende:<br />

Das EMS (Europäisches Währungssystem) war damals der Versuch, die verschiedenen<br />

nationalen Geldsysteme und Münzeinheiten in der Europäischen<br />

Gemeinschaft zu koordinieren. Das EMS verschwand nicht nur ziemlich ruhmlos<br />

als eine Art Zwischenetappe der Wirtschafts- und Währungspolitik; das<br />

Ersetzen dieses Systems durch den Euro und die Eurozone als neuen Fokus<br />

der wirtschaftspolitischen Integration hat Europas Position auf den Weltmärkten<br />

deutlich verstärkt. Darüber hinaus hat dieser weitere monetäre Integrationsprozess<br />

der wirtschaftlichen Entwicklung der EU mehr Richtung verliehen. Mit ihm wird<br />

ein präzises und konkretes Instrument geboten, das die Politiker mehr oder<br />

weniger zu Abwägungen aus strategischer Sicht „zwingt“, die über die frühere<br />

92


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 93<br />

nationale Wirtschaftseinheit oder den früheren einzelstaatlichen Horizont für<br />

die längerfristige Politik hinausgehen.<br />

Er bildet gleichsam eine Art „interne Globalisierung“ innerhalb der EU,<br />

wodurch alle Mitgliedstaaten der Union ihre eigene Wohlstandsentwicklung<br />

unverbrüchlich auf die längerfristigen Entwicklungen der Gesamtheit sowie auf<br />

die Fragen und Herausforderungen, die diese wiederum an jeden von ihnen<br />

stellen, ausrichten. Die erste kohärente Formulierung dieser neuen Wirklichkeit<br />

war die so genannte „Lissabon-Strategie“. Die neue Kommission unter José<br />

Manuel Barroso hat dieses Konzept präzisiert, und ich hoffe, dass auf nationaler<br />

Ebene die Politiker unter Druck gesetzt werden, für ihr jeweiliges Land die<br />

maximalen Anstrengungen zu unternehmen, um die Lissabon-Strategie umzusetzen.<br />

„Naming and shaming“ derjenigen, die untätig oder erfolglos bleiben,<br />

kommt dann noch nachdrücklich auf die Tagesordnung. Die Staats- und<br />

Regierungschefs, die diesen Aspekt aus dem kohärenten Ansatz dieser Strategie<br />

verschwinden lassen wollen, haben sich damit hoffentlich selbst einen<br />

Bumerangeffekt zum Geschenk gemacht.<br />

Als dritte stark veränderte Rahmenbedingung ist die internationale Sicherheit<br />

zu nennen.<br />

Die Spaltung Europas in Ost und West machte unseren Teil der Welt zum<br />

potenziellen Schlachtfeld von Weltmächten, gleichsam nach der Maxime aus<br />

dem 18. Jahrhundert „Chez vous, sur vous, sans vous “, nach der über die Lage<br />

meines eigenen Landes, der Niederlande, auf der Weltkarte von damals entschieden<br />

wurde. Auf diese Weise wurde bis 1989 Weltpolitik in Europa und<br />

auf dem Rücken der Europäer betrieben, vor allem derer im Osten.<br />

Durch die frühere weltweite militärische Konfrontation bewirkte in einer<br />

„bipolaren Machtstruktur“ jeder Schritt, jede Aktion oder Nachlässigkeit einer der<br />

beiden Supermächte, wo auch immer auf der Welt, eine Gegenreaktion der<br />

anderen vor Ort oder genau auf einem ganz anderen „global hotspot “ (globalen<br />

Brennpunkt). Es war normal, dass zum Beispiel Spannungen im<br />

Zusammenhang mit den Zugangswegen in der ehemaligen DDR zum damals freien<br />

West-Berlin eine direkte Auswirkung auf die Situation betreffend Kuba oder<br />

an der türkisch-russischen Grenze im Kaukasus hatten.<br />

Mit dem Zerfall der Sowjetunion hat sich die Sicherheitspolitik nicht nur von<br />

der bipolaren Struktur des Machtgleichgewichts zwischen den Supermächten<br />

gelöst. Auch die internationale Sicherheitspolitik ist zu einer viel größeren<br />

Herausforderung geworden. Neue Elemente wie Demographie und<br />

Migrationsbewegungen werden in die Sicherheitsfragen miteinbezogen. Dies<br />

gilt ebenso für die unheilvollen Verbindungen, die zwischen den weltweiten<br />

kriminellen Organisationen mit ihren finanziellen Verzweigungen und dem<br />

Terrorismus entstanden sind.<br />

„Soft power“ als starke Kraft<br />

<strong>DE</strong>N EUROPÄISCHEN TRAUM AUFRECHTERHALTEN<br />

Die Risiken der „failed states“ und das Chaos beim Regieren ganzer Regionen<br />

in verschiedenen Erdteilen sind darüber hinaus in den vergangenen Jahren immer<br />

93


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 94<br />

CAMIEL EURLINGS<br />

deutlicher geworden. Ohne die Implosion Afghanistans unter den Taliban und das<br />

maliziöse Regime im Sudan wäre der Aufbau von Bin Ladens Netzwerken nicht<br />

möglich gewesen. Gleichzeitig muss man sich grundsätzlich darüber im Klaren<br />

sein, dass mit dem Aufbau von Al-Qaida der Terror endgültig globalisiert worden<br />

ist. Dies lässt sich schon allein daraus schließen, dass die Hamburger<br />

Technikstudenten, die den Anschlag am 11. September 2001 planten und ausführten,<br />

sowohl in Afghanistan, Pakistan, Spanien als auch in Florida Kontakte zu<br />

Bin Laden herstellten und an allen diesen Stellen logistische Vorbereitungen für<br />

ihre Tat trafen.<br />

Die weltweiten sozioökonomischen, kulturellen und institutionellen<br />

Entwicklungen dieser Regionen der „failed States “ bilden daher mit die Grundlage<br />

für ein neues Konzept der Inhalte der internationalen Sicherheitspolitik und dessen,<br />

was sie umfassen sollte. Sowohl zur Vermeidung von Konflikten und zur<br />

Demokratisierung als auch zum Aufbau der Zivilgesellschaften in diesen Regionen<br />

könnte sich die „soft power “ Europas als eine der weltweit stärksten Kräfte erweisen,<br />

zumal uns dies jetzt wohlgemerkt von Außenministerin Rice vor Augen<br />

gehalten wird, weil sie sich vielleicht besser als andere darüber informiert hat, wie<br />

sehr ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Machtentfaltung der Amerikaner<br />

und dem Beitrag Europas in der Welt genau zu dieser Art von sehr komplexen<br />

Merkmalen der Sicherheitspolitik notwendig geworden ist. Reaktionen wie in<br />

der Vergangenheit, auch die eines linksgerichteten Antiamerikanismus, sind daher<br />

kaum sinnvoll und unproduktiv.<br />

Am Schnittpunkt der europäischen Geschichte<br />

Bei den gigantischen Entwicklungen, die Europa und die ganze Welt während<br />

der letzten 15 Jahre durchgemacht haben, könnte sich der Gedanke aufdrängen,<br />

dass die größten Veränderungen nun hinter uns liegen, dass die Erweiterung der<br />

Europäischen Union nun weitestgehend abschlossen und dass der Traum<br />

Schumans und Adenauers realisiert ist. Politiker, die diesem Gedanken nachhängen,<br />

tun gut daran, ihrer Anhängerschaft zuzuhören. Zu ihrem Schrecken werden<br />

sie feststellen, dass viele europäische Bürger ganz und gar nicht vom<br />

Europäischen Projekt begeistert sind. Dass in den meisten Ländern bei jeder<br />

Europawahl wieder weniger Menschen ihre Stimme abgeben. Dass zum Beispiel<br />

bei Volksbefragungen über die Europäische Verfassung ein wesentlicher Teil der<br />

Bevölkerung dagegen stimmt. Dass nationalistische Tendenzen wieder immer<br />

häufiger aufkommen.<br />

Für diesen paradoxen Gegenstrom gibt es viele Gründe. Die Errungenschaften<br />

der EU werden von den Menschen schon ganz schnell für selbstverständlich<br />

gehalten. Mein jüngster Bruder kann sich an Grenzkontrollen nicht mehr erinnern.<br />

Mein jüngster Neffe musste beim Passieren der Grenze noch nie Geld tauschen.<br />

Ein anderer Grund besteht darin, dass die EU-Erweiterung nicht mit einer ausreichenden<br />

Vertiefung, einer Verstärkung der EU-Beschlussfassung einhergegangen<br />

ist. Ein Gefühl der Entsagung, das Menschen bei einer immer größeren und somit<br />

94


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 95<br />

<strong>DE</strong>N EUROPÄISCHEN TRAUM AUFRECHTERHALTEN<br />

nicht greifbaren Union haben können, wird auf diese Weise nicht ausreichend<br />

durch ein immer energischeres und sichtbareres Handeln der EU kompensiert.<br />

Ich bin überzeugt davon, dass die Europäische Union nur dann ein bleibender<br />

Erfolg sein kann, wenn eine ausreichende Unterstützung und Begeisterung<br />

aus der Bevölkerung vorhanden sind. Studie für Studie belegt deutlich das zwiespältige<br />

Gefühl der Bürger im Jahr 2005: auf der einen Seite besteht der starke<br />

Wille, zu Europa zu gehören; auf der anderen Seite betrachtet man die europäischen<br />

Einrichtungen als zu unsichtbar, zu bürokratisch und zu weit entfernt.<br />

Während der nächsten Jahre wird sich zeigen, welches Gefühl überwiegt.<br />

Manche wie der ehemalige EU-Kommissar Bolkestein sehen ein negatives Szenario<br />

voraus: Europa wird seiner Meinung nach nicht in der Lage sein, an Kraft zu<br />

gewinnen, es wird sich vor allem auf eine weitere Erweiterung ausrichten und<br />

wird infolgedessen zu einer Zusammenarbeit hauptsächlich auf wirtschaftlicher<br />

Ebene verwässern.<br />

Herausforderungen für die Christdemokraten in der Zukunft<br />

Wir als Christdemokraten dürfen dieses negative Szenario in der Zukunft nicht<br />

Wirklichkeit werden lassen. Dazu gilt es, dass wir eine Reihe von Maßnahmen<br />

mit Elan angehen:<br />

1. Wir müssen die Vorteile des beispiellosen Tempos, in dem der Integrationsprozess<br />

in Europa in der alltäglichen Realität verläuft, viel deutlicher benennen.<br />

Auf diese Weise werden falsche und zu Unrecht hemmende politische Wege und<br />

bürokratische Mechanismen vermieden, die sowohl für Europa und den Wohlstand<br />

als auch die Sicherheit in Europa mehr hinderlich als förderlich sind. Das ist auch<br />

eine hilfreiche Maßnahme dagegen, dass Populisten auf der Grundlage falscher<br />

Tatsachen eine Antistimmung erzeugen können.<br />

Ein anschauliches Beispiel für den ersten Punkt habe ich neulich auf der<br />

Wirtschaftsseite verschiedener Zeitungen gefunden. Während zahlreiche Anti-<br />

Europäer in den Niederlanden den Eindruck entstehen lassen, dass die neuen<br />

Mitgliedstaaten vor allem viel Geld kosten, erwies sich Folgendes: Seit der<br />

Erweiterung der Union auf 25 Mitgliedstaaten hat sich mit keiner Region der Welt<br />

der Export und Handel der Niederlande so stark entwickelt wie mit den neuen<br />

Mitgliedstaaten. Die wirtschaftliche Erholung, die in unserem Land nach einer<br />

Reihe sehr schwerer Jahren 2005 spürbar eingesetzt hat, scheint gerade auf solche<br />

positiven Entwicklungen im Export und in den Handelsbeziehungen zurückzuführen<br />

zu sein. Die neuen Chancen, die die erweiterte Union bietet, sind erkennbar.<br />

Sie bieten Möglichkeiten für größeren Wohlstand, mehr Arbeit und eine<br />

intensivere Zusammenarbeit, woraus die Mitgliedstaaten gemeinsam und jeder<br />

für sich einen Nutzen ziehen. Hieraus geht wiederum hervor, wie wesentlich es<br />

im nationalen Interesse der Niederlande und der einzelnen Mitgliedstaaten liegt,<br />

dass wir den Prozess der Integration und der Zusammenarbeit, wo es möglich<br />

ist, fördern. Der Wegfall von Schranken fördert den Handel und die Innovation in<br />

der Wirtschaft und auch jetzt zeigt sich wieder, dass diese Entwicklung schnel-<br />

95


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 96<br />

CAMIEL EURLINGS<br />

ler erfolgt, als viele vorher dachten. Der rasch zunehmende Umfang der<br />

Handelsbeziehungen mit den neuen Mitgliedstaaten verdeutlicht dies noch einmal.<br />

Daher ist es richtig, dass wir weiterhin unnötige bürokratische Mechanismen<br />

oder Vorschriften außer Kraft setzen, die oft eine Folge von Abstimmungen über<br />

Details bei europäischen Vereinbarungen sind, und die Durchführung innerhalb<br />

der Mitgliedstaaten regeln. Dies ist ein Beispiel für einen Kurs, den wir in Europa<br />

gemeinsam einschlagen und durchsetzen müssen, weil es nicht effektiv ist, wenn<br />

jeder auf eigene Faust handelt. Allzu oft stellt sich nämlich heraus, dass diese<br />

Hindernisse und Bürokratie zugleich auf den verschiedenen Ebenen von<br />

Durchführungsbestimmungen und Vorschriften wirksam sind, und daher ist es notwendig,<br />

dass auf diesen verschiedenen Ebenen gleichzeitig vorgegangen wird.<br />

2. Da die EU sich auf 25 Mitgliedstaaten erweitert hat, müssen wir den Mut<br />

besitzen, unsere Union auch wirklich zu vertiefen. Europa wird besonders die<br />

Probleme energischer angehen müssen, die durch unsere offenen Binnengrenzen<br />

nicht mehr auf nationaler Ebene gelöst werden können. Zu denken ist beispielsweise<br />

an die Bekämpfung der Bedrohung durch den Terrorismus, der grenzüberschreitenden<br />

(Drogen)Kriminalität, aber auch des auftretenden<br />

Menschenhandels zwischen den Mitgliedstaaten durch eine übereinstimmende<br />

europäische Asylpolitik. Europa gewinnt auf diese Weise nicht nur an<br />

Glaubwürdigkeit, weil für konkrete Probleme der Bürger eine wirksame europäische<br />

Lösung gefunden wird. Es wird auch vermieden, dass eine so positive Sache<br />

wie offene Grenzen beim durchschnittlichen Europäer einen negativen<br />

Beigeschmack hervorruft, weil diese Grenzen zwar für die Bürger und somit<br />

auch Kriminelle offen sind, aber nur unzureichend für Polizei und Justiz. Dadurch<br />

haben die offenen Grenzen bis zu diesem Zeitpunkt nachweislich zu größerer<br />

Unsicherheit in den Grenzgebieten geführt.<br />

Die Ratifizierung der Europäischen Verfassung ist hierfür ein bedeutender<br />

erster Schritt, aber nicht mehr als das. Nach Inkrafttreten der Verfassung müssen<br />

wir bei der Verstärkung der Vorgehensweise auf europäischer Ebene weiter voranschreiten,<br />

zum Beispiel auf dem Gebiet der Sicherheit und Terrorbekämpfung. Für<br />

keinen Bürger gibt es eine verständliche Erklärung dafür, dass selbst nach den<br />

Anschlägen in New York und Madrid Informationen über mögliche Anschläge<br />

noch immer nicht automatisch zwischen den Sicherheitsdiensten der<br />

Mitgliedstaaten ausgetauscht werden. Dies erfolgt nicht, obwohl sich bei beiden<br />

Anschlägen herausgestellt hat, dass vorher relevante Informationen in anderen<br />

Ländern vorlagen. Dies erfolgt nicht, obwohl nach beiden Anschlägen im Rat<br />

Justiz und Inneres beschlossen wurde, dass der Informationsaustausch in Zukunft<br />

automatisch und einwandfrei verlaufen soll. Solange Stolz und Machismus nationaler<br />

Sicherheitsdienste einen höheren Stellenwert als der maximale Schutz der<br />

Bürger haben, hat Europa als Einheit ein ernsthaftes Glaubwürdigkeitsproblem.<br />

Die gleiche Herausforderung existiert beim Umgang mit Terrororganisationen.<br />

Zwar gibt es eine europäische Liste mit Terrororganisationen. Es besteht aber<br />

ein Himmel weiter Unterschied, wie Mitgliedstaaten die auf dieser Liste aufgeführten<br />

Vereinigungen behandeln. Daher kann es vorkommen, dass eine Organisation<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 97<br />

<strong>DE</strong>N EUROPÄISCHEN TRAUM AUFRECHTERHALTEN<br />

wie die ETA, die seit Jahrzehnten Tod und Verderben verbreitet, in manchen<br />

Mitgliedstaaten verboten ist und mit aller Macht bekämpft wird, während sie in<br />

anderen Mitgliedstaaten frei demonstrieren und sich manifestieren kann. Derartige<br />

unterschiedlicher Umgangsweisen sind nicht nur ein Beweis für den Mangel an<br />

Solidarität untereinander, sondern bringen in einer Union ohne Binnengrenzen<br />

auch die Sicherheit des Einzelnen unnötig in Gefahr. Eine europäische Liste mit<br />

Terrororganisationen kann nur dann Glaubwürdigkeit erlangen, wenn ein Eintrag<br />

auf dieser Liste zu einem deutlichen Verbot und einer Verfolgung überall auf<br />

dem Gebiet der Europäischen Union führt.<br />

Schließlich ist es auch fraglich, ob die heutige durch einzelne Mitgliedstaaten<br />

bestimmte Politik der Visavergabe weiter fortgeführt werden kann. Wie effektiv<br />

ist es denn, dass die Europäische Union mit Russland über die zukünftige Visa-<br />

Regelung verhandelt, obwohl einige Schengen-Mitgliedstaaten bilateral bereits<br />

zu visumfreien Vereinbarungen übergegangen sind? Und wie sozial ist es, dass,<br />

während man beispielsweise in den Niederlanden die notwendige, aber schwere<br />

Entscheidung trifft, Wirtschaftsflüchtlinge in ihr Herkunftsland abzuschieben,<br />

die spanische Regierung beschließt, mit einem Schlag etwa einer Million illegaler<br />

Einwanderer einen spanischen und somit einen EU-Pass auszustellen? Und<br />

wie förderlich ist es der Akzeptanz offener Binnengrenzen, dass ein Land wie<br />

Portugal energisch versucht, die illegale Einwanderung zu bekämpfen, aber<br />

anschließend Gefahr läuft, von einer Flutwelle illegaler Arbeiter beispielsweise<br />

aus der Ukraine überschwemmt zu werden, weil die deutsche Regierung ihnen<br />

auf unberechtigte Weise zu Touristenvisa verholfen hat?<br />

3. Unsere Union muss schließlich auch durch ihr Auftreten in den übrigen<br />

Teilen der Welt weitaus größere Kritik einstecken. Als Auslandssprecher im nationalen<br />

Parlament habe ich hautnah erfahren, wie tief unsere Gesellschaft bei der<br />

Frage über den Irakkrieg gespalten war. Was jedoch bei allen Diskussionen<br />

gewiss gleichermaßen auffiel, war, dass sowohl Befürworter als auch Gegner in<br />

einem Punkt einer Meinung waren: Durch die große Spaltung zwischen den<br />

Mitgliedstaaten hatte Europa kaum einen Einfluss auf den Verlauf der Dinge.<br />

Es ist höchste Zeit, dass die Europäische Union bei der Außenpolitik mit einer<br />

Stimme spricht. Dies wirkt sich nicht nur positiv auf die Glaubwürdigkeit der<br />

Union gegenüber ihren Bürgern aus, sondern bietet uns auch die Gelegenheit,<br />

entscheidenden Einfluss auszuüben. Dieser letzte Punkt ist von noch größerer<br />

Bedeutung, da wir als EU spezifische Qualitäten einzubringen haben. An dieser<br />

Stelle sollte man ebenfalls an die von mir erwähnte „soft power “ unserer Union<br />

denken. Besonders unsere Ausrichtung auf Kernpunkte wie Menschenrechte,<br />

Demokratie und Zivilgesellschaft in unserer Außenpolitik kann ihren Mehrwert<br />

beweisen.<br />

Dieser Fokus ist nicht nur in der Politik, die auf weit entfernte Länder gerichtet<br />

ist, wichtig. Namentlich auch die Einwohner von Nachbarländern der<br />

Europäischen Union, die noch nicht in völliger Freiheit und Demokratie leben,<br />

verdienen unsere Unterstützung. Immer wieder werden wir den Mut haben müssen,<br />

die Regierungen dieser Länder auf ihre Pflicht gegenüber ihren Bürgern<br />

97


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 98<br />

CAMIEL EURLINGS<br />

anzusprechen und bereitwillige Politiker dort kräftig zu unterstützen. Und wir<br />

werden dabei hauptsächlich aus gemeinsamen Motiven heraus handeln müssen.<br />

Auf der Grundlage eines konstruktiven Dialogs, bei dem die Interessen beider<br />

Seiten berücksichtigt werden, kann die Europäische Union nämlich einen Erfolg<br />

bei der Verbesserung der Menschenrechte zum Beispiel in Russland erzielen.<br />

Aber wenn im gleichen Augenblick einzelne EU-Mitgliedstaaten ihren eigenen Weg<br />

gehen, wie Bundeskanzler Schröder, der den russischen Präsidenten Putin mit den<br />

Worten empfängt „Ihr Land ist eine lupenreine Demokratie“, dann reichen die<br />

Anstrengungen Europas längst nicht für den optimalen Erfolg aus.<br />

Was für unsere Nachbarländer im Allgemeinen gilt, gilt mit noch größerem<br />

Nachdruck für die Länder, die die Absicht haben, irgendwann Mitglied der Union<br />

zu werden. Während die größte Herausforderung in der Zukunft in einer Vertiefung<br />

unserer Werteunion liegen sollte, wäre es nicht nur für die Einwohner der Türkei,<br />

sondern auch für die zukünftigen Kandidatenländer selbst schlecht, wenn sie<br />

nicht den Mut besäßen, an den Kopenhagen-Kriterien als nicht verhandelbaren<br />

Bedingungen für den Beitritt festzuhalten. Ferner könnte dadurch die<br />

Verwirklichung einer stärkeren und solideren Union selbst zu einer unrealisierbaren<br />

Utopie werden.<br />

Weiter in Europa zu investieren, bedeutet in uns selbst zu investieren<br />

Es ist unglaublich, was der Traum bedeutender Christdemokraten wie Schuman,<br />

Monnet, Adenauer und De Gasperi bewirkt hat. Dafür gebührt Ihnen Dankbarkeit.<br />

Gleichzeitig müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass Europa noch in weiter<br />

Ferne liegt. Derselbe Mut, den die Gründerväter hatten, als sie die ersten<br />

Schritte in Richtung einer Zusammenarbeit unternahmen, muss uns<br />

Christdemokraten heute dazu veranlassen, die erweiterte Union weiter zu stärken:<br />

sie stärker zu machen bei der Bewältigung grenzüberschreitender Herausforderungen;<br />

sie eindeutiger darzustellen bei ihrer Positionierung gegenüber dem Rest<br />

der Welt. Vor allem müssen wir mit diesen Taten gegenüber den Bürgern beweisen,<br />

dass Bundeskanzler Kohl Recht hatte. Er hielt den Mitgliedstaaten der EU vor<br />

Augen, dass Investitionen in Europa Investitionen in sie selbst und ihre eigenen<br />

Einwohner sind.<br />

Auf diese Weise können wir dafür sorgen, dass Europa nicht nur für die<br />

Bürger existiert, die Zeiten des Krieges und einen Mangel an Demokratie in<br />

Europa erlebt haben, sondern auch für die jüngeren Bürger, für die das Leben in<br />

der EU selbstverständlich erscheint. Denn nur, wenn die Europäische Union in<br />

den Herzen lebt, wird der Europäische Traum Wahrheit.<br />

Ich halte es für ein Privileg, aus dem Europäischen Parlament ein Scherflein<br />

dazu beizutragen. Ich bin stolz darauf, dies von einer Partei aus tun zu können,<br />

die den Grundstein für das heutige Europa gelegt hat.<br />

98<br />

September 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 99<br />

Jonathan EVANS<br />

Leiter der britischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament 2001-2004<br />

Europa im Jahr 2020:<br />

Die Wirtschaftliche Revolution ist vollendet<br />

Vor zwanzig Jahren war Europa ein geteilter Kontinent, der in zwei hochgerüstete<br />

gegnerische Blöcke gespalten war. Westeuropa war eine Gemeinschaft der<br />

freien Völker mit pluralistischen Demokratien und freien Märkten, in der Wohlstand<br />

herrschte. Osteuropa war eine vom kommunistischen Totalitarismus unterjochte<br />

Region mit marxistischen Kommandowirtschaften, in der relative Armut herrschte.<br />

Wie sehr hat sich die Welt doch in dieser verhältnismäßig kurzen geschichtlichen<br />

Zeitspanne verändert. Mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen beruht<br />

unser Kontinent heute weitgehend auf einer liberalen Demokratie, offenen<br />

Marktwirtschaften und relativem Wohlstand. Wir sind noch dabei, uns auf den<br />

Umfang und die Größenordnung des Wandels einzustellen. Die Wiedervereinigung<br />

Europas ist eines der großen politischen Ereignisse unserer Zeit, und das<br />

Wiederaufleben demokratischer Ideale in Mittel- und Osteuropa hat weltweit<br />

Zeichen gesetzt.<br />

Mit der Erweiterung der Europäischen Union um die ehemals kommunistischen<br />

Staaten Mittel- und Osteuropas hat sich ein von meiner Partei lange gehegter<br />

Wunsch erfüllt. In den kommenden Jahren werden wir die Frage erörtern und entscheiden,<br />

welche weitere Ausdehnung sich die EU vornehmen kann. Einige würden<br />

gern eine endgültige Grenze Europas unter Ausschluss der Türkei und anderen<br />

Ländern festlegen. Andere hingegen setzen sich nachdrücklich dafür ein, die<br />

EU-Außengrenzen auszudehnen, um Sicherheit und Stabilität zu stärken. Dies<br />

wird für das kommende Jahrzehnt und darüber hinaus einer der Schlüsselfaktoren<br />

für die Entwicklung der Union sein. Ich für meinen Teil sehe große Vorteile in<br />

einer Aufnahme der Balkanstaaten, der Türkei und der Ukraine. Diese Länder sind<br />

von maßgeblicher strategischer Bedeutung. Die Türkei strebt seit langem an,<br />

Mitglied der Europäischen Union zu werden, und die Ukraine entwickelt sich<br />

möglicherweise zu einem wichtigen Bindeglied in den Beziehungen zwischen der<br />

Europäischen Union und Russland.<br />

Die Festlegung der EU-Außengrenzen ist nur eine der großen Herausforderungen,<br />

denen sich Gesetzgeber und Politiker in den nächsten zwanzig Jahren<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 100<br />

JONATHAN EVANS<br />

stellen müssen. Eine weitere Bewährungsprobe wird darin bestehen, abzustecken,<br />

wie die Europäische Union aussehen wird, der die Türkei und die Ukraine<br />

möglicherweise beitreten werden. Wird sie sich weiterhin zu der politischen<br />

Union entwickeln, auf die die Europäische Verfassung abzielt? Oder wird die<br />

Verfassung als historisches Artefakt, als Vermächtnis hochfliegender föderalistischer<br />

Ambitionen enden? Wenn diese Veröffentlichung in Druck geht, haben die<br />

Menschen Europas ihre Entscheidung über dieses Unterfangen noch nicht getroffen.<br />

Eines ist jedoch klar. Die Auseinandersetzung darüber, ob die EU zu einer<br />

politischen Union werden oder im Wesentlichen eine Partnerschaft von<br />

Nationalstaaten bleiben soll, wird nicht auf Großbritannien begrenzt bleiben. Ich<br />

bin stets der Ansicht gewesen, dass in einer Union von dreißig oder mehr<br />

Nationalstaaten dem Wunsch nach gemeinsamem Handeln als Ausgleich die<br />

Beibehaltung wesentlicher Elemente staatlicher Souveränität der Nationalstaaten<br />

entgegensetzt werden muss. Ob die Verfassung in ihrer heutigen Form der<br />

Angelpunkt für die langfristige Zukunft Europas sein wird, bleibt zu bezweifeln.<br />

Die Rolle der Europäischen Union auf der Weltbühne ist eine weitere wichtige<br />

Herausforderung, der wir uns in Zukunft zu stellen haben werden. Es gibt<br />

zwei Denkschulen, die – so befürchte ich – die Amtszeit von Präsident Bush<br />

lange überdauern werden. Der ersten zufolge ist es dringend erforderlich, dass<br />

Europa in zunehmendem Maße als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten<br />

agiert. Der Oberlehrer dieser speziellen Schule ist Frankreich, während das<br />

Vereinigte Königreich sowie einige der ost- und mitteleuropäischen Länder die<br />

Opposition zu den französischen Ambitionen anführen. Die britische Denkschule<br />

vertritt den Standpunkt, dass Europa nicht darauf hoffen kann, der Militärmacht<br />

der USA ebenbürtig zu werden, und dass die transatlantische Partnerschaft zutiefst<br />

im europäischen Interesse liegt. Ich bekenne mich schuldig, ein Absolvent der<br />

britischen Schule zu sein, und zwar nicht, weil ich glaube, die USA hätten das<br />

Recht, von Europa zu erwarten, dass es mit jedem Abenteuer, auf dass sie sich<br />

einlassen, konform geht. Vielmehr behalte ich die langfristigen Perspektiven der<br />

internationalen Beziehungen im Auge. In zwanzig Jahren werden sich in anderen<br />

Teilen der Welt neue strategische Bündnisse herausgebildet haben. China z.<br />

B. entwickelt sich nicht nur zu einem wirtschaftlichen Riesen, sondern auch zu<br />

einer militärischen Supermacht. Die Europäer und die Amerikaner werden einander<br />

brauchen, um die Stabilität auf ihren eigenen Kontinenten, aber auch in den<br />

Teilen der Welt zu stärken, in denen neue Bedrohungen für unsere Sicherheit entstehen<br />

werden.<br />

All diese Herausforderungen sind miteinander verwoben. Sicherheit und<br />

Stabilität auf dem europäischen Kontinent können nicht ohne ein politisches<br />

System, das der demokratischen Kontrolle unterliegt und Akzeptanz genießt,<br />

bzw. nicht ohne ein umfassenderes Bewusstsein dafür gefestigt werden, wie wir<br />

uns am besten über unserer Grenzen hinaus gegen Bedrohungen verteidigen<br />

können. Die Geschichte zeigt jedoch, dass der Schlüssel für die Art und Weise,<br />

wie sich Gesellschaften entwickeln, im wirtschaftlichen Bereich liegt. Wohlstand<br />

ist die Grundlage der Stabilität der Demokratie und der friedlichen Koexistenz zwi-<br />

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EUROPA IM JAHR 2020: DIE WIRTSCHAFTLICHE REVOLUTION IST VOLLEN<strong>DE</strong>T<br />

schen Staaten und Blöcken. Die Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion<br />

lag im Scheitern ihres Wirtschaftssystems. Auch der Fall der Berliner Mauer war<br />

ein Zeugnis für ein korruptes und ineffizientes Wirtschaftssystem, das Millionen<br />

Europäer zu relativer Armut verurteilte. Dagegen könnte der Vormarsch des chinesischen<br />

Wirtschaftswunders sehr wohl zu einer noch nicht voraussagbaren Art<br />

von politischer Reform führen. Es wird angenommen, dass der Zustand der<br />

Wirtschaft bei Wahlen stets eine ausschlaggebende Rolle spielt. Im Verlauf der<br />

Geschichte hat der wirtschaftliche Wandel oder die Forderung danach Revolutionen<br />

und politische Reformen ausgelöst. Im Kontext der Europäischen Union, so wie<br />

sie sich möglicherweise im Jahr 2020 darstellt, wird meines Erachtens die wirtschaftliche<br />

Leistungsfähigkeit des Kontinents maßgeblichen Einfluss darauf haben,<br />

in welcher Art von EU wir dann leben werden.<br />

Eine wirtschaftliche Revolution<br />

Für die britischen Konservativen liegt der große Nutzen des europäischen<br />

Experiments in der Aussicht auf Freihandel und wachsenden Wohlstand. Mit dem<br />

politischen Projekt tut sich unser nationales Bewusstsein jedoch schwerer.<br />

Ungeachtet der Skepsis meines Landes gegenüber den Vorteilen einer größeren<br />

politischen Union sind wir uns jedoch der Tatsache bewusst, dass Europa für das<br />

Vereinigte Königreich einen enormen wirtschaftlichen Nutzen haben kann. Auf die<br />

Probe gestellt wird dieses Bewusstsein in jüngster Zeit allerdings, wenn es in den<br />

Diskussionen der Politiker und sonstigen politischen Akteure um das Ausmaß<br />

des wirtschaftlichen Niedergangs Europas geht. Europa befindet sich in einer<br />

Phase des tief greifenden wirtschaftlichen Wandels. In vielen Ländern der ehemaligen<br />

EU-15 lässt sich die Herausforderung des wirtschaftlichen Wandels eher<br />

als Gefahr in den Köpfen der Menschen beschreiben. Die Politiker der Rechten<br />

und der Linken haben nach meinem Dafürhalten nach die „Sehprüfung“ nicht<br />

bestanden. In zu vielen Staaten Europas geht es vor allem darum, die wirtschaftliche<br />

und soziale Nachkriegsordnung im Sinne der kurzfristigen politischen<br />

Zweckmäßigkeit zu schützen.<br />

In den neuen Mitgliedstaaten hingegen wird das Tempo der Wirtschaftsreform,<br />

obwohl diese oftmals eine schmerzliche Erfahrung darstellt, weitgehend als Chance,<br />

ja als Notwendigkeit begriffen. Ihr Streben nach einer wettbewerbsfähigen<br />

Steuerpolitik, flexiblen Arbeitsmärkten, einer soliden mikroökonomischen Reform<br />

und offenen Märkten war eine Inspiration für diejenigen unter uns, die sich für die<br />

im Großbritannien der 1980er Jahre von den Konservativen auf den Weg gebrachte<br />

wirtschaftliche Revolution stark gemacht hatten. Die Lehre, die die westeuropäischen<br />

Länder von ihren Nachbarn lernen können, besteht darin, dass Halbheiten<br />

bei den Reformen lediglich den relativen Niedergang verlängern. Bekanntermaßen<br />

ist es zwar leicht, über Reformen zu reden, aber schwierig, sie umzusetzen.<br />

Viele von uns hatten gehofft, dass der Gipfel von Lissabon im Jahr 2000 einen<br />

Wendepunkt in der wirtschaftlichen Ausrichtung der EU darstellen würde. Damals<br />

war die Bühne dafür bereitet, ein neues Denken auf den Weg zu bringen und mit<br />

101


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 102<br />

JONATHAN EVANS<br />

althergebrachten Vorgehensweisen aufzuräumen. Das hatten wir zumindest<br />

geglaubt. Nach der Hälfte der Laufzeit des „Lissabonner Prozesses“ im Jahr 2005<br />

wurde schmerzlich klar, dass die wirtschaftliche Bilanz weit hinter den festgelegten<br />

Zielen zurückblieb. Mit seinem unstillbaren Drang nach Innovation und<br />

Flexibilität, der weit größer ist als auf dieser Seite des großen Teichs, konnte<br />

Amerika seinen Vorsprung vor den europäischen Volkswirtschaften halten.<br />

Unterdessen setzten China und Indien, die zusammen mehr als zwei Milliarden<br />

Einwohner haben, ihren phänomenalen Wirtschaftsaufschwung fort. Der größte<br />

Teil Europas verharrte in Stagnation und klammerte sich an die verzweifelte<br />

Hoffnung, sich weiterhin auf das vermeintlich bewährte wirtschaftliche Rezept verlassen<br />

zu können. Schließlich ging es uns ja nicht schlecht, oder?<br />

Europa befindet sich gegenüber anderen Wirtschaftsblöcken in einer prekären<br />

Lage. In der Nachkriegszeit wurde ein hohes und im Wesentlichen dauerhaftes<br />

Wirtschaftswachstum in den meisten europäischen Ländern als gegeben hingenommen.<br />

Der wachsende Wohlstand schien selbstverständlich zu sein. So<br />

hielten es viele für logisch, die Arbeitszeit zu verkürzen, den immer höheren<br />

Lebensstandard zu genießen, früh in Rente zu gehen, ohne sich über die Kosten<br />

dieser Privilegien übermäßig Sorgen zu machen. Aber die Dinge haben sich<br />

geändert, und die angenehmen Tage sind lange vorbei.<br />

Was hat sich geändert? Erstens haben die Länder von Asien bis Südamerika<br />

Reformen durchgeführt, die ihnen einen Konjunkturaufschwung ermöglichten, der<br />

vor nur 20 Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Wie bereits erwähnt, liegen China<br />

und Indien in Führung und treiben Wirtschaftsreformen in einer für den Zuschauer<br />

atemberaubenden Größenordnung voran. Sie sind zielstrebig bei ihren<br />

Innovationsbemühungen und rigoros beim Abbau von Bürokratismus, der die<br />

unternehmerische Initiative beeinträchtigt. Das Ergebnis ist ein Boom der<br />

Binneninvestitionen in einem nie dagewesenen Ausmaß. Unterdessen hat Europa<br />

gegenüber anderen Industrieländern an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt.<br />

Amerikanische und australische Unternehmen sind in Ländern mit flexibleren<br />

Arbeitsmärkten und einem unternehmerfreundlicheren Umfeld tätig als ihre europäischen<br />

Mitbewerber. Ich habe den Eindruck, dass die moderne Europäische<br />

Union von einer im Wesentlichen sozialdemokratischen Philosophie geprägt ist,<br />

die nach wie vor selbst in den Ansichten von politischen Parteien der rechten Mitte,<br />

nicht nur der Linken, fortbesteht. Kernstück dieser Philosophie ist die selbstgefällige<br />

Auffassung, dass das sozialdemokratische Europa ein „zivilisierterer“ Ort<br />

ist als der „Wilde Westen“ des amerikanischen Kapitalismus.<br />

Zweitens hat Europa zwar innovative Weltklasseunternehmen wie Nokia und<br />

Glaxo SmithKline aufzuweisen, aber allzu oft haben wir es nicht fertig gebracht,<br />

uns die technologischen Revolutionen voll und ganz zunutze zu machen. Es ist<br />

augenfällig, dass Europa Silicon Valley nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen<br />

hat, und dass die amerikanischen Universitäten bei allen Bewertungen<br />

Spitzenpositionen einnehmen. Indien hat die Gelegenheiten, die sich im Zuge der<br />

Revolution der elektronischen Kommunikation boten, mit einem Eifer ergriffen,<br />

den kaum jemand vorausgesagt hätte. Wir müssen unseren Einsatz jedoch nicht<br />

102


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EUROPA IM JAHR 2020: DIE WIRTSCHAFTLICHE REVOLUTION IST VOLLEN<strong>DE</strong>T<br />

nur in den neuen Branchen erhöhen: Im Bereich der Automobilherstellung z. B.<br />

erzielt Japan hervorragende Ergebnisse, und während Volkswagen und Fiat mit<br />

ihren Problemen zu kämpfen haben, steht Toyota bereit, General Motors als<br />

weltweit führendes Unternehmen zu überholen.<br />

Drittens hat sich die Überalterung beschleunigt. Dass wir länger leben, ist<br />

eine wunderbare Sache, aber wir sind jetzt schon soweit, dass wir genauso lange<br />

wirtschaftlich abhängig sind – während der Kindheit, der Ausbildung bzw. des<br />

Ruhestands – wie wir wirtschaftlich produktiv sind. Der moderne europäische<br />

Wohlfahrtsstaat wurde zu einer Zeit entworfen, in der man davon ausging, dass<br />

wir unser Rentnerdasein etwa zehn Jahre lang genießen. Jetzt aber dauert die<br />

Vollzeitausbildung länger, wir gehen früher in Rente – oftmals bereits im fünften<br />

Lebensjahrzehnt – und leben länger. Außerdem haben wir immer höhere<br />

Erwartungen an das Gesundheitssystem. Ohne Renten- und Gesundheitsreform<br />

müssen unsere Kinder für all dies aufkommen, aber leider bekommen wir ja<br />

nicht genug Kinder. Um die Reproduktion der Bevölkerung zu gewährleisten,<br />

müsste jede Familie im Durchschnitt 2,1 Kinder haben, aber in vielen europäischen<br />

Ländern ist dies nicht der Fall: So liegt die Geburtenrate in Spanien und in Italien<br />

eher zwischen 1,2 und 1,3 und beträgt im EU-Durchschnitt 1,4 bis 1,5.<br />

Was also zu tun? Erstens muss Europa die Wirtschaftreform mit dem Eifer des<br />

Bekehrten vorantreiben. Wenn eine realistische Aussicht dafür bestehen soll,<br />

dass das „Europa 2020“ die Wirtschaftsmacht ist, die es gern sein möchte, muss<br />

ein tiefgreifender und anhaltender Wandel im politischen Denken erfolgen. Die<br />

Debatte darüber, wie in diesem Bereich Fortschritte erzielt werden können, ist<br />

glücklicherweise bereits im Gange. Statt die Sache aber als spannende<br />

Herausforderung anzunehmen, wird sie nach wie vor eher als unangenehme<br />

Aufgabe betrachtet. In gewisser Weise erinnert die große Debatte über die<br />

Wirtschaftsreform, die europaweit stattfindet, an die Diskussionen im Vereinigten<br />

Königreich in den 1970er und 1980er Jahren, als der vermeintlich endgültige<br />

Niedergang Großbritanniens von einer visionären konservativen Regierung abgewendet<br />

wurde, die sich selbst das scheinbar unmögliche Ziel setzte, das Vereinigte<br />

Königreich wieder in die Reihe der weltweit führenden Wirtschaftsmächte aufrücken<br />

zu lassen. Heute jedoch, zwanzig Jahre nach dem Beginn der britischen<br />

Revolution, weist unsere Volkswirtschaft ein beständiges Wachstum auf, dessen<br />

Tempo über dem EU-Durchschnitt liegt. Die Erfahrungen Großbritanniens sowie<br />

Spaniens und der neuen Mitgliedstaaten sind übertragbar. Es gibt keinen<br />

Zauberstab, den man schwingen könnte, und keine unsichtbare Hand des Staates,<br />

die man zum Einsatz bringen könnte. Es erfordert politischen Mut, um nach dem<br />

Motto der Amerikaner „walk the walk, not just talk the talk“ zu handeln, statt nur<br />

zu reden.<br />

Zweitens müssen wir die Gelegenheiten der technologischen Innovation<br />

ergreifen, wenn sie sich bieten. Forschung und Entwicklung sind zu Recht das<br />

Kernstück der Lissabonner Agenda, und der hohe Bildungsstand unserer Bürger<br />

ist ein Vorzug, den wir entschlossener nutzen können und müssen. Es gilt unsere<br />

Forschungs- und Entwicklungsausgaben von derzeit zwei Prozent des BIP auf<br />

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JONATHAN EVANS<br />

etwa drei Prozent anzuheben und uns vor allem auf die Förderung kleiner innovativer<br />

Unternehmen zu konzentrieren, die der Motor für Wachstum und<br />

Beschäftigung in der Zukunft sein werden. Umgekehrt müssen wir das Bestreben<br />

aufgeben, Branchen zu schützen, in denen wir aufgrund der geringeren<br />

Arbeitskosten in den Entwicklungsländern niemals konkurrenzfähig sein werden,<br />

und wir müssen der Versuchung widerstehen, nicht lebensfähige<br />

Unternehmen mit staatlichen Beihilfen retten zu wollen.<br />

Schließlich gilt es unsere Wohlfahrtsstaaten zu reformieren. Dies wird eine<br />

gewaltige Aufgabe sein, wobei kein einzelnes Land ein Wissensmonopol darüber<br />

innehat, wie dieses Ziel am besten zu erreichen ist. Wenn wir nichts gegen<br />

die ausufernden Kosten unserer nicht reformierten Wohlfahrtssysteme unternehmen,<br />

so wird dies unvermeidlich zu einem wirtschaftlichen Desaster führen. Wir<br />

können die Auseinandersetzung mit diesem Problem nicht der nächsten<br />

Generation überlassen. Es sind nicht die Kosten des Wandels, nach denen wir fragen<br />

müssen, sondern die Kosten, die ohne einen solchen Wandel auf uns zukommen<br />

werden. Im letztgenannten Fall wird es unweigerlich zu einer wirtschaftlichen<br />

Kernschmelze kommen. Ganz oben auf der Liste der Prioritäten für die<br />

Regierungen der Mitgliedstaaten wird die Rentenreform stehen, insbesondere<br />

diejenigen Änderungen, die der Notwendigkeit Rechnung tragen, sich weniger<br />

auf den Staat und mehr auf private Rentensysteme zu verlassen. Darüber hinaus<br />

müssen wir auch erkennen, dass wir nur dann Wirtschaftswachstum erzielen<br />

und für unsere Renten, Gesundheits- und Sozialdienste aufkommen können,<br />

wenn wir entweder mehr Kinder bekommen oder bereit sind, mehr gut ausgebildete<br />

Wirtschaftsmigranten aufzunehmen.<br />

Manch einem mag das Bild, das ich von Europa 2006 zeichne, allzu niederschmetternd,<br />

düster und beängstigend erscheinen. Meine These basiert jedoch<br />

nicht auf irgendeiner wissenschaftlichen Abhandlung, sondern auf dem, was<br />

heute in Westeuropa weitgehend Realität ist. Um die Stimmung etwas aufzuhellen,<br />

möchte ich meine Darstellung mit einer optimistischen Einschätzung dessen<br />

ergänzen, was wir gut machen. Es gibt insbesondere drei Bereiche, in denen<br />

wir der Zukunft hoffnungsvoll entgegensehen können.<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts forderte der große amerikanische Zeitungsherausgeber<br />

und Politiker Horace Greeley einen Mitbürger auf: „Go west, young man,<br />

and grow up with the country “. Wenn ich die Zukunft Europas betrachte, dann<br />

schaue ich in zunehmendem Maße auf die neuesten EU-Mitgliedstaaten und<br />

darauf, was sie zu bieten haben. Heute würde Greeley wahrscheinlich sagen:<br />

„Go east.“<br />

Der Teil der Europäischen Union, der das höchste Wachstumstempo aufweist,<br />

ist Mitteleuropa, und wenn dies auch zum Teil zwangsläufig darauf zurückzuführen<br />

ist, dass es den neuen Mitgliedstaaten schlechter geht und dass sie einiges aufzuholen<br />

haben, müssen wir ihnen ihr innovatives wirtschaftliches Denken und<br />

ihre Kühnheit bei der Annahme neuer Strategien hoch anrechten. Und sie sind<br />

in keinem Bereich so kühn wie in der Steuerpolitik.<br />

Zu lange schon hemmen einige europäische Länder die Wirtschaftstätigkeit<br />

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EUROPA IM JAHR 2020: DIE WIRTSCHAFTLICHE REVOLUTION IST VOLLEN<strong>DE</strong>T<br />

durch hohe Einkommens- und Körperschaftsteuern. Statt aus den von Reagan<br />

und Thatcher durchgeführten Reformen zu lernen, klagen viele darüber, dass die<br />

niedrigen Steuern in vielen der neuen Mitgliedstaaten auf einen unlauteren<br />

Wettbewerb hinauslaufen und zu so genanntem „Sozialdumping“ führen würden.<br />

Das beste und mutigste Beispiel bietet die Slowakei, die ein außerordentlich<br />

einfaches Steuersystem einführte: Der Körperschaftsteuer-, Einkommensteuerund<br />

Mehrwertsteuersatz beträgt 19 Prozent, und es gibt ab dem Zeitpunkt seiner<br />

Einführung keinerlei Ausnahmen. Die Slowakei wurde durch ein hohes Niveau<br />

der Binneninvestitionen und – allen gegenteiligen Vorhersagen zum Trotz – höhere<br />

Steuereinnahmen belohnt. Andere mitteleuropäische Staaten folgen ihrem<br />

Beispiel, und ich freue mich sagen zu können, dass einige der etablierteren<br />

Mitgliedstaaten es zu Kenntnis nehmen. Österreich hat unter der Führung von<br />

Wolfgang Schüssel mit der Absenkung seines Körperschaftsteuersatzes von 34 %<br />

auf 25 % reagiert, um mit dem Nachbarland konkurrieren zu können. Ich vertrete<br />

nicht unbedingt die Ansicht, dass Pauschalsteuern für alle Volkswirtschaften<br />

Europas die richtige Antwort sind. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass die<br />

neuen Mitgliedstaaten die Europäische Union dazu bringen werden, ihre Steuern<br />

zu senken und einfachere Steuersysteme einzuführen, die wir brauchen, um<br />

weltweit konkurrenzfähig zu sein.<br />

Der zweite Grund zum Optimismus ist für mich der Binnenmarkt. Dieser ist<br />

keinesfalls vollendet, war aber bis jetzt ein außerordentlicher Erfolg. Als<br />

Großbritannien 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitrat, wurde<br />

streng kontrolliert, wie viel Geld jemand ins Ausland mitnehmen durfte, und<br />

welche Lufttransportgesellschaft eine bestimmte Strecke bedienen durfte. Jetzt<br />

können sich Kapital und Waren frei zwischen den Mitgliedstaaten bewegen, und<br />

bei den Billigfluggesellschaften ist ein erstaunliches Wachstum zu verzeichnen.<br />

Der Binnenmarkt wird sich – auch im Bereich des Warenverkehrs – weiterentwickeln,<br />

ist aber für die europäischen Unternehmen und Verbraucher schon<br />

jetzt von enormem Wert. Nunmehr besteht unsere Aufgabe darin, für seine<br />

Ausweitung, insbesondere auf den Dienstleistungssektor, zur sorgen, auf den<br />

etwa zwei Drittel der Wirtschaftstätigkeit der EU entfallen. Es wird trotz des<br />

Erfolgs des Binnenmarktes sehr schwer sein, diese zweite Phase umzusetzen, ist<br />

aber unbedingt erforderlich, wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen.<br />

Schließlich ist auch mein Glaube daran, dass die jetzige Kommission die<br />

reformfreudigste ist, die wir je hatten, ein Grund zum Optimismus. Bei der<br />

Darlegung ihrer strategischen Ziele für 2005-2009 erklärte sie, dass es ihr vorrangiges<br />

Anliegen sei, Europa wieder auf den Weg des Wohlstands zu bringen,<br />

und stellte fest, dass Wachstum und Arbeitsplätze an erster Stelle stehen. Dem stimme<br />

ich von ganzem Herzen zu, und ich bin besonders erfreut darüber, dass José<br />

Manuel Barroso in den wichtigsten Bereichen wie Wettbewerb, Binnenmarkt<br />

und Landwirtschaft reformorientierte Personen in die Kommission berufen hat.<br />

Sie verdienen unsere uneingeschränkte Unterstützung, wenn wir bis 2020 ein<br />

Europa mit einer wettbewerbsfähigen, nachhaltigen und dynamischen Wirtschaft<br />

aufbauen wollen.<br />

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Fazit<br />

JONATHAN EVANS<br />

Es gibt viele Themen, auf die ich in diesem Artikel hätte eingehen können.<br />

So zum Beispiel die Frage, ob es 2020 überhaupt noch eine Europäische Union<br />

geben wird, und wenn ja, ob sie der britischen <strong>Vision</strong> einer Partnerschaft von<br />

Nationalstaaten oder einem mächtigen föderalen Koloss entsprechen wird, der die<br />

Macht der USA herausfordert. Ich hätte die geografische Reichweite der<br />

Europäischen Union und ihre Fähigkeit erörtern können, sich die Vielfalt in<br />

Gestalt der Türkei, Nordafrikas oder der Länder des östlichen Mittemeerraums zu<br />

eigen zu machen. Es wäre auch interessant gewesen, Überlegungen über die<br />

Frage anzustellen, ob die EU eine neue strategische, politische und wirtschaftliche<br />

Beziehung zu Russland aufbauen wird, oder über die Aussichten eines<br />

Europas, das Amerika als Weltpolizist herausfordert. Es gibt unendlich viele wichtige<br />

Themen, die ich im Zusammenhang mit meinen Überlegungen über die<br />

Zukunft unseres Kontinents hätte untersuchen können.<br />

Im Kontext dieser Veröffentlichung habe ich mich jedoch dafür entschieden,<br />

Gedanken über die wirtschaftliche Zukunft der Länder und Völker Europas<br />

zusammenzutragen. Viele wird es nicht überraschen, dass sich die Briten lieber<br />

mit der Praxis als mit der Theorie, lieber mit scheinbar nüchternen Aspekten als<br />

mit großartigen Programmen befassen. Ich entschuldige mich nicht für mein<br />

Thema oder dafür, dass ich meinen Standpunkt so vehement vertrete. Mir scheint,<br />

dass es unabhängig davon, ob jemand ein europäischer Idealist ist, der der<br />

Zukunft und der Aussicht auf ein Vereinigtes Europa sehnsüchtig entgegenblickt,<br />

oder jemand wie ich, der einfach nur möchte, dass die EU als Partnerschaft von<br />

Nationalstaaten Erfolg hat, ein Konsens darüber bestehen sollte, dass die nächste<br />

Generation von Europäern in Wohlstand leben muss. Allzu oft schauen wir in<br />

unserem politischen Diskurs nicht bis zum Horizont, sondern sehen alles durch<br />

das Prisma der nächsten allgemeinen Wahlen. Ich bin im Herzen, was Europa<br />

betrifft, ein Optimist, aber mein Optimismus ist durch die Besorgnis getrübt, dass<br />

wir zu oft von einer Verfassungserneuerung und -reform abgelenkt werden.<br />

Wenn wir uns nicht dafür einsetzen, eine Wirtschaftsreform, wie ich sie beschrieben<br />

habe, umzusetzen, wird Europa nicht in der Weise prosperieren, wie wir<br />

dies alle möchten. Mögen die Früchte dieser Revolution das wahre Vermächtnis<br />

sein, das wir den kommenden Generationen von Europäern hinterlassen.<br />

106<br />

März 2005


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Europa – ein Erfolg<br />

Benita FERRERO-WALDNER<br />

Mitglied der Europäischen Kommission<br />

Europa als globaler Partner<br />

Eine klare <strong>Vision</strong>, nämlich die friedliche Einigung Europas, stand an der Basis<br />

unseres erfolgreichen Integrationsprojektes. Auf den Trümmern zweier kontinentaler<br />

Bürgerkriege entwickelten die Gründerväter unserer Union ein revolutionäres<br />

Modell: Das Friedensprojekt der Integration, das durch die Erweiterung<br />

von 2004 auf fast ganz Europa ausgedehnt wurde.<br />

Wer <strong>Vision</strong>en für das Europa im Jahre 2020 entwickeln will, tut gut daran,<br />

diese Fundamente des gemeinsamen europäischen Hauses zu betrachten. Die<br />

Europäische Union ist und bleibt das feste Rückgrat, aus dem Europa seine<br />

politische Stärke bezieht. Sie ist mehr als die bloße Summe ihrer Teile. Die<br />

Union hilft uns, gemeinsame grenzüberschreitende Probleme zu lösen. Sie hat<br />

Europas Wohlstand massiv gestärkt. Die Schaffung der politischen Union, die<br />

Vervollkommnung des Binnenmarktes, die wirtschaftliche Stabilität durch den<br />

Euro und nicht zuletzt die jüngste Erweiterung, all dies formt eine eindrucksvolle<br />

Bilanz.<br />

Die EU ist als politisches Projekt somit unverändert relevant. Europa hat seinen<br />

Traum in nur wenigen Jahrzehnten verwirklicht. Um Europa aber für die<br />

Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu wappnen, seine internationale<br />

Strahlkraft zu erhöhen und um zu verhindern, dass die Integration an der<br />

Selbstverständlichkeit des Erreichten kränkelt, müssen wir den „Mythos Europa“<br />

revitalisieren. Europavisionen für 2020 sind unser einigender Traum, ja die Basis<br />

unserer politischen Identität. Solche <strong>Vision</strong>en zu skizzieren, ist daher kein politischer<br />

Luxus, sondern absolut notwendig.<br />

Gemeinsam stärker – nach innen und außen<br />

Europa muss sich vor allem drei miteinander zusammenhängenden<br />

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Grundfragen widmen: Erstens müssen, nicht zuletzt mit Hilfe der neuen EU-<br />

Verfassung, die Demokratie und Legitimität des Integrationsprozesses gestärkt<br />

werden. Wir müssen das Paradoxon überwinden, dass das „grenzenlose Europa“<br />

einerseits historische Erfolge feiert, andererseits aber viele Bürger das Gefühl<br />

haben, dass Europa nicht auf dem richtigen Weg sei.<br />

Zweitens müssen Europas Wirtschaft und seine Sozialsysteme durch massive<br />

Strukturreformen fit für das 21. Jahrhundert gemacht werden. Europas Wohlstand<br />

kann nur Bestand haben, wenn wir sein enormes Potential besser nützen, dauerhaftes<br />

Wachstum schaffen und die kreativen und intellektuellen Ressourcen<br />

Europas effizienter zum Ausbau einer Wissensgesellschaft verwenden.<br />

Drittens muss Europas internationale Rolle stark ausgebaut werden, um unserer<br />

globalen Verantwortung noch besser gerecht zu werden und unsere Interessen<br />

international einzubringen. Dies hängt auch mit den beiden obigen<br />

Herausforderungen, Demokratie und Wirtschaftsreformen, zusammen. Eine starke<br />

europäische Außenpolitik ist in einer zunehmend vernetzten Welt, in der die<br />

Bedeutung von Grenzen stetig abnimmt, unabdingbar, um Wohlstand und Sicherheit<br />

für zukünftige Generationen zu sichern und dadurch Europas Legitimität zu stärken.<br />

Innen- und Außenpolitik hängen eng zusammen. Europa muss sich als globaler<br />

Spieler verstehen und die Globalisierung noch aktiver als bisher mitgestalten.<br />

Das ist nicht nur Teil unserer internationalen Verantwortung, sondern folgt auch<br />

aus aufgeklärtem Eigeninteresse: Wir müssen Stabilität exportieren, um nicht selbst<br />

auf Dauer Instabilität zu importieren. Sich abzuschotten wäre fatal. Meine <strong>Vision</strong><br />

ist die eines Europas, das auch weiterhin als starker und verantwortungsvoller<br />

Akteur die internationalen Beziehungen maßgeblich mitbestimmt.<br />

Europa – ein globaler Akteur<br />

BENITA FERRERO-WALDNER<br />

Die Union der 25 ist bereits ein globaler Faktor. Wir sind mit dem größten<br />

Bruttonationalprodukt und einer gemeinsamen Währung der größte<br />

Wirtschaftsblock der Welt. Wir tragen mit unseren weltweiten Netzwerken zu<br />

Sicherheit und Reformen bei. Wir sind der weitaus größte Geber von Wirtschaftsund<br />

Entwicklungshilfe. Wir engagieren uns einer Vielzahl von Krisenmanagementoperationen.<br />

Vor allem haben Europa und die Ideen, auf denen es fußt, allen<br />

voran Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft, eine enorme<br />

globale Anziehungskraft. Das geeinte Europa ist daher eindeutig ein gestaltendes<br />

Subjekt der internationalen Politik.<br />

Die Stärkung und Weiterentwicklung dieser internationalen Rolle ist meine<br />

Hauptaufgabe als EU-Kommissarin für Außenbeziehungen und Europäische<br />

Nachbarschaftspolitik. Wir müssen unser breites Instrumentarium noch rascher<br />

und effizienter einsetzen. Europa muss sein Potential nützen. Im Lichte neuer<br />

Herausforderungen besteht ein klarer politischer Imperativ für europäisches<br />

Handeln. Dies ist kein Plädoyer für den Aufbau einer europäischen „Supermacht“.<br />

Europa will kein globales „Imperium“ schaffen. Das Gewicht Europas ermög-<br />

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EUROPA ALS GLOBALER PARTNER<br />

licht uns aber, einen wichtigen Beitrag zur internationalen Kooperation zu<br />

leisten.<br />

Mehrere Grundphänomene werden die außenpolitische Landschaft bis 2020<br />

wesentlich beeinflussen. Erstens sehen wir international vermehrt den Zerfall<br />

staatlicher Strukturen, d.h. ein „Scheitern“ von Staaten, die dann als Inkubatoren<br />

regionale Unsicherheit erzeugen. Diese Instabilität wirkt sich auch auf Europa<br />

aus – politisch, wirtschaftlich, humanitär und ökologisch. Es ist daher essentiell,<br />

schwache und rechtlose Gebiete durch aktives „State Building“ zu reformieren.<br />

Der beste langfristige Schutz unserer Sicherheit sind die Demokratisierung von<br />

Krisenregionen und die Schaffung wirtschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten.<br />

Gerade hier kann die EU entscheidenden Mehrwert liefern. Es ist eine realistische<br />

<strong>Vision</strong>, dass Europa in Zukunft noch effizienter als bisher als „Exporteur von<br />

Stabilität“ fungiert, in seiner unmittelbaren Nachbarschaft und weltweit.<br />

Eine zweite spezifische Herausforderung ist der neue Terrorismus, der sich<br />

auch gegen Europas offene Gesellschaften und universelle Grundwerte richtet.<br />

Der Terrorismus ist in seiner Substanz eine radikale Gegenbewegung zu einer<br />

beschleunigten gesellschaftlichen Modernisierung. Wir brauchen deshalb eine<br />

intelligente Verbindung von entschlossenem Handeln und sanftem Einfluss, von<br />

„hard power “ und „soft power “, um die Wurzeln dieser Gefahr anzupacken.<br />

Gleichzeitig dürfen wir uns nicht die Logik eines „Kampfes der Kulturen“ aufzwingen<br />

lassen – gerade das ist ja ein Ziel des Terrorismus. Wir müssen dem<br />

Terror die Grundwerte der Demokratie, der Menschenrechte und der Toleranz<br />

entgegensetzen. Europa kann hier mit seinen Instrumenten und seiner außenpolitischen<br />

Strahlkraft wichtigen Einfluss ausüben. Unsere Grundfreiheiten werden<br />

auch in der Epoche bis 2020 und weit darüber hinaus ein weltweites Signal der<br />

Hoffnung bleiben.<br />

Zuletzt müssen wir noch stärker als bisher die Globalisierung gestalten und<br />

uns vor allem den Problemen an der „dunklen Seite der Globalisierung“ widmen.<br />

Wirtschaftliche Krisen, strukturelle Armut in einzelnen Regionen, die<br />

Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, Auseinandersetzungen um<br />

Rohstoffreserven, das internationale organisierte Verbrechen, massive Migration,<br />

Krankheiten und Epidemien, all das sind Faktoren, die sowohl schreckliche<br />

humanitäre Folgen in den betroffenen Regionen als auch einen längerfristigen<br />

Einfluss auf Europas Sicherheit und Wohlstand haben. Sich diesen Problemen<br />

aktiv zu stellen, ist daher nicht nur eine Frage internationaler Solidarität, sondern<br />

auch ein politischer Imperativ für Europa.<br />

Europa hantiert deshalb einen weiten Sicherheitsbegriff, der die menschliche<br />

Sicherheit ins Zentrum rückt und der seit langem ein Leitmotiv meiner politischen<br />

<strong>Vision</strong> und konkreten Arbeit ist. Wir müssen vor allem die Risiken in den<br />

Griff bekommen, die aus Verletzungen der Freiheit und Würde des Individuums<br />

entstehen. Ich meine hier vor allem die Zerstörung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher<br />

Strukturen und das daraus folgende Aufflammen regionaler Konflikte, die<br />

Rolle von Kindersoldaten, die organisierte Kriminalität und insbesondere das<br />

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schreckliche Phänomen des Menschenhandels. All diese Probleme zeigen, dass<br />

Sicherheitspolitik oft im Kleinen ansetzen muss, um langfristig zu wirken.<br />

Multilateralismus und Partnerschaft<br />

BENITA FERRERO-WALDNER<br />

Die Antwort auf die neue internationale Komplexität kann keine Serie von<br />

Alleingängen sein – wir brauchen langfristige Kooperation. Wir müssen all diesen<br />

Fragen eine umfassende internationale Ordnung entgegenstellen. Europa<br />

vertritt daher ein bestimmtes Modell der internationalen Beziehungen, nämlich<br />

einen effektiven Multilateralismus. Das ist unsere konkrete <strong>Vision</strong> für das<br />

Grundgerüst der internationalen Politik. Europa arbeitet an einer Ordnung, die<br />

auf geteilten Prinzipien und Kooperation beruht und allen Staaten, die ihre<br />

Grundsätze akzeptieren, eine Teilhabe am globalen System gibt. Die Chance der<br />

Globalisierung besteht daher nicht in völliger Regellosigkeit, sondern gerade<br />

darin, die Rahmenordnung der globalen Freiheit zu gestalten. Dafür brauchen wir<br />

eine Reform der multilateralen Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen.<br />

Nur multilaterale Zusammenarbeit kann jenes Maß an politischer Legitimität vermitteln,<br />

das für effizientes Handeln nötig ist. In diesem Zusammenhang muss<br />

man angesichts ihrer wachsenden außenpolitischen Bedeutung auch über einen<br />

speziellen Sitz der EU im Sicherheitsrat nachdenken.<br />

Diese außenpolitische Haltung ist auch das Produkt unserer eigenen europäischen<br />

Erfahrung. Die EU beweist täglich, dass sich intensive Kooperation lohnt.<br />

Souveränität, Zusammenarbeit und Integration sind kein Gegensatzpaar. Wer<br />

seine Interessen umsetzen will, der muss gemeinsam handeln.<br />

Effektiver Multilateralismus kann nur dann wirklich funktionieren, wenn er auf<br />

einer starken transatlantischen Partnerschaft beruht. Die Beziehungen Europas<br />

zu den Vereinigten Staaten sind eine zentrale Achse der neuen Weltordnung. Es<br />

ist klar, dass die globalen Probleme nur dann wirksam gelöst werden können wenn<br />

die USA und Europa an einem Strang ziehen. Man darf nicht vergessen, dass<br />

diese Beziehung die weltweit stärkste, umfassendste und strategisch wichtigste<br />

Allianz ist. Sie beruht auf einem geteilten Wertefundament und gemeinsamen<br />

Interessen. Die Diskussionen der letzten Jahre haben daher die Bedeutung dieser<br />

Partnerschaft nicht dauerhaft angetastet. Europa und die USA stehen eindeutig<br />

für Sicherheit, Stabilität und Demokratie. Eine außenpolitische <strong>Vision</strong> für das<br />

nächste Jahrzehnt muss auf dieser strategischen Achse aufbauen.<br />

Die transatlantische Partnerschaft kann aber nur effizient funktionieren, wenn<br />

sie auf zwei stabilen Pfeilern ruht. Wir brauchen auch in diesem Zusammenhang<br />

nicht „weniger“, sondern „mehr Europa“. Kritik an den USA, egal wie berechtigt<br />

sie sein mag, ist an sich kein Ersatz für eine Stärkung der europäischen<br />

Außenpolitik. Daher haben wir in den letzten Monaten unsere Allianz weiter<br />

gestärkt und mit der neuen amerikanischen Regierung eine detaillierte<br />

Zukunftsagenda formuliert, die es nun umzusetzen gilt.<br />

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EUROPA ALS GLOBALER PARTNER<br />

Eine verstärkte Zusammenarbeit mit den USA ist vor allem im Mittleren Osten<br />

essentiell. Diese Region wird in den Jahren bis 2020 eine globale strategische<br />

Bedeutung besitzen. Hilfe zu ihrer strukturellen Modernisierung zu leisten, ist<br />

daher absolut entscheidend. Die EU fördert seit Jahren mit Hilfe wirtschaftlicher<br />

Anreize und regionaler Integration Stabilität und Reformen. Wir tragen damit zur<br />

Umsetzung der <strong>Vision</strong> einer stabilen und prosperierenden Region bei. Ganz konkret<br />

gilt es, die neue Dynamik im Nahost-Friedensprozess nützen. Wir müssen auf<br />

der neuen Dynamik im Friedensprozess aufbauen und Fortschritte entlang der<br />

„Road Map“ machen. Im Irak gilt es, auf dem positiven Ablauf der Wahlen und<br />

der Bestellung der Regierung aufzubauen. Ein stabiler, demokratischer Irak ist ganz<br />

klar in unserem Interesse, weshalb die EU auch großzügige Demokratisierungsund<br />

Wirtschaftshilfe leistet.<br />

Generell bieten Europas breit gefächerten Instrumente eine effiziente Antwort<br />

auf die sich verändernden Parameter internationaler Politik. Es gibt wenige<br />

Akteure, die über ein so breites Arsenal verfügen. So sind der globalisierte Handel,<br />

die Versorgungssicherheit im Energiebereich, die Bekämpfung grenzüberschreitender<br />

Kriminalität oder die Problematik des Klimawechsels allesamt Fragen mit<br />

einer außenpolitischen Dimension. Die EU ist in all diesen Feldern präsent und<br />

spricht weitgehend mit einer Stimme. Dadurch gelingt es uns, unsere internen<br />

Stärken nach außen zu projizieren. Die Europäische Kommission leistet hier mit<br />

ihrer langen Erfahrung einen wichtigen Beitrag.<br />

Wie erfolgreich diese Strategie der sektoriellen Außenpolitik ist, zeigt etwa die<br />

Rolle der EU im Welthandel oder bei der Umsetzung des Kyoto-Protokolls. Der<br />

intelligente Einsatz dieser Politiken ist daher mitentscheidend für den Erfolg der<br />

EU-Außenbeziehungen. Ihre externe Dimension zu akzentuieren und diese<br />

Instrumente noch besser zu koordinieren ist ein wichtiges Anliegen für mich als<br />

EU-Außenkommissarin. Ich werde Europas Diplomatie mit diesen neuen<br />

Dimensionen anreichern, was für die Lösung interdependenter internationaler<br />

Fragen äußerst relevant ist.<br />

Der wohl erfolgreichste Einsatz dieses breiten Instrumentariums war und ist<br />

der EU-Erweiterungsprozess. Die EU hat mit der Erweiterung einen historischen<br />

Erfolg gefeiert. Die Gravitationskraft der EU hat eine umfassende Modernisierung<br />

der neuen Mitgliedsstaaten möglich gemacht und so Europas Ordnung dauerhaft<br />

verändert. Die Erweiterung katapultiert die EU in eine neue Dimension, vor<br />

allem in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. In diesem Sinne führt sie auch<br />

keineswegs zum Entstehen neuer interner Bruchlinien zwischen einem „alten“ und<br />

einem „neuen“ Europa. Es gibt nur ein neues, starkes Europa.<br />

Die Ausdehnung der europäischen Friedenszone und die Projektion von<br />

Stabilität, Demokratie und Wohlstand zu unseren neuen Nachbarn betreiben wir<br />

im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Unser strategisches Ziel ist<br />

es, einen „Ring von Freunden“ rund um die Europäische Union zu schaffen, von<br />

Osteuropa durch den Kaukasus und den Nahen Osten quer durch den<br />

Mittelmeerraum. Wir bieten unseren Partnern in diesen Regionen eine ehrgeizi-<br />

111


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 112<br />

ge und maßgeschneiderte Perspektive, die im Rahmen von Aktionsplänen umgesetzt<br />

wird. Diese reichen von einem verstärkten politischen Dialog über die<br />

Zusammenarbeit in Justiz-, Energie- und Umweltfragen bis hin zur der graduellen<br />

Integration der betroffenen Länder in den EU-Binnenmarkt. Kurzum, es geht<br />

hier um ein substantielles Angebot, mit dem unsere Beziehungen stark vertieft werden<br />

können.<br />

Der erfolgreiche Aufbau einer “post-modernen” Friedensordnung in Europa<br />

selbst soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa im konkreten<br />

Krisenmanagement eindeutigen Aufholbedarf hat. Die Kommission hat daher<br />

Lehren aus der tragischen Flutkatastrophe in Südasien gezogen und Maßnahmen<br />

zur Stärkung des europäischen Krisenmanagements vorgeschlagen, darunter den<br />

Ausbau des gemeinsamen Zivilschutzes durch ein flexibles, rasch abrufbares<br />

„Baukastensystem“ von Beiträgen unserer Mitgliedsstaaten. Dazu kommt natürlich<br />

der Ausbau des militärischen Krisenmanagements im Rahmen der<br />

Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das ist ein wichtiger Teil<br />

unseres politischen Instrumentariums. Gleichzeitig ist aber klar, dass militärische<br />

Instrumente allein den heutigen komplexen Krisen bei weitem nicht gerecht<br />

werden können.<br />

Der neue EU-Verfassungsvertrag wird der internationalen Rolle der Union<br />

einen weiteren Schub verleihen. Die darin festgelegte wechselseitige<br />

Beistandspflicht ist ein klares Bekenntnis zur politischen Solidarität und zum<br />

geeinten Auftreten Europas. Der Aufbau eines gemeinsamen auswärtigen Dienstes<br />

der EU, der auch auf der Expertise der Kommission aufbaut, wird die Effizienz<br />

und Sichtbarkeit der Union weiter erhöhen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten<br />

sind weltweit präsent. Jetzt gilt es, unsere Positionen noch klarer zu vertreten<br />

und Synergien zu nützen.<br />

Diese institutionellen Verbesserungen sind wichtig. Sie alleine sind aber nicht<br />

ausreichend. Europa muss den politischen Willen zu raschem und geeintem<br />

Handeln aufbringen. Europa muss das klare Selbstverständnis eines globalen<br />

Akteurs entwickeln, um weiterhin erfolgreich zu sein. Wir brauchen mehr Mut zur<br />

internationalen Verantwortungu<br />

Europa – unser gemeinsamer Auftrag<br />

BENITA FERRERO-WALDNER<br />

Das Projekt Europa bleibt somit im 21. Jahrhundert essentiell. Europa kann nur<br />

Bestand haben, wenn es sich den Herausforderungen eines zusehends grenzenlosen<br />

Zeitalters mutig stellt. Eine gemeinsame Außenpolitik ist dafür unabdingbar.<br />

Sie bezieht eine besondere Stärke aus der Vielfalt und Offenheit Europas. Wir<br />

wären schlecht beraten, uns über unsere „Grenzen“ gegenüber anderen zu definieren.<br />

Dieses Fundament gemeinsamer politischer Prinzipien und Überzeugungen,<br />

allen voran der Toleranz, müssen wir weiter akzentuieren, um die<br />

Identitätsbasis Europas zu stärken.<br />

112


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 113<br />

EUROPA ALS GLOBALER PARTNER<br />

Meine <strong>Vision</strong> ist die eines friedlichen, in Vielfalt geeinten Europas, das seine<br />

inneren Stärken nach außen projiziert. Europa ist eine globale Zivilmacht mit<br />

einer beinahe magnetischen Anziehungskraft. Um den Politologen Jeremy Rifkin<br />

zu zitieren: „Die Welt blickt auf dieses großartige transnationale Regierungsexperiment<br />

der EU und hofft, von dort Orientierungshilfen für die Menschheit in einer<br />

globalisierten Welt zu finden. Der europäische Traum gewinnt für eine Generation,<br />

die global vernetzt und zugleich lokal eingebunden ist, zunehmend an<br />

Attraktivität.“<br />

Ich bin daher zuversichtlich, dass Europa noch stärker als bisher die neue<br />

Weltordnung aktiv und partnerschaftlich mitgestalten wird. Wir haben das politische<br />

Gewicht und die geeigneten Instrumente dazu. Europa kann einen entscheidenden<br />

Beitrag leisten, indem es Frieden, Demokratie und Wohlstand nach außen<br />

projiziert und mit der nötigen Entschlossenheit gegen die Gefahren unserer Zeit<br />

auftritt. Es ist jetzt an uns, den klaren politischen Willen dafür aufzubringen. Das<br />

21. Jahrhundert kann ein europäisches sein, wenn wir es nur wollen. Das ist<br />

unsere Herausforderung – und unsere politische Aufgabe.<br />

113<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 114<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 115<br />

Ján FIGEL’<br />

Mitglied der Europäischen Kommission<br />

Europa – Raum der Hoffnung<br />

Jeder von uns braucht und sucht Hoffnung in seinem Leben. Ein Leben ohne<br />

Hoffnung verliert seinen Sinn und wird unerträglich. Was wir brauchen, ist eine<br />

wahrhafte, nicht von Illusionen geprägte Hoffnung.<br />

Ohne den maßgebenden und unersetzlichen Beitrag des Christentums wäre<br />

Europa nicht das, was es heute ist. Als Quelle des Glaubens, aber auch der<br />

Bildung und Kultur stellt das Christentum eines der innersten und grundlegendsten<br />

Fundamente der europäischen Zivilisation dar. Das Erbe des alten Griechenland<br />

und des alten Rom reichte nicht aus, um die Ordnung und den Fortschritt der<br />

Völker Europas aufrecht zu erhalten. Vielmehr war es die Achtung der Würde<br />

jedes Menschen, die auf dem Wege der von Christentum und Humanismus inspirierten<br />

und kultivierten Freiheit, Gleichheit und Solidarität den Idealen der<br />

Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit Sinn und Richtung verlieh.<br />

Die Weigerung Europas in der Vergangenheit, sich von dieser Inspiration leiten<br />

zu lassen, führte zu Weltkriegen, totalitären Ideologien und Diktaturen. Von<br />

Europa aus verbreiteten sich diese über die ganze Welt. Gulags, Konzentrationslager,<br />

Gaskammern – all das sind europäische „Erfindungen“. Sie machen den<br />

schändlichen Teil der Geschichte der Menschheit aus.<br />

Da sich Europa jedoch auf sein geistiges Erbe besann, ist es gelungen, nicht<br />

nur eine Aussöhnung, sondern auch eine Verknüpfung der strategischen Interessen<br />

seiner Staaten in einer Friedensgemeinschaft herbeizuführen. Trotz aller Mängel<br />

und berechtigter Kritik gab und gibt diese Gemeinschaft Europa und der ganzen<br />

Welt neue Hoffnung.<br />

Eine Einigung lässt sich nicht auf Geld, Märkte und Geografie aufbauen. Sie<br />

kann nur aus gemeinsamen Werten erwachsen. Daher ist Europa mehr ein politisch-kulturelles<br />

als ein wirtschaftlich-geografisches Phänomen. Es ist eine historische<br />

Tatsache, das die einigenden Werte der europäischen Völker zuallererst<br />

durch die jüdisch-christliche Tradition geprägt wurden. Nicht abgeschieden, nicht<br />

isoliert, sondern offen und im Zusammenwirken mit anderen Quellen der europäischen<br />

Kultur.<br />

115


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 116<br />

JÁN FIGEL’<br />

Die wesentliche Frucht der Einheit von Menschen und Nationen sind Humanität<br />

und Solidarität. Immer wenn wir bei uns einen Verfall von Humanität und Solidarität<br />

beobachten, handelt es sich um ein Anzeichen dafür, dass die Einheit oder ihre<br />

Fundamente bröckeln. Wahre Einheit ist also nicht nur die Hoffnung Europas,<br />

sondern der ganzen Welt. Anders als in der Vergangenheit stellt die europäische<br />

Einheit einen Raum zum Wohle aller, einen von Recht und Gesetz und nicht von<br />

Gewalt bestimmten Kontinent dar. Die Europäische Union als institutioneller<br />

Ausdruck der Staatengemeinschaft kann direkt oder indirekt einen wesentlich<br />

größeren Einfluss auf Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit in internationalen<br />

Beziehungen ausüben. Sie kann sich und der ganzen Welt neue Hoffnung<br />

bringen: die Hoffnung auf besser gestaltete und gerechtere Bedingungen. Ist sie<br />

in einigen Fragen nicht erfolgreich, liegt der Fehler nicht in der Idee, sondern in<br />

der Unreife von Politikern, im Eigennutz der Mitgliedstaaten oder in der ungenügenden<br />

Vorbereitung der Institutionen.<br />

Der Stand der Europäischen Integration<br />

Der Stand der Europäischen Integration lässt sich, so scheint es, am Verhältnis<br />

zwischen der Hoffnung einerseits und den Sorgen bzw. Befürchtungen andererseits<br />

bestimmen.<br />

Die ursprüngliche Sechsergemeinschaft ist nunmehr auf 25 Mitgliedstaaten,<br />

also die Mehrheit des Kontinents, angewachsen und umfasst mehr als 450 Millionen<br />

Bewohner. Werfen wir einmal einen genaueren Blick auf den Zustand unserer<br />

Gemeinschaft:<br />

— Die EU ist der größte solvente Markt der Welt, aber nicht ihr produktivster<br />

Markt.<br />

— Von allen globalen Akteuren ist die EU der größte Geber von<br />

Entwicklungshilfe für arme Länder, doch mit dem umfassenden System zum<br />

Schutz des Agrarmarktes wird ein großer Teil dieser Hilfe zunichte gemacht.<br />

— Die EU-Mitgliedstaaten verfügen über große militärische Kapazitäten, aber<br />

nur über eine begrenzte militärische Einsatzfähigkeit. Bei militärischen<br />

Krisensituationen in ihrer Nähe (Balkan, Naher Osten, Afrika) war und blieb die<br />

Europäische Union mehr unbeteiligter Zuschauer als Agent der Entwicklung oder<br />

notwendiger Friedensbringer.<br />

— Das einzige direkt gewählte internationale Parlament – das Europäische<br />

Parlament – besteht seit 25 Jahren, doch die Wahlbeteiligung der Bürger ist im<br />

gesamten Zeitraum ständig zurückgegangen. Und die Erweiterung der<br />

Mitgliedstaaten und des Umfangs der Union haben die Kluft zwischen ihren<br />

Institutionen und Bürgern noch weiter vertieft. Es scheint, als ob die „Eurosklerose“<br />

der achtziger Jahre allmählich von einer „Euroapathie“ abgelöst worden ist.<br />

Prüfstein für dieses Verhältnis ist jetzt der Ratifizierungsprozess für den EU-<br />

Verfassungsvertrag.<br />

— Die Europäische Union insgesamt floriert, doch liegt die Arbeitslosigkeit bei<br />

116


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 117<br />

über 9 %. Das Wirtschaftswachstum der EU über einen Zeitraum von zehn Jahren<br />

ist spürbar geringer als das ihrer wichtigsten Wettbewerber.<br />

— Die Union beschränkt einerseits den großen Migrantenstrom aus EU-<br />

Drittstaaten, andererseits besteht das Problem der Abwanderung von hoch qualifizierten<br />

Fachkräften aus Europa.<br />

— Solidarität ist in den verschiedensten Bereichen immer seltener anzutreffen.<br />

Dennoch gelingt es derzeit vielen Menschen in Europa einzeln und gemeinsam,<br />

im Gefolge der Naturkatastrophe in Südostasien vom Dezember 2004 eine<br />

Solidarität an den Tag zu legen, die die anderer Teile der Welt weit in den Schatten<br />

stellt.<br />

— Und es gibt ein weiteres sehr ernstes Langzeitproblem: Europa wird eindeutig<br />

immer älter; die Anzahl der Europäer geht zurück, und selbst der Anteil<br />

Europas an der Weltbevölkerung nimmt rapide ab.<br />

Trotz alledem ist die Attraktivität der Europäischen Union unverkennbar. Viele<br />

Nachbarländer sind an einem Beitritt oder an einer engeren Zusammenarbeit interessiert.<br />

Die Präsidenten und Regierungen der USA, Kanadas, Russlands,<br />

Lateinamerikas, Chinas, Indiens, Japans und anderer Länder konferieren mit der EU<br />

auf höchster Ebene. Dem Beispiel Europas folgend, will eine Reihe von Ländern<br />

eine Afrikanische Union bilden. Die gemeinsame Währung – der Euro – wird in<br />

der ganzen Welt zu einem weit verbreiteten und geachteten Zahlungsmittel.<br />

Kann man aber ungeachtet der Mängel und Misserfolge die Europäische<br />

Integration als gescheitert bezeichnen? Haben wir eine bessere Alternative? Ich<br />

bin davon überzeugt, dass es sich mit der Europäischen Integration wie mit der<br />

Demokratie verhält. Die Demokratie ist nicht das Ideale, uns fällt jedoch nichts<br />

besseres ein. Demokratie ist die Regelung nationaler, regionaler oder lokaler<br />

Angelegenheiten durch das Volk und für das Volk; Integration ist die demokratische<br />

Regelung europäischer Angelegenheiten, die von ähnlichen Eigenschaften<br />

geprägt sein kann und muss.<br />

Die Frage „Quo vadis, Europa? “ („Wohin, Europa?“) ist somit für die Europäer<br />

und für die gesamte Welt von entscheidender Bedeutung.<br />

Die Zukunft Europas<br />

EUROPA – RAUM <strong>DE</strong>R HOFFNUNG<br />

Die ausschlaggebenden Faktoren für die Zukunft eines geeinten Europas sind<br />

(1) das Bewusstsein um die Zusammengehörigkeit seiner Bürger und Nationen<br />

und (2) das Bewusstsein um seine gemeinsame Verantwortung für die Entwicklung<br />

auf dem europäischen Kontinent und in der Welt.<br />

Den Grundstein der Integration bilden die gemeinsamen Werte, die universell<br />

sind und vom Wesen des Menschen und der Menschheit herrühren. Eckpfeiler dieser<br />

Grundlagen ist die Würde des Lebens eines jeden Menschen und die allgemeine<br />

Brüderlichkeit unter den Menschen, wie sie so klar und überzeugend in der<br />

Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen gefordert<br />

werden. Unsere persönliche Chance und gemeinsame Aufgabe besteht darin,<br />

117


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 118<br />

JÁN FIGEL’<br />

diese Grundwerte, auf deren Basis eine solche Einheit möglich und notwendig ist,<br />

mit Leben zu erfüllen und zu hegen.<br />

In den verschiedensten Bereichen – Wirtschaft, Sicherheit, Politik und Umwelt –<br />

ist zudem eine immer stärkere wechselseitige Abhängigkeit der Staaten zu verzeichnen.<br />

Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind durch ein immer breiteres<br />

Spektrum gemeinsamer Interessen aneinander gebunden. Es hilft nichts und<br />

niemandem, wenn man diese Tatsache unterschätzt oder wider alle Vernunft verleugnet.<br />

Meines Erachtens hängt die Zukunft Europas in erster Linie von Bildung und<br />

Kultur ab. Im Dezember 2004 erklärte der Präsident der Europäischen Kommission,<br />

José Manuel Barroso, völlig zu Recht: „In der Wertehierarchie rangiert die Kultur<br />

vor der Wirtschaft. Die Wirtschaft ist lebensnotwendig, doch erst die Kultur macht<br />

das Leben lebenswert.“ Diese Ansicht teile ich voll und ganz. Bei der wahren<br />

Kultur geht es um die „Seele für Europa“, wie sie ein Vorgänger von Herrn Barroso,<br />

Jacques Delors, forderte. Denn was wäre ein Mensch ohne Seele?<br />

Ziel und Inhalt von Kultur ist die Würde des Menschen. Kultur entspringt den<br />

Anschauungen der Menschen. Sie sucht, erfasst und zeigt all das auf, was die<br />

Menschen als wichtig, schön und gut betrachten. Und daher findet die Kultur<br />

ihren grundlegenden Ausdruck in der Art und Weise, wie Menschen zusammenleben<br />

– als Individuen in der Familie, in der Gesellschaft und in der Welt. Staaten,<br />

die ihre Bildung und Kultur hegen und pflegen, blühen auf. Staaten, die ihre<br />

Bücher verbrannt und Universitäten geschlossen haben, waren auf dem Weg in<br />

finstere Zeiten.<br />

Francis Fukuyamas Szenario vom „Ende der Geschichte“ ist nach 1989 nicht<br />

eingetreten, obwohl sich die Welt radikal verändert hat. Es gibt mehr Freiheit; 22<br />

neue Staaten sind in Europa gegründet worden. Aber es gab auch neue<br />

Massengräber, Völkermord, Grausamkeiten. Viele fürchten einen „Krieg der<br />

Kulturen“.<br />

Ich bin überzeugt, dass ein derartiger Zusammenprall der Kulturen verhindert<br />

werden kann und muss. Hier kann Europa seine historische Rolle spielen. Wir<br />

müssen daher Kraft schöpfen aus unserem Erbe und reif sein für die Verantwortung,<br />

Entwicklungen in der Welt zu beeinflussen. Angefangen mit unseren Nachbarn bis<br />

hin zu den Beziehungen im breiteren internationalen Maßstab zu den USA, zur<br />

Russischen Föderation, zu Japan, China und anderen Ländern verfügt die EU<br />

über alle Voraussetzungen, um im 21. Jahrhundert eine bedeutende positive Rolle<br />

zu spielen. Das wird weder einfach noch leicht sein. Aber welche gewichtige,<br />

langfristige Frage in der Geschichte der Menschheit war schon jemals einfach<br />

oder leicht?<br />

Ich muss an dieser Stelle an die am häufigsten zitierte Zielsetzung der EU<br />

erinnern: „die Union bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten<br />

Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Dabei handelt es sich nicht<br />

nur um ein ehrgeiziges, sondern auch um ein notwendiges Ziel. Allerdings ist es<br />

derzeit offenkundig, dass wir dieses Ziel keinesfalls erreichen werden, wenn wir<br />

118


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 119<br />

EUROPA – RAUM <strong>DE</strong>R HOFFNUNG<br />

unsere Reformbemühungen nicht erheblich verstärken und beschleunigen. Von<br />

politischem Wert ist es bereits, wenn wir uns unsere Schwächen vor Augen führen<br />

und uns ernsthaft bemühen, sie abzustellen. Eine der wichtigsten<br />

Voraussetzungen für das Erreichen dieses Zieles besteht darin, mehr und effektiver<br />

in Wissen zu investieren, und zwar<br />

1. in die Schaffung von Wissen – durch Wissenschaft, Forschung und<br />

Entwicklung;<br />

2. in die Verbreitung von Wissen – durch allgemeine und berufliche Ausbildung;<br />

3. in die Anwendung von Wissen – durch Innovation und neue Technologien.<br />

Europa sollte sich mehr auf ein hohes als auf ein durchschnittliches Niveau orientieren.<br />

Wir müssen die Qualität von Studium, Aufbaustudium und<br />

Lehrerausbildung verbessern. Wir müssen einen europäischen Raum der<br />

Ausbildung zur Mobilität schaffen, indem wir die Bildungssysteme kompatibel<br />

gestalten und ein System der Anerkennung von Bildungsabschlüssen aufbauen.<br />

Das strategische Ziel für die kommenden Jahre besteht darin, talentierte Leute<br />

für ein Studium in Europa zu gewinnen und ein Europa des Wissens zu errichten.<br />

Auf diese Weise können wir die Wettbewerbsfähigkeit und die soziale und<br />

umweltpolitische Verantwortlichkeit, die wir brauchen, am besten erreichen.<br />

Europa hat schon zahlreiche und folgenschwere Experimente hinter sich. Es<br />

muss daher seine eigene Geschichte aufmerksam und konsequent studieren. Die<br />

Ablehnung universeller Werte, der Verlust des geistigen Gedächtnisses und ethischer<br />

Relativismus haben stets der Menschenwürde geschadet und hatten Gewalt<br />

und Krieg zur Folge.<br />

Wie immer in der Geschichte des Menschen und der menschlichen<br />

Beziehungen befinden wir uns auch heute inmitten eines Kampfes um die Werte,<br />

auf deren Grundlage Europa und die Welt funktionieren können. Wir sind Zeuge<br />

widersprüchlicher Tendenzen auf unserem Kontinent, der nach Hoffnung strebt,<br />

dessen Bevölkerung allerdings schwindet. So können wir einerseits eine starke<br />

Zunahme der Erscheinungsformen und Instrumente einer Kultur der Gewalt und<br />

des Todes, des religiösen Nihilismus, des moralischen und rechtlichen Relativismus<br />

beobachten. Andererseits gibt es ein sichtbares und bewundernswertes Streben<br />

nach einer Kultur des Lebens, einer Kultur der Solidarität mit der Menschheit und<br />

der Welt, einer Kultur der Verantwortung.<br />

Die alten und die neuen EU-Mitgliedstaaten tragen zu gleichen Teilen<br />

Verantwortung für die Zukunft Europas. Bei der Erweiterung handelt es sich<br />

eigentlich um die Europaisierung der Union. Die Vereinigung Berlins und<br />

Deutschlands war notwendig und richtig, und das gilt auf jeden Fall ebenso für<br />

das einstmals geteilte Europa. Politische und wirtschaftliche Verbindungen wachsen<br />

relativ schnell. Sehr schwierig ist es jedoch, geistige und kulturelle Mauern einzureißen.<br />

So wie die deutsche Einigung war auch die Vereinigung Europas durch<br />

die Niederlage und die Ablehnung des Kommunismus möglich geworden.<br />

Bedauerlicherweise haben wir in Europa keinen ausreichenden politischen und<br />

moralischen Konsens darüber erzielt, diese Periode ebenso einhellig zu verur-<br />

119


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 120<br />

JÁN FIGEL’<br />

teilen wie den Faschismus bzw. Nazismus. Es wäre falsch, wenn die Staaten des<br />

ehemaligen Sowjetblocks Kommunismus durch Konsumdenken ersetzen. Ebenso<br />

bedauerlich wäre es, wenn sie vom Zwangskollektivismus zu ungezügeltem<br />

Individualismus übergingen. Wir können nicht ohne ernste Konsequenzen den verwerflichen<br />

Utopismus von der „Gerechtigkeit ohne Freiheit“ durch „Freiheit ohne<br />

Gerechtigkeit“ auswechseln.<br />

Die Erweiterung der Union im Jahr 2004 war großen Ausmaßes, historisch<br />

und auf einmalige Weise kompliziert. Sie ist jedoch Teil eines Prozesses, der noch<br />

nicht an seinem Ende angelangt ist. Trotz aller Schwierigkeiten war das europäische<br />

Aufbauwerk offen und muss auch offen bleiben. Bulgarien und Rumänien<br />

sind bereits auf dem Weg, und Kroatien sowie die Türkei warten auf die Aufnahme<br />

von Verhandlungen. Auch andere Länder klopfen an unsere Tür. Sie alle suchen<br />

bessere Bedingungen für ihre Entwicklung, für eine bessere Zukunft. Doch alle<br />

müssen sich auch an die Verbrechen und das Unrecht der Vergangenheit erinnern,<br />

wenn sie durch wirkliche Versöhnung zu der Erkenntnis gelangen wollen, (1)<br />

dass die Europäische Integration zu Hause beginnt, im eigenen Umfeld, mit der<br />

unmissverständlichen Anerkennung der Grundsätze und Werte, auf denen ein<br />

vereintes Europa aufbaut, (2) dass die Europäische Integration durch freundschaftliche<br />

Beziehungen der Zusammenarbeit mit den Nachbarn erwächst und (3)<br />

dass es bei der Europäischen Integration um die Fähigkeit geht, einen Beitrag<br />

zur Gemeinschaft zu leisten, indem man die Interessen, Ziele und<br />

Verantwortlichkeiten für die Entwicklung im In- und Ausland teilt.<br />

Die Menschheit kann ohne Hoffnung nicht leben. Wer die Hoffnung in sich<br />

am Leben hält, steht in seiner Gesellschaft und Zeit für den Aufbruch einer<br />

Generation und nicht für deren Ende.<br />

Das geeinte Europa ist zum Ausdruck der Hoffnung geworden, zu einem<br />

Raum der Hoffnung, durch die Anstrengungen der Generationen, die Träger dieser<br />

Hoffnung sind. Jedes Jahr im Mai begehen wir den Schuman-Tag – den<br />

Europa-Tag. Warum verehren die Nationen noch Jahrzehnte später ihre<br />

Gründungsväter? Weil die Früchte ihrer Arbeit für ihre „Kinder“, für die kommenden<br />

Generationen gesund und nahrhaft sind. Wir brauchen solche Vorbilder in der<br />

Politik. Wir brauchen Menschen, die väterlich, generationsorientiert denken, nicht<br />

populistisch oder überpragmatisch, nicht kurzsichtig, nicht ohne klare, langfristige<br />

<strong>Vision</strong>en, nicht ohne Blick für das Gemeinwohl. Ein Kind zeigt Achtung<br />

gegenüber seinen Eltern am besten, indem es ihrem Beispiel, ihren Anregungen<br />

folgt. Tradition heißt nicht, die Asche bewahren, sondern das Feuer schüren und<br />

weitertragen, das Quelle von Licht und Wärme ist. Wir alle, ungeachtet unserer<br />

Berufung, können und müssen unsere lebendige Hoffnung dafür verwenden,<br />

Ideen anzubieten, Solidarität zu zeigen und die Lebenskraft des geeinten Europa<br />

zu stärken.<br />

120<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 121<br />

Vasco GRAÇA MOURA<br />

Mitglied der portugiesischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Die neue Dynamik Europas<br />

Als die junge und schöne Europa von dem als Stier verkleideten Zeus entführt<br />

worden war, sandte ihr Vater Agenor, wie die Mythologie zu berichten<br />

weiß, seinen Sohn Kadmos in Begleitung seiner Brüder aus, sie zu suchen.<br />

An einem Wendepunkt seines Weges tötete Kadmos in Theben einen<br />

Drachen und säte auf Anraten Athenes dessen Zähne in den Boden aus. Diese<br />

wurden zu Menschen, die sich grausam gegenseitig umbrachten.<br />

Daher vergleicht Luís de Camões in Die Lusiaden, in denen er die chronische<br />

Zwietracht der Christenheit geißelt, die europäischen „armen Christen<br />

mit den einst von Kadmos gesäten Drachenzähnen“.<br />

Überträgt man dieses Bild aus dem Reich der Mythen in die Wirklichkeit,<br />

so entstand daraus im Laufe der Jahrtausende der „ständige Bürgerkrieg“, auf<br />

den sich Fustel de Coulanges in seiner Charakterisierung Europas bezog.<br />

In der Tat scheint erst vor etwa fünfzig Jahren eine friedliche und gedeihliche<br />

Lösung gefunden worden zu sein, die die europäischen Völker endgültig<br />

von der Geißel des Krieges und seiner Schrecken befreien sollte.<br />

Dem Grundsatz des Konflikts folgte mithin der Grundsatz der Eintracht.<br />

Auch in der Mythologie heiratete schließlich Kadmos, der die Zähne der<br />

Zwietracht ausgesät hatte, die Göttin Harmonie...<br />

In den ersten vier der fünf Jahrzehnte seit der Grundsteinlegung für das<br />

Fundament der Gemeinschaft war Europa jedoch noch durch den Eisernen<br />

Vorhang geteilt. Auf westlicher Seite standen die modernen repräsentativen<br />

und pluralistischen Demokratien, während sich auf der anderen, der östlichen<br />

Seite der Trennlinie eine beträchtliche Anzahl von Ländern befand, die durch<br />

sowjetischen Druck ihrer Freiheit beraubt waren.<br />

121


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 122<br />

VASCO GRAÇA MOURA<br />

Außerdem musste man in der ersten Hälfte dieser Zeitspanne bis 1974-1975<br />

auf das Ende der autoritären Regimes in Portugal, Griechenland und Spanien<br />

warten.<br />

Das Europa, das wir heute die Europäische Union nennen, hat demnach für<br />

seine Entwicklung und die allmähliche Übereinstimmung seiner politischen<br />

mit der zivilisatorischen Gestalt lange gebraucht.<br />

Im Laufe der verschiedenen Etappen dieses langen Prozesses wurde es<br />

nach der Vorstellung von einem Westeuropa gestaltet, das noch heute Norwegen<br />

und die Schweiz nicht einbezieht und aus dem auch die gerade vor wenigen<br />

Tagen beigetretenen Länder und viele weitere, die auf eine Beitrittschance<br />

warten, ausgeschlossen waren.<br />

Die Erweiterung ist für die europäische Zivilisation und Kultur enorm wichtig.<br />

Der Fall des Eisernen Vorhangs beendete die Trennung, schuf aber nicht per<br />

se die Einheit.<br />

Er öffnete ihr den Weg.<br />

Er machte es möglich, dass viele von anderen beherrschte Völker, deren<br />

nationale Identität in der Vergangenheit unterdrückt wurde, erste Schritte unternehmen,<br />

um den benachbarten Raum der Freiheit, Entwicklung und des<br />

Wohlergehens zu betreten.<br />

Nun beruht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Einheit<br />

der europäischen Völker nicht auf einem hegemonialen Zwang „von oben<br />

nach unten”, wie es bei verschiedenen Spielarten des Imperialismus traurigen<br />

Andenkens der Fall war, sondern geschieht „von unten nach oben”, aus dem<br />

freiem, bewusstem und demokratischem Willen dieser Völker heraus.<br />

Die von dem neuen Europa ausgehende Dynamik wird eine unvorhersehbare<br />

Ausstrahlung haben.<br />

Noch stellt die Antwort auf die Frage nach ihren künftigen Grenzen eine<br />

Unbekannte dar.<br />

Man denke nur an Kandidaturen wie die der Türkei oder auch – wer weiß? –<br />

Marokkos und anderer Länder am Südrand des Mittelmeers.<br />

Die griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Wurzeln Europas werden<br />

sich in unterschiedlicher Weise mit anderen, beispielsweise muslimischen<br />

Wurzeln verbinden.<br />

Die Entwicklung der ethnischen Struktur nationaler Gesellschaften in der<br />

Europäischen Union selbst und auch die geostrategischen Bedingungen und<br />

Widersprüche werden in einer globalisierten, ständig in Veränderung begriffenen<br />

Welt ein entscheidendes Wort mitzureden haben.<br />

Doch wie Fernando Gil und Paulo Tunhas kürzlich in einem höchst wichtigen<br />

Aufsatz scharfsinnig schrieben, „sind es weder spezielle Merkmale des<br />

Westens noch die Religion und ihre Haltung gegenüber dem Leben [...], noch<br />

die Philosophie, noch das Recht, noch die Wissenschaft, noch die Technik.<br />

Jedoch scheint die Dynamik der die Formen des Geistes und des Lebens<br />

122


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 123<br />

DIE NEUE DYNAMIK EUROPAS<br />

begünstigenden Intervention typisch westlich zu sein. Und damit auch das<br />

Reflektieren über sich selbst, das seit dem Zeitalter der Entdeckungen zugenommen<br />

hat. Intervention und Reflexionen sind die bestimmenden Prinzipien des<br />

Handelns. Außerdem ist der Westen auch ein im Komplex Rechte, Gerechtigkeit,<br />

Demokratie, Liberalismus verdichteter Zweck bzw. eine Berufung”.<br />

Europa als ein noch immer in ständigem geopolitischem Aufbau befindlicher<br />

Kontinent wurde so zu einem spannenden Gegenstand des Dialogs, der<br />

Entdeckung und der Intervention.<br />

Darüber hinaus war es, wie Denis de Rougemont sagte, seiner<br />

Globalisierungsfunktion wegen ein „entscheidendes Abenteuer für die gesamte<br />

Menschheit”.<br />

Diese Aspekte können nicht genug hervorgehoben werden; sie dienen für<br />

einige der Erbauung und lösen für andere verschiedene bedrückende<br />

Befürchtungen aus.<br />

Aus den von den Europäern getroffenen Entscheidungen werden sich höchst<br />

wichtige Konsequenzen für die Bürger, den Frieden, die Freiheit, die nachhaltige<br />

Entwicklung, die Lebensqualität, kurz, für die Einbindung ihrer künftigen<br />

politischen Gestalt in die Welt ergeben.<br />

Zu den größten Fragen, die sich am Horizont abzeichnen und ganz klassisch<br />

mit dem Rechtsstaat, der Achtung der Menschenrechte, der Entwicklung, mit<br />

sozialer Gerechtigkeit, der Vielfalt der Kulturen und Sprachen, dem Pluralismus<br />

und demokratischer Toleranz zu tun haben in einem Modell, das wir – et pour<br />

cause ! – repräsentativ und westlich-europäisch nennen, kommen die Frage<br />

nach der Verteilung der Macht und der Befugnisse in einem so breit gefächerten<br />

Gesamtgefüge aus Nationalstaaten, die Frage nach der Eindämmung von<br />

Streitigkeiten und die Frage nach der Bekämpfung der internationalen Krise<br />

hinzu, die in der Arbeitslosigkeit eine ihrer negativsten und unmenschlichsten<br />

Ausdrucksformen gefunden hat. Und zuletzt kamen noch sehr dringliche<br />

Sicherheits- und Verteidigungsfragen dazu, insbesondere im Zusammenhang mit<br />

der Verteidigung gegen fundamentalistischen Terrorismus.<br />

Diese Frage steht zunehmend an erster Stelle und wird auch auf die<br />

Beantwortung aller anderen Auswirkungen haben.<br />

Doch überlassen wir es den politisch Verantwortlichen auf höchster Ebene<br />

und den Spezialisten auf diesem Gebiet, Lösungsvorschläge zu unterbreiten und<br />

die strategisch und operativ notwendigen speziellen Instrumente zu finden.<br />

Zur Zivilisation und Kultur lässt sich sagen, dass die Stärke Europas paradoxerweise<br />

seine Hauptschwäche ist und dass es diese Schwäche zu seiner<br />

Hauptstärke machen muss.<br />

Demokratie mit ihren Attributen wie Freiheit, Pluralismus, Toleranz und<br />

Achtung der Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten bedeutet zweifellos<br />

auch, dass demokratische Gesellschaften größeren Gefahren vonseiten<br />

ihrer Feinde ausgesetzt sind.<br />

123


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 124<br />

VASCO GRAÇA MOURA<br />

So wie der Leninismus, der Stalinismus, der Trotzkismus und der Nazismus<br />

geht auch der islamische Fundamentalismus von Positionen tiefsten Hasses<br />

gegen die westliche Demokratie aus, die auf deren Zerstörung durch den<br />

Einsatz der ihm eigenen Instrumente und Kräfte setzen.<br />

Mehr noch als philosophische und weltanschauliche Standpunkte sind das<br />

zynische pragmatische instrumentalisierte Positionen, für die der Zweck die<br />

Mittel heiligt.<br />

Sie scharen Legionen fanatischer Anhänger um sich und bilden sie aus.<br />

Sie verteilen sie auf einsatzbereite Zellen in einem Untergrundnetz neuen<br />

Typs.<br />

Sie zielen auf die Eroberung der totalen Macht über gewalttätige Aktionen<br />

im Namen einer Ethik und Ästhetik des Todes, vor allem aber durch die massenhafte<br />

wahllose Ermordung unschuldiger Opfer aus der Zivilbevölkerung.<br />

Es geschieht nicht selten, dass in westlichen Gesellschaften jemand versucht,<br />

diese Tatsache mit verzerrten Darstellungen und intellektuellen<br />

Kunstgriffen zwar nicht insgesamt, aber doch im Prinzip zu rechtfertigen.<br />

Lang und beeindruckend ist das deprimierende Register dieser Fälle.<br />

Das ist jedoch ein demokratisches Verhängnis: Einige Henkersknechte in<br />

der Geschichte des 20. Jahrhunderts haben im Laufe der Zeit Sympathien<br />

geweckt, es gab intellektuelle Episteln zur Rechtfertigung und eine mehr oder<br />

weniger ostentative Propaganda unter dem Deckmantel der freien<br />

Meinungsäußerung, der Versammlungsfreiheit und des freien Rechts auf politisches<br />

Engagement, die in den von ihnen verteidigten totalitären Regimes niemals<br />

zugelassen würden.<br />

Wenn wir uns an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern, müssen wir<br />

an die Beziehung Europas zu den Vereinigten Staaten denken, an die wichtige<br />

Wertschätzung der transatlantischen Dimension und der Zugehörigkeit zur<br />

NATO, und nun auch an die eindeutige Haltung der zehn Erweiterungsländer<br />

dazu, denn diese Aspekte stellen die Union, ohne normale kritische Positionen<br />

aus Gründen der eigenen Sichtweise eines jeden Mitgliedslandes zu verhindern,<br />

vor eine doppelte und wesentliche Herausforderung: die Herausbildung<br />

einer geostrategischen Komplementarität mit Nordamerika unter Bewahrung der<br />

gemeinsamen demokratischen Werte und die Entwicklung der<br />

Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA zur Behauptung des europäischen<br />

Kontinents in der Welt.<br />

Auf dieser Grundlage muss die Demokratie, auch wenn anderer, möglichst<br />

wirksamer Verteidigungsmechanismen nicht enthoben ist – und wie<br />

sehr braucht sie diese! – ihre strukturierende Kraft aus ihrer „Schwäche” entstehen<br />

lassen, die sie totalitären Gefahren und der Gefahr der Vernichtung aussetzt.<br />

Sie kann nicht verleugnen, was sie ist.<br />

Weil Demokratie so ist.<br />

124


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 125<br />

DIE NEUE DYNAMIK EUROPAS<br />

Weil sie ein höherer Ausdruck der menschlichen Vernunft und Existenz ist,<br />

die gegen rohe Gewalt, Unvernunft und Ungleichheit aufsteht.<br />

Weil sie einer langen Entwicklung der Menschheitsgeschichte entspringt,<br />

einem schwierigen Verlauf von Fortschritten beim Erringen der Freiheit im<br />

Allgemeinen und konkreter Freiheiten im Besonderen, und am besten kann sie<br />

über die Vertiefung dieser Merkmale verteidigt werden.<br />

Je humanistischer, offener, freier, pluralistischer und toleranter die westliche<br />

Welt als solche ist, umso besser kann sie die vor ihr stehenden<br />

Herausforderungen meistern und sich gegen Totalitarismus und fundamentalistischen<br />

Fanatismus behaupten.<br />

Aufgrund seiner geografischen Lage und Geschichte, durch dynastische<br />

und militärische Bündnisse, durch Sprache und Religion, die universitäre<br />

Tradition und seine Vorreiterrolle bei den Entdeckungen, bei denen sich europäische<br />

und mediterrane Kenntnisse miteinander verwoben, durch seine kulturelle,<br />

literarische und künstlerische Tradition, durch die Gesamtheit der<br />

zutiefst von ihm geprägten Bezugspunkte und internationalen Beziehungen<br />

war Portugal stets ein europäisches Land.<br />

Die Stabilität seiner Grenzen macht Portugal zum ältesten Land Europas.<br />

Gleichzeitig schöpft es aus seiner historischen Tradition das unschätzbare<br />

Kapital, das wahrscheinlich weltoffenste Land in Europa zu sein.<br />

Es bleibt ein europäisches Land durch alles, was es seit seinem Beitritt zur<br />

Europäischen Gemeinschaft geleistet hat, durch sein Engagement in den<br />

Institutionen und seinen Beitrag für die Zukunft der Union.<br />

Es ist auch ein europäisches Land durch sein Ziel und seinen Willen, einen<br />

hervorragenden Platz unter den Ländern einzunehmen, die sich am meisten für<br />

den Aufbau Europas einsetzen, die am wichtigsten in den neuralgischen<br />

Entscheidungszentren und am fortgeschrittensten in der Gemeinschaft sind.<br />

Und noch etwas: Es ist ein Land, dem immer stärker bewusst wird, dass<br />

die Lösung seiner Probleme nicht auf ein mehr oder weniger autarkes vages<br />

Modell eines im westlichsten Teil der Iberischen Halbinsel gelegenen Gebietes<br />

beschränkt bleiben kann.<br />

Sie ist nur möglich durch die entsprechende Lösung der großen europäischen<br />

Probleme unter deutlicher nationaler Beteiligung, ohne das nationale Interesse<br />

aus den Augen zu verlieren.<br />

Diese aktive wechselseitige Abhängigkeit, die zunehmend alle Bereiche<br />

unseres Lebens erfasst und ohne die es keine nachhaltige Entwicklung, keine<br />

Lebensqualität, keine soziale Gerechtigkeit, keine Solidarität, keine lebendige<br />

Kultur, kein eigenes Gepräge, keine Demokratie gibt, muss uns immer gegenwärtig<br />

sein.<br />

Heute Portugiese zu sein heißt, zur Besinnung auf diese Begriffe fähig zu sein.<br />

Das demokratische Europa muss für uns eine Berufung des Glaubens und<br />

eine Anleitung zum Handeln sein.<br />

125


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 126<br />

VASCO GRAÇA MOURA<br />

Heute Europäer zu sein ist eine Frage von Kultur, Freiheit und Würde.<br />

Es sei daran erinnert, dass Kadmos schließlich Harmonie heiratete.<br />

An diesem Ort werden wir weiter über Europa sprechen.<br />

126<br />

April 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 127<br />

Mathieu GROSCH<br />

Leiter der belgischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Die Europäische Integration<br />

vor dem Hintergrund der Globalisierung<br />

Dem mit der doppelten Herausforderung seiner Integration und seiner<br />

Erweiterung konfrontierten Europa scheint es schwer zu fallen, effiziente und<br />

zielgerichtete Strukturen zu entwickeln. Neben den unterschiedlichen Auffassungen<br />

von Integration und Erweiterung ist diese europäische Entwicklung tief gehend<br />

geprägt durch drei wesentliche Elemente: Frieden, Wettbewerbsfähigkeit und<br />

Solidarität.<br />

Dieses Entwicklungsmodell Europas ist auch das einzige, das die Schocks<br />

der Globalisierung abfedern und ihre Verspechen nutzen kann, denn diese<br />

Globalisierung erfordert eine Reaktion auf effizientem Niveau und stellt eine<br />

grundsätzliche Herausforderung für das europäische Entwicklungsmodell als solches<br />

dar.<br />

Die Globalisierung ist durch drei Triebkräfte gekennzeichnet:<br />

— Die technologische Entwicklung ist gleichzeitig Triebkraft und Ergebnis der<br />

Globalisierung. Die globalisierten Märkte machen Skalenerträge sowie die<br />

Amortisierung der Forschungs- und Entwicklungskosten für neue Produkte<br />

möglich. Die Informationstechnologien, die effizienten Verkehrsmittel und die<br />

Finanzmärkte stellen den Blutkreislauf der globalisierten Firmen dar, die weltweite<br />

Verbreitung von Bildern und Ideen sind die Grundlage ihres Kommuniationsund<br />

Absatzförderungsnetzes.<br />

— Die politischen Grundsatzentscheidungen seit den Achtzigerjahren. Unsere<br />

„alten Staaten“ werden wegen ihrer Praktiken angeklagt, deren Langsamkeit und<br />

Ineffizienz bemängelt wird. Nach den verschiedenen Krisen wie der Erdölkrise<br />

fehlt es dem Wohlfahrtsstaat an Geld, was zur Entstehung der neoliberalen Thesen<br />

geführt hat. Auf die schrittweise Liberalisierung des Handels, die Stabilität der<br />

Wechselkurse und eine keynesianistische Politik folgen beschleunigte Entwicklung,<br />

Privatisierungen, Deregulierung sowie die Liberalisierung der Finanzmärkte.<br />

— Der Marktkapitalismus – wie ihn u. a. Alan Greenspan (der Präsident der<br />

US-Notenbank) bezeichnet – ist mit seinen globalisierten Firmen und seinen<br />

127


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 128<br />

vereinheitlichten Märkten ein wirklich strukturbestimmender Faktor der<br />

Globalisierung. Er ist gleichzeitig Ursache und Ergebnis einer „neuen globalen<br />

Wirtschaft“ und somit eine markt- und strukturbestimmende Kraft der<br />

Globalisierung.<br />

Die Herausforderungen der Globalisierung<br />

Die Bilanz der Globalisierung ist durch Vorteile und negative Auswirkungen<br />

gekennzeichnet.<br />

— Zur Aktivseite gehören eine ungeheure technische Innovation, ein globalisiertes<br />

Informationssystem, das durch verbessertes Wissen die Demokratie fördert,<br />

und Biotechnologien, mit denen der Problematik des demografischen Wachstums<br />

und der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen begegnet werden kann.<br />

— Die erfolgreiche Entwicklung bestimmter südostasiatischer Länder, die<br />

wesentlich auf internationale Investitionen und den Zugang zu den europäischen<br />

und amerikanischen Märkten zurückzuführen ist.<br />

— Eine immer stärkere Ausprägung des Selbstverständnisses der Menschen<br />

als Weltbürger und „globale“ Verbraucher und damit ihres Verantwortungsbewusstseins<br />

im Zusammenhang mit den grundlegenden Menschenrechten wie<br />

auch im Umgang mit den genutzten natürlichen Ressourcen.<br />

— Auf der Negativseite ist das Anwachsen der internen Ungleichheiten zu<br />

verzeichnen, das viele Ursachen hat wie den Individualismus, den Wandel der<br />

sozialen Strukturen sowie die Unfähigkeit der Staaten zur Korrektur der übermäßigen<br />

Ungleichheiten als Folge der entstehenden Konkurrenz zwischen den<br />

Sozialsystemen.<br />

— Trotz fünf Jahrzehnten weltweiten Wachstums ist das Nord-Süd-<br />

Ungleichgewicht auf unserem Planeten, das darauf hinausläuft, dass 20 % der<br />

Bevölkerung 80 % der Ressourcen verbrauchen, unverändert geblieben. Auch<br />

wenn die Zahl selbst stagniert, bedeutet dies eine dramatische Verschlechterung,<br />

da heute in der dritten Welt nicht mehr 1,5 Milliarden, sondern 4,5 Milliarden<br />

Menschen leben.<br />

— Trotz der technologischen Entwicklungen, die im Interesse der natürlichen<br />

Ressourcen liegen, überschreitet das Gesamtvolumen der Verbrauchssteigerung<br />

diese „Zuwächse“ und werden die Gefahren für die Umwelt immer größer.<br />

Und obwohl die Technologie eine Bewältigung dieser Problematik<br />

ermöglichen würde, stehen dem das Fehlen von Finanzmitteln sowie die mangelnde<br />

Internalisierung der Umweltkosten im Wege.<br />

Die Rolle Europas<br />

MATHIEU GROSCH<br />

Bereits 1963 formulierte Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Pacem in<br />

Terris das Problem in folgender Weise.<br />

128


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 129<br />

DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION VOR <strong>DE</strong>M HINTERGRUND <strong>DE</strong>R GLOBALISIERUNG<br />

„Da aber heute das allgemeine Wohl der Völker Fragen aufwirft, die alle<br />

Nationen der Welt betreffen, und da diese Fragen nur durch eine politische Gewalt<br />

geklärt werden können, deren Macht und Organisation und deren Mittel einen<br />

dementsprechenden Umfang haben müssen, deren Wirksamkeit sich somit über<br />

den ganzen Erdkreis erstrecken...“<br />

Es liegt daher auf der Hand, dass kein Staat – auch nicht aus Angst vor dem<br />

Verlust der Wettbewerbsfähigkeit – im Alleingang eine geeignete Politik zur<br />

Bewältigung der Globalisierung betreiben kann. Ein Staat allein, und sei es der<br />

mächtigste der Welt, ist nicht in der Lage, die globalisierte Wirtschaft zu kontrollieren<br />

und ihre Auswirkungen zu regulieren.<br />

Daraus folgert, dass kein Staat, auch nicht die USA, eine derart illusorische<br />

Absicht hegen und seine wirtschaftlichen und finanzpolitischen Regeln, seine<br />

sozialen und umweltpolitischen Kriterien allgemein durchsetzen kann. Und<br />

obwohl die Europäische Union weiterhin mit ihrer Integration und dem Ausbau<br />

ihrer Strukturen beschäftigt ist, muss sie die Grundlagen schaffen, die für ihr<br />

Auftreten als globaler Akteur erforderlich sind, was umso mehr gilt, da diese auch<br />

für die Bewältigung ihrer internen Herausforderungen hilfreich sind.<br />

— Ein starkes einigendes Prinzip: die Vorstellung von einer gerechten internationalen<br />

Wirtschaftsordnung, getragen von einer Wertegemeinschaft, anstatt<br />

der bloßen Summe der Interessen ihrer Komponenten, d. h. der Mitgliedstaaten.<br />

— Institutionelle Äußerung in den tragenden Organisationen des<br />

Wirtschaftssystems wie der WTO, dem IWF usw. mit einer einzigen Stimme<br />

und auf der Grundlage einer nach dem Mehrheitsprinzip getroffenen<br />

Entscheidung.<br />

— Eine erhöhte Autonomie innerhalb der NATO, denn die Verteidigung<br />

stellt einen wesentlichen Faktor einer unabhängigen Wirtschaftspolitik dar.<br />

Das internationale Wirtschaftssystem wird u. a. durch die USA dominiert,<br />

denn sie können die vorgenannten Kriterien vorweisen, die internen<br />

Zusammenhalt und eine globale Dimension miteinander verbinden. Fest steht,<br />

dass die USA für Europa ein strategischer Verbündeter sind, doch Europa muss<br />

sich mit den notwendigen Mitteln ausstatten, um zu verhindern, dass ihm fremde<br />

Entscheidungen und insbesondere ein abweichendes Sozialmodell aufgezwungen<br />

werden. Europa muss einer größeren Toleranz gegenüber Ungleichheit<br />

und Gewalt entgegentreten und es ablehnen, sich Umwelt- oder Gesundheitsrisiken<br />

auszusetzen oder sich der Selbstregulierung des Marktes zu unterwerfen.<br />

Europa genießt wirkliches internationales Ansehen, doch muss dies gestärkt<br />

werden durch eine aktive Rolle im Rahmen interner Anstrengungen zum Abbau<br />

seines technologischen Rückstandes, zur Reduzierung der strukturellen<br />

Arbeitslosigkeit und zur Aufrechterhaltung der Solidarität insbesondere durch<br />

Bewältigung seiner Bevölkerungsalterung und durch Annahme einer wirklichen<br />

Asyl- und Einwanderungspolitik.<br />

129


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 130<br />

Seine Rolle in einer aktiven externen Politik muss u. a. darauf gerichtet sein,<br />

den einzelnen Säulen des internationalen Wirtschaftssystems Impulse zu verleihen<br />

und die Kohärenz zwischen ihnen zu erhöhen.<br />

1. Die Welthandelsorganisation<br />

MATHIEU GROSCH<br />

Europa ist ein wichtiger Akteur innerhalb der WTO. Doch die Europäische<br />

Union leidet unter zwei Nachteilen: Einstimmigkeit und fehlende finanzielle<br />

Solidarität, um die Gewinne und Verluste der Liberalisierung ausgewogen zu<br />

verteilen.<br />

Dies führt zu sehr umfangreichen Verhandlungsagenden, um ein ausgewogenes<br />

Verhältnis zwischen den „Gewinnen und Verlusten“ der Liberalisierung zwischen<br />

den einzelnen Ländern herzustellen.<br />

Dies macht darüber hinaus „differenzierte“ Politiken unmöglich, bei denen<br />

beispielsweise bevorzugte und zeitlich begrenzte Marktzugänge als Gegenleistung<br />

für Anstrengungen in den Bereichen Soziales, Umwelt, Gesundheit usw. gewährt<br />

würden.<br />

Solche Fortschritte würden es Europa ermöglichen, der Wirtschaft seinen<br />

Stempel aufzudrücken.<br />

2. Die Organe der Vereinten Nationen<br />

Ein vorrangiges Ziel muss darin bestehen, Europa zu einem gleichwertigen<br />

Akteur der Vereinten Nationen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu<br />

machen.<br />

Ausschlaggebend ist darüber hinaus, diesen Strukturen Befugnisse zur<br />

Konfliktregelung zu übertragen.<br />

Die wachsende Rolle und Bedeutung dieser Gremien werden oft unterschätzt.<br />

Ob Internationale Arbeitsorganisation, Weltorganisation für geistiges<br />

Eigentum oder Internationale Seefahrtsorganisation, um nur einige zu nennen,<br />

diese Gremien haben die Aufgabe, durch Konsens die Regeln festzulegen, die<br />

die internationale Wirtschaft zur Sicherung der gemeinschaftlichen Präferenzen<br />

der Staaten, zur Steuerung des Wettbewerbs, zur Bewahrung der Umwelt und<br />

der sozialen Rechte u. ä. braucht.<br />

Die Europäische Union nimmt an der Erarbeitung dieser Regeln teil, doch sie<br />

hat Beobachterstatus, denn sie spricht nur mit einer Stimme, wenn Konsens<br />

unter allen ihren Mitgliedern herrscht. Anstatt eine führende Rolle zu spielen,<br />

vertritt sie allzu oft den größten gemeinsamen Nenner aller ihrer Mitgliedstaaten,<br />

und damit ist ihr Auftreten nur selten von hoher Überzeugungskraft und wirklich<br />

europäischem Charakter getragen. Da diese Entscheidungen zudem der<br />

Ratifikation durch alle Unterzeichnerstaaten unterliegen, wird ihre Umsetzung<br />

allzu oft durch nationalen Druck oder Lobbygruppen gefährdet oder beeinflusst.<br />

130


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 131<br />

DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION VOR <strong>DE</strong>M HINTERGRUND <strong>DE</strong>R GLOBALISIERUNG<br />

3. Internationaler Währungsfonds und Weltbank<br />

Ihre Aufgaben – einerseits Förderung gesamt- und strukturpolitischer<br />

Maßnahmen, andererseits Verhinderung von Finanzkrisen und entsprechendes<br />

Reagieren auf sie – unterstreichen die Bedeutung und die Komplementarität dieser<br />

Säule.<br />

Die schrittweise Ausrichtung auf eine nachhaltige Entwicklungspolitik und<br />

die Wichtigkeit von Investitionen in den Entwicklungsländern verleihen diesen<br />

Finanzeinrichtungen eine Handlungsfähigkeit, in deren Rahmen Europa stärker<br />

zur Geltung kommen muss. Die EU, auf die nach Kapitalanteilen über 30 % der<br />

Stimmen (im Vergleich: USA 17 %) entfallen, müsste zumindest im Sinne der<br />

Währungsunion gegen das Verbot der Stimmenbündelung auftreten. Die<br />

Dringlichkeit dieser Forderung ergibt sich u. a. daraus, dass bestimme Regionen,<br />

in denen Finanzkrisen aufgetreten sind, sich dem Einfluss des FMI entziehen<br />

wollen. Hinzu kommt noch, dass die Europäische Union der weltweit größte<br />

Geber von Entwicklungshilfe ist.<br />

Externe Politik und Integration – ein und dieselbe Herausforderung<br />

Um als politische Macht im Außenbereich handeln zu können, muss Europa<br />

über ein einigendes Prinzip verfügen, das eine ausgedehnte Gemeinschaft mit ihren<br />

kulturellen Unterschieden zu integrieren vermag. Dieses Prinzip und diese<br />

Ambition machen deutlich, dass die Europäische Integration und das Wirken der<br />

EU im Weltmaßstab keine unterschiedlichen oder divergierenden Herausforderungen<br />

darstellen, sondern ein und dieselbe Herausforderung, denn ohne europäische<br />

Integration können weder die Europäische Union noch irgendeiner ihrer<br />

Mitgliedstaaten die Herausforderung der Globalisierung bewältigen, ohne die<br />

gemeinsamen Werte aufzugeben, die die Länder zum Beitritt zur Europäischen<br />

Union veranlasst haben: die grundsätzliche Achtung der Menschenrechte, eine wirtschaftliche<br />

Entwicklung, deren Ergebnisse allen zugute kommen, sowie der<br />

Schutz der natürlichen Ressourcen im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung.<br />

Diese europäische Souveränität wird kein neuer Nationalismus sein und noch<br />

weniger die Summe der einzelnen Nationalismen, sondern Ausdruck einer europäischen<br />

Bürgerschaftlichkeit, die die Unterschiede im Innern wie im Außenbereich<br />

achtet und sich das Ziel gesteckt hat, einer weltoffenen humanistischen und fortschrittlichen<br />

Zivilisation anzugehören.<br />

131<br />

März 2005


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132


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 133<br />

Gunnar HÖKMARK<br />

Leiter der schwedischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Europas Erfolge basieren auf dem Mut,<br />

über die Grenzen von heute hinaus zu sehen<br />

Am Sonntag, dem 13. Januar 1991 verließ der Vorsitzende des außenpolitischen<br />

Ausschusses des litauischen Parlaments, Emanuelis Zingeris, seine Wohnung in<br />

Vilnius und fuhr zum Flughafen, von wo aus er nach Stockholm fliegen wollte.<br />

Er gehörte zu den ersten, die in frühem Protest gegen die sowjetische Diktatur<br />

demokratisch in den Obersten Sowjet Litauens gewählt worden waren und vertrat<br />

ein Parlament, das die Selbstständigkeit Litauens nach jahrzehntelanger sowjetischer<br />

Okkupation forderte.<br />

Auf dem Weg zum Flughafen bemerkte er, dass zahlreiche sowjetische<br />

Militärfahrzeuge auf dem Weg nach Vilnius waren. Als er am Nachmittag dann in<br />

Stockholm landete, wohin er von der Moderaten Sammlungspartei Schwedens eingeladen<br />

worden war, erfuhr er, was geschehen war: Sowjetische Spezialeinheiten<br />

hatten die Stadt eingenommen, die Radio- und Fernsehsender besetzt und das<br />

Innenministerium sowie das Parlament umstellt. Ziel dieser Aktion war es, die<br />

Freiheitsbewegung zu ersticken, die seit einigen Jahren eine gewisse<br />

Selbstständigkeit innerhalb des sowjetischen Systems aufgebaut hatte, die die<br />

Führung und Autorität Moskaus untergrub.<br />

Eines der Hauptziele der sowjetischen Truppen war das litauische<br />

Parlamentsgebäude. Die demokratisch gewählten Abgeordneten, die sich als<br />

Vertreter des litauischen Volkes verstanden, sollten zum Aufgeben gezwungen werden.<br />

In dem Gebäude befand sich der Parlamentspräsident, Vytautas Landsbergis,<br />

umstellt und belagert von sowjetischen Truppen mit Panzern und einem übermächtigen<br />

Waffenarsenal. Zur Verteidigung gegen sie waren Freiwillige angetreten,<br />

nur mit alten Jagdgewehren und Handtüchern anstelle von Schutzmasken ausgerüstet.<br />

Im Falle einer Erstürmung des Gebäudes hätten sie keine Chance gegen<br />

die gut bewaffneten sowjetischen Elitesoldaten gehabt.<br />

Außerhalb des Parlamentsgebäudes, zwischen den Belagerungstruppen und<br />

den Abgeordneten drinnen, standen die Bürger von Vilnius. Sie bauten Barrikaden<br />

aus LKWs, Traktoren und allem Möglichen, das die sowjetischen Soldaten aufhal-<br />

133


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 134<br />

GUNNAR HÖKMARK<br />

ten könnte, falls sie – wie schon so viele Male in der Nachkriegszeit, so in Berlin,<br />

Budapest, Prag, Warschau – den Befehl zur Niederschlagung der Demokratie<br />

erhalten sollten.<br />

Am Nachmittag hielten wir in Stockholm vor Vertretern der Weltpresse eine<br />

Pressekonferenz mit Emanuelis Zingeris und mit Vytautas Landsbergis ab.<br />

Emanuelis war der einzige führende Volksvertreter, der sich außerhalb der Grenzen<br />

des Landes, und damit außerhalb der Reichweite des KGB und der Truppen des<br />

sowjetischen Innenministeriums, befand. Vytautas Landsbergis – heute<br />

Abgeordneter des Europäischen Parlaments – kommunizierte über ein viereckiges<br />

Lautsprechertelefon mit uns.<br />

Trotz des Ernstes der Situation konnte ich nicht umhin, über den etwas bizarren<br />

Anblick zu lächeln, den die Journalisten aus den USA und Europa boten,<br />

die still auf den grauen Telefonlautsprecher der schwedischen Telecom starrten<br />

und andächtig dem litauischen Parlamentspräsidenten lauschten, der – verbunden<br />

über eine der damals für Gespräche zwischen Schweden und Litauen existierenden<br />

zwei Telefonleitungen – um die Hilfe der internationalen<br />

Staatengemeinschaft bat.<br />

Die Welt reagierte mit großem Interesse und Engagement. Lange Zeit hatten<br />

die drei baltischen Staaten friedlich für ihre Selbstständigkeit gekämpft. Nur knapp<br />

zwei Jahre zuvor hatte Europa den Fall moskautreuer Diktaturen und den Abriss<br />

der Mauer zwischen Ost und West in Berlin erlebt. Es war an der Zeit für eine<br />

neue Ära.<br />

Die friedliche Grundlage für das heutige Europa war nie eine<br />

Selbstverständlichkeit<br />

Aber es war alles andere als selbstverständlich, dass die sowjetische Zentralmacht<br />

das aufgeben würde, was sie als sowjetisches Territorium ansah. Es war noch<br />

nicht einmal selbstverständlich, dass die demokratisch gewählten Politiker<br />

Westeuropas den Balten ihre Unterstützung geben würden. Die sozialdemokratischen<br />

Parteien, die in den 80er Jahren für eine einseitige Abrüstung in den demokratischen<br />

Ländern Europas eingetreten waren, standen einer Zersplitterung der<br />

Sowjetunion ebenso skeptisch gegenüber wie der deutschen Wiedervereinigung.<br />

In Schweden hatte die sozialdemokratische Regierung stets jede Behauptung<br />

zurückgewiesen, die Balten seien okkupiert und wollten ihre nationale Freiheit.<br />

Ihr Streben nach Selbstständigkeit sei nichts weiter, so hieß es, als ein Kampf um<br />

ihre kulturelle Identität. Es gäbe keinen Grund, Moskau mit einer allzu schnellen<br />

und brutalen Demokratisierung zu beunruhigen, die die Machthaber dort nur zu<br />

sehr belasten würde. Sie hätten es ja schon schwer genug, meinte man. Die politischen<br />

Kräfte Westeuropas, die freie Wahlen im Osten forderten und sich für eine<br />

Unterstützung der Balten durch die Demokratien Europas aussprachen, wurden<br />

als Kreuzritter des Kalten Krieges und rechtsextremistische Verrückte bezeichnet.<br />

134


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 135<br />

EUROPAS ERFOLGE BASIEREN AUF <strong>DE</strong>M MUT, ÜBER DIE GRENZEN VON HEUTE HINAUS ZU SEHEN<br />

Am Abend des 13. Januars war Emanuelis Zingeris zu Hause bei mir und<br />

meiner Familie zum Abendessen eingeladen. Jemanden, dessen Land okkupiert<br />

worden war, konnte man nicht allein lassen. An diesem Abend hatte Emanuelis<br />

Zingeris telefonischen Kontakt mit verschiedenen westeuropäischen Botschaften<br />

in Stockholm, um diese über die Vorgänge in seinem Land zu informieren und<br />

im Namen der litauischen Regierung um Unterstützung zu ersuchen. Außerdem<br />

standen wir in ständigem Kontakt mit Personen im litauischen Parlament. Gegen<br />

23 Uhr sprach Emanuelis Zingeris mit Vytautas Landsbergis und brach plötzlich<br />

in Tränen aus. Landsbergis hatte ihm berichtet, dass die Motoren der Panzer vor<br />

dem Parlamentsgebäude angelassen worden waren.<br />

Damit nähert sich die mögliche Erstürmung des Gebäudes. Sie würde eine brutale<br />

Abrechnung mit alle jenen werden, die sich davor verbarrikadiert und mit<br />

jenen, die drinnen Verteidigungsstellung bezogen hatten. Am selben Abend noch<br />

ermorden die Truppen des sowjetischen Innenministeriums 13 junge Litauer, die<br />

sich ihnen in den Weg gestellt hatten, als sie sich auf den Fernsehturm zu bewegten.<br />

Es gibt keinen Zweifel, dies ist blutiger Ernst. Das weiß Vytautas Landsbergis,<br />

das wissen auch alle, die sich im Parlamentsgebäude befinden, und das wissen<br />

auch wir am anderen Ende der Telefonleitung in Stockholm ebenso wie alle diejenigen,<br />

die ihre Leben vor dem Gebäude aufs Spiel setzen.<br />

Zehn Minuten später wird auch im privaten schwedischen Fernsehen über<br />

die Ereignisse berichtet. Der Reporter stellt fest, dass die Motoren der Panzer<br />

angelassen worden sind. Aber irgendwie entstehen wohl Zweifel wegen des<br />

Drucks der internationalen Öffentlichkeit und der Medien, die diese Vorbereitungen<br />

für das Töten unschuldiger Menschen intensiv beobachten. Eine halbe Stunde später<br />

werden die Motoren wieder abgestellt, um später noch einige Male wieder anund<br />

abgestellt zu werden.<br />

In Lettland und Riga geschieht am Tag darauf das Gleiche. Die sowjetischen<br />

Truppen ziehen in die Stadt ein und belagern Fernsehstationen, das<br />

Innenministerium und das Parlament. Die Bürger verbarrikadieren sich vor dem<br />

Parlament und harren einige eiskalte Nächte lang aus. In Riga wird der Dom in<br />

ein Feldlazarett mit freiwilligen Ärzten und anderem Krankenhauspersonal verwandelt.<br />

Mit einigen Tagen Verzögerung wiederholt sich dann alles in Estland und<br />

Tallinn. Hier stellen die Bewacher des Parlaments unterhalb des Domberges ein<br />

Verkehrsschild mit einem durchgestrichenen Panzer auf – Panzer verboten! –<br />

und bereiten sich darauf vor, die Einwohner zusammenzurufen, falls die sowjetischen<br />

Truppen in Tallinn einmarschieren sollten. Gleichzeitig rollen sie große<br />

Steine auf die Straße, um die Panzer daran zu hindern, den Weg zum Parlament<br />

hinauf zu fahren. Leute wie Tunne Kelam, jetzt ebenfalls Abgeordneter des<br />

Europäischen Parlaments, und Mart Laar, der später erster Ministerpräsident des<br />

freien Estlands und einer der ersten Europaabgeordneten Estlands wird, sind vor<br />

Ort, um für Demokratie und Selbstständigkeit zu kämpfen.<br />

135


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 136<br />

GUNNAR HÖKMARK<br />

Am darauf folgenden Montag findet in Stockholm eine von vielen<br />

Montagsdemonstrationen zur Unterstützung der Balten statt. Diese wöchentlichen<br />

Veranstaltungen, die sich an die Montagsdemonstrationen von Leipzig anlehnen,<br />

gibt es schon seit fast einem Jahr. Der gesamte Norrmalmstorg ist gefüllt<br />

mit Bürgern aus allen Schichten der schwedischen Gesellschaft. Neben führenden<br />

schwedischen Politikern sprechen auch Emanuelis Zingeris, Brunius<br />

Kucmickas, der litauische Vizepräsident, der nun über Finnland in den Westen<br />

gekommen ist, sowie Vertreter der Esten und Letten.<br />

Am Montag Nachmittag erteilt Vytautas Landsbergis über ein Telefon auf dem<br />

Schreibtisch meines Büros Zingeris und Kucmickas das Mandat zur Bildung einer<br />

Exilregierung mit Sitz in Stockholm. Er ist sich im Klaren darüber, dass das, was<br />

in der ersten Nacht nicht geschehen ist, durchaus während der kommenden Tage<br />

und Nächte passieren kann.<br />

Heute, 15 Jahre später, ist alles anders. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr.<br />

Estland, Lettland und Litauen sind nicht nur Mitglieder der EU, sondern auch der<br />

NATO geworden. Zwei von denen, die im wahrsten Sinne des Wortes ganz oben<br />

auf den Barrikaden gestanden haben, Tunne Kelam und Vytautas Landsbergis, sind<br />

Mitglieder des Europäischen Parlaments und der EVP-ED-Fraktion.<br />

Im Nachhinein mag alles, was im Laufe der Zeit geschehen ist, logisch und<br />

selbstverständlich erscheinen, aber für diejenigen, die dabei waren, die das<br />

Motorengeräusch der Panzer gehört und die Vereidigung der Exilregierung miterlebt<br />

haben, ist es durchaus nicht selbstverständlich. Es ist das Ergebnis eines politischen<br />

Willens, der auf Straßen und Plätzen zum Ausdruck kam sowie in dem<br />

Mut Einzelner, sich für Demokratie und Freiheit einzusetzen. Es basierte auf der<br />

<strong>Vision</strong>, dass Europa in der Praxis die Verteidigung von Freiheit und Demokratie<br />

bedeuten muss, da es sonst keinen Frieden und keinen Weg zu Würde und<br />

Wohlstand geben kann.<br />

Es war auch nie selbstverständlich, dass dieser politische Wille zum Tragen<br />

kommen würde. Im Osten gab es viele Mitläufer, die ihren Unterdrückern dienten<br />

und die eigenen Leute hintergingen, ebenso wie es Leute gab, die sich nicht<br />

erheben wollten oder es nicht wagten. Im Westen gab es Leute, die die herrschende<br />

Ordnung nicht Frage stellen wollten und die im Grunde gern über<br />

Demokratie redeten, sich aber am liebsten weit entfernt von den politischen<br />

Konflikten unseres eigenen Kontinents, meist in Form von Reden auf den<br />

Parteitagen in Einparteienstaaten, dafür einsetzten. Nie haben die Sozialdemokraten<br />

Schwedens und Europas die Demokratie stärker gewürdigt als dort, weit weg<br />

von der Unterdrückung auf unserem Erdteil.<br />

Die friedliche Bewegung in den baltischen Ländern hat die Grundlage dafür<br />

gelegt, dass das heutige Europa sich ohne Gewalt und Konflikte entfalten konnte.<br />

Es war die Hoffnung auf ein neues Europa, die die Menschen motivierte, und<br />

die eine weit stärkere Triebkraft war als das, was die Verteidiger des alten Systems<br />

antrieb.<br />

136


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 137<br />

EUROPAS ERFOLGE BASIEREN AUF <strong>DE</strong>M MUT, ÜBER DIE GRENZEN VON HEUTE HINAUS ZU SEHEN<br />

Diejenigen, die in vorderster Front für eine neue Zeit wirken wollten, die mit<br />

friedlichen Mitteln die Diktatur herausfordern und besiegen wollten und die der<br />

Ansicht waren, dass die Zeit für die Vereinigung Europas gekommen war, behielten<br />

Recht. Diejenigen hingegen, die nichts tun wollten, die es Moskau überlassen<br />

wollten, den Weg zu bestimmen und die der Vereinigung und der neuen<br />

freien Wirtschaft skeptisch gegenüber standen, mussten sich vom Gegenteil überzeugen<br />

lassen. So haben wir gewonnen und die anderen verloren.<br />

Aber wir dürfen deshalb nicht dem Glauben verfallen, dass mit diesem Sieg<br />

Europa bereits vollendet sei.<br />

Die weitere Zukunft Europas stand während dieser kalten Tage im Januar<br />

1991 an einem Scheideweg. Dies war Teil einer Entwicklung, die 1989 begonnen<br />

hatte, die unsere moderne Geschichte bestimmen sollte und die eigentlich erst<br />

im Mai 2004 ihren Abschluss fand. Es war nie eine Selbstverständlichkeit, dass sich<br />

die Wende von der Diktatur zur Demokratie, von der Unterdrückung zum<br />

Rechtsstaat und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft so schnell und schmerzfrei<br />

vollziehen würde, wie das der Fall war.<br />

Auf die gleiche Weise wird unsere Zukunft auch heutzutage von unserer<br />

Fähigkeit geformt, über die Grenzen der Gegenwart hinaus zu sehen. Das gilt nicht<br />

nur in geografischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf unsere Einstellungen<br />

zu alten Gegnerschaften, nationalen Interessen, zu alten gesellschaftlichen Modellen<br />

sowie zu den politischen Traditionen und zu unserer eigenen Geografie.<br />

Die Herausforderungen einer neuen Zeit<br />

In den kommenden 15 Jahren wird ebenso viel passieren wie in den vergangenen<br />

15 Jahren. Das einzige, was wir über das zukünftige Europa wissen, ist,<br />

dass es nicht so aussehen wird wie heute, aber auch nicht so, wie wir es uns heute<br />

vorstellen.<br />

Aus diesem Grunde muss unsere Fähigkeit, die Entwicklung Europas auf der<br />

Basis solch grundlegender Werte wie Freiheit, Demokratie, einer offenen Wirtschaft<br />

sowie einer immer engeren Zusammenarbeit über alte Grenzen hinweg zu befördern,<br />

wichtiger sein als die Anpassung an die im Augenblick am pragmatischsten<br />

oder realistischsten erscheinende Vorgehensweise. Denn diese verändert sich<br />

jeden Tag.<br />

Unsere Herausforderungen sind heute andere als zum Zeitpunkt des Mauerfalls,<br />

sind aber in ihrer Veränderungskraft ähnlich groß. Die Erweiterung muss gelingen,<br />

damit Europa nicht nur dem Namen nach, sondern auch in der Praxis vereinigt<br />

wird.<br />

Die Wirtschaft Europas verliert an Boden gegenüber der US-amerikanischen<br />

und der asiatischen. Zudem verlassen gegenwärtig zahlreiche Träger der von<br />

uns dringend benötigten Forschungs- und Innovationskraft Europa, die hervorragendsten<br />

europäischen Forscher und Studenten zieht es nicht zu den europäischen<br />

Universitäten.<br />

137


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 138<br />

GUNNAR HÖKMARK<br />

Die formale Erweiterung erfolgte nach einem langen Verhandlungsprozess,<br />

während die reale Erweiterung erst jetzt beginnt, da die Wirtschaften und<br />

Gesellschaften schrittweise verschmelzen sollen, da Ost und West nun in gemeinsamen<br />

Strukturen, auch über Grenzen hinweg, in einer vereinten Wirtschaft und<br />

auch auf zwischenmenschlicher Ebene zusammenwachsen sollen.<br />

Wenn wir die Dynamik der neuen Mitgliedstaaten nicht nutzen und aus dem<br />

Wissen und der Tradition der alten Mitglieder keine Dynamik entwickeln können,<br />

besteht die Gefahr dass wir die alten Gräben in anderer Form als der Mauer und<br />

dem eisernen Vorhang beibehalten.<br />

Europas Sicherheit wird heutzutage nicht mehr von einem Konflikt entlang<br />

einer geographischen Grenze zwischen Ost und West in der Mitte Europas<br />

bedroht, sondern von Ereignissen um uns herum, die unabhängig von geographischen<br />

Grenzen und Entfernungen eine Bedrohung für die zivilisierte<br />

Gesellschaft darstellen. Die Entwicklung in Ländern wie Iran und Irak ist, ebenso<br />

wie der Konflikt zwischen Israel und Palästina, von unmittelbarer Bedeutung<br />

für unsere eigene Sicherheit und die Zukunft unserer Kinder. Im Moment ist eine<br />

Tendenz zum Erstarken der Demokratie im Nahen Osten zu beobachten, was<br />

unsere Verantwortung zur Unterstützung der demokratischen Entwicklung besonders<br />

augenfällig macht. Dort steht die Geschichte an einer Wegscheide und kann<br />

in Richtung auf mehr Demokratie und Stabilität gehen oder auch in Richtung<br />

auf Zerfall und totalitärere Strömungen.<br />

Im Kaukasusgebiet gibt es eine neue Welt von Ländern, die die meisten<br />

Europäer kaum auf der Karte finden, denen aber eines gemeinsam ist, nämlich<br />

dass ihre Stabilität die Grundlage für die zukünftige Sicherheit auf unseren Straßen<br />

und Plätzen bildet.<br />

Vor nur wenigen Monaten stand eines der größten Länder Europas vor einem<br />

politischen Konflikt, der zu einem Bürgerkrieg mit direkter Einmischung Russlands<br />

hätte führen können. Dies geschah nicht, doch es fällt uns schwer einzuschätzen,<br />

inwieweit der Einfluss der europäischen Gemeinschaft dazu beigetragen hat, die<br />

Entwicklung in friedliche und demokratische Bahnen zu lenken. Damit verdrängen<br />

wir die Bedeutung der Tatsache, dass so viele Menschen in der Ukraine von<br />

der Hoffnung angetrieben wurden, dass auch für sie eine neue Ära anbrechen<br />

würde, in der die Perspektive Europa Teil der Zukunftsvision ist.<br />

Wir erleben zurzeit ein schnelles Erstarken der europäischen Wirtschaft und<br />

des Wettbewerbs als Folge der Erweiterung und des Binnenmarktes. Diese<br />

Entwicklung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in Europa hat mehr mit<br />

der Erweiterung und dem Binnenmarkt zu tun als mit dem Lissabon-Prozess und<br />

der Politik, die Europa zur wettbewerbsfähigsten Wissensgesellschaft der Welt<br />

machen soll. Der tatsächliche Integrationsprozess zwischen den Ländern und<br />

Völkern Europas findet tagtäglich statt, in Form von verstärktem Handel, Reisen<br />

und Austausch. Eine visionäre Europapolitik muss diese Entwicklung sowie die<br />

damit verbundenen Veränderungen bejahen und stimulieren.<br />

138


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 139<br />

EUROPAS ERFOLGE BASIEREN AUF <strong>DE</strong>M MUT, ÜBER DIE GRENZEN VON HEUTE HINAUS ZU SEHEN<br />

Europa verändert sich, wenn das Projekt EU glückt<br />

Wenn wir uns den Herausforderungen stellen, denen Europa gegenübersteht,<br />

verändert sich auch die EU.<br />

— Gelingt es der EU, zu einer friedlichen und demokratischen Entwicklung<br />

in der Ukraine beizutragen, verändern sich sowohl die Ukraine als auch Europa<br />

und damit die an die EU gestellten Anforderungen.<br />

— Mit der Entwicklung des Wettbewerbs und des Binnenmarktes wird die<br />

gesamte Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents gestärkt, während sich gleichzeitig<br />

immer mehr Unternehmen einer neuen Konkurrenz gegenüber sehen und<br />

manchmal den neuen Unternehmen unterlegen sein werden. Gelingt der Wandel<br />

in den neuen Mitgliedstaaten, wird sich nicht nur die Kluft zwischen ihrem<br />

Wohlstand und dem der alten Mitgliedstaaten verringern, sondern auch ihre wirtschaftliche<br />

und politische Kraft verstärken.<br />

— Wenn die EU ihre Aufgaben erfüllen und ihre Ziele erreichen kann, führt<br />

dieser Erfolg dazu, dass ihr noch mehr Länder beitreten wollen. Dann müssen wir<br />

uns den Herausforderungen stellen können, die diese neue Zusammenarbeit mit<br />

sich bringt.<br />

— Mit der Zunahme der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der EU<br />

wächst auch ihre Verantwortung gegenüber anderen Teilen der Welt und der<br />

internationalen Staatengemeinschaft, was erhöhte Anforderungen an die<br />

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stellt.<br />

Integration und Erfolg schaffen ihre eigenen Bedingungen und Möglichkeiten,<br />

die eher mit der veränderten Realität zusammenhängen als mit politischen Zielen.<br />

Wenn wir nicht stillstehen wollen, so als ob nichts geschehen wäre, brauchen wir<br />

eine politische Führung mit dem Willen, über die heutigen Grenzen hinaus zu blicken.<br />

Nichts wäre einfacher gewesen, als sich Ende der 80er Jahre mit der<br />

Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit unter den damaligen Mitliedstaaten<br />

oder den westeuropäischen Länder zu begnügen. Aber die <strong>Vision</strong> eines größeren<br />

Europas, das über seine damaligen Grenzen hinaus reichte, war stärker als<br />

die eingeschränkte Perspektive, an der so viele festhalten wollten. Als die EU<br />

sich den Herausforderungen der damaligen Zeit stellte, führte der Erfolg dazu, dass<br />

sich Europa so veränderte, dass sich letztendlich auch die EU verändert hat.<br />

Über die gegebenen Grenzen hinaus blicken<br />

Es war genau diese Fähigkeit, über die gegebenen Grenzen hinaus zu blicken,<br />

die nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage für die europäische<br />

Zusammenarbeit legte, die heute in die Europäische Union mündete. Es war<br />

kein selbstverständlicher Gedanke, den Winston Churchill am 19. September<br />

1946 in Zürich äußerte, als er sich für „eine Art Vereinigte Staaten von Europa ”<br />

aussprach, die auf den wesentlichsten Werten basieren sollten, für die im Zweiten<br />

Weltkrieg gekämpft worden war. „Lasst Gerechtigkeit, Gnade und Freiheit herr-<br />

139


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 140<br />

schen! Die Völker müssen es nur wollen, und der Herzenswunsch aller wird in<br />

Erfüllung gehen.”<br />

Es ging um ein neues vereinigtes Europa, um einen Einigungsprozess, von dem<br />

keine Nation ausgeschlossen werden sollte, eine große Friedensordnung für<br />

Europa, die im Unterschied zu früheren Versuchen die Lebensbedingungen der<br />

Menschen und die Bedeutung der Grenzen konkret verändern sollte.<br />

In einem durch Unterdrückung oder Armut geteilten Europa wäre der Frieden<br />

nie sicher. Daher machte Churchill in einer Zeit, in der die Kluft zwischen den<br />

großen Nationen Europas vielleicht größer war als je zuvor, einen wichtigen<br />

Vorschlag: der „Sie erstaunen wird. Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der<br />

europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und<br />

Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle<br />

Führerrolle in Europa wiedererlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne<br />

ein geistig grosses Frankreich und ein geistig großes Deutschland.”<br />

Nach dem Elend und den Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs waren die<br />

zu überbrückenden Abgründe nicht gerade klein, sondern wesentlich größer als<br />

zwischen den Ländern, mit denen wir heute über eine Zusammenarbeit diskutieren.<br />

Dies war ein erster Schritt, bei dem es nicht nur um das Überbrücken<br />

von Gräben ging, die die Geschichte aufgerissen hatte, sondern auch darum, die<br />

Grundlage für den Umgang mit den neu geschaffenen Gräben zu legen.<br />

Außerdem hatte er erkannt, dass Europas einzige Möglichkeit, die Kräfte des<br />

Bösen ein für alle Mal zu überwinden, darin bestand, die Werte von Freiheit und<br />

Demokratie durch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu sichern. In die<br />

gleiche Richtung arbeiteten Robert Schuman und Konrad Adenauer.<br />

Als Europa nach dem Ende des Kalten Krieges neue Schritte in Richtung auf<br />

eine Zusammenarbeit unternahm, geschah dies durch die Fähigkeit der Politiker<br />

jener Zeit, über die damaligen Grenzen hinaus zu blicken. Das brauchen wir<br />

auch heute.<br />

Die Erweiterung des Binnenmarktes<br />

GUNNAR HÖKMARK<br />

Wir tragen die Verantwortung dafür, dass sich der Binnenmarkt ohne die<br />

Hindernisse und Beschränkungen entwickelt, die aus kurzsichtigen nationalen<br />

Interessen erwachsen. Wenn wir in den kommenden 10 Jahren keinen Wettbewerb<br />

und keine Innovation im Dienstleistungssektor sowie in den zentralen<br />

Kernbereichen der Wissensgesellschaft wie Bildung, Forschung und<br />

Gesundheitswesen erreichen, wird es die wettbewerbsfähigsten Entwicklungen<br />

auf diesen Gebieten nicht in Europa, sondern in anderen Regionen der Welt<br />

geben.<br />

Wenn wir in diesen Bereichen nicht erfolgreich sind, behindern wir nicht nur<br />

die weitere europäische Integration, sondern auch unsere Möglichkeiten zu einem<br />

kraftvollen Agieren auf der internationalen Bühne. Damit werden die aus der<br />

140


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 141<br />

EUROPAS ERFOLGE BASIEREN AUF <strong>DE</strong>M MUT, ÜBER DIE GRENZEN VON HEUTE HINAUS ZU SEHEN<br />

neuen Wissensgesellschaft erwachsenden Unternehmen nicht in Europa, sondern<br />

in anderen Teilen der Welt gegründet werden, obwohl wir den größten<br />

Markt der Welt haben.<br />

Exzellenzzentren durch Wettbewerb<br />

Wir können in Europa leicht Exzellenzzentren errichten, wenn wir uns für<br />

Unternehmertum, Innovationsvielfalt sowie für eine ständige Prüfung dessen,<br />

was noch besser werden kann, öffnen.<br />

Lassen wir Europas Länder im Bereich des Gesundheitswesens zusammenarbeiten,<br />

indem die Patienten wählen können, wo sie im Rahmen der Finanzierung<br />

durch die einzelnen nationalen Systeme ihre Behandlung erhalten wollen. Wenn<br />

etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, ein Schwede aus den verschiedenen<br />

Behandlungsangeboten der besten Spezialisten für Hüftgelenks- und<br />

Herzoperationen wählen kann, die nur einige Stunden Flugreise entfernt zur<br />

Verfügung stehen, wird das zu einem verstärkten Wettbewerb, einem verbesserten<br />

Gesundheitswesen und der Entwicklung von Spezialistenzentren an verschiedenen<br />

Orten in einer Reihe von Bereichen in ganz Europa führen. Das treibt die<br />

Wissensentwicklung voran, stärkt aber auch das akademische Forschungspotential,<br />

was wiederum der europäischen Medizinindustrie neue Möglichkeiten eröffnet.<br />

Wenn darüber hinaus die Gesundheitsunternehmen der verschiedenen Staaten<br />

sowohl in ihren eigenen als auch in anderen Ländern ein besseres<br />

Gesundheitsmanagement und bessere Dienstleistungen anbieten, werden wir<br />

eine Gesundheitsversorgung erhalten, die immer besser wird und sich gleichzeitig<br />

entsprechend den Bedürfnissen der Menschen und der Forderung nach<br />

Nähe entwickelt.<br />

Die Grenzen des Binnenmarkts müssen nicht für alle Zeit festgelegt sein. Er<br />

kann auch im Rahmen der jetzigen EU erweitert werden.<br />

Forschung kann Grenzen überbrücken<br />

Wir sollten einen Teil der Forschungsressourcen der EU dorthin umlenken, wo<br />

die Studenten und Wissenschaftlern hingehen, die Lehr- und Forschungsanstalten<br />

jenseits der alten Nationalstaatsgrenzen wählen. Das kann so erfolgen, dass die<br />

Kosten für die Studien finanziert werden und die Institutionen, die andere EU-<br />

Bürger anzuziehen vermögen, zusätzliche Forschungsmittel erhalten. Auf diese<br />

Weise werden mehr Regierungen alte Versprechen einlösen wollen, und die<br />

Mittel für diejenigen Hochschulen und Universitäten erhöhen, die die besten<br />

Voraussetzungen für eine weltweit führende Stellung aufweisen. So können wir<br />

gleichzeitig den Wettbewerb ankurbeln und die Forschungsmittel erhöhen, ohne<br />

das Recht der Mitgliedstaaten auf eine selbstbestimmte Bildungs- und<br />

Forschungspolitik auszuhöhlen.<br />

141


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 142<br />

GUNNAR HÖKMARK<br />

Der gegenwärtig in Europa am deutlichsten zu erkennende Integrationsprozess<br />

ist das Ergebnis von Binnenmarkt, Wettbewerb und Arbeitnehmerfreizügigkeit. So<br />

wie es gegenwärtig aussieht, haben wir in Europa zu wenig Arbeitnehmerfreizügigkeit.<br />

Es gibt außerdem zu wenig Druck zur Schaffung neuer qualifizierterer<br />

und gut bezahlter Arbeitsplätze, um die des alten Arbeitsmarktes zu ersetzen.<br />

Wenn wir eine immer engere europäische Zusammenarbeit erreichen wollen,<br />

müssen wir uns für eine Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt und einen Handel<br />

mit Dienstleistungen einsetzen, der so frei wie möglich ist. Diese Zusammenarbeit<br />

kann innerhalb der jetzigen Grenzen erfolgen.<br />

Eine Erweiterung, die größere Sicherheit bringt<br />

Ein weiterer Integrationsprozess vollzieht sich in den Ländern um die jetzige<br />

Union herum, die sich anpassen und ihre gesellschaftliche Entwicklung auf den<br />

Werten der Union gründen. Das ist ein Gewinn für unsere Sicherheit und ein<br />

Ausdruck für die Fähigkeit der Union, zu Frieden und Stabilität im Rahmen von<br />

Freiheit und Demokratie beizutragen. Diese Entwicklung müssen wir im Rahmen<br />

der Forderungen, die wir an die europäischen Länder stellen, bejahen. Die<br />

Entwicklung in der Ukraine ist zu einem Erfolg für die EU geworden. Nun liegt<br />

es in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Entwicklung zu einem<br />

Erfolg für ganz Europa wird.<br />

Der Wandel, den die Verhandlungen in der Türkei und auf dem Balkan herbeiführen,<br />

trägt zu einer EU bei, die in ihrer Verteidigung von Frieden und<br />

Stabilität gestärkt wird. Das ist von besonderer Bedeutung in einer Welt, die<br />

Gefahr läuft, dass die Trennlinien zwischen verschiedenen Religionen zu verstärktem<br />

Fundamentalismus führen anstatt zu einer Übernahme von Grundwerten<br />

wie Toleranz für die Rechte und Freiheiten des Einzelnen.<br />

Die Verteidigung unserer Werte in der internationalen Politik<br />

Zur Verteidigung der Werte, auf denen unsere eigene Zusammenarbeit basiert,<br />

müssen wir klare Forderungen an die Diktaturen im Nahen Osten stellen. Wir dürfen<br />

Diktatur und Unfreiheit nicht akzeptieren, nur weil sie sich hinter einem religiösen<br />

gesellschaftlichen System verstecken.<br />

Europa ist heute besser denn je. Keine frühere Generation hatte so gute<br />

Gründe für die Hoffnung auf Frieden und Wohlstand. Wenn sich diese Hoffnungen<br />

erfüllen sollen, muss die EU ihren eigenen Werten besser entsprechen und über<br />

die Grenzen der Gegenwart hinaus sehen.<br />

142<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 143<br />

Piia-Noora KAUPPI<br />

Leiterin der finnischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

<strong>Vision</strong> für Europa 2020<br />

Einen Ausblick auf die Zukunft unseres Kontinents zu geben, ist nicht leicht.<br />

Wenn wir auf die vergangenen fünfzehn Jahre der EU zurückblicken, so hat sich<br />

vieles getan, und ich glaube kaum, dass jemand 1990 dies alles hätte voraussagen<br />

können. Damals bestand die Sowjetunion noch, die samtene Revolution<br />

steckte in den Kinderschuhen, selbst die Europäische Union mit den drei Pfeilern,<br />

wie wir sie heute kennen, gab es noch nicht. Es ist im Grunde genommen erstaunlich,<br />

wie erfolgreich das „Projekt Europa“ in den zurückliegenden Jahrzehnten<br />

gewesen ist.<br />

Die Ergebnisse waren nicht immer einfach zu erzielen. Wie Helmut Kohl,<br />

Ehrenbürger der Europäischen Union, oft an die junge Generation gerichtet sagte,<br />

Europas Zukunft erfordert nicht nur eine starke <strong>Vision</strong> und mutige politische<br />

Führung, sondern auch viel mehr unermüdliche tägliche Arbeit, als wir zuweilen<br />

glauben.<br />

In diesem Artikel soll die Rolle der EVP bei der Gestaltung der Zukunft der<br />

Union untersucht werden. Welches sind die größten Probleme, für die die Mitterechts<br />

stehenden Christdemokraten und Konservativen Antworten finden müssen,<br />

und welche Art Aktivitäten sollten wir unterstützen?<br />

Die Institutionen der Europäischen Union<br />

Manchmal konzentrieren sich jene, die mit EU-Angelegenheiten befasst sind, zu<br />

sehr auf institutionelle Fragen. Ich halte es jedoch für außerordentlich wichtig, dass<br />

Mitte-Rechts die Entwicklung institutioneller Reformen vorantreibt. Die Richtung muss<br />

klar sein, selbst wenn wir wissen, dass diese Dinge in der Praxis Zeit brauchen und<br />

besser mit allen wichtigen Akteuren – nicht zuletzt den Bürgern – abzustimmen sind.<br />

Die Verfassung wird derzeit in den Mitgliedstaaten ratifiziert und bietet eine<br />

gute Grundlage für die Entwicklung der institutionellen Zukunft der Europäischen<br />

Union. Ihre Annahme wird die Funktionsweise der EU merklich verbessern. Sie<br />

143


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 144<br />

PIIA-NOORA KAUPPI<br />

wird das institutionelle Gefüge der Union stärken und sie besser rüsten, sich den<br />

großen Aufgaben besserer und transparenterer Rechtsetzung zu stellen. Viele<br />

ihrer Änderungen sind neuartig, aber vor allem geht es um die Festigung und den<br />

Ausbau von Entscheidungsverfahren, die sich in der Vergangenheit für die EU als<br />

erfolgreich erwiesen haben.<br />

Trotzdem ist die Verfassung nicht der Schlußpunkt der politischen und institutionellen<br />

Architektur Europas. Wir können es uns nicht leisten, nicht mehr<br />

über weitere Verbesserungen nachzudenken. Dieses Nachdenken sind die<br />

Europäer sich selbst schuldig, denn die europäische politische Entwicklung verlangt<br />

vor allem, immer wieder über das Vorhersehbare hinauszudenken und<br />

nach weiterer Vervollkommnung zu streben.<br />

Die europäische Psyche lässt den in den Vereinigten Staaten oft zu beobachtenden<br />

konstitutionellen Konservatismus nicht zu. Und heute ist die EU stark<br />

genug, gewisse destruktive Erscheinungen, zu denen dies in der Vergangenheit<br />

führte, abzumildern.<br />

Die verschiedenen „Flexibilitäts-“ und „Übergangsklauseln“ der neuen<br />

Verfassung sind willkommene Mechanismen zur Einführung notwendiger<br />

Veränderungen zu dem Moment, da sie erforderlich sind. Aber langfristig gesehen<br />

wird die Zukunft der EU nicht durch institutionelle Mechanismen, das Tüfteln<br />

an Gesetzen oder die Vereinfachung von Umstellungen bei Beschlussfassungen<br />

bestimmt sein. Was wir brauchen, ist ein Leitgedanke. Und dieser wird auf jeden<br />

Fall stark vom Föderalismus geprägt sein müssen.<br />

Die EU muss die Vereinfachung ihrer Beschlussfassungsverfahren und die<br />

Ausgestaltung ihres institutionellen Gleichgewichts fortsetzen. Der Leitgedanke hierbei<br />

kann nur föderalistisch sein. So stellt die Schaffung des Amtes eines ständigen<br />

Präsidenten des Europäischen Rates eine willkommene Entwicklung für<br />

Europas Stimme in der Welt dar, aber der Charakter des Amtes muss klargestellt<br />

und in die anderen institutionellen Neuerungen eingepasst werden, damit es<br />

Wirksamkeit und Beständigkeit erlangt.<br />

Aus Sicht der Gesprächspartner und Bürger Europas ist die doppelte<br />

Präsidentschaftsstruktur der EU langfristig nicht glaubwürdig. Zwei Präsidenten,<br />

einer für die Kommission und einer für den Rat, mit einem zwischen beiden<br />

pendelnden Außenminister, lösen nicht die Frage, wer für Europa spricht, und<br />

daraus ergibt sich eine unvermeidliche Schlussfolgerung.<br />

Im Laufe der Zeit ist die Gestaltung des Amtes eines einzigen EU-Präsidenten<br />

erforderlich. Zunächst wäre es sinnvoll, den Präsidenten vom Europäischen<br />

Parlament wählen zu lassen. Nach und nach, wenn sich das Amt weiterentwickelt<br />

und an Geltung und Legitimität gewinnt, müssten direkte Wahlen durch das Volk<br />

vorgesehen werden. Allerdings ist dies für 2020 noch keine realistische <strong>Vision</strong>.<br />

Was das Gleichgewicht zwischen den Organen anbetrifft, so scheint ein weiteres<br />

föderalistisches Resultat naheliegend. Ohne normale Art der Gesetzgebung<br />

mit zwei Kammern, bei der der Ministerrat nach dem Beispiel des Europäischen<br />

Rates das Prinzip „ein Land – eine Stimme“ übernimmt, werden Beschlüsse wei-<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 145<br />

terhin durch Absprachen in Hinterzimmern getroffen, und die Rechenschaftspflicht<br />

ist schwierig nachzuvollziehen.<br />

Grenzen der Europäischen Union<br />

VISION FÜR EUROPA 2020<br />

Es lohnt sich nicht, lange über zukunftsfähige institutionelle Strukturen nachzudenken,<br />

wenn man meint, die Regeln würden nur für eine EU mit fünfundzwanzig<br />

Mitgliedstaaten geschaffen. Diese Debatte muss mit unseren Überlegungen hinsichtlich<br />

der nächsten Schritte bei der Öffnung der EU für neue Mitglieder<br />

übereinstimmen.<br />

Für Mitte-Rechts muss die EU vor allem eine konstitutionelle Union sein, die<br />

auf gemeinsamen Werten beruht. Folglich sind die Grenzen dieser Union nicht<br />

von Natur aus geografischer, wirtschaftlicher oder politischer Art, sondern die<br />

Mitgliedschaft in der EU setzt vielmehr die Übernahme einer gemeinsamen<br />

Verfassung voraus, die die in eben dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte<br />

und -pflichten und gemeinsamen Werte befördert.<br />

In dieser Hinsicht sollten wir den Weg der Gründerväter der Union fortsetzen.<br />

Robert Schuman schrieb bereits 1949, er hätte keinesfalls die Absicht, eine geografische<br />

Demarkationslinie zwischen Europa und „Nicht-Europa“ zu ziehen. Es<br />

gäbe eine andere Möglichkeit, Grenzen zu setzen: Die Unterscheidung in jene,<br />

die den europäischen Geist haben, und jene, die ihn nicht haben.<br />

Wir sollten aufgeschlossen sein und den europäischen Geist in unserer unmittelbaren<br />

Nachbarschaft wirken und wachsen lassen. Wenn diese Nationen bereit,<br />

entschlossen und in der Lage sind, als neue Mitglieder der Union beizutreten, und<br />

wenn sie sich zur Verfassung und zu den gemeinsamen Werten bekennen, sollten<br />

wir sie beitreten lassen. Ich ziehe auch die Bezeichnung „Öffnung der Union“<br />

vor, da „Erweiterung“ ein sehr EU-zentristischer Begriff ist. Wir schaffen keine<br />

Festung Europa, sondern einen Kontinent, auf dem die Grundprinzipien Frieden,<br />

Freiheit, Stabilität und Wohlstand von vielen geteilt werden, nicht nur von wenigen<br />

Glücklichen.<br />

Ein solches Denken eröffnet uns die Chance, tatsächlich ein gemeinsames<br />

Europa zu bauen, dem schließlich rund vierzig demokratische Mitgliedstaaten<br />

angehören können. Natürlich müssen wir, damit dies Wirklichkeit werden kann,<br />

davon ausgehen, dass es vor allem auf dem Balkan und in den sich rasch verändernden<br />

Gebieten der ehemaligen Sowjetunion zu grundlegenden<br />

Veränderungen und auf Dauer angelegten Entwicklungen kommt. Wir sollten<br />

uns auch keine unnötigen Fristen setzen; die Entwicklung von einer diktatorischen,<br />

weitgehend undemokratischen Vergangenheit hin zu wahrer europäischer<br />

Demokratie erfordert Zeit und Geduld.<br />

Auf lange Sicht befördert die Mitgliedschaft der Türkei in der EU die<br />

Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten in einem Gebiet, das weltpolitisch<br />

gesehen von äußerster strategischer Bedeutung ist. Die türkische<br />

Mitgliedschaft hilft der EU bei der Gestaltung friedlicher Zusammenarbeit mit<br />

145


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 146<br />

PIIA-NOORA KAUPPI<br />

der islamischen Welt und stärkt unsere Fähigkeit, eine auf Dauerhaftigkeit ausgerichtete<br />

Lösung für den Nahen Osten zu finden. Auch für die wirtschaftliche<br />

Entwicklung der EU ist die Türkei wichtig, da das Land über große<br />

Arbeitskräfteressourcen verfügt, die alle gegenwärtigen EU-Mitgliedstaaten dringend<br />

benötigen werden. Allerdings erfüllt die Türkei zur Zeit wegen ihrer schlechten<br />

Menschenrechtsbilanz die Kriterien für eine Aufnahme nicht. Auch muss eine<br />

Lösung für die Situation Zyperns gefunden werden, ehe die Türkei der EU beitreten<br />

kann. In den kommenden Jahren und bei den türkischen<br />

Beitrittsverhandlungen ist besonderer Nachdruck auf den Dialog mit den europäischen<br />

Bürgern zu legen.<br />

Die Mitgliedschaft Bulgariens und Rumäniens kann auf kürzere Sicht erfolgen,<br />

ihr Beitritt zur EU wird für 2007-2008 erwartet. Obwohl die Vorbereitungen auf<br />

zahlreichen Gebieten vorangeschritten sind, müssen noch entschlossen Reformen<br />

verabschiedet und Probleme angepackt werden, ehe ihnen die Vollmitgliedschaft<br />

zuerkannt werden kann. Die Reform des Justizsystems und wahrhaft unabhängige<br />

Gerichte sind von entscheidender Bedeutung. Eine Mitgliedschaft in der EU<br />

ohne voll funktionierendes und transparentes Rechtssystem wird es nicht geben.<br />

Die Situation von Minderheiten wie den Roma muss ebenfalls nachhaltig verbessert<br />

werden. Deshalb muss vor allem Rumänien große Anstrengungen unternehmen,<br />

damit es innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens in die EU aufgenommen<br />

werden kann. Die Europäische Union ist und bleibt ein Raum der<br />

Freiheit und Gerechtigkeit, das gilt auch für alle neuen Mitgliedstaaten.<br />

Kroatien ist nach Sloweniens unlängst erfolgtem Beitritt zur Union der erste<br />

Staat des ehemaligen Jugoslawiens, der nach einer Periode schwieriger<br />

Bürgerkriege Aussicht auf Aufnahme in die EU hat. Kroatiens Mitgliedschaft kann<br />

als Öffnung gegenüber den Balkanstaaten verstanden werden, ist aber auch ein<br />

Beispiel dafür, wie wichtig die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen für<br />

alle Länder ist, die die EU-Mitgliedschaft anstreben. Kroatien wird nicht Mitglied<br />

werden können, solange es die vollständige Zusammenarbeit bei der Übergabe<br />

der Kriegsverbrecher an die internationale Justiz verweigert.<br />

Europäischer Heimatmarkt – bis 2020 erreichbares Ziel?<br />

Der europäische Binnenmarkt gehört zu den wichtigsten Leistungen der EU.<br />

Doch Märkte sind kein Selbstzweck, sie sind Mittel zum Erreichen bedeutender<br />

Ziele wie Frieden, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Die Kommission hat<br />

festgestellt, dass die schrittweise Liberalisierung und Konsolidierung des<br />

Binnenmarktes seit 1993 zur Schaffung von 2,5 Millionen neuen Arbeitsplätzen<br />

und mehr als 800 Milliarden Euro zusätzlicher Wirtschaftskraft geführt hat. Neue<br />

Technologien und die Öffnung der nationalen Märkte für den Wettbewerb haben<br />

die Preise für Telefongespräche seit 1998 um 50 % sinken lassen, während die<br />

Preise für Flugreisen zwischen 1992 und 2000 um 41 % zurückgegangen sind.<br />

Durch den Abbau bürokratischer Hürden können mehr als 15 Millionen EU-<br />

146


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 147<br />

Bürger in einem anderen EU-Staat arbeiten bzw. ihren Lebensabend dort verbringen.<br />

Diese konkreten Marktvorteile und andere Verbesserungen im Alltag wie die<br />

gemeinsame Währung und der visafreie Reiseverkehr rechtfertigen allein schon<br />

die gesamte EU. Die Organe der EU haben Hunderte Richtlinien vorgelegt, die<br />

den freien Waren- und Personenverkehr zum Ziel haben. Die Mitgliedstaaten<br />

müssen ihre Anstrengungen zu deren Umsetzung verstärken, während die EU<br />

keine allzu detaillierten und umständlichen Regelungen verabschieden darf. Eine<br />

der Hauptaufgaben des Europäischen Parlaments ist es, dafür zu sorgen, dass<br />

bei der Gestaltung des Binnenmarktes und der gemeinsamen EU-Politik die<br />

Stimme der Menschen gehört wird.<br />

Können wir nun, da der Binnenmarkt – zumindest auf dem Papier – verwirklicht<br />

ist, sagen, unsere Arbeit wäre getan? Ganz im Gegenteil. Für Unternehmen<br />

wie Verbraucher ist Europa noch immer kein wirklicher Heimatmarkt.<br />

Erst wenn die Voraussetzungen für vollständig integrierte Märkte erfüllt sind,<br />

wird Europa für Unternehmen einem Heimatmarkt gleichen. Welche Elemente fehlen<br />

dazu noch?<br />

Die größten Anstrengungen erfordert der Bereich Steuern, insbesondere die<br />

Harmonisierung der Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer. Diese sollte<br />

unter Beibehaltung des positiven Elements eines gesunden Steuerwettbewerbs<br />

zwischen den Legislativorganen erfolgen.<br />

Damit der Binnenmarkt diesen Namen wirklich verdient, müssen alle noch vorhandenen<br />

Hindernisse und Beschränkungen ausgeräumt werden. Kurzfristig<br />

kommt hier dem Binnenmarkt für Dienstleistungen die größte Bedeutung zu.<br />

Die Dienstleistungsrichtlinie wird dringend benötigt und muss ohne weitere<br />

Verzögerung mit allen ihren Schlüsselprinzipien verabschiedet werden, wobei<br />

das Herkunftslandprinzip hier an erster Stelle zu nennen ist.<br />

Darüber hinaus sind weitere Verbesserungen in Angriff zu nehmen, das Streben<br />

nach wirtschaftlicher und sozialer Kohäsion der gesamten EU und in ihrer unmittelbaren<br />

Nachbarschaft eingeschlossen. Die Konsolidierung des Binnenmarktes<br />

ist besonders für kleine Mitgliedstaaten von Belang, da sie von den neuen und<br />

erweiterten Möglichkeiten des Marktes verhältnismäßig stärker abhängig sind.<br />

Wettbewerbsfähiges Europa<br />

VISION FÜR EUROPA 2020<br />

Die europäischen Mitte-Rechts-Kräfte müssen sich darauf konzentrieren, die<br />

europäische Wirtschaft eindeutig auf den Weg von Wachstum und<br />

Wettbewerbsfähigkeit zu bringen. Hierbei müssen wir die Hauptverantwortung<br />

übernehmen, da die Erfahrung zeigt, dass unsere sozialdemokratischen Kollegen<br />

unfähig sind, die notwendigen Reformen durchzuführen. Wir müssen der Barroso-<br />

Kommission und allen folgenden Kommissionen unsere Unterstützung zusichern,<br />

werden sie doch bei der praktischen Umsetzung der europäischen Reformagenda<br />

eine zentrale Rolle spielen.<br />

147


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 148<br />

PIIA-NOORA KAUPPI<br />

Das europäische Sozialmodell ist ohne solide wirtschaftliche Grundlage nicht<br />

aufrechtzuerhalten. Um Reichtum verteilen zu können, muss dieser zunächst<br />

geschaffen werden. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Inkompetenz und<br />

Untätigkeit linksorientierter Konservativer die Hoffnungen auf ein sozialeres<br />

Europa zunichte machen.<br />

Auf den Fluren der EU in Brüssel kennt jeder den Begriff „Bürokratismus“. Er<br />

steht für bürokratische und regulatorische Bürden, die die Wettbewerbsfähigkeit<br />

der Union belasten und strukturelle Reformen behindern.<br />

Wird die EU in dem einen oder anderen Politikbereich zum Handeln aufgefordert,<br />

reagiert sie nur zu oft mit dem Entwurf eines neuen Gesetzes oder der<br />

Schaffung eines neuen Postens, nicht selten mit beidem. Europas größtes Problem<br />

ist aber nicht ein Mangel an Vorschriften, sondern vielmehr deren einfallslose<br />

Umsetzung. Es wurden gemeinsame Regeln aufgestellt, aber niemand ist gerüstet,<br />

deren Einhaltung zu überwachen. Die Situation ist selbst in Bezug auf den EU-<br />

Kernbereich Binnenmarkt unbefriedigend. Es gibt nur noch wenige Sektoren, in<br />

denen Märkte durch neue Rechtsvorschriften geöffnet werden könnten. Zwar<br />

gehören hierzu der Energiesektor, die Postdienstleistungen und der Verkehr, aber<br />

zum größten Teil lassen sich Hindernisse im Binnenmarkt durch bessere<br />

Umsetzung vorhandener Vorschriften ausräumen.<br />

Um ihre Wettbewerbsfähigkeit rasch zu erhöhen, sollte sich die EU deshalb<br />

auf Umsetzung und Durchsetzung konzentrieren. Sind Beschlüsse auf Ebene der<br />

EU gefasst worden, müssen die Mitgliedstaaten diese umsetzen und sollten sich<br />

nicht widersetzen, bis die Kommission sie dazu auffordert oder der Gerichtshof<br />

sie dazu zwingt. Die EU-Mitgliedstaaten müssen ihre diesbezügliche Einstellung<br />

ändern und beginnen, im allgemeinen europäischen Interesse zu denken anstatt<br />

nur aus einzelstaatlicher Sicht. Diese Aufgabe ist nicht leicht, aber umso notwendiger.<br />

Die Kommission kann den Mitgliedstaaten natürlich helfen, über den eigenen<br />

Gesichtskreis hinauszublicken. Bei der Überwachung der Umsetzung muss sie<br />

Überreste protektionistischen Verhaltens radikal bekämpfen. Jetzt, da die Anzahl<br />

der Kommissare im Zuge der EU-Erweiterung um ein Viertel gestiegen ist, sollte<br />

sie ihre neuen fachlichen Ressourcen nutzen, um Effizienz bei der Umsetzung<br />

zu fordern und rasch gegen jene vorzugehen, die die Dinge schleifen lassen.<br />

Die EU braucht angemessene Ressourcen, um zu funktionieren<br />

Damit die EU zum Wohle ihrer Mitglieder besser funktionieren kann, muss sie<br />

mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet sein. Angesichts der strengen<br />

Haushaltsdisziplin der EU ist es unrealistisch zu erwarten, dass die Mitgliedstaaten<br />

ihren im Verhältnis zum BIP festgelegten Anteil am Haushalt erhöhen wollen.<br />

Selbst die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Niveaus ist nicht sicher. Deshalb<br />

lassen sich die Ressourcen der EU am besten dadurch erhöhen, dass das BIP in<br />

den Mitgliedstaaten bei weiterhin niedriger Inflation steigt.<br />

148


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 149<br />

VISION FÜR EUROPA 2020<br />

Vorläufig bedeutet das, den sehr beschränkten EU-Haushalt von nur etwas<br />

mehr als 1 % des BIP der gesamten EU effizienter für Wirtschaftswachstum und<br />

Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit einzusetzen. Damit es tatsächlich dazu<br />

kommt, muss die Struktur der Haushaltsausgaben gemäß den Vorschlägen der<br />

Kommission erhöht werden. Obwohl die Landwirtschaft und die Strukturfonds<br />

für den Binnenmarkt zweifellos wichtig sind, lässt sich ihr gegenwärtiger Anteil<br />

am Haushalt nicht für alle Zeit aufrechterhalten.<br />

Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung sind für Europas<br />

Wettbewerbsfähigkeit unverzichtbar. Der gegenwärtige EU-Haushaltsplan für<br />

Forschung und Entwicklung ist mit rund 5 Milliarden Euro im Jahr nur unwesentlich<br />

größer als der von Nokia, das jährlich etwa 4 Milliarden Euro für Forschung<br />

und Entwicklung ausgibt. Die Union ermöglicht die Schaffung größerer und<br />

bedeutenderer Einheiten als dies einzelnen Mitgliedstaaten möglich wäre, was die<br />

EU in die Lage versetzt, zusäztliche Nutzeffekte zu erzielen.<br />

Künftige Außenbeziehungen – Die Rolle Europas in Zeiten der Globalisierung<br />

Der neue Vertrag über eine Verfassung für Europa schafft die Grundlage für<br />

eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die Außenpolitik ist auch jener<br />

Politikbereich, der mit dem neuen Verfassungsvertrag am meisten Fortschritte<br />

macht. Es scheint ein neuer Wille für die erste gemeinsame außenpolitische<br />

Strategie vorhanden zu sein, nachdem sich die Krisenbefürchtungen zerstreut<br />

haben. Auch für außenpolitische Fragen werden neue Strukturen eingerichtet<br />

werden.<br />

Dem vorgesehenen Europäischen Auswärtigen Dienst kommt dabei eine zentrale<br />

Rolle zu, gestaltet er doch mit seinem Handeln die gemeinsame Außenpolitik.<br />

Es ist von äußerster Wichtigkeit, diesen Dienst bei der Kommission der<br />

Europäischen Union anzusiedeln. Wir müssen wachsam gegenüber allen<br />

Versuchen sein, dem neuen Dienst ein unklares Profil zu verleihen. Auf keinen<br />

Fall darf er aber eine unkontrollierbare zwischenstaatliche Behörde sein, die sich<br />

verselbständigt.<br />

Wie sollte die EU-Außenpolitik gestaltet werden? Die Europäische Union ist<br />

eine konstitutionelle Wertegemeinschaft. An diesen gemeinsamen Werten sollten<br />

die Aktivitäten der Europäischen Union in der Weltpolitik ausgerichtet sein.<br />

Wir haben jetzt die erste gemeinsame Strategie, die eine gute Grundlage für die<br />

Entwicklung realer gemeinsamer Außenpolitik darstellt. Im Brennpunkt dieser<br />

Außenpolitik sollten geografisch nahe Gebiete, Bewerberstaaten sowie gegenwärtige<br />

und künftige Nachbarn der Union stehen.<br />

Neben der Union und ihren unmittelbaren Nachbarn sollte das stärkste Bündnis<br />

der Welt – die EU und die USA – bei der Gestaltung der Welt eine maßgebliche<br />

Rolle spielen. Die transatlantischen Beziehungen sind durch die gemeinsamen<br />

Werte Demokratie und Freiheit gekennzeichnet, was wir alle anerkennen sollten.<br />

Nicht durch Spaltung, sondern durch Zusammenführung unserer Kräfte können<br />

149


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 150<br />

PIIA-NOORA KAUPPI<br />

wir die Welt zu einem Ort machen, an dem es sich lohnt zu leben. Die<br />

Bekämpfung der Armut, die Verteidigung der Demokratie und das Eintreten für<br />

Menschenrechte sind Fragen, in denen wir auf der Basis unserer gemeinsamen<br />

Werte zusammenarbeiten können und müssen. Nur unter freien demokratischen<br />

Bedingungen gelangt die Wirtschaft zu voller Blüte und mehrt sich der Wohlstand<br />

der Bürger.<br />

Die rasante Entwicklung asiatischer Giganten wie China und Indien stellt die<br />

Europäische Union ebenfalls vor neue Herausforderungen. Ihr Einfluss im globalen<br />

Kontext ist keineswegs zu vernachlässigen, ganz zu schweigen von ihrer<br />

rasch zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung. Durch aktive Beteiligung an<br />

der ökonomischen Entwicklung dieser Gebiete kann Europa seine Position in<br />

der Welt sichern. Jedoch werden in China noch die Menschenrechte verletzt,<br />

wozu die häufige Verhängung der Todesstrafe und das herrschende<br />

Einparteiensystem gehören, das gewaltlose politische Gegner unterdrückt. Das<br />

Problem der Todesstrafe gibt es auch in Indien.<br />

In China sind Glaubens- und Religionsbekundungen noch immer nicht erlaubt.<br />

Wir sollten dies um keinen Preis dulden, sondern uns mutig für die Freiheit der<br />

Menschen einsetzen.<br />

Was die EU anbetrifft, so müssen wir jedoch zur Kenntnis nehmen, dass ein<br />

wirtschaftlicher Riese nur bei entsprechender militärischer Glaubwürdigkeit auch<br />

ein politischer Riese ist. Die Welt hat sich verändert. Kein Staat kann mehr allein<br />

seine Sicherheit garantieren. Noch nicht einmal die USA, der einzige Superstaat<br />

der Welt. Neuen Gefahren, die die Sicherheit bedrohen – wie organisierte<br />

Kriminalität, zusammenbrechende Staaten und Terrorismus – kann man nur durch<br />

enge Zusammenarbeit zwischen Staaten begegnen. Ein Europa der Sicherheit<br />

und Zusammenarbeit liegt im Interesse aller.<br />

150<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 151<br />

Vytautas LANDSBERGIS<br />

Leiter der litauischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

<strong>Vision</strong>en und Handlungsmöglichkeiten<br />

Ideal wäre es, wenn man eine einzige, klare und beständige <strong>Vision</strong> hätte.<br />

Doch, pardon, ich habe mindestens zwei <strong>Vision</strong>en, eine sehr positive und eine<br />

zweite, auf die das bedauerlicherweise nicht zutrifft. Aber zuerst die guten<br />

Nachrichten.<br />

Europa hat sein besonderes Problem bereits gelöst (2020) und die<br />

Ambivalenzen im Zusammenhang mit der Umstrukturierung zu dem, was es<br />

nunmehr ist, überwunden. Eine der Gestaltungsmöglichkeiten Europas wird<br />

manchmal als „Europa plus“ bezeichnet. Das eigentliche Europa – Europa<br />

Propria – entstand im 21. Jahrhundert, um 2020, als Gebilde mit föderalen<br />

Zügen, das auf der unverbrüchlichen Solidarität der ihm angehörenden<br />

Nationalstaaten beruht.<br />

Europa als alte westliche Zivilisation der „Alten Welt“ hat keine – emotionalen<br />

oder wirtschaftlichen – Probleme mehr im Umgang mit den Amerikas. Diese<br />

sind vor allem Kinder Europas. Wenn sich also beide Teile der Familie wieder<br />

lieben, wird die aufrichtige Achtung gegenüber der alternden Mutter und ihrer<br />

multinationalen, multikulturellen Weisheit allen helfen, mit sich selbst und mit<br />

den Nachbarn, Afrika und Asien, in Frieden zu leben.<br />

Mutter Europa hat sich sehr verändert, in erster Linie im Sinne eines multireligiösen<br />

Multikulturismus. Sie wirkt daher wieder jünger, vielleicht wie eine<br />

europäische Kreolin. Seit jenen Umbruchzeiten, da der Nahe Osten sich endlich<br />

für den Frieden entschieden hat, der Iran Vernunft annahm, Russland seine<br />

Dateien und sonstigen Erkenntnisse über internationale Terrororganisationen<br />

offen legte und dazu beitrug, letzteren Einhalt zu gebieten und den Planeten vor<br />

dem Sturz in den Abgrund zu bewahren, fühlt sich Europa fast schon zu sicher.<br />

Irgendwie ist das zu dieser Zeit auch gut, es werden Bilder in hellen, optimistischen<br />

Farben gemalt. Die europäische Musik hat etwas von ihrer früheren<br />

Weltuntergangshysterie verloren. Krankheiten wurden besiegt (wobei für das<br />

151


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 152<br />

VYTAUTAS LANDSBERGIS<br />

nicht mehr ganz so arme Afrika noch einige Krankheiten übrig geblieben sind),<br />

und die Meere, die eine höhere Temperatur aufweisen als früher, werden sich<br />

entsprechend anpassen. Nach den Katastrophen von 2010 nehmen die Wale<br />

wieder Abstand von Massenselbstmorden an verschmutzten Küsten. Die Strände<br />

sind jetzt sauber, sodass die Kinder gern dort spielen. Sie spielen (schon seit 2015)<br />

nicht mehr nicht mehr Krieg, Räuber und Banditen. Nach der Annahme des<br />

Weltgesetzes über das menschliche Leben im Jahr 2013 werden nicht mehr in<br />

großer Zahl menschliche Klone in Labors hergestellt. Die Wälder auf allen<br />

Kontinenten unterliegen der weltweiten Kontrolle und Verantwortlichkeit, und<br />

das postchristliche Europa kehrt nach einer kurzen Phase des spirituellen und<br />

physischen Kannibalismus zu der postpostpostmodernen uralten Verehrung der<br />

Natur zurück. Das bedeutet nicht, wie vorausgesagt, die Entchristianisierung<br />

und den Triumph des Laizismus. Im Gegenteil, der göttliche Ursprung des<br />

menschlichen Lebens wird in einer wesentlich anspruchsvolleren Generalisierung<br />

anerkannt. Die Natur, die uns das Leben schenkt, ist vom Wesen her gut. Der<br />

gute Gott handelt durch die Natur. Daher wird die Natur als die Hand Gottes<br />

anerkannt, die behutsam oder strafend sein kann. Nach schweren Bestrafungen<br />

ist die Menschheit, besonders in Europa, nun sehr viel klüger. Daher spielt<br />

Europa jetzt eine führende Rolle bei allen - pragmatischen und spirituellen -<br />

Aspekten des globalen Umweltschutzes. Nachdem Christen, Juden und Muslime<br />

endlich die gemeinsamen Wurzeln ihres Glaubens anerkannt haben, übersteigt<br />

ihre Zahl insgesamt die rückläufige Zahl der materialistisch eingestellten, konsumorientierten<br />

und egoistischen Nichtgläubigen. Die Philosophen reden mehr<br />

und laufen mehr; sie sitzen nicht nur herum und schreiben, und eine solche<br />

Entwicklung der Kultur hat wiederum einen positiven Einfluss auf die<br />

Herausbildung einer generellen natürlicheren Denkweise der Menschheit.<br />

Die Menschheit hat wieder das Gefühl, dass ihr die Chance gegeben wird,<br />

noch einige Jahrhunderte zu überleben.<br />

Die schlechten Nachrichten lauten natürlich anders.<br />

Die Vereinigung Europas ist auch 2020 noch nicht erreicht und weiterhin<br />

umstritten. Bis zur Annahme der europäischen Verfassung dauerte es fünf Jahre,<br />

und es war ein erheblicher Zusatzaufwand erforderlich. So wurde der ursprünglich<br />

beabsichtigte „föderalistische“ Ansatz verworfen, und es setzte sich das<br />

Konzept souveräner Staaten durch, die durch zuvor in Europäischen Konvents<br />

und in den nationalen Verfassungen zum Ausdruck gebrachte Grundsätze geeint<br />

sind. Die Einheit beruht nunmehr ausschließlich auf der Zusammenarbeit in<br />

den Bereichen Handel und Verteidigung (gegen militärische und ökologische<br />

Bedrohungen). Zugleich kommt es zu einer zunehmenden Spaltung in Bezug<br />

auf die Außenbeziehungen zu den USA, Russland und Afrika sowie in Bezug auf<br />

die unterschiedliche Einschätzung darüber, wie rasch und aus welchen Gründen<br />

die Identität Europas verloren geht. Vor allem die jüngsten Ereignisse in<br />

Osteuropa haben neue Herausforderungen mit sich gebracht, aber auch dazu<br />

152


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 153<br />

VISIONEN UND HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN<br />

geführt, dass die Solidarität wieder zugenommen hat. Nach dem dritten<br />

Zusammenbruch Russlands, der mit der Hinwendung der asiatischen Teile des<br />

Landes (Transural) zu China einherging, ersuchte das europäische Russland<br />

(Moskau) dringend um Aufnahme in die EU und versprach, die Demokratie<br />

einzuführen. In Anbetracht des von Russland geäußerten Wunsches nahm die<br />

EU Verhandlungen mit China darüber auf, das Uralgebiet als Trennlinie zwischen<br />

den zwei Interessengebieten festzulegen.<br />

Die Mischung zwischen postchristlichen Nichtgläubigen und muslimischen<br />

Gläubigen im eigentlichen Europa brachte keine wirkliche Konsolidierung mit<br />

sich. Im Gegenteil, Rassen- bzw. Religionskonflikte treten offen zutage. Jeden<br />

Tag kann es zu Massenauseinandersetzungen in ganz Europa kommen. Da<br />

diese Zehntausende oder Hunderttausende Menschenleben kosten und somit<br />

einen demografischen Ausgleich erfordern, verlagert man die künstliche<br />

Herstellung von Menschen von den Genlabors in die aufstrebende, staatlich<br />

unterstützte Industrie. Als sehr wichtiger Aspekt bei dieser wissenschaftlichen<br />

Entwicklung erwies sich die Fähigkeit, den „neuen Menschen“ genetisch gegen<br />

früher vorherrschende Gefühle, Träume und emotionale Liebe zu wappnen;<br />

letztere wird auf eine reine Sexualpartnerschaft reduziert. Die Institution der<br />

Familie gilt als überholt (bei den Postchristen, nicht jedoch bei den Muslimen),<br />

und da die Reproduktion des Homo sapiens (oder der denkenden Primaten)<br />

mehr und mehr industriell erfolgt, d. h. durch weit verbreitetes Klonen usw., sinkt<br />

die Nachfrage nach Personen männlichen Geschlechts. Für Frauen in den ärmeren<br />

Ländern scheint die Produktion von Eizellen und Embryonen der neueste<br />

aussichtsreiche Beruf zu sein.<br />

Da die Warnungen vor der Erderwärmung trotz der Protokolle und Übereinkommen<br />

praktisch außer Acht gelassen wurden, kam es zu einem Anstieg der<br />

Meere. Deshalb planen europäische Länder mit großen Hafenstädten – in einigen<br />

Fällen liegt sogar die Hauptstadt an der Küste – mitunter überstürzt den Bau<br />

riesiger Dämme zum Schutz ihrer auf die Städte konzentrierten Zivilisation.<br />

Unter der Geißel von Krankheiten, die ein Massensterben verursachen (und<br />

von denen einige absichtlich eingeschleust wurden, um eine Bevölkerungsexplosion<br />

und ein Aufbegehren der armen Kontinente z. B. gegen Europa zu<br />

verhindern) und der Grausamkeit globaler terroristischer Strukturen, die sich<br />

beinahe schon zu einer allumfassenden internationalen Diktatur entwickelt<br />

haben, floriert der verzweifelte populistische Glaube an kosmische Retter oder<br />

die vermeintliche Chance, diesem verrückt gewordenen Planeten durch<br />

Auswanderung ins Weltall (in den Kosmos) entfliehen zu können, und es entsteht<br />

eine Vielzahl gewaltiger neuer Sekten. Aufgrund ihrer Uneinigkeit sind<br />

sie hilflos gegenüber den bevorstehenden Erlassen der Zentralen Weltbehörde,<br />

die von der Union des Weltterrorismus ausgerufen werden. So waren viele<br />

Europäer offenbar dazu bereit, aus pragmatischen Gründen zu kapitulieren und<br />

die eigensinnigen USA ihrem Schicksal zu überlassen.<br />

153


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 154<br />

VYTAUTAS LANDSBERGIS<br />

Schließlich weiß in diesem terroristischen Szenario irgendjemand, was zu<br />

tun ist, die pessimistische Stimmung wird von neuer Hoffnung durchbrochen und<br />

weicht unverzüglich einer optimistischen Stimmung.<br />

Deshalb gibt es heute keinen Grund zum Pessimismus, was Europa um das<br />

Jahr 2020 betrifft.<br />

154<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 155<br />

Wilfried MARTENS<br />

Vorsitzender der Europäischen Volkspartei<br />

Die Zukunft der Lissabon-Strategie:<br />

Europa auf den Wachstumspfad bringen<br />

„Um Reichtum gerecht aufteilen zu können,<br />

muss er zuerst einmal geschaffen werden.“<br />

ADAM SMITH<br />

In den vergangenen 50 Jahren hat die Einigung Europas nicht nur zu einer<br />

Periode des Friedens und der friedlichen Lösung von Konflikten auf unserem<br />

Kontinent geführt, wie sie bis dahin unbekannt war, sondern durch Freizügigkeit<br />

und offene Märkte auch ein hervorragendes Beispiel für die Schaffung von<br />

Wohlstand gegeben. Die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration hat es<br />

möglich gemacht, dass Europa durch wirtschaftliche Macht und Wohlstand für alle<br />

zu einer der mächtigsten Regionen in der Welt geworden ist.<br />

Im Zuge der Globalisierung sind allerdings auch andere Regionen der Welt im<br />

Verlauf der letzten Jahrzehnte zu bedeutenden Akteuren im Weltmaßstab geworden;<br />

viele von ihnen haben sich vor allem in dem zu Ende gegangenen Jahrzehnt<br />

schneller als die Europäische Union entwickelt. Das hat Europa vor neue<br />

Herausforderungen gestellt.<br />

So muss beispielsweise das europäische Sozialmodell gründlich reformiert<br />

werden. Die Werte dieses Modells (Leistung und soziale Gerechtigkeit, Wettbewerb<br />

und Solidarität, persönliche Verantwortung und soziale Sicherheit) spielen im<br />

Zusammenhang mit globalisierten Märkten und schnellen Veränderungen im<br />

Wirtschaftsleben auch weiterhin eine große Rolle. Die Herausforderung besteht<br />

darin, neue starke Marktkräfte mit Menschlichkeit, wirtschaftliche Dynamik mit<br />

sozialer Verantwortung zu verknüpfen. Wohlstand lässt sich jedoch nicht verteilen,<br />

und soziale Gerechtigkeit kann nicht geübt werden, wenn unsere<br />

Gesellschaften nicht in eine dynamische Wirtschaft eingebettet und in der Lage<br />

sind, sich an einen immer stärker durch Wettbewerb geprägten globalen Markt<br />

anzupassen.<br />

Parallel dazu machen das Altern unserer Gesellschaften und die demografi-<br />

155


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 156<br />

WILFRIED MARTENS<br />

sche Entwicklung insgesamt deutlich, dass ein familienfreundlicheres Umfeld<br />

geschaffen werden und Männern und Frauen vor allem die Möglichkeit gegeben<br />

werden muss, Beruf und Kinder in Einklang zu bringen.<br />

Die im Jahr 2000 angenommene Lissabon-Agenda enthält gute Ansatzpunkte<br />

für Reformen, um mehr Arbeitsplätze in Europa zu schaffen und unseren<br />

Wohlstand zu sichern. Allerdings besteht in mehreren Mitgliedstaaten beträchtlicher<br />

Widerwillen gegen viele Reformen des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes.<br />

Es hat sich deutlich gezeigt, dass sich die Länder, die frühzeitig Reformen in<br />

Angriff genommen haben, in einer wesentlich besseren Position befinden als die<br />

reformunwilligen.<br />

Heute gehört die Lissabon-Agenda zu den grundlegenden Prioritäten der<br />

neuen Kommission unter dem Vorsitz von José Manuel Barroso. Präsident Barroso<br />

verkündete vor kurzem die „Wachstums- und Beschäftigungsstrategie “, und es<br />

überrascht nicht, dass sie dem Geist der seit langem vorliegenden EVP-Vorschläge<br />

für die Belebung der Lissabon-Strategie entspricht. Diese neue Strategie nehmen<br />

wir vor allem deshalb mit Erleichterung auf, weil sie die Kernfragen, das heißt<br />

Wachstum und Arbeitsplätze, in den Vordergrund stellt, denn dies sind die notwendigen<br />

Instrumente, um die europäischen Ziele zu erreichen. Auch<br />

Premierminister Juncker, der luxemburgische Ratsvorsitzende, hat die Lissabon-<br />

Strategie in seine Prioritätenliste aufgenommen.<br />

Wenn wir unsere gemeinsamen Ziele erreichen und die Herausforderung<br />

annehmen wollen, die Wohlstand und das reibungslose Funktionieren eines<br />

modernen europäischen Sozialmodells bedeuten, müssen sich die EU und die<br />

Mitgliedstaaten gemeinsam in diesen Prozess einbringen. Nur die Regierungen,<br />

die wirklich mutige Maßnahmen und Reformen einleiten, bringen mit großem<br />

Erfolg den Europäern Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung. Um voranzukommen<br />

ist daher eine Reformagenda vonnöten.<br />

Leider befinden sich die europäischen Volkswirtschaften bei Wachstum und<br />

Beschäftigung derzeit auf einem enttäuschend niedrigen Leistungsniveau. In vielen<br />

Regionen der Welt geht die Entwicklung schneller voran als in Europa, vor<br />

allem in den USA, in Asien und in vielen anderen OECD-Ländern. Wir brauchen<br />

flexiblere Arbeitsmärkte und lebensbegleitendes Lernen; wir müssen die Mobilität<br />

der Arbeitnehmer verbessern und die Kosten des Faktors Arbeit senken. Es gilt,<br />

die Verwaltungsbürokratie zu verringern, um Unternehmergeist zu befördern<br />

und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Kluft zwischen uns und anderen führenden<br />

Wettbewerbern auf technischem Gebiet wird nicht kleiner – im Gegenteil, sie<br />

wächst weiter.<br />

Die Europäische Volkspartei setzt alles daran, die in Lissabon vereinbarten<br />

Maßnahmen möglichst umfassend auf europäischer sowie auf einzelstaatlicher<br />

Ebene umzusetzen. Als stärkste politische Kraft in Europa werden wir in den<br />

kommenden Monaten und Jahren all unsere Energie und Aufmerksamkeit diesem<br />

Thema widmen. Wir fühlen uns verpflichtet, Europa fit für die Zukunft zu machen.<br />

Wachstum schafft Beschäftigung und Wohlstand. Europas Rolle in der Welt kann<br />

156


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 157<br />

DIE ZUKUNFT <strong>DE</strong>R LISSABON-STRATEGIE<br />

nur durch kühne Reformen gesichert und gestärkt werden – und damit Wohlstand<br />

und effiziente und bezahlbare Systeme der sozialen Sicherheit für alle geschaffen<br />

werden.<br />

Europa hat in der Vergangenheit unter Beweis gestellt, dass es in der Lage ist,<br />

umfassende Reformen und neue Ideen zu verwirklichen. Jetzt ist es höchste Zeit,<br />

unsere Anstrengungen auf Reformen für die Schaffung von mehr Wachstum und<br />

Beschäftigung zu konzentrieren. Nur starke und reformierte Gesellschaften werden<br />

sichere Einkommen für alle in Europa gewährleisten.<br />

Es steht außer Zweifel, dass Wachstum in Europa mehr politische<br />

Entschlossenheit, Führungskraft und Ergebnisse erfordert, um die Zielvorgaben<br />

von Lissabon zu erreichen. Allerdings wurde den auf der Lissabonner Ratstagung<br />

festgelegten Zielen auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene nicht immer<br />

Vorrang eingeräumt.<br />

Es ist zwar richtig, dass die Lissabon-Strategie zum Teil auf falschen Annahmen<br />

in Bezug auf das zukünftige Wirtschaftswachstum beruht, doch meist wird geringes<br />

Wirtschaftswachstum lediglich als Entschuldigung angeführt. Die EU-Staaten<br />

stehen nicht voll und ganz hinter dem Lissabon-Prozess und haben das ursprünglich<br />

Vereinbarte nicht umgesetzt. Eine deutliche Ausnahme bildet hier das erfolgreiche<br />

Reformmodell der sozialen Marktwirtschaft, das in der zweimaligen Amtszeit<br />

von José María Aznar in Spanien umgesetzt wurde.<br />

Die Europäische Volkspartei arbeitet seit langem intensiv an der<br />

Wiederaufnahme der Lissabon-Agenda und stellt Überlegungen zur Verbesserung<br />

des Lissabon-Prozesses an. Diese Arbeit wurde lange vor der Veröffentlichung<br />

des Berichts der von der Kommission eingesetzten Hochrangigen Sachverständigengruppe<br />

unter Leitung von Wim Kok vorgelegt, um einen Beitrag zu dieser Debatte<br />

sowie zu der bevorstehenden Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie zu leisten.<br />

Viele der im Bericht Kok enthaltenen Vorschläge entsprachen in etwa denen<br />

der EVP. Die Hochrangige Sachverständigengruppe der Kommission nahm zwar<br />

die richtige Analyse vor, doch viele der erforderlichen grundlegenden<br />

Empfehlungen wurden nur ungenügend dargestellt.<br />

Ausgangspunkt der EVP-Empfehlung ist die Wettbewerbsfähigkeit, d. h. die<br />

Schaffung einer soliden Basis für Unternehmertum und Innovation. Die<br />

Wettbewerbsfähigkeit muss zum alles beherrschenden Grundsatz der gesamten<br />

Wirtschaftspolitik werden.<br />

Ein weiteres Kernelement der EVP-Empfehlungen ist die Beschäftigung, wobei<br />

die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, eine Sozialpartnerschaft für Arbeitnehmer,<br />

ihr allgemeiner und beruflicher Bildungsstand, ihr Vertrauen in ein hohes Niveau<br />

der sozialen Sicherheit im Mittelpunkt stehen.<br />

Noch vor dem Bericht Kok forderte die EVP, dass EU-Rat und -Kommission<br />

konkrete Ziele für die Mitgliedstaaten bekannt geben und analysieren. Das ist<br />

wichtig, um die individuelle Verantwortung jedes einzelnen EU-Mitgliedstaates besser<br />

hervorheben zu können.<br />

157


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 158<br />

WILFRIED MARTENS<br />

Die Maßnahmen müssen konkret, nicht oberflächlich sein. Nur wenn wir uns<br />

auf die Kernfragen der Lissabon-Agenda konzentrieren, das heißt auf die Schaffung<br />

neuer und besserer Arbeitsplätze durch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und<br />

die Modernisierung unserer Gesellschaften, können wir wirklich erfolgreich sein.<br />

Die EVP hat die Pflicht, offen zu erklären, dass sich die Europäische Union und<br />

ihre Mitgliedstaaten nicht an den Plan von Lissabon gehalten haben. Das bedeutet<br />

jedoch keineswegs, dass wir dem Lissabon-Prozess eine Absage erteilen. Wir<br />

müssen unsere Anstrengungen jetzt mehr denn je zuvor erhöhen. Es geht um<br />

eine bessere Zukunft für unsere Menschen und um das europäische Modell.<br />

Ferner müssen wir uns weiter strikt an die Regeln des Stabilitäts- und<br />

Wachstumspakts halten. Es steht außer Zweifel, dass der Pakt für die Erhaltung einer<br />

gesunden wirtschaftlichen Perspektive unabdingbar ist. Der Versuch, für die<br />

Nichteinhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts die für das Erreichen der<br />

Ziele der Lissabon-Strategie erforderlichen Anstrengungen verantwortlich zu<br />

machen, kann nicht hingenommen werden.<br />

Es versteht sich von selbst, dass die EVP auch weiterhin ihren Beitrag zum<br />

Lissabon-Prozess leisten und die Bemühungen der neuen Kommission unter<br />

Leitung von Präsident Barroso um die erfolgreiche Umsetzung der Lissabon-<br />

Strategie unterstützen wird.<br />

Unsere Vorschläge, die weiterhin gültig sind, beruhen auf Folgendem:<br />

1. Motivation des erweiterten Europas in Richtung Beschleunigung der<br />

Wirtschaftsreformen und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit.<br />

2. Bestätigung und Neuausrichtung der Lissabon-Strategie, um das Engagement<br />

der EU-Mitgliedstaaten zu erneuern. Konzentration auf die Hauptelemente der<br />

Lissabon-Agenda.<br />

3. Folgende Aspekte müssen im Mittelpunkt stehen:<br />

– Wettbewerbsfähigkeit muss zum alles beherrschenden Grundsatz der gesamten<br />

Wirtschaftspolitik werden,<br />

– Beschäftigung, bei besonderer Betonung einer größeren Flexibilität der<br />

Arbeitsmärkte.<br />

– Sozialpartnerschaft, Motivation der Arbeitnehmer, der allgemeine und berufliche<br />

Bildungsstand der Arbeitnehmer, ihr Vertrauen in ein hohes Niveau der<br />

sozialen Sicherheit und das Gefühl, Teil des Unternehmens zu sein, um so einen<br />

Ansporn für die Erhöhung der Produktivität und die Schaffung von Arbeitsplätzen<br />

zu geben.<br />

4. Beschleunigung aller notwendigen Strukturreformen als Kernaktivität der<br />

EU, um ein Höchstmaß an Wettbewerbsfähigkeit zu erzielen und Wachstum und<br />

Beschäftigung zu fördern.<br />

5. Festlegung der einzelnen Mitgliedstaaten auf die gemeinsam vereinbarten<br />

Reformziele.<br />

6. Strikte Einhaltung der sich aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt ergebenden<br />

Verpflichtungen und Verbesserung seiner künftigen Umsetzung durch<br />

158


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 159<br />

DIE ZUKUNFT <strong>DE</strong>R LISSABON-STRATEGIE<br />

Übertragung größerer Befugnisse an die Kommission im Rahmen des Überwachungs-<br />

und Entscheidungsmechanismus des Paktes.<br />

7. Freisetzung des Potenzials von KMU und neu gegründeten Firmen bei der<br />

Schaffung von Arbeitsplätzen durch Nutzung der von der EU-Kommission vorgeschlagenen<br />

Instrumente, insbesondere durch:<br />

– den Abbau von Verwaltungsbürokratie auf einzelstaatlicher und EU-Ebene,<br />

– die Reform der Systeme der Personen- und Körperschaftsteuern auf einzelstaatlicher<br />

Ebene durch Nutzung der mit KMU und Neugründungen andernorts<br />

gesammelten Erfahrungen,<br />

– die Reform der Besteuerung, so dass auch KMU in die Lage versetzt werden,<br />

langfristige Spareinlagen vorzunehmen.<br />

8. Ergänzung der Beschäftigungsstrategie, indem:<br />

– Maßnahmen schnellstens abgeschafft werden, die Menschen, insbesondere<br />

Frauen, von einer Beschäftigung abhalten,<br />

– verstärkt in Kinderbetreuungseinrichtungen investiert wird, um es einem<br />

breiteren Personenkreis, insbesondere Frauen, zu ermöglichen, in den Arbeitsmarkt<br />

einzusteigen,<br />

– ein „familienfreundliches“ Umfeld geschaffen wird, das es jungen Familien<br />

gestattet, ihren Beruf mit dem Kinderwunsch in Einklang zu bringen,<br />

– eine bessere Einwanderungspolitik verfolgt wird, die den Arbeitsmarktbedürfnissen<br />

gerecht wird und die Integration der Einwanderer verbessert.<br />

9. Reform des Europäischen Sozialmodells, um Beschäftigung und Wachstum zu<br />

fördern:<br />

– Reformen müssen in sozial vertretbarer Weise laufend fortgeführt werden,<br />

um die Systeme der sozialen Sicherheit langfristig finanziell abzusichern.<br />

– Generell müssen bei der Reform der Systeme des Sozialschutzes und der<br />

sozialen Sicherheit alle Merkmale Berücksichtigung finden, die sich aus den<br />

neuen Beschäftigungsverhältnissen ergeben.<br />

10. Verbesserung der Rahmenbedingungen für Ausgaben der öffentlichen Hand<br />

und der Privatwirtschaft für Forschung und Entwicklung.<br />

11. Verbesserung der Finanzierung des Hochschulwesens und Stärkung des Bereichs<br />

postgradualer Studien.<br />

12. Uneingeschränkte Unterstützung der Kommission bei ihren Bemühungen,<br />

durch Sensibilisierungskampagnen zur Förderung des Unternehmertums ein<br />

unternehmerfreundlicheres Umfeld zu schaffen, Unterstützung schnell wachsender<br />

Unternehmen, Förderung von Unternehmertum in sozialen Bereichen,<br />

Unterstützung von Mikrounternehmen bei Personaleinstellungen durch<br />

Vorschriftenvereinfachung und Erleichterung des Zugangs von KMU zu öffentlichen<br />

Aufträgen, Reduzierung von Kosten und Aufwand bei Neugründungen,<br />

Stärkung der Unternehmenskultur in Europa und Erleichterung des Zugangs neu<br />

gegründeter Unternehmen zu Kapital.<br />

13. Berücksichtigung der Erfordernisse der wissensbasierten Wirtschaft durch<br />

159


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 160<br />

WILFRIED MARTENS<br />

Reformierung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung, einschließlich<br />

der Vermittlung unternehmerischen Wissens an Jugendliche.<br />

14. Verfolgung einer nachhaltigen Entwicklungsstrategie, in die der Beitrag der<br />

Forschungstätigkeit im Bereich neue Technologien zur Verbesserung der<br />

Energieeffizienz und des Umweltzustands einbezogen wird, und besondere<br />

Betonung der Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit.<br />

Nur wenn der Lissabon-Prozess von den europäischen Gesellschaften angenommen<br />

wird, kann er zu einem wirklichen Erfolg werden. Alle an diesem<br />

Prozess Beteiligten haben die Pflicht, den Europäern die Bedeutung von Lissabon<br />

sowie die sich für jeden daraus ergebende beachtliche wirtschaftliche und soziale<br />

„Dividende“ in geeigneter Weise nahe zu bringen. Der Erfolg des Lissabon-<br />

Prozesses muss für alle Europäer das gemeinsame Ziel sein, damit auch ein<br />

Europa für alle gesichert ist.<br />

160<br />

Februar 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 161<br />

Jaime MAYOR OREJA<br />

Stellvertretender Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Leiter der spanischen Delegation<br />

Europa: Eine Geschichte der Freiheit<br />

Eine gute Definition für Europa abzugeben ist schwieriger als eine Stecknadel<br />

im Heuhaufen zu finden. Europa steht im Grunde für die Geschichte eines allgemeinen<br />

Konflikts, in dem irgendwann einmal alle Länder miteinander im<br />

Krieg lagen. Von daher versteht sich, dass der oberste Leitgedanke der Union<br />

das Streben nach dauerhaftem Frieden ist, nach einem Gleichgewicht der Kräfte,<br />

nach Überwindung ausschließlich nationalen Denkens und nach einem gemeinsamen<br />

Konzept, das eine verantwortungsbewusste Regierungsführung und das<br />

sozio-ökonomische Wohlergehen seiner Völker und Bürger zum Ziel hat.<br />

Europa hat zwei Sehnsüchte, zwei große Träume: Harmonie und Fortschritt. Die<br />

Architekten dieses Projekts wissen seit langem, dass es die eng gefasste<br />

Vorstellung von Europa als lediglich gemeinsamer Markt zu überwinden gilt,<br />

wenn weitere Fortschritte in der richtigen Richtung erzielt werden sollen. Die<br />

Union will sehr viel mehr als nur das. Daher haben wir in jüngster Zeit vor allem<br />

auf die Definition einer Reihe gemeinsamer Werte hingearbeitet, mit denen<br />

dem geografischen, kulturellen und geschichtlichen Raum, auf dem, Gott sei<br />

Dank, keine sichtbaren Mauern mehr stehen, die uns in Gute und Böse trennen,<br />

eine eigene moralische Identität gegeben werden kann. So wie im politischen<br />

Bereich muss auch hier der Gedanke des vorwiegend Nationalen durch<br />

den des Supranationalen abgelöst werden. Es ist höchste Zeit, dass im Bereich<br />

der Werte Menschenwürde und Menschenrechte vor dem Recht der Staaten<br />

rangieren.<br />

Der Erfolg des europäischen Integrationsprozesses wird künftig gemessen<br />

werden an dem Einsatz der Union für die Achtung der Menschenwürde, Freiheit,<br />

Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der<br />

Menschenrechte einschließlich der Rechte von Minderheiten. Diese Werte sind<br />

allen Mitgliedstaaten gemeinsam in einer Gesellschaft, die sich durch Pluralismus,<br />

Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichstellung<br />

von Frauen und Männern auszeichnet (Artikel I-2 der Europäischen Verfassung).<br />

161


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 162<br />

JAIME MAYOR OREJA<br />

Diese Werte definieren die europäische Identität, sind Bestandteil dieser Identität.<br />

Bei der Union handelt es sich nicht mehr nur um eine herkömmliche internationale<br />

Organisation mit wirtschaftlichen Zielen, sondern vor allem um eine<br />

Wertegemeinschaft. Nach Jahrhunderten Kriegen auf dem Kontinent schöpft<br />

sie ihre Daseinsberechtigung daraus, „den Frieden, ihre Werte und das<br />

Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Die Union bietet ihren Bürgerinnen und<br />

Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne<br />

Binnengrenzen“ (Artikel I-3 der Europäischen Verfassung). Wenn es Europa<br />

nicht gelingt, in den nächsten Jahren eine Antwort zu finden auf die vielfältigen<br />

Instabilitäts- und Unsicherheitsfaktoren, die die Hoffnung von Millionen<br />

Europäern auf ein Leben in Frieden und Freiheit bedrohen, werden wir scheitern<br />

mit unserem gemeinsamen Konzept, unserem gemeinsamen Bestreben,<br />

für die heutige wie künftige Generationen eine Zukunft in Wohlstand zu sichern.<br />

Denn Wohlstand ist nicht allein das Ergebnis wirtschaftlicher Konzepte. Wir<br />

dürfen nicht zulassen, dass der Fortschrittsgedanke ausschließlich auf seine<br />

rein materielle und technische Dimension reduziert wird, die, von anderen<br />

Schwachstellen abgesehen, den Wertesystemen anderer Zivilisationen Tür und<br />

Tor öffnet. Nicht wenige Stimmen warnen, die Renaissance des Islam werde zum<br />

Teil von der Vorstellung genährt, dieser biete ein solides geistiges Fundament<br />

an, das geeignet sei, die Lücke zu schließen, die sich auf diesem Gebiet in<br />

Europa auftue.<br />

Über viele Jahre hinweg stand der demokratische Sozialismus der katholischen<br />

Soziallehre nahe. Das war die Partei der deutschen und englischen<br />

Katholiken. Doch mit der Zeit machte ihre Interkonfessionalität der Versuchung<br />

Platz, den Laizismus zur Religion zu erheben, die sich schließlich durchsetzte<br />

und das Idol Technik auf den höchsten Altar der allgemeinen Verehrung erhob.<br />

Nach dem Glaubensbekenntnis dieser Religion garantieren funktionierende<br />

materielle Bedingungen Glück für alle. Als moralisch gilt all das, was sich diesem<br />

Ziel unterordnet, und allen unabhängigen Werten, die das Ziel in Frage stellen<br />

könnten, wird mit Verdacht begegnet. Das Individuum hat sich den<br />

Notwendigkeiten des Systems unterzuordnen und wird genötigt, sein<br />

Erstgeburtsrecht für einen Teller voll materiellen Fortschritts herzugeben, für eine<br />

Portion dieser wissenschaftlich perfektionierten Zukunft, die zur einzigen<br />

Gottheit unserer Zeit erhoben wird.<br />

Es ist ein Trugschluss zu meinen, religiöse Gedanken, ethische Werte und<br />

geistige Prinzipien gehörten allein in den Bereich der Gefühle und nicht in<br />

den der Vernunft. Die Diskussion darüber muss ins Bewusstsein der Öffentlichkeit<br />

gerückt werden. Andernfalls geraten wir schließlich in die widersinnige<br />

Situation, dass wir mit ansehen müssen, wie die europäischen Werte, die<br />

Europas Identität gestiftet haben, unterzugehen und wie Treibgut nach einem<br />

Schiffbruch abzudriften drohen.<br />

In seiner vollen Bedeutung ersteht vor diesem Hintergrund der Gedanke,<br />

162


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 163<br />

EUROPA: EINE GESCHICHTE <strong>DE</strong>R FREIHEIT<br />

Frieden, internationale Sicherheit und Stabilität zu Grundzielen der Europäischen<br />

Union zu machen, damit wir Bürger Europas der Welt nicht nur ein Beispiel für<br />

den Erfolg eines wirtschaftlichen Projekts liefern, sondern ihr zugleich als<br />

Akteure und Nutznießer des gemeinsamen Raums der Freiheit, der Sicherheit<br />

und des Rechts gegenübertreten. In dem künftigen Europa aus 30 Staaten, zu<br />

denen immer mehr „kleine“ Länder gehören werden, werden die großen<br />

Entscheidungsgewalt abtreten müssen. Der Kampf gegen die Gefahren, die<br />

unsere gemeinsamen Interessen bedrohen, muss daher über die politische<br />

Willensbildung aller geführt werden.<br />

Jede Etappe auf dem Weg nach Europa hat neue Erwartungen hervorgebracht,<br />

die über einen höheren Grad an Integration erfüllt wurden. Die europäische<br />

Integration war von Anfang an der Freiheit und der Verteidigung der<br />

Menschenrechte verpflichtet, sie ging mit dem Aufbau demokratischer<br />

Institutionen und mit striktester Wahrung der Rechtsstaatlichkeit einher. Das<br />

zukünftige Inkrafttreten der Europäischen Verfassung, die im Rahmen der dritten<br />

Säule im Bereich Justiz und Polizei die Vergemeinschaftung der<br />

Zusammenarbeit in Strafsachen vorsieht, bietet außerordentlich gute Gelegenheit<br />

für eine effiziente europäische Antwort auf die neuen Probleme der<br />

Gemeinschaft.<br />

Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und vom 11. März 2004<br />

erübrigt es sich zu sagen, dass der islamische Terrorismus die neue große<br />

Gefahr ist, die Europa und die westliche Welt bedroht. Nie zuvor war das koordinierte<br />

Miteinander aller demokratischen Staaten zur Gewährleistung der<br />

Sicherheit innerhalb und außerhalb der eigenen Grenzen so notwendig wie<br />

heute. Die Komplexität dieser Aufgabe kann keiner übersehen. Einer starken,<br />

abgestimmten Antiterrorpolitik muss der Vorrang eingeräumt werden. Nur<br />

wenn wir geschlossen unsere gemeinsamen Interessen verfechten und diese<br />

unbeirrbar verteidigen, erlangt das gemeinsame Projekt im Dienste des Friedens –<br />

die Wiedervereinigung Europas – Glaubwürdigkeit und Ausstrahlung.<br />

Der Kampf gegen den Terrorismus erfordert besondere Maßnahmen zur<br />

Vernichtung der verschiedenen Gruppierungen, die ihn tragen. Auch wenn sie<br />

alle der Wille eint, die Grundrechte der Menschen zu beseitigen, zeichnen sie<br />

sich doch durch jeweils eigene Motive, Handlungsweisen und Strategien aus.<br />

Die Freizügigkeit von Personen, das Recht auf Sicherheit, Gedanken-,<br />

Meinungs- und Informationsfreiheit, das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz<br />

und die Verpflichtung der europäischen Institutionen, dem Einzelnen zugefügte<br />

Schäden zu lindern, sind nur einige der mit dem Recht auf Freiheit<br />

untrennbar verbundenen Aspekte. Doch sei zugleich in Erinnerung gerufen, dass<br />

es keine Rechte ohne Schranken gibt. Das Recht auf Freiheit gilt es dort zu<br />

verteidigen, wo schrankenlose Freiheit dafür herhalten soll, die Freiheit im<br />

Interesse freiheitsfeindlicher Ideologien zu vernichten. Die Medien berichten<br />

ausführlich über Terroranschläge, und oftmals ruft die vermeintliche Straffreiheit<br />

163


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 164<br />

JAIME MAYOR OREJA<br />

derer, die solcher Gräueltaten verdächtigt werden, bei den Bürgern, die voller<br />

Schrecken und Abscheu die verheerenden Auswirkungen sehen, ein gewisses<br />

Ohnmachtsgefühl hervor. Daher kommt es darauf an, im Rahmen der<br />

Terrorismusbekämpfung das Problembewusstsein zu schärfen und eine effiziente<br />

Informationspolitik zu fördern, mit der den Bürgern Europas die<br />

Gewissheit gegeben wird, dass Europa über ein politisches Konzept für den<br />

Kampf gegen diese massive und permanente Verletzung der Menschenrechte<br />

verfügt.<br />

Im Rahmen der Informations- und Kommunikationsstrategie der europäischen<br />

Institutionen ist den grundlegenden Maßnahmen der Union im Kampf<br />

gegen den Terrorismus besondere Beachtung zu schenken. So wurde beim<br />

europäischen Haftbefehl und in der Auslieferungsfrage vorgegangen, und so<br />

sollte es auch bei den entsprechenden Initiativen gehandhabt werden, mit<br />

denen den destruktiven Kräften ein Ende bereitet werden soll, die heute<br />

Millionen Menschen auf der ganzen Welt in Angst und Schrecken versetzen. Das<br />

ist ein grundlegender Aspekt der Kommunikation. Eine doppelte Krise, ausgelöst<br />

sowohl durch die menschliche Tragödie als auch durch den Verlust des<br />

Vertrauens in die demokratischen Institutionen, lässt sich bei einem<br />

Terroranschlag nur dann vermeiden, wenn vorbeugende Maßnahmen erfolgt<br />

sind und die Gesellschaft diese auch wahrgenommen hat. Lösungen dürfen<br />

nicht erst im Anschluss an Anschläge folgen. Information, Prävention und politisches<br />

Konzept müssen das Ergebnis vorausgegangener Debatten sein, von<br />

denen alle Bürger Europas Kenntnis haben müssen.<br />

Darüber hinaus muss uns die Tatsache, dass die Europäische Union eine<br />

klare humanistische Ausrichtung hat, veranlassen, dafür Sorge zu tragen, dass<br />

den Terrorismusopfern die entsprechende Zuwendung zuteil wird. Nach<br />

Auffassung der Europäischen Volkspartei sind hierzu die folgenden Maßnahmen<br />

umzusetzen:<br />

— Einrichtung eines europäischen Büros zur Unterstützung von Terrorismusopfern<br />

bei der Europäischen Kommission.<br />

— Errichtung einer europäischen Stiftung für Terrorismusopfer unter<br />

Schirmherrschaft des Präsidenten der Europäischen Kommission, des Präsidenten<br />

des Europäischen Parlaments und des Ratspräsidenten.<br />

— Einstufung des Terrorismus als Straftatbestand der Kategorie Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit und dessen Unterwerfung unter die Zuständigkeit<br />

des Internationalen Strafgerichtshofs.<br />

Illegale Zuwanderung und Menschenhandel sind Erscheinungen, die eng mit<br />

dem Terrorismus und der organisierten Kriminalität verbunden sind. Sie gefährden<br />

in nicht hinzunehmender Weise die Sicherheit und Stabilität unserer<br />

Gesellschaften. Wenn wir den Bürgern eine sicherere Gesellschaft bieten wollen,<br />

ist es unsere Pflicht, diesen Gefahren entschlossen die Stirn zu bieten. Im<br />

Sicherheitsbereich kann die Europäische Union eindeutig mehr bewirken als<br />

164


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 165<br />

EUROPA: EINE GESCHICHTE <strong>DE</strong>R FREIHEIT<br />

Einzelaktionen ihrer Mitgliedstaaten. Daher muss sich die Europäische<br />

Volkspartei dafür einsetzen, dass die auf den Ratstagungen von Sevilla und<br />

Saloniki erarbeitete gemeinsame Zuwanderungspolitik, die Umsetzung des<br />

Artikels III-267 des Vertrags über eine Verfassung für Europa und das „Haager<br />

Programm“ Wirklichkeit werden. Der gemeinschaftlichen Abstimmung bedarf<br />

das Ausnahmeverfahren zur Regelung des Rechtsstatus illegaler Zuwanderer.<br />

Einseitige Initiativen ohne Zustimmung der EU-Institutionen, wie sie jüngst in<br />

einigen Ländern der Union zu verzeichnen waren, dürfen nicht hingenommen<br />

werden.<br />

Im Grünbuch der Europäischen Kommission über ein EU-Konzept zur<br />

Verwaltung der Wirtschaftsmigration wird eingeräumt: „Beschließt ein<br />

Mitgliedstaat, solche Drittstaatsangehörigen zuzulassen, hat dies allerdings<br />

Auswirkungen auf die anderen Mitgliedstaaten (Reisefreiheit im Schengen-<br />

Raum, Dienstleistungsfreiheit in anderen Mitgliedstaaten, das Recht, nach<br />

Erlangen der Daueraufenthaltsgenehmigung seinen Wohnsitz in andere<br />

Mitgliedstaaten zu verlegen, Auswirkungen auf den EU-Arbeitsmarkt); außerdem<br />

hat die EU internationale Verpflichtungen gegenüber einigen Gruppen<br />

von Wirtschaftsmigranten. Es spricht daher viel für die Vereinbarung transparenter<br />

und auf EU-Ebene stärker vereinheitlichter gemeinsamer Regeln und<br />

Kriterien für die Zulassung von Wirtschaftsmigranten.“<br />

Es geht keinesfalls darum, irgendeiner Kultur den Rücken zuzukehren. Wir<br />

sollten uns allen öffnen, ohne jedoch den Kern unserer eigenen Identität aus<br />

dem Blick zu verlieren. Der Multikulturismus, der von manchen so leidenschaftlich<br />

propagiert wird, hat sich bedauerlicherweise in einen Verzicht auf das<br />

Eigene verkehrt. Wer seine Verfechter reden hört, gewinnt den Eindruck, als sei<br />

die Öffnung für fremde Werte vom positiven Bemühen um Verständnis und<br />

Bereicherung in eine Flucht vor jeder Regel umgeschlagen, bzw., wenn man<br />

so will, in die typische Selbstzerstörung von jemandem, der sich selbst nicht<br />

mehr mag. Hierzu kann ich einen unwiderlegbaren Beweis nennen: In unserer<br />

heutigen Gesellschaft wird bestraft, wer Juden in ihrem Glauben beleidigt<br />

oder den Koran kriminalisiert; wer sich jedoch über Jesus Christus lustig macht,<br />

erfährt Ehrungen, und dazu wird von den Intellektuellen mit Pauken und<br />

Trompeten die Hymne der Meinungsfreiheit aufgespielt.<br />

Unsere Geschichte, eine Geschichte von Kompromissen mit dem Ziel, unseren<br />

Kontinent in Frieden, Freiheit und Wohlstand aufzubauen, einen Kontinent,<br />

der die Menschenrechte achtet und im Innern wie auch nach außen hin geeint<br />

und solidarisch auftritt, ist uns politisch und moralisch Ansporn, den neuen<br />

Bedrohungen entgegenzutreten und vor allem eine wirksame Lösung zu finden,<br />

die als Grundlage für das Vorgehen des Rechtsstaats, der Sicherheitskräfte<br />

und der Justiz dient. Dabei dürfen wir nicht aus dem Blickfeld verlieren, dass<br />

das Wesen der europäischen Identität auf dem Spiel steht. Die Öffnung für<br />

andere Kulturen darf nicht dafür herhalten, dass totalitäre Prinzipien geduldet<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 166<br />

JAIME MAYOR OREJA<br />

werden, die unter dem Deckmantel der religiösen Grundsätze anderer unsere<br />

eigene Toleranz abzuschaffen drohen. Die Antwort auf diese Herausforderung<br />

hat nur dann Wirkung, wenn sie sich auf ernsthafte Zusammenarbeit auf europäischer<br />

und internationaler Ebene und natürlich auf echte Verbundenheit und<br />

Solidarität mit den Opfern des Terrorismus stützt. Der tief empfundene Wunsch<br />

von Millionen Menschen, mit dem terroristischen Totalitarismus Schluss zu<br />

machen, darf nicht als eine Möglichkeit von vielen angesehen werden, sondern<br />

als dringende Notwendigkeit. Hierbei werden die kommenden Jahre zweifellos<br />

eine entscheidende Rolle spielen.<br />

166<br />

April 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 167<br />

Henryk MUSZYNSKI ´<br />

Erzbischof von Gnesen<br />

Europa im Jahr 2020<br />

Es ist keineswegs leicht, die Faktoren zu bestimmen, die heute die Identität<br />

Europas ausmachen, geschweige denn eine <strong>Vision</strong> des Europa von 2020 aufzuzeigen.<br />

Selbstverständlich geht es hier nicht um eine weitere subjektive Utopie, sondern<br />

darum, möglichst genau die Entwicklungstendenzen unter dem Blickwinkel<br />

dessen aufzuzeigen, was den Begriff der europäischen Identität ausmacht.<br />

Europa in seiner zivilisatorischen Dimension als Geschichts-, Traditions- und<br />

Kulturgemeinschaft mit einem bestimmten Wertesystem ist keine statische, abgeschlossene,<br />

ein für allemal gegebene Realität. Europa ist eine dynamische und sich<br />

ständig weiter entwickelnde Realität, die sich immer wieder aufs Neue schafft<br />

und sich dennoch treu bleibt und wichtige Eigenschaften und Merkmale, die es<br />

von anderen Zivilisationsformen unterscheiden, bewahrt. Im Bewusstsein der<br />

Europäer, das die Identität maßgeblich mitbestimmt, bleibt Europa sich gleich,<br />

wenn auch nicht dasselbe. Die Frage nach seiner künftigen Identität ist deshalb<br />

mehr als gerechtfertigt 1 .<br />

In der Präambel des Verfassungsvertrags wird Europa als „in Vielfalt geeint“<br />

bezeichnet. Es lässt sich kaum leugnen, dass es das Christentum war, das mit<br />

seinem Wertesystem Europa die zivilisatorische Einheit gebracht hat. Ihm ist es<br />

gelungen, das Gefühl für die Würde des Menschen, die Freiheit, die Achtung<br />

des Rechts, Elemente des antiken Griechenland, des römischen Rechts und des<br />

jüdischen Geistes mit den Errungenschaften des Humanismus und der Aufklärung<br />

zu verbinden.<br />

Seit der Epoche der Aufklärung besteht jedoch eine deutliche innere Spannung<br />

zwischen der Inspiration der christlichen europäischen Kultur und der Haltung<br />

des weltlichen Humanismus. Das Aufeinanderprallen dieser beiden Tendenzen<br />

wurde in den jüngsten Überlegungen zur Zukunft Europas offenbar. Während die<br />

Vertreter der einen Richtung ausdrücklich an das christliche Wertesystem anknüpfen,<br />

auf das Europa sich gründet, sehen die Vertreter der anderen Richtung die<br />

Zukunft eher in einem nachchristlichen Europa. Ein unermüdlicher Verfechter<br />

der ersten <strong>Vision</strong> ist Johannes Paul II. Einen völlig entgegengesetzten Standpunkt<br />

167


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 168<br />

HENRYK MUSZYNSKI ´<br />

vertreten, aus einem eigentümlichen Verständnis des Begriffes Weltlichkeit (laïcité)<br />

heraus, die Verfasser des Verfassungsvertrags, insbesondere Valéry Giscard<br />

d’Estaing.<br />

1. Die <strong>Vision</strong> von Europa unter dem Blickwinkel der ideologischen Grundlagen<br />

des Verfassungsvertrags<br />

Die Europa-<strong>Vision</strong> der Verfasser des Verfassungsvertrags ist, betrachtet man die<br />

axiologischen Prämissen der Präambel, überaus optimistisch. Es ist ein Europa,<br />

das, „in Vielfalt geeint“, „auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des<br />

Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner weiter voranschreiten will“ und<br />

„offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt“. Es respektiert die<br />

Besonderheit und Verschiedenartigkeit der Völker, und es vereint die Völker, die<br />

„stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte“ und entschlossen sind, „die alten<br />

Gegensätze zu überwinden“ und „immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam<br />

zu gestalten“. Sie gestalten die Zukunft, indem sie aus dem „kulturellen, religiösen<br />

und humanistischen Erbe“ Europas schöpfen, das sich auf die „unverletzlichen<br />

und unveräußerlichen Rechte des Menschen“ gründet und aus dem sich<br />

„Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“ entwickelt haben. Mit<br />

der Wahrung dieser Rechte und der Verantwortung „gegenüber den künftigen<br />

Generationen und der Erde“ soll Europa zu einem Raum werden, „in dem sich<br />

die Hoffnung der Menschen entfalten kann“.<br />

Eine solch optimistische <strong>Vision</strong> von Europa findet leicht Zustimmung und<br />

weckt sogar Begeisterung. Denkt man jedoch gründlicher darüber nach, melden<br />

sich ernsthaft Zweifel: Reichen die oben erwähnten Beweggründe und<br />

Inspirationsquellen aus, um diese <strong>Vision</strong> zu verwirklichen? Die kulturellen Elemente<br />

umfassen auch religiöse Werte. Im Kontext der europäischen Zivilisation können<br />

und müssen sie im Zusammenhang mit der christlichen Tradition gesehen<br />

werden. Die Gegenwart lebender Zeugen für den christlichen Glauben in Europa<br />

berechtigt zu der Hoffnung, dass durch ihr Zeugnis diese Werte auch in einem<br />

künftigen Europa ihren Platz haben werden.<br />

Die feierliche Aussage zum humanistischen Erbe und zur Freiheit weckt ohne<br />

den Bezug zum Gedanken des Christentums und den ethischen Werten die<br />

begründete Befürchtung, dass es sich hier um eine reine Erklärung handelt.<br />

Wahre Freiheit muss stets einen Bezug zur Wahrheit, die objektive Wahrheit über<br />

die Würde des Menschen eingeschlossen, wie auch zu den ethischen Grundwerten<br />

haben. Andernfalls kann die Freiheit der einen zur Unfreiheit der anderen werden.<br />

Das zeigt sich eindrucksvoll an der jüngsten Geschichte des 20. Jahrhunderts,<br />

wo im Namen einer wahnsinnigen Ideologie die fundamentalen Menschenrechte<br />

ausradiert wurden.<br />

Dieselbe Geschichte mahnt uns auch, dass Vernunft als einziges Kriterium<br />

für eine alleinige Beurteilung durch den Menschen nicht ausreicht, um die „unverletzlichen<br />

und unveräußerlichen Rechte des Menschen“ zu garantieren, der sich<br />

selbst zum ausschließlichen Bezugspunkt aller Werte macht. Die Erfahrung der<br />

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EUROPA IM JAHR 2020<br />

posttotalitären Zeit lehrt ebenso, dass diese Normen nicht ausreichend gewährleistet<br />

sind, wenn ein Mensch sich das Recht nimmt, über das Leben eines anderen<br />

Menschen zu entscheiden und ihn damit des fundamentalen und unveräußerlichen<br />

Rechts auf Leben beraubt. In diesem Falle gibt es keine reale Garantie,<br />

dass diese Rechte zu irgendeinem Zeitpunkt respektiert werden. Für die Christen,<br />

die nach wie vor die zahlenmäßig stärkste Glaubensgemeinschaft in Europa bilden,<br />

wird Gott stets der absolute Bezugspunkt und Garant der Würde sein. Wird<br />

Europa dieses Bezugspunktes beraubt, so bedeutet das, dass die jahrhundertelange<br />

europäische Tradition um vieles ärmer wird.<br />

Die polnische Verfassung ist in dieser Hinsicht viel komplexer und offenbar<br />

auch demokratischer. Sie berücksichtigt sowohl diejenigen, die an Gott als die<br />

Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch<br />

diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus<br />

anderen Quellen ableiten 2 . Grundlage einer so verstandenen Gleichheit der<br />

Rechte ist nicht nur die Toleranz gegenüber dem anderen in seiner Andersartigkeit<br />

und Verschiedenartigkeit, sondern auch die Achtung vor ihm selbst dann, wenn<br />

man seine Wertehierarchie nicht teilt.<br />

Ähnliche Zweifel weckt auch die Aussage, dass „die Völker Europas entschlossen<br />

sind, die alten Gegensätze zu überwinden und immer enger vereint ihr<br />

Schicksal gemeinsam zu gestalten“. Hierzu bedarf es stärkerer ethischer Motive<br />

der Wahrheit und des Guten. Diese <strong>Vision</strong> kann nur dann Realität werden, wenn<br />

es tatsächlich eine Versöhnung zwischen den Völkern gibt, die den Aufbau einer<br />

wahrhaft zwischenmenschlichen Gemeinschaft ermöglicht. Hierbei kann die Rolle<br />

der katholischen Kirche als universale Institution, die der Versöhnung und der<br />

Errichtung einer Geistesgemeinschaft zwischen den Menschen dient, gar nicht hoch<br />

genug bewertet werden, und sie ist auch kaum zu ersetzen. Versöhnung ist auch<br />

die wichtigste Botschaft der Kirche, was sie in den letzten Jahrzehnten wiederholt<br />

zum Ausdruck gebracht hat.<br />

2. Europa als Gemeinschaft des Geistes<br />

Die entscheidende Frage zur Zukunft Europas lautet: Was kann Europa, das<br />

„in Vielfalt geeint“ ist, zu geistiger Einheit motivieren? Welcherart soll die geistige<br />

Grundlage sein, die stärker, tragfähiger und beständiger ist als alle Gegensätze,<br />

die Europa heute von innen zerreißen?<br />

In der Vergangenheit, und das wird niemand leugnen können, war das geistige<br />

verbindende Element, das Europa inmitten der Vielfalt und Verschiedenartigkeit<br />

einte, eben die christliche Zivilisation mit ihrem einheitlichen, auf dem Gebot der<br />

Liebe und den Zehn Geboten fußenden Wertesystem. Wurden diese Kriterien auch<br />

nicht immer respektiert, so wurde doch ihre Rechtmäßigkeit als wesentliches<br />

Element der europäischen Kultur und Zivilisation niemals in Frage gestellt. Die<br />

überaus bedeutsame Frage nach dem Fundament der europäischen Einheit darf<br />

nicht ohne Antwort bleiben. Sind nämlich die Beweggründe der Gemeinschaft,<br />

die die Völker Europas verbinden, nicht stärker als die unterschiedlichen Interessen<br />

169


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´<br />

HENRYK MUSZYNSKI<br />

und Antagonismen, an denen es nicht mangelt, kann sich die Überzeugung dieser<br />

Völker, die „stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte“ sind, leicht zu<br />

gefährlichem Nationalismus wandeln. Es lässt sich nicht leugnen, dass das stolze<br />

Bewusstsein der eigenen Besonderheit und Identität heute immer stärker wird<br />

und eine tragfähigere Basis bildet als das Streben nach einer gemeinsamen Zukunft.<br />

In seiner programmatischen Botschaft an Europa sagte Johannes Paul II.: „In<br />

Europa wird es keine Einheit geben, solange diese nicht auf der Einheit des<br />

Geistes beruht 3 .“ Wahre Gemeinschaft verwirklicht sich stets im zwischenmenschlichen<br />

Bereich und darf nicht ausschließlich auf die Bestimmung gemeinsamer<br />

Aufgaben und Ziele beschränkt werden; ihr Bestreben muss es sein, diese Ziele,<br />

gestützt auf gemeinsam anerkannte Werte, zu erreichen. Jean Monet hat richtig<br />

gesagt: „Wir vereinigen nicht Staaten, sondern Menschen.“ Als Grundwerte einer<br />

künftigen europäischen Demokratie nennt die Präambel Freiheit, Gleichheit und<br />

Rechtsstaatlichkeit. Eine deutliche Anspielung auf die drei bekannten Grundsätze<br />

liberté, égalité, fraternité ist hier unschwer zu erkennen. Bedauerlicherweise fehlte<br />

der Begriff fraternité, der sich, wie die beiden anderen Elemente auch, inhaltlich<br />

vom Christentum herleitet. Gläubige Menschen verbinden mit dem Begriff<br />

Brüderlichkeit unweigerlich die Idee Gottes als unser aller Vater. Die französische<br />

Revolution hat sich diese schönen und zutiefst religiösen Ideale zu Eigen<br />

gemacht. Sie hat sie jedoch ihrer ursprünglichen christlichen Inspiration beraubt.<br />

„Brüderlichkeit“ durch „Rechtsstaatlichkeit“ zu ersetzen, kommt praktisch einer<br />

Verarmung des Inhalts gleich. Durch das Gesetz lässt sich nämlich nur ein Minimum<br />

an korrektem Verhalten erzwingen, es darf nicht zur Inspirationsquelle für die<br />

Verwirklichung des Guten und des Wirkens für die Errichtung einer wahrhaften<br />

Gemeinschaft werden.<br />

Die Präambel ist von dem Glauben getragen, dass das geeinte Europa „auf<br />

dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands weiter voranschreiten<br />

will“ und „offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt“.<br />

Angesichts der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, die die Entwicklung der<br />

Wissenschaft heute bietet, müssen auch die ethischen Grundwerte respektiert<br />

werden. Der Fortschritt der medizinischen Wissenschaften, namentlich der<br />

Biotechnologie, kann, losgelöst vom unverletzlichen Wert des menschlichen<br />

Lebens, zu einer tödlichen Bedrohung für den Menschen werden. Ein solcher<br />

Fortschritt bedeutet eine Verletzung der Menschenwürde, denn er ermöglicht die<br />

Instrumentalisierung des menschlichen Wesens als des höchsten geschaffenen<br />

Wertes 4 .<br />

Die Proklamierung eines unbeschränkten Fortschritts weckt, wenn die grundlegende<br />

Tatsache außer Acht gelassen wird, dass jeder echte Fortschritt mit der<br />

Vervollkommnung und einer neuen Qualität des Menschen beginnt, die wir<br />

Gläubigen schlicht „Bekehrung“ nennen, ernsthafte Befürchtungen, was die „friedliche<br />

Zukunft“ Europas anbelangt. Man muss nicht unbedingt die Ansicht des<br />

Politologen Francis Fukuyama teilen, dass unkontrollierte biogenetische<br />

Experimente das „Ende des Menschen“ bedeuten. Es besteht jedoch kein Zweifel<br />

daran, dass die unkontrollierte biotechnologische Revolution eine größere<br />

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EUROPA IM JAHR 2020<br />

Bedrohung für die Identität des Menschen (Bioterrorismus) darstellen kann als die<br />

Atombombe, wenn die Würde des Einzelnen außer Acht gelassen, wenn nicht an<br />

die Grundwerte der Freiheit des Menschen, des Guten und der Wahrheit angeknüpft<br />

wird und eine entsprechende Regelung durch das Gesetz fehlt 5 .<br />

Schwer vorstellbar ist auch eine Ökologie im weitesten Sinne, wenn die<br />

Grundgesetze der Natur, die für die gläubigen Menschen das Werk des Schöpfers<br />

sind, unter ethischem Gesichtspunkt nicht respektiert werden. Man muss zu<br />

Recht befürchten, dass ohne eine stärkere ethische Motivation selbst die besten<br />

Rechtsnormen beispielsweise dem vom Streben nach mehr materiellem Gewinn<br />

diktierten Raubbau an den Naturressourcen nicht Einhalt gebieten können.<br />

3. Anthropozentrischer Humanismus oder christlicher Universalismus?<br />

Die grundlegende Alternative für das Europa der Zukunft besteht noch immer<br />

in dem grundsätzlichen Entwurf des Menschen als des einzigen und ausschließlichen<br />

Bezugspunkts aller Werte oder in dem biblischen Entwurf, dem zufolge sich<br />

die Würde des Menschen daraus ergibt, dass Gott als der absolute Garant seiner<br />

unverletzlichen und unveräußerlichen Würde ihn nach seinem Bild schuf (Mose<br />

1,27). Diese Konzeptionen, die im philosophischen Sinne seit dem fernen Altertum<br />

bekannt sind, treten heute besonders deutlich hervor. Bedeutet das aber, dass wir<br />

Menschen im 21. Jahrhundert im Namen der Menschenwürde von vornherein<br />

dazu verurteilt sind, gegen uns selbst zu kämpfen?<br />

Der entscheidende anthropologische Unterschied im Verständnis vom Wesen<br />

sowie vom Platz und der Rolle des Menschen führt unweigerlich auch zur<br />

Wahrnehmung der völlig unterschiedlichen Vorstellungen von der Zukunft Europas.<br />

Die unbeirrbaren Erben des Zeitalters der Aufklärung sehen die Zukunft ausschließlich<br />

in weltlichen Kategorien. Für sie bleibt der Mensch absoluter<br />

Bezugspunkt und einziges Kriterium für die Beurteilung dessen, was wahr und<br />

gut ist. Diese Auffassung wird gemeinhin nicht ohne Grund als anthropozentrischer<br />

Humanismus bezeichnet.<br />

Einen völlig entgegengesetzten Standpunkt vertritt der christliche Humanismus,<br />

der in Gott die absolute Bedingung für die unveräußerliche und unverletzliche<br />

Würde des Menschen sieht. Diese Würde wird keinem verliehen, jeder Mensch<br />

erhält sie mit seiner Geburt. Als freies Wesen und als einziges zur Liebe befähigtes<br />

Wesen ist er gleichsam das sichtbare Abbild des ewigen Gottes.<br />

Hans-Gert Pöttering stellt richtig fest: „Der Mensch wird als Schöpfung Gottes<br />

begriffen – ihm ebenbildlich. Daraus leitet sich die Überzeugung ab, dass jeder<br />

Mensch mit einer unverletzlichen Würde ausgestattet ist. Wenn jeder Mensch<br />

einmalig ist, dann dürfen wir ihn nicht reproduzieren. Wenn menschliches Leben<br />

ein Wert an sich ist, dann dürfen wir nicht menschliches Leben schaffen, um es<br />

dann – für welchen Zweck auch immer – wieder zu töten 6 .“ Paradoxerweise wird<br />

der „Mensch durch das ärmer, was er erreicht hat. Setzt er sich keine höheren Ziele,<br />

beraubt er sich der Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln 7 ”.<br />

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´<br />

HENRYK MUSZYNSKI<br />

Es erhebt sich also die Frage, ob es in einer Zeit, da wir nach dem umfassend<br />

verstandenen Wohl des Menschen suchen – in der Überzeugung, dass, was von<br />

Gott kommt, nicht im Widerspruch stehen kann zu dem, was wahrhaft menschlich<br />

ist –, nicht möglich ist, diese beiden Standpunkte einander anzunähern.<br />

Die Gegner der Religion verweisen sehr häufig auf die religiösen Kriege in<br />

Europa, einschließlich jener, die innerhalb des Christentums selbst geführt wurden.<br />

Dem ist selbstverständlich kaum zu widersprechen. Wir dürfen jedoch nicht<br />

vergessen, dass uns, wenn es uns nicht gelingt, die Standpunkte derer einander<br />

anzunähern, die unter verschiedenen, oft sogar entgegengesetzten Voraussetzungen<br />

für die Würde des Menschen kämpfen, nicht so sehr ein möglicher Krieg zwischen<br />

den Religionen bevorstehen könnte als vielmehr ein Krieg um das tiefste Wesen<br />

des Menschen.<br />

Gibt es etwas, was diese beiden Konzeptionen, die des Menschen, den Gott<br />

„nach seinem Bild“ schuf, und des Menschen, „der das Maß aller Dinge ist“, verbindet,<br />

fragt Prof. Bronisław Geremek – und er antwortet: „Die erste Aussage<br />

bedeutet, an Gott und mit Gott zu denken, die zweite – ohne Gott, aber nicht<br />

gegen Gott zu denken. Die eine wie die andere findet ihren Ausdruck in dem<br />

Grundsatz von der Würde des Menschen 8 .“<br />

Eine Annährung der beiden gegensätzlichen Standpunkte auf der personalistischen<br />

Ebene ist aber nur dann möglich, wenn der Mensch anerkennt, dass das<br />

menschliche Leben der höchste, unveräußerliche Wert ist, der aus dem Menschsein<br />

selbst resultiert. Zweitens gilt es auch zu akzeptieren, dass die menschliche Freiheit<br />

nicht unbegrenzt ist, sondern dort endet, wo das Recht des anderen beginnt.<br />

Die jahrhundertelangen Erfahrungen der Generationen, aber auch die jüngste<br />

Zeit lehren uns, dass der Mensch, wenn er die Gebote der ersten Tafel des<br />

Dekalogs, die sein Verhältnis zu Gott bestimmen, ablehnt, sich Götzen in Gestalt<br />

von „Rassen“ oder „Klassen“ schafft, denen zu dienen er bereit ist. Der in der<br />

Präambel proklamierten moralischen „Verantwortung gegenüber den künftigen<br />

Generationen und der Erde“ muss die Verantwortung aller Menschen gegenüber<br />

dem eigenen Gewissen vorausgehen. Wichtigster Bezugspunkt für die Gläubigen<br />

muss hier jedoch Gott sein.<br />

All jene, denen die „menschliche Hoffnung“ genügt, sollten sich – gestützt<br />

auf das dauerhafte moralische Fundament, dessen Gesetze im unverfälschten<br />

Gewissen eines jeden Menschen eingeschrieben sind – in ihrem Handeln in erster<br />

Linie vom umfassend verstandenen Wohl des Menschen leiten lassen. Diese<br />

Gesetze sind weitgehend auf der zweiten Tafel der Zehn Gebote enthalten, die<br />

universelle Werte umfasst, die in vielen verschiedenen Religionen anerkannt<br />

sind. In der allgemeinen Überzeugung<br />

– ist das menschliche Leben das höchste Gut, das Töten – das Böse;<br />

– baut die Wahrheit auf, während die Lüge zerstört;<br />

– bildet die Achtung des Eigentums die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung,<br />

während der Diebstahl diese Ordnung zerstört und verurteilt werden muss;<br />

– ist die Ehe von Mann und Frau der sicherste Garant für den Fortbestand und<br />

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EUROPA IM JAHR 2020<br />

die Entwicklung jeder Gesellschaft, die Zerstörung der Ehe jedoch Quelle großen<br />

Unglücks.<br />

Das rechtschaffene menschliche Gewissen kann eine dauerhafte Grundlage,<br />

ein Ort der Begegnung und ein wirksamer Impuls dafür sein, sich für das Wohl<br />

des Menschen einzusetzen. Das gilt für Menschen mit einer tiefen religiösen<br />

Überzeugung ebenso wie für Nichtgläubige.<br />

Auf paradoxe Weise hat „das Vergessen Gottes“ zum Niedergang des Menschen<br />

geführt. Es wundert daher nicht, dass in diesem Kontext ein großer Freiraum für<br />

die Entwicklung des Nihilismus im philosophischen Bereich, des Relativismus<br />

im erkenntnistheoretischen und moralischen Bereich, des Pragmatismus und<br />

sogar des zynischen Hedonismus in der Gestaltung des Alltagslebens entstanden<br />

ist.“ (EinE 9).<br />

Auch wenn die christlichen Werte in der Präambel keine Erwähnung finden,<br />

bilden die Christen nach wie vor die Mehrheit unter den Europäern. Sie wollen<br />

gleichberechtigt mit den anderen das öffentliche Leben mitgestalten. In der<br />

Grundrechtecharta heißt es: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissensund<br />

Religionsfreiheit“, und das sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben<br />

(Kapitel II, Art. 10 (1)). Im Bewusstsein ihrer Verantwortung gerade für die<br />

Zukunft Europas wollen die Christen in Anerkennung der demokratischen<br />

Ordnung kraft ihres Zeugnisses gleichberechtigt mit den anderen das künftige<br />

Antlitz Europas mitgestalten.<br />

Rolle, Aufgaben und Platz der Christen im Europa der Zukunft sind in dem<br />

Apostolischen Schreiben Ecclesia in Europa, der großen Charta der Kirche in<br />

Europa, festgeschrieben. Es richtet sich in erster Linie an die Christen selbst und<br />

bezieht sich auf ihren geistigen Wandel, der sie in die Lage versetzen soll, durch<br />

die Gabe des evangelischen Geistes auszustrahlen und durch ihr Zeugnis die<br />

Inspirationen des Evangeliums in alle Bereiche des kulturellen, öffentlichen und<br />

politischen Lebens zu tragen. Es geht nicht darum, irgendjemandem die christlichen<br />

Werte aufzuzwingen, sondern es geht um die Gegenwart der Christen durch<br />

das Zeugnis ihres Lebens. Die Christen wollen nicht Bürger zweiter Klasse sein.<br />

Sie fühlen, dass sie in Europa nach wie vor gebraucht werden, nicht nur, um<br />

das christliche Erbe unter den veränderten Bedingungen zu bewahren, sondern<br />

vor allem, um die spezifischen christlichen Werte in Europa einzubringen, ohne<br />

die das gemeinsame Haus Europa nicht errichtet werden kann. Hierzu gehören:<br />

– die Achtung vor jedem Leben von der Geburt bis zum natürlichen Tod;<br />

– die Förderung des Gedankens der Versöhnung;<br />

– die Unterstützung des Freiheitsgedankens als Dienst im Namen der Liebe,<br />

die Apostel Paulus Europa eingepflanzt hat;<br />

– der Bestand der Familie als Fundament des gesellschaftlichen Lebens;<br />

– die christliche Hoffnung, die aus der Auferstehung erwächst.<br />

Die „menschliche Hoffnung“ als Fundament für die Zukunft währt allzu kurz,<br />

um darauf auf lange Sicht die Zukunft aufzubauen. Es ist die Hoffnung auf einen<br />

sicheren Arbeitsplatz, auf ein bequemeres Leben, auf Wohlstand und Sicherheit.<br />

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Es ist unschwer zu erkennen: „Der Verlust der Hoffnung hat seinen Grund in<br />

dem Versuch, eine Anthropologie ohne Gott und ohne Christus durchzusetzen.“<br />

(EinE 9). Ohne Hoffnung gibt es keine Zukunft. Ohne eine tiefgreifende und<br />

beständige Hoffnung fürchten wir uns mehr vor der Zukunft als dass wir sie uns<br />

wünschen. Die Kirche hat Europa das kostbarste Gut anzubieten, das ihm niemand<br />

anderer zu geben vermag: den Glauben an Jesus Christus, Quelle der Hoffnung,<br />

die nie enttäuscht. (EinE 18). Diese Hoffnung, die aus dem Glauben an die<br />

Auferstehung Christi erwächst, steht keineswegs im Widerspruch zu den zutiefst<br />

menschlichen Hoffnungen. Fehlt diese langfristige Perspektive, auf die sich die<br />

Europäer über Jahrhunderte gestützt haben, so wird Europa um vieles ärmer.<br />

Johannes Paul II. erinnert daran, dass Europa „auf soliden Grundlagen erbaut<br />

werden“ muss; dazu „ist es notwendig, sich auf die echten Werte zu stützen, die<br />

ihr Fundament in dem allgemeinen Sittengesetz haben, das in das Herz jedes<br />

Menschen eingeschrieben ist.“ (EinE 116). Dieses allgemeingültige Gesetz, das in<br />

jedes unverfälschte Gewissen eingeschrieben ist, bildet ein dauerhaftes Fundament,<br />

eine Stütze, einen Ort der Begegnung für all jene, denen die „menschliche<br />

Hoffnung“ genügt, wie auch für jene, die aus der Teilhabe am Sieg Christi, der<br />

auferstanden ist und – wie wir glauben – unter uns lebt, stärkere Hoffnung schöpfen<br />

(vgl. Kol 1,27). Für uns Christen bedeutet das eine vollständige Rückkehr zu<br />

Christus, der Quelle jeglicher Hoffnung, und es ist zugleich das stärkste Motiv, sich<br />

einzusetzen und an der Errichtung einer dauerhaften moralischen und sozialen<br />

Ordnung für die jetzige und für künftige Generationen mitzuwirken.<br />

Februar 2005<br />

1 Prof. P. HÜNERMANN, Die christlichen Wurzeln europäischer Identität, in: Europa.<br />

Zadanie chrześcijańskie, Warzawa, 1998, S. 88.<br />

2 Siehe Präambel der Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997.<br />

3 Johannes Paul II., Predigt in Gniezno, 3. Juni 1997.<br />

4 P. LIESE, Nauka i medycyna a chrześcijański obraz człowieka, in: Scenariusze przyszłości.<br />

Co chrześcijanie mają do zrobienia w Europie ?, Gliwice, 2004, S. 61.<br />

5 Prof. F. FUKUYAMA, Koniec człowieka. Konsekwencje rewolucji biotechnologicznej,<br />

Kraków, 2004, 17-18.<br />

6 H.-G. PÖTTERING, Von der <strong>Vision</strong> zur Wirklichkeit, Bonn, 2004, S. 115.<br />

7 A. SZUDRA, Koniec człowieka. Konsekwencje rewolucji biotechnologicznej, Więź<br />

10(2004)134.<br />

8 B. GEREMEK, Czy demokracja może być totalitarna ?, in: Scenariusze przyszłości, Gliwice,<br />

2004, S. 50.<br />

´<br />

HENRYK MUSZYNSKI<br />

174


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Hartmut NASSAUER<br />

Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe<br />

im Europäischen Parlament<br />

Markus FERBER<br />

Co-Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe<br />

im Europäischen Parlament<br />

Europa als Wertegemeinschaft<br />

Was ist Europa? Diese vermeintlich einfache Frage ist auch mehr als 50 Jahre<br />

nach Gründung der ersten europäischen Institutionen nicht beantwortet. Wahr<br />

ist: Europa hat verschiedene Dimensionen.<br />

Europa ist nicht gleich Europäische Union, auch wenn beides oftmals gleichgesetzt<br />

wird. Europa ist zunächst geografische Einheit, dann gemeinsamer<br />

Kulturkreis verschiedener Nationen, die durch ihre Geschichte, ihr religiöses<br />

Erbe und ihre Kultur miteinander verbunden sind.<br />

Die Europäische Union dagegen ist ein politisches Projekt, hervorgegangen<br />

aus den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Die EU verköpert die Einsicht, daß<br />

dauerhafter Friede und Wohlstand nur durch den Zusammenschluss der europäischen<br />

Nationalstaaten zu einer handlungsfähigen Gemeinschaft möglich ist.<br />

Deswegen ist die EU eine historische Notwendigkeit.<br />

CDU und CSU als die beiden großen deutschen Europaparteien, die mitgeholfen<br />

haben, die europäische Integration voranzutreiben, treten für eine gemeinsame<br />

europäische Zukunft ein. Wir sehen Europa als eine Einheit von Menschen,<br />

die gemeinsam eine friedliche Zukunft gestalten wollen. Dies aber ist nur möglich<br />

auf der Basis gemeinsamer Werte. Wenn die Europäische Union dauerhaften<br />

Frieden und Wohlstand in Europa sichern soll, dann kann sie dies nur, wenn<br />

sie die Werte Europas annimmt und aufrechterhält.<br />

175


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HARTMUT NASSAUER – MARKUS FERBER<br />

Mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft<br />

Die Geschichte der europäischen Integration ist die Geschichte des Ausgleichs<br />

und der Versöhnung nach dem Blutvergießen des Zweiten Weltkriegs. Erstmals<br />

arbeiteten die Nationen Europas mit friedlichen Mitteln an einer gemeinsamen<br />

Zukunft. Dieser Entwicklung liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Frieden die<br />

Voraussetzung ist für mehr Wohlstand.<br />

Durch die Zusammenarbeit und zunehmende Verschmelzung der bisher<br />

getrennten, gar konkurrierenden Volkswirtschaften Europas, haben es die Staaten<br />

der Europäischen Union vermocht, ein einzigartiges Wirtschaftswachstum zu<br />

erzeugen. Die EU ist neben den USA und Japan einer der drei großen<br />

Wirtschaftsblöcke der Welt und verantwortlich für einen bedeutenden Anteil am<br />

Welthandel.<br />

Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union umfasst aber nicht nur das<br />

Streben nach materiellem Wohlstand. Was mit der Europäischen Gemeinschaft<br />

für Kohle und Stahl begann, und mit der Einführung des Euros und der Debatte<br />

um den europäischen Verfassungsvertrag einen vorläufigen Höhepunkt gefunden<br />

hat, ist die Geschichte eines politisch-sozialen Erfolgsmodells. Dies ist vielleicht<br />

die wichtigste Errungenschaft der Europäischen Union, die auch fast 60 Jahre<br />

nach Kriegsende nichts von ihrer Bedeutung verloren hat.<br />

Seit ihren wirtschaftspolitischen Anfängen hat sich die Europäische Union<br />

weiterentwickelt. Sie ist heute weit mehr als lediglich ein reiner Wirtschaftsblock.<br />

Die heutige EU ist eine Wertegemeinschaft, die deshalb funktioniert, weil sich die<br />

Menschen in Europa dieser gemeinsamen Werte bewusst sind. Kurz gesagt: die<br />

EU repräsentiert mittlerweile selbst Werte, die Werte Europas, und ist damit mehr<br />

als lediglich die Summe ihrer Mitgliedstaaten.<br />

Die Werte und Wertvorstellungen, die durch die Europäische Union verkörpert<br />

werden, bieten ein Maximum an persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten für<br />

alle Menschen. Das sind zum einen die Grundwerte, die Europa ausmachen:<br />

Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Im politischen Alltag zeigen sie<br />

sich im Einsatz für Toleranz und Rechtstaatlichkeit, sowie der Achtung der<br />

Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten. Die Verkörperung dieser<br />

Werte ist eine der wichtigen Errungenschaften der europäischen Integration.<br />

Geboren sind diese Werte aus dem christlichen Erbe unseres Kontinents. Ihre<br />

Kraft erhalten sie aus der gemeinsamen Geschichte, und dem Selbstverständnis,<br />

einem gemeinsamen Kulturkreis anzugehören. CDU und CSU haben immer auf<br />

die Notwendigkeit solcher Werte für ein gemeinsames Verständnis und eine<br />

gemeinsame Politik verwiesen.<br />

Deshalb haben wir bei den Verhandlungen um den europäischen<br />

Verfassungsvertrag auch die Aufnahme eines Gottesbezuges gefordert. Wir sind<br />

der Meinung, daß nur ein solcher Verweis den europäischen Werten und ihrer<br />

Verkörperung in der Europäischen Union gebührend Rechnung trägt. Das christ-<br />

176


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liche Wertefundament stellt die Basis für unser Verständnis von Freiheit, Gleichheit,<br />

Gerechtigkeit und Solidarität dar.<br />

Die EU als Spiegelbild europäischer Werte<br />

Diese europäischen Werte spiegeln sich im Selbstverständnis der Europäischen<br />

Union wieder. Dies bedeutet auch, daß Politik in der Europäischen Union transparent<br />

und klar gestaltet werden muss. Der Verfassungsvertrag stellt hier einen<br />

wichtigen Schritt dar, indem er die Transparenz und die Effizienz der Europäischen<br />

Union weiter vorantreibt. In einem Satz: die rasche Ratifikation des<br />

Verfassungsvertrages festigt auch das Wertefundament, auf dem die EU gegründet<br />

ist und das ihre Identität ausmacht.<br />

Wichtig ist, daß der Verfassungsvertrag dem Europäischen Parlament zusätzliche<br />

Kompetenzen überträgt. Das bedeutet eine weitere Demokratisierung der<br />

Europäischen Union, und damit eine gesteigerte Teilnahme der Bürger an der<br />

europäischen Gesetzgebung. Bedeutsam ist dabei insbesondere die Ausweitung<br />

des Verfahrens der Mitbestimmung bei der europäischen Gesetzgebung. Bis auf<br />

wenige Ausnahmen werden auch Gesetzgebungsinitiativen in den Bereichen<br />

der Agrar-, Struktur-, Innen- und Justizpolitik dem Votum des Parlaments unterliegen.<br />

Wichtig ist zudem, daß der Europäische Rat künftig bei der Berufung des<br />

Kommissionspräsidenten die Ergebnisse der Europawahl berücksichtigt. Der<br />

Präsident der Kommission muss zudem durch das Parlament bestätigt werden.<br />

Grundsätzlich gibt der Verfassungsvertrag eine Antwort auf die Frage, wie<br />

die EU den Herausforderungen der nächsten Jahre begegnen kann. Zum einen<br />

fasst er zum ersten Mal alle bisherigen Verträge in einem Dokument zusammen.<br />

Zum anderen trägt er zu einer Klärung der Kompetenzverteilung zwischen<br />

Mitgliedstaaten und Gemeinschaft bei. Erstmals werden dazu die Zuständigkeiten<br />

der EU in einem eigenen Kapitel aufgeführt. So wird künftig zwischen ausschließlichen<br />

und geteilten Zuständigkeiten sowie ergänzenden Maßnahmen<br />

unterschieden.<br />

Werte verlangen Handlungsfähigkeit<br />

EUROPA ALS WERTEGEMEINSCHAFT<br />

Um ihre Ziele zu erreichen, müssen sich die Wertvorstellungen der EU aber<br />

auch in ihrer Politik widerspiegeln. Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt<br />

unter lange konkurrierenden Nationen, die sich Grundwerten verpflichtet fühlen<br />

und verpflichtet fühlen müssen. So dient die EU als geglücktes Experiment<br />

für das friedliche Miteinander von Nationen. Wir sind stolz darauf, an diesem<br />

Projekt mitwirken zu dürfen, das Toleranz, Rechtstaatlichkeit, die Achtung der<br />

Menschenrechte, und die friedliche Kooperation von Staaten zu stärken versucht.<br />

177


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Aufgrund unserer eigenen Geschichte, der Erfahrungen, die wir in Europa mit<br />

Kriegen und Unruhen gemacht haben, ist die Europäische Union einer Politik des<br />

Friedens und des Ausgleichs verpflichtet. Deswegen entwickelt die EU eine<br />

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, und übernimmt friedensschaffende<br />

Einsätze in der Welt. Ziel ist es, dabei zu helfen, Konflikte einvernehmlich und<br />

im Vertrauen zu lösen und so zu einer friedlicheren Welt für alle Menschen beizutragen.<br />

Auch bei der Vorbeugung von Konflikten kommt der EU aufgrund ihrer eigenen<br />

Prinzipien eine wichtige Rolle zu. Die EU verfolgt eine langfristig angelegte<br />

Politik des Ausgleichs und der Vermittlung. Im internationalen System stellt sie<br />

einen wichtigen Ruhepol dar, der konträre Interessen fair balancieren kann.<br />

In diesem Konzept ist die Europäische Nachbarschaftspolitik ein wichtiger<br />

Baustein. Durch das Modell einer besonderen Beziehung zu Staaten Osteuropas,<br />

des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens fördert die Europäische Union die<br />

Entwicklung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Prinzipien, sowie die<br />

Achtung der Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten. Das Besondere<br />

daran ist der langfristige Ansatz der europäischen Außenpolitik.<br />

Dieser Ansatz kommt auch nach Naturkatastrophen zum Tragen, zum Beispiel<br />

der Flutkatastrophe in Südostasien im Dezember 2004. Es ist ein großes Anliegen<br />

der Europäischen Union, daß die Hilfe für die von der Flut betroffenen Länder<br />

sich nicht nur auf die direkte Nothilfe bezieht, sondern langfristige Hilfe beim<br />

Wiederaufbau der Infrastruktur bietet.<br />

Eine solche Politik ist nur möglich, wenn die Europäische Union ihre<br />

Handlungsfähigkeit bewahrt. Nur wenn die EU die Möglichkeit hat, die selbstgesteckten<br />

Ziele zu erreichen, kann sie den großen Herausforderungen der<br />

nächsten Jahre begegnen. Dies führt zu einer Erkenntnis, die nur scheinbar ein<br />

Paradox darstellt: Wenn die Europäische Union eine gestalterische Rolle in der<br />

Welt einnehmen will, um Toleranz, Rechtstaatlichkeit und die Achtung der<br />

Menschenrechte voranzutreiben, und beim Kampf gegen Armut und Kriegen<br />

mitzuhelfen, muss sie selbst Grenzen besitzen.<br />

Dies ist keineswegs eine Selbstbeschränkung. Im Gegenteil, bei einer Überdehnung<br />

der EU droht die Rückentwicklung zur Wirtschaftsgemeinschaft mit<br />

lediglich einigen wenigen Elementen der politischen Kooperation. Zu viele unterschiedliche<br />

Interessen bedeuten letztlich Stillstand, da es bei einer Zunahme der<br />

immer unterschiedlicher werdenden Interessen immer schwieriger wird, eine<br />

politische Einigung über politische Ziele herbeizuführen. Dies gilt für das<br />

Parlament ebenso wie für die Arbeit des Ministerrates.<br />

Europa bracht klare Ziele<br />

HARTMUT NASSAUER – MARKUS FERBER<br />

Die momentan wichtigste Frage für die Zukunft der Gemeinschaft, das<br />

Beitrittsbegehren der Türkei, wird dabei oftmals unter einem fehlgeleiteten<br />

178


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 179<br />

EUROPA ALS WERTEGEMEINSCHAFT<br />

Blickwinkel betrachtet. Die wichtigste Frage ist nicht, ob die Europäische Union<br />

zur Türkei passt. Die wichtigste Frage ist nicht einmal, ob die Türkei ein europäisches<br />

Land ist. Die wichtigste Frage ist, welchen Einfluss ein möglicher Beitritt<br />

der Türkei auf den Inhalt und die Ziele der Europäischen Politik haben könnte.<br />

Wir glauben, daß ein möglicher Beitritt der Türkei die Europäische Union<br />

überfordern würde. Eine derart ausgeweitete Union wäre zu sehr mit sich selbst<br />

beschäftigt, und könnte sich der selbstgesteckten Zielen nicht mehr annehmen.<br />

Die Konsequenz wäre die Abkehr von den politischen Zielen der Gemeinschaft,<br />

und eine Selbstbeschränkung auf die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen<br />

Integration.<br />

Eine Fokussierung lediglich auf wirtschaftliche Aspekte, eine Europäische<br />

Union als „Binnenmarkt de luxe“, kann aber weder im Interesse der Europäer<br />

selbst, noch im Interesse unserer Partner in der Welt sein. Denn nur eine handlungsfähige<br />

Union, die sich den Prinzipien ihrer eigenen Entwicklung bewusst<br />

ist, kann verlässlicher Partner sein, und zu mehr Frieden und Stabilität in der<br />

Welt beitragen.<br />

Die Handlungsfähigkeit der Union muss deshalb wichtiges Kriterium für<br />

Beitrittsverhandlungen sein. Eine überdehnte EU nutzt weder Europa noch unseren<br />

Freunden in der Welt. Wenn die Handlungsfähigkeit der Union eingeschränkt<br />

ist, zum Beispiel durch den Mangel an gemeinsamen Interessen oder langwierige<br />

Entscheidungswege, kann die Gemeinschaft ihre Aufgaben nicht erfüllen.<br />

Der Mitbegründer der europäischen Idee und erste Kanzler der Bundesrepublik<br />

Deutschland, Konrad Adenauer, hat den europäischen Integrationsgedanken<br />

einst so beschrieben: „Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine<br />

Hoffnung für viele. Heute ist sie eine Notwendigkeit für alle.“ Dieses Zitat hat<br />

nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil: eine aktive und handlungsfähige<br />

Union ist jetzt notwendiger denn je.<br />

Zu Adenauers Zeiten sah der europäische Einigungsprozess anders aus als<br />

heute. Auch die Rahmenbedingungen haben sich grundlegend verändert. Die<br />

Erkenntnis aber ist geblieben: Wir brauchen die europäische Einigung. Wir blicken<br />

großen Herausforderungen entgegen, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht,<br />

sondern gerade auch in politischer.<br />

Dazu müssen wir der EU Ziele und Inhalt geben und dafür sorgen, daß sie<br />

diese auch erfüllen kann. Die Europäische Union bedeutet eine große Chance<br />

für Europa, nach wie vor und gerade jetzt. Es ist eine Chance, die wir nutzen müssen,<br />

und daran wollen wir arbeiten. Die Besinnung auf die europäischen Werte<br />

verleihen der Europäischen Union die Kraft und die gemeinsame Identität, die<br />

nötig ist, um die Herausforderungen der Zukunft zu schultern. Nur so kann sie<br />

dem eigenen Anspruch und den an sie gestellten Aufgaben gerecht werden.<br />

179<br />

April 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 180<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 181<br />

Ana PALACIO<br />

Abgeordnete des spanischen Parlaments<br />

Unsere Sicherheit<br />

Die größte Herausforderung, vor der wir im 21. Jahrhundert stehen, besteht<br />

zweifellos darin, den Terrorismus durch Demokratie zu bekämpfen und damit<br />

unsere Sicherheit zu gewährleisten.<br />

Unsere Sicherheit: Was verbinden wir mit dem Sicherheitskonzept? Werfen<br />

wir zunächst einen Blick zurück in die Geschichte. Für einen Großteil des 20.<br />

Jahrhunderts – während der gesamten Periode des Kalten Krieges – war die<br />

westliche Sicherheit in einem einzigen Bild zusammengefasst. Wir, die wir im<br />

Westen lebten, stellten uns bei dem Begriff Sicherheit eine Karte von Europa<br />

vor, das von Nord nach Süd durch eine gepunktete Linie geteilt war. Auf der<br />

einen Seite befanden sich die Symbole, die die Streitkräfte des Warschauer Pakts<br />

repräsentierten – Flugzeuge, Panzer, Waffen, Schiffe und U-Boote, alle in Rot – und<br />

auf der anderen Seite, in Blau, standen die Streitkräfte der NATO, die für uns – vor<br />

allem dank des Einsatzes der Vereinigten Staaten – die Überlegenheit unserer<br />

Seite über den Kommunismus verkörperten. Heute sind es die an einem Morgen<br />

in New York einstürzenden Zwillingstürme, durch Explosionen zerstörte Züge im<br />

Bahnhof von Atocha, das neueste Szenario von Trümmerhaufen und verstümmelten<br />

Leichen irgendwo in der Welt: Istanbul, Jerusalem, Beslan, Bali, Bagdad, die<br />

das dramatische Bild liefern, mit dem wir die Bedrohung unserer Sicherheit verbinden.<br />

Was vermitteln uns diese beiden Bilder? Zunächst, dass die internationale<br />

Dimension eingebettet ist in die „Andersartigkeit“ der Bedrohung: Sicherheit war<br />

untrennbar verbunden mit Verteidigung und beruhte auf klaren Vorstellungen<br />

und akzeptierten Gewissheiten. Man war auf einen Feind eingestellt, der (1) von<br />

extern kam, (2) uns nicht unähnlich, (3) vollkommen als solcher erkannt und<br />

bekannt, und der (4) trotz der Androhung gegenseitiger Zerstörung gewisse<br />

Grundregeln einhielt. (5) Schließlich – und das ist vielleicht am wichtigsten –<br />

vermittelte dieses Bild die Einheit und die ähnliche Denkweise innerhalb der<br />

euro-atlantischen Gemeinschaft. Wir standen zusammen im Krieg gegen unseren<br />

181


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 182<br />

ANA PALACIO<br />

gemeinsamen Feind, den Kommunismus, der allgemein als Bedrohung für<br />

unsere Existenz galt.<br />

Beim zweiten Bild sind die intellektuellen Gewissheiten und konzeptionellen<br />

Ankerplätze, die uns ein Gefühl der Überlegenheit und relativen Kontrolle erlaubten,<br />

verschwunden. Wenn wir dieses Bild ansehen, überwältigt uns ein Gefühl<br />

der Desorientierung, der Verwundbarkeit und des Missklangs in unserem einst festen<br />

Atlantikbündnis, vor allem weil die Vorstellung von der „Andersartigkeit“ verschwunden<br />

ist. Jeder kann überall zum Opfer werden.<br />

Heutzutage spielt es keine Rolle, ob man Sicherheit nach nationalen und<br />

internationalen Gesichtspunkten unterscheidet, nationale Grenzen als Barrieren<br />

und Verteidigungslinien ansieht. Die sich aus Sicherheit und Verteidigung auf<br />

dem „Möbius-Streifen“ ergebende logische Konsequenz besagt, dass sich die bisherigen<br />

typischen Funktionen und der Aufbau der Armeen wandeln, Informationen<br />

eine zentrale Rolle zukommt – neben der Notwendigkeit, die Grundlagen der<br />

Nachrichtenbeschaffung und – auswertung neu zu formulieren, – und<br />

Zusammenarbeit unabdingbar wird. Manche vertreten die Ansicht, dass abgesehen<br />

von dem verankerten Bild in der Vergangenheit, die NATO von heute ein gutes<br />

Beispiel für eine militärische Truppe ist, die die Herausforderungen durch unsere<br />

neue Realität verstanden hat. Dies zeigt sich am Beispiel des neuen militärischen<br />

Konzepts der Verteidigung gegen den Terrorismus, der Schaffung einer<br />

Einsatztruppe und der Entwicklung von Strukturen, um auf chemische, radiologische<br />

und nukleare Angriffe reagieren zu können, sowie im Verzicht auf das<br />

„Out of area“ - Konzept. Die NATO hat sich des Weiteren von ihren traditionell<br />

militärischen Funktionen und Strukturen hin zu einem Bündnis aus<br />

Funktionsbereichen und Strukturen für Ordnungspolitik, Interimsverwaltung und<br />

Zivilschutz entwickelt.<br />

Die Bedrohung durch den Kommunismus war zweifellos schrecklich, aber<br />

zumindest wussten wir, wer unser Feind war. Wir wussten, was er dachte, wie<br />

er agierte, was ihn motivierte. Die Bezugspunkte von damals gibt es heute nicht<br />

mehr. Es gibt kein charakteristisches Erscheinungsbild des Terrorismus. Auch<br />

kennen wir seine Ideologie nicht, seine Identität, seine Motive oder „Anlässe“, die<br />

er als Rechtfertigung für seine verbrecherischen Angriffe verkündet, oder die<br />

Psyche derjenigen, die sich dieser mannigfaltigen Bedrohung verschreiben.<br />

Eine mannigfaltige Bedrohung. Die Übereinstimmung der gegensätzlichen<br />

Seiten gibt es nicht mehr, wie auch die relative Gelassenheit durch die Vorstellung,<br />

dass unsere NATO-Streitkräfte zwar ein Gegenüber hatten, aber effektiver waren<br />

als die sowjetische Gegenseite. Die Terroristen, die uns heute bedrohen, haben<br />

keine Heimat im Sinne eines Vaterlandes; ihre Loyalität kann nicht bis zu einem<br />

Staat oder einer quasistaatlichen Einrichtung zurückverfolgt werden – trotz der<br />

logistischen oder politischen Unterstützung durch gewisse Regimes und der<br />

Symbiose mit Schurkenstaaten oder gescheiterten Nationen. Heute sind wir nicht<br />

in der Lage, unseren Feind geografisch oder institutionell auszumachen. Alles, was<br />

wir wissen, ist, dass uns eine dezentrale Organisation gegenübersteht, die an die<br />

182


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 183<br />

UNSERE SICHERHEIT<br />

heutige vernetzte Welt perfekt angepasst ist und augenscheinlich zusammenhanglose,<br />

sich selbst motivierende und finanziell unabhängige Gruppen umfasst,<br />

obwohl wir vermuten, dass ihre Strategien stark zusammenhängen und untereinander<br />

abgestimmt sind. Im Umgang mit ihnen sind wir – unsere Polizei,<br />

Zollbeamten, Richter und selbst unsere Armeen – benachteiligt durch ein<br />

Organisationssystem, das noch einer analogen Welt verhaftet ist. Jeder Chef<br />

eines westlichen Nachrichtendienstes oder einer Justizvollzugsbehörde wird<br />

ohne weiteres voller Sorge eingestehen, dass Terroristennetze Menschen, Geld<br />

und Waffen viel leichter rund um die Welt bewegen können als er Haushaltsmittel<br />

umwidmen könne.<br />

Viertens war während des Kalten Krieges die Unsicherheit durch die schreckliche<br />

Gefahr einer atomaren Zerstörung dennoch Teil der akzeptierten<br />

Spielregeln. Regeln, die in der staatlichen Struktur der Völker wurzelten, die<br />

einander gegenüberstanden. Wenn es eine Sache gibt, die den Terrorismus<br />

heute charakterisiert, dann die, dass seine einzige Regel darin besteht, alle<br />

Regeln außer Acht zu lassen.<br />

Nicht zuletzt unterscheiden sich unsere zwei Bilder auch im Bereich der<br />

Auffassungen. Obwohl es paradox scheinen mag, glauben die Menschen auf<br />

beiden Seiten des Atlantiks, dass die strategische Partnerschaft zwischen Amerika<br />

und Europa zerbrochen ist, vielleicht unwiederbringlich. Diese Meinung wird<br />

auch von denen vertreten, die diesseits des Atlantiks für ein Europa eintreten, das<br />

sich als Gegenkraft oder Gegengewicht zur Übermacht der USA versteht. Sie<br />

wird auch von denjenigen auf der amerikanischen Seite des Atlantiks geteilt, die<br />

glauben, dass für die Vereinigten Staaten die Zeit gekommen sei, sich vom<br />

Eurozentrismus zu befreien, der ihre Außenpolitik im 20. Jahrhundert die meiste<br />

Zeit bestimmte, und ein für alle Mal offen anzuerkennen, dass ihre nationale<br />

Sicherheitsstrategie auf aktiver Hegemonie (vor allem militärischer) beruht. Beide<br />

Seiten zeigen den Konflikt zwischen zwei verschiedenen Auffassungen von den<br />

neuen Bedrohungen und der Art und Weise, wie ihnen zu begegnen sei. Das<br />

wiederum heißt, dass diese zwei Auffassungen bis zu einem gewissen Grade<br />

aus verschiedenen geschichtlichen Zeiten stammen und natürlich zwei verschiedene<br />

Vorstellungen von internationalen Beziehungen zur Folge haben. Das<br />

Ereignis, das unsere europäische Realität geformt hat, ist nach wie vor der Fall<br />

der Berliner Mauer und der anschließende Zusammenbruch der Sowjetunion<br />

und des europäischen Kommunismus, wodurch wir Europa als Kontinent zurückerhalten<br />

haben. Das ist eine Perspektive, bei der manche das Gefühl haben, es<br />

reiche aus, sich allein auf Verhandlung und Diplomatie als Instrumente der internationalen<br />

Politik zu verlassen und dabei auch die Doktrin des „Realismus“ des<br />

Kräftegleichgewichts zu unterstützen. Die Vereinigten Staaten leben jedoch in<br />

der Epoche nach dem 11. September. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte fühlen<br />

sie sich im eigenen Land verwundbar und einer globalen Bedrohung ausgesetzt,<br />

die unter allen Umständen auf die totale Zerstörung des eigentlichen Kerns ihrer<br />

Gesellschaft und des Westens allgemein zielt. Während sich die Amerikaner im<br />

183


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 184<br />

ANA PALACIO<br />

Krieg gegen den Terrorismus befinden, wird Terrorismus in Europa großenteils<br />

als eine Geißel gesehen, gegen die anzugehen ist. Terrorismus ist für sie vor<br />

allem eine Frage der Sicherheit; für viele von uns stehen humanitäre Überlegungen<br />

an erster Stelle, wie das der Umstand zeigt, dass Artikel I-43 der neuen<br />

Europäischen Verfassung die Solidarität, die für den Fall terroristischer Angriffe<br />

oder Bedrohungen eingefordert wird, mit der bei Natur- oder vom Menschen<br />

verursachten Katastrophen auf eine Ebene stellt. Der Gegensatz in den<br />

Auffassungen zeigt sich auch, wenn es um Verantwortung für die Wahrung und<br />

die Förderung der Werte der Freiheit und Demokratie geht, die jeder Strategie zur<br />

Bekämpfung des Terrorismus zugrunde liegen, wie das die Debatte um die<br />

Nahost- und Nordafrika-Initiative der Vereinigten Staaten sowie die unterschiedlichen<br />

Einstellungen in Bezug auf eine „humanitäre Diplomatie“ verdeutlichen,<br />

die letzten Endes in einer Auseinandersetzung zwischen einer Auffassung von der<br />

Welt als harmonisch funktionierender Einheit, bis es zu einer Krise oder<br />

Katastrophe kommt, und der Vorstellung gipfelt, dass die weltliche Realität etwas<br />

Veränderbares ist und ihre Umgestaltung eine Pflicht.<br />

Die vorstehenden Überlegungen unterstreichen die Bedeutung des Aufbaus<br />

einer kohärenten und weitreichenden transatlantischen Zusammenarbeit. Obwohl<br />

Terrorismus ein weltweites Phänomen ist und – da er uns alle betrifft – wir alle<br />

ihn bekämpfen sollten, kann die zentrale Bedeutung der euro-atlantischen<br />

Gemeinschaft nicht ignoriert werden. Die Frage ist deshalb, wie wir unsere<br />

Zusammenarbeit im Interesse einer sichereren und freieren Welt entwickeln können.<br />

Um Erfolg zu haben, müssen wir unsere gemeinsame Strategie auf verschiedenen<br />

Ebenen verfolgen – im Inland, bilateral (sowohl zwischen der EU und<br />

ihren Mitgliedern als auch zwischen der EU und den Vereinigten Staaten), multilateral<br />

und international. Unsere Strategie sollte sich deshalb auf drei<br />

Hauptbereiche konzentrieren: praktische Initiativen entwickeln, unsere Reaktionen<br />

gemeinsam planen und zusammen die Meinungsschlacht gewinnen.<br />

184<br />

Juni 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 185<br />

Alojz PETERLE<br />

Leiter der slowenischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

<strong>Vision</strong> für ein Europa 2020<br />

In den letzten beiden Jahrzehnten kam es in Europa zu epochalen und tektonischen<br />

Veränderungen in Politik, Gesellschaft und in anderen Bereichen.<br />

Europa ist demokratischer geworden, seine Erweiterung und seine Einigung<br />

schreiten voran. Trotz dieser Erfolge stellen aber immer mehr kritische Stimmen<br />

die Frage, wie Europa langfristig bestehen kann. Diese Frage ist bei genauer<br />

Analyse gewisser demographischer, sozialer, wirtschaftlicher und gesundheitsbezogener<br />

Entwicklungen zweifelsohne berechtigt.<br />

Ich kann eine <strong>Vision</strong> Europas für die erste Hälfte des dritten Jahrtausends<br />

verantwortungsvoll nur vor dem Hintergrund der Grundsätze entwerfen, die<br />

bereits von den Gründervätern des modernen, freiheitlichen und demokratischen<br />

Europas aufgestellt wurden. Wenn wir eine nachhaltige Entwicklung wollen,<br />

müssen wir sie auf nachhaltige Grundlagen stellen. Ausschlaggebend bleibt in dieser<br />

Hinsicht für mich der Ansatz, mit dem die Europäische Gemeinschaft das<br />

Problem der Vielfalt lösen konnte. Der Nationalismus und der Totalitarismus<br />

haben die Frage der Vielfalt mit der Liquidierung, Marginalisierung oder<br />

Ausschaltung Andersdenkender beantwortet. Die neue europäische Antwort auf<br />

diese Frage beruht auf einer grundlegend anderen Sicht des Menschen und der<br />

Gesellschaft. Den Anderen wirklich zu achten und bereit zu sein, mit ihm in<br />

Dialog zu treten und mit ihm zusammenzuarbeiten, ist nur bei konsequenter<br />

Achtung der Würde des Menschen möglich. Das Prinzip der Einheit in Vielfalt lässt<br />

sich nur verwirklichen, wenn wir den Wert eines jeden Menschen anerkennen.<br />

Damit lernen wir auch, ganze Nationen und die mit ihnen lebenden Minderheiten<br />

zu achten.<br />

Ich bin sehr darüber erfreut, dass in diesem Sinne die Würde des Menschen<br />

als zentraler geistiger und kultureller Grundsatz in den neuen Vertrag über eine<br />

Verfassung für Europa aufgenommen wurde, denn nach Artikel 1 der Charta der<br />

Grundrechte ist die Würde des Menschen unantastbar. Meiner Ansicht nach ist es<br />

dieser Grundsatz, der die Europäische Union weiterhin für Beitrittskandidaten<br />

185


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 186<br />

ALOJZ PETERLE<br />

attraktiv macht und gleichzeitig den Ausbau ihrer tragenden Rolle in einer globalisierten<br />

Welt ermöglicht.<br />

In den kommenden Jahren werden die Rahmenbedingungen für die Achtung<br />

der menschlichen Würde anders sein als in den Anfangsjahren der Europäischen<br />

Gemeinschaft und zu Beginn der Verhandlungen über die historische Erweiterung<br />

der Union. Europa sieht sich heute mit dem Problem eines weitaus größeren<br />

Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung und damit einer schwächeren<br />

Bejahung des Lebens konfrontiert. Falsche Antworten auf neue<br />

Herausforderungen könnten zu Spannungen zwischen den Generationen führen,<br />

die nicht unbedingt mit der Achtung der Menschenwürde zusammenhängen.<br />

Ich stelle mir die Europäische Union im Jahr 2020 weniger als einen weiten<br />

und großen Zuwanderungsraum vor, sondern eher als Raum, in dem das Leben<br />

wieder stärker bejaht wird. Die damit verbundenen notwendigen Veränderungen<br />

sind in meinen Augen alles andere als romantisch. Sie werden sicherlich einen<br />

Wandel der Werte erfordern, der unsere Haltung zum Leben von der Zeugung bis<br />

zum Tode in den Mittelpunkt unseres Denkens, Redens und Handelns stellen<br />

wird. Das heute so im Mittelpunkt stehende kurzsichtige Profitstreben erweist<br />

sich als unzureichend und schädlich, weil es zu kurz greift. Wir werden dafür sorgen<br />

müssen, dass Entwicklung auch Wachstum bedeutet.<br />

Es geht aber nicht nur um quantitative Aspekte der Demographie, also um<br />

mehr Kinder. Es geht auch um Qualität. Es geht um ein gesundes Europa.<br />

Allerdings werden wir keine Fortschritte erzielen, wenn wir unsere Wünsche<br />

nach nachhaltiger Entwicklung nicht mit einer ganzheitlichen und ehrlichen Sicht<br />

der Wirklichkeit verbinden, die uns insbesondere auf dem Gebiet der Umwelt und<br />

somit auch auf dem der Gesundheit die Folgen falscher Entwicklungsprämissen<br />

und falscher Politik aufzeigt. Nach meiner Vorstellung beruht ein gesundes Europa<br />

nicht auf dem Ringen um Vorrang zwischen wirtschaftlichen, sozialen und umweltbezogenen<br />

Aspekten, sondern auf der Einsicht, dass sie sich gegenseitig bedingen<br />

und ergänzen. Wenn wir dies verstehen und angemessen handeln, wenn<br />

wir in der Lage sind, uns über die wichtigsten Veränderungen zu einigen, werden<br />

wir zwar kein starkes Wachstum der Entwicklungsindikatoren erreichen,<br />

aber ein Wachstum in die richtige Richtung. Wenn wir ein anderes und besseres<br />

Europa wollen, werden wir dafür einiges investieren und möglicherweise auch<br />

einiges opfern müssen.<br />

186<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 187<br />

Zuzana ROITHOVÁ<br />

Stellvertretende Leiterin der tschechischen Delegation der EVP-ED-<br />

Fraktion im Europäischen Parlament<br />

Gemeinsames Erbe, Gemeinsame Aufgaben,<br />

Gemeinsamer Wille<br />

Die großen Probleme, vor denen das heutige Europa steht, können die Europäer<br />

nicht allein auf der Ebene der Mitgliedstaaten lösen, sondern nur gemeinsam, unter<br />

Nutzung aller Quellen des intellektuellen und materiellen Reichtums, über die<br />

Europa verfügt. Es steht außer Zweifel, dass das erweiterte Europa die große Chance<br />

hat, die neuen Aufgaben zu meistern, zum einen dank der bereits funktionierenden<br />

europäischen Institutionen, zum anderen aber vor allem dank des eigenständigen<br />

Denkens, das über die Jahrhunderte hinweg durch unsere Geschichte geprägt<br />

wurde. Dies ist eine Chance, die die Europäer nicht verpassen dürfen, weil die<br />

europäischen Probleme an der Schwelle des dritten Jahrtausends über die Grenzen<br />

Europas hinausreichen und von globalem Charakter sind. Um sie zu lösen, bedarf<br />

es der Entschlossenheit, den gemeinsamen Weg in Etappen, die aus Übereinkommen<br />

und aus für alle Beteiligten akzeptablen Kompromissen bestehen, fortzusetzen.<br />

Dazu darf man die Stärkung des gemeinsamen Willens nicht scheuen, einen<br />

Weg zu beschreiten, auf dem nicht die einzelnen Völker, sondern die Bürger<br />

Europas, die die gemeinsamen Werte teilen, die Sieger sind. Die Verantwortung<br />

der Politiker besteht darin, dieses Bewusstsein in den Köpfen der Menschen zu<br />

festigen, weil es in ihrem Interesse ist, dass Europa zu einem starken Spieler auf dem<br />

globalen Spielfeld wird und seinen Einfluss auf die Lösung der globalen<br />

Herausforderungen verstärkt. Es gibt nicht wenige Gründe für eine solche europäische<br />

Ambition:<br />

Erste Herausforderung – Kampf gegen Terrorismus und Gewalt<br />

An der Wiege des gemeinsamen Europa standen Christen, die glaubten, dass man<br />

Europa mit diesem Projekt vor weiteren Kriegen bewahren könne. Das ist gelungen.<br />

Sie haben bewiesen, dass es möglich ist, die kriegerische Lösung von nationalen,<br />

ethnischen und ökonomischen Konflikten durch das Aushandeln von<br />

Kompromissen am runden Tisch zu ersetzen. Die Europäische Union ist ein lebendiges<br />

Zeugnis vom Erfolg der <strong>Vision</strong>, dass es durch demokratische Vereinbarungen<br />

187


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 188<br />

ZUZANA ROITHOVÁ<br />

über die gemeinsame Nutzung der Schlüsselressourcen und die Einhaltung der<br />

Menschenrechte möglich ist, die Interessen von Bürgern unterschiedlicher Nationen<br />

dahingehend zu vereinen, dass sie zu einem tatsächlich wirksamen Mittel gegen den<br />

Krieg werden. Heute spüren immer mehr junge Europäer, dass eine unserer Pflichten<br />

darin besteht, dieses Modell auch in anderen von kriegerischen Konflikten geplagten<br />

Teilen der Welt zu umzusetzen.<br />

Die Europäer allein können jedoch derzeit der neuen Form des Bösen nur<br />

schwer die Stirn bieten. Die Form der kollektiven Gewalt hat sich nämlich unterdessen<br />

geändert – es ist das von ihr organisierte Verbrechen und der Terrorismus,<br />

die keine Grenzen kennen, weder moralische noch geographische. Für die Europäer<br />

ist es schwer, ein Mittel gegen diese neue Form des Bösen mit seiner verheerenden<br />

Ideologie des Todes zu finden. „Du sollst nicht töten“ ist ein auf die Dauer<br />

ausgelegtes Gebot und das nicht nur für die praktizierenden Christen, sondern<br />

auch für alle Europäer. Wir wissen, dass unsere Achtung vor dem menschlichen<br />

Leben als Wert weit über die Grenzen Europas hinaus getragen werden muss, auch<br />

dorthin, wo Selbsttötung und Tötung anderer menschlicher Geschöpfe verherrlicht<br />

werden. Vor diesem Ziel dürfen wir nicht resignieren, auch wenn der Terrorismus<br />

stärker zu sein scheint, als wir ihn gegenwärtig zu bezwingen in der Lage sind.<br />

Unsere Schwäche ist, dass Europa sich noch nicht im Klaren ist, an welchem Ende<br />

des Stranges es ziehen soll und mit wem. Aber auch in den kommenden Jahrzehnten<br />

wird das sehr schwierig sein, weil wir auch in diesem Kampf nicht von unseren<br />

demokratischen Prinzipien abgehen wollen. Und dennoch haben wir eine gute<br />

Chance, wenn wir nicht jeder für uns allein und inkonsequent das internationale<br />

Verbrechen bekämpfen, sondern alle gemeinsam an einem Strang ziehen, und zwar<br />

sowohl in Europa als auch in Übersee. Dies ist ein ernsthafter Grund dafür, die<br />

exekutiven Befugnisse der Institutionen der Union für den Bereich der Sicherheitsund<br />

Außenpolitik grundlegend zu stärken. Unser Kampf muss effektiver werden und<br />

darf sich nicht nur auf Repressionen beschränken. Die euroatlantische Zivilisation<br />

sollte eine gemeinsame Sprache finden.<br />

Darin besteht für die kommende Zeit die Hauptverantwortung der Politiker vor<br />

den Bürgern und vor Gott.<br />

Zweite Herausforderung – Einfluss der Globalisierung auf den Bestand des europäischen<br />

Sozial- und Wirtschaftsmodells<br />

Das Gebot „Du sollst nicht töten“, das in der ersten Herausforderung erwähnt<br />

wurde, ist für die europäische Gesellschaft ungeachtet des Ausmaßes ihrer<br />

Säkularisierung ein so verwurzelter und anerkannter Wert, dass er zu den wichtigen<br />

Unterscheidungsmerkmalen zwischen Europäern und anderen Zivilisationen<br />

gehört, dann sind die hohen sozialen und ökologischen Standards ein weiteres<br />

Merkmal der europäischen Wirtschaftskultur. Ihr Vorzug besteht darin, dass sie den<br />

Lebensstandard der Bürger anheben und eine bedeutende Rolle im Umweltschutz<br />

spielen. Gesundheitsschutz und soziale Sicherung gehören heute bereits zu den<br />

traditionellen Werten der europäischen Wirtschaft, weil sie innerhalb der Grenzen<br />

188


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 189<br />

GEMEINSAMES ERBE, GEMEINSAME AUFGABEN, GEMEINSAMER WILLE<br />

von sozialem Ausgleich und einer begrenzten Abschöpfung der natürlichen<br />

Ressourcen funktioniert. Diese Standards sind jedoch nicht umsonst. Sie bewirken<br />

auch eine Anhebung der Kosten für sämtliche europäische Waren, was deren<br />

Konkurrenzfähigkeit schmälert und im Rahmen der fortschreitenden Liberalisierung<br />

des Welthandels die strukturelle Arbeitslosigkeit in Europa verstärkt. Diesem Trend<br />

werden wir ohne ideologische Vorurteile entgegenwirken müssen.<br />

Der Binnenmarkt der Union basiert auf gemeinsamen Regeln, seine Freiheiten<br />

sind durch die Harmonisierung dieser und anderer hoher Standards bedingt. Nur<br />

so wird ein gleicher Wettbewerb für die Unternehmer in einer auf diese Weise<br />

regulierten Wirtschaft gewährleistet. Der EU-Binnenmarkt ist jedoch keine wirtschaftliche<br />

Insel, sondern er ist und entwickelt sich immer mehr zu einem Bestandteil<br />

des globalen Marktes, der sich bei weitem nicht nach solchen Regeln richtet. Seine<br />

Regeln beeinflussen die großen Spieler auf dem internationalen Spielfeld, vor allem<br />

Japan, die USA und jetzt auch China, mit einer ganz anderen Wirtschafts- und<br />

Sozialkultur. Das Aufeinandertreffen dieser Wirtschaften spielt sich innerhalb des liberalisierten<br />

Welthandels ab, wo Europa am kürzeren Hebel sitzt. Zum einen deshalb,<br />

weil mit Ausnahme Irlands und der Skandinavier die Länder Europas zu sehr<br />

an Bildung und Investitionen in Wissenschaft und Forschung gespart haben, zum<br />

anderen, weil die europäischen Erzeugnisse nicht mit den niedrigen Preisen bzw.<br />

Dumpingpreisen der legal und illegal aus Asien eingeführten Waren konkurrieren<br />

können, die dort mit minimalen sozialen und ökologischen Kosten und mit staatlichen<br />

Subventionen hergestellt werden. Europa steht deshalb in den nächsten<br />

Jahrzehnten vor einer schweren Prüfung. Es wird mit dem Verlust von möglicherweise<br />

mehr als einer Million Arbeitsplätzen, vor allem für Frauen in der Textil-,<br />

Leder- und Schuhindustrie, und nach und nach auch in anderen Branchen fertig werden<br />

müssen. Eine Chance hat nur eine technisch ausgereifte Produktion, die<br />

Mehrwert schafft. Europa wird sich auch mit den Folgen des gegenwärtigen Exodus<br />

europäischer Investoren nach Osteuropa und Asien auseinandersetzen müssen,<br />

weil die Unternehmer weiterhin ihre Betriebe vom „teuren“ Europa dorthin verlagern<br />

werden, wo die europäischen harmonisierten Regeln für die Abfallwirtschaft<br />

nicht gelten und wo sie Menschen für um ein Vielfaches niedrigere Löhne als in<br />

Europa beschäftigen können und sie zudem auch günstige Steuerbedingungen<br />

vorfinden. Unser gemeinsames Europa wird der Nichteinhaltung der internationalen<br />

Handelsregeln die Stirn bieten müssen. Dabei geht es um unerlaubte staatliche<br />

Subventionen zum Beispiel für Textilbetriebe, das unerlaubte Kopieren technologischer<br />

Verfahren und Marken, vor allem in der Automobil- und<br />

Computerindustrie. Das alles schadet der europäischen Industrie, verletzt den gleichen<br />

Wettbewerb und vertieft die Arbeitslosigkeit. Die Union wird es lernen müssen,<br />

die eigenen Regeln auch außerhalb Europas durchzusetzen und zu schützen,<br />

ansonsten müsste sie bald auf ihre derzeit hohen Standards verzichten. Dies ist ein<br />

weiterer wichtiger Grund zur Stärkung der Rechtsbefugnisse der Europäischen<br />

Institutionen auf dem Gebiet des Außenhandels. Die Union muss zu einem starken<br />

und geachteten Partner auch für die Weltwirtschaftsorganisation werden. Die einzelnen<br />

Mitgliedstaaten haben keine Chance, die Europäische Union muss nicht nur<br />

189


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 190<br />

ZUZANA ROITHOVÁ<br />

die Rechtsbefugnis, sondern auch den Mut haben, alle politischen und ökonomischen<br />

Instrumente zu nutzen, um die europäische Wirtschaftskultur unter den globalen<br />

Bedingungen zu bewahren und durchzusetzen, und zwar auch gegen die<br />

Interessen einiger starker Handelsgesellschaften. Diese Herausforderung erfordert<br />

auch den Mut, die Grenzen ideologischer Klischees zu überwinden, sonst wird<br />

Europa zu einem Freilichtmuseum. Wir können die auch weiterhin verbindlichen<br />

europäischen Standards nicht weiter erhöhen, ohne dafür zu sorgen, dass sie auch<br />

außerhalb des sich erweiternden Europas gelten. Der Grund ist nicht nur die<br />

Wirtschaftsmathematik, sondern vor allem die Überzeugung, dass dies die Perspektive<br />

für den Weg der Menschheit auf unserem Planeten ist.<br />

Dritte Herausforderung – das Altern von Europa macht Reformen der Sozialund<br />

Gesundheitssysteme erforderlich<br />

Europa altert. In den letzten 100 Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung<br />

von 55 auf 80 Jahre gestiegen. Das Problem ist, dass zudem immer weniger Kinder<br />

geboren werden. Im Jahre 2030 beginnt die Bevölkerung des alten Kontinents auszusterben,<br />

weil in keinem der EU-Länder mindestens 2,1 Kinder pro Frau geboren<br />

werden, was für die Regenerierung der Bevölkerung erforderlich ist.<br />

Die Heraufsetzung des Lebensalters hängt mit der Verbesserung des<br />

Lebensstandards, was zu einem bedeutenden Rückgang der Infektionskrankheiten<br />

geführt hat, sowie mit dem weiteren Fortschritt in der Medizin, wo die meisten<br />

Krankheiten nicht mehr wie früher zum Tode führen, zusammen. Die niedrige<br />

Geburtenrate ist paradoxerweise auch bedingt durch den hohen Lebensstandard,<br />

das gestiegene Bildungsniveau der Frauen sowie einen individualistischen Lebensstil,<br />

der bereits viele Jahre lang die traditionelle kinderreiche Familie ersetzt. Das<br />

Bevölkerungsdefizit wird in einer Reihe europäischer Regionen nur durch die<br />

Zuwanderung sowie die höhere Geburtenrate der Immigranten aus Drittländern<br />

gebremst. Insgesamt ist aber das Altern der Bevölkerung zusammen mit den hohen<br />

Anforderungen an die Gesundheits- und Sozialleistungen ein Phänomen, das den<br />

Europäern nicht nur gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen bringt, sondern<br />

auch ökonomische Probleme bereitet. Ich bin überzeugt, dass für deren verantwortungsvolle<br />

Lösung weitreichende Änderungen im System der Gesundheitsund<br />

Sozialfürsorge, aber zum Beispiel auch in der Urbanistik bzw. im öffentlichen<br />

Verkehr notwendig sind. Sie erfordert auch eine durchdachte langfristige Strategie<br />

einer gemeinsamen Zuwanderungspolitik.<br />

Weil also die Europäische Union zu einem Altersheim wird, wo die Zahl der<br />

Senioren zu- und die der Werktätigen abnimmt, werden wir es mit Ausnahme von<br />

Irland bald mit einem Mangel an denjenigen zu tun haben, die die Voraussetzungen<br />

zur Finanzierung der immer kostenintensiveren Gesundheits- und Sozialfürsorge<br />

im Rahmen von Solidarsystemen in den meisten Mitgliedsländern schaffen. Im<br />

Jahre 2030 werden in Europa über 20 Millionen Menschen im produktiven Alter fehlen,<br />

wohingegen in den USA ein Bevölkerungswachstum um 25 Prozent zu verzeichnen<br />

sein wird.<br />

190


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 191<br />

GEMEINSAMES ERBE, GEMEINSAME AUFGABEN, GEMEINSAMER WILLE<br />

In der Tschechischen Republik zum Beispiel verbrauchen schon heute gerade<br />

die Menschen im Rentenalter ganze 80 % der Kosten für das Gesundheitswesen. Zum<br />

einen ist die Behandlung der Krankheiten an sich teuer, vor allem aber wird auch<br />

die Zeit länger, in der diese Betreuung den älteren Menschen gewährt wird. Das ist<br />

das Ergebnis des Erfolgs und nicht des Versagens der modernen Medizin. Man<br />

nennt es ein „medizinisches Paradoxon“. Obwohl die maximale Lebenserwartung<br />

von der genetischen Anlage 100 bis 110 Jahre beträgt, hat die Verlängerung des<br />

Lebensalters seine biologischen Grenzen. Ich bin überzeugt, dass dieser Trend seinen<br />

Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Die Politiker in den Mitgliedstaaten sollten<br />

die notwendigen Reformen zur Kostenkontrolle nicht hinausschieben, auch wenn<br />

es unpopulär ist. Am dynamischsten entwickeln sich die Gesundheitstechnologien<br />

und die pharmazeutische Industrie wie auch die Informationstechnologien und die<br />

Rüstungsproduktion. Sowohl die Möglichkeiten der Medizin als auch die Ansprüche<br />

der Bürger an Gesundheits- und Sozialleistungen in hoher Qualität steigen schneller<br />

als die finanziellen Möglichkeiten der alternden, auf dem Solidarprinzip beruhenden<br />

europäischen Gemeinschaft. Die Solidarität zwischen den Generationen<br />

ist in den vormals kommunistischen Ländern stärker ausgeprägt als in den alten<br />

Mitgliedstaaten, weshalb auch die finanzielle Diskrepanz offenkundiger ist und in<br />

einigen Ländern zu einer Krise führt. Deshalb ist auch der Reformdruck in den<br />

neuen Mitgliedstaaten größer. Das Sozialmodell muss im Hinblick auf die realen<br />

Möglichkeiten seines Weiterbestands überarbeitet werden.<br />

Ziel der Gesundheitsreformen dürfen nicht nur die Kostenkontrolle,<br />

Zentralisierung der Spezialmedizin, Bereitstellung von genügend Rehabilitationseinrichtungen<br />

und die Behandlung von Alterskrankheiten sein. Zu den grundlegenden<br />

gemeinsamen Zielen der Union gehört eine objektive Qualitätskontrolle<br />

der Gesundheitsfürsorge von außen. Die zunehmende Mobilität der Patienten zwischen<br />

den Mitgliedstaaten zeigt auch die Notwendigkeit, das Vertrauen der Patienten<br />

und Versicherungsgesellschaften in die Qualität und Sicherheit der Leistungen ungeachtet<br />

der Grenzen zwischen den Staaten zu stärken. Positiv zu bewerten ist, dass<br />

sich immer mehr Krankenhäuser schon heute einer freiwilligen nationalen bzw.<br />

internationalen Akkreditierung unterziehen. Nach einer mehrmonatigen Inspektion<br />

durch unabhängige Qualitätsinstitutionen werden Zertifikate über die Einhaltung der<br />

nationalen bzw. internationalen Standards für die Qualitätssicherung der Fürsorge<br />

ausgestellt. Im Interesse der europäischen Bürger sollte die EU die Implementierung<br />

der internationalen Akkreditierungssysteme der Krankenhäuser und Ambulanzen fördern,<br />

und zwar mindestens in gleichem Maße wie sie heute andere Aktivitäten<br />

zum Verbraucherschutz fördert.<br />

Die Solidarität gehört zu den wichtigen traditionellen christlichen Werten, und<br />

darauf errichten wir heute unser gemeinsames Haus Europa. Ausufernde Solidarität<br />

führt jedoch zu ihrem Missbrauch und zu gemeinsamer Armut. Dass es sich hierbei<br />

nicht um eine Theorie, sondern eine Tatsache handelt, bezeugen die bekannten<br />

Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen in den neuen Mitgliedsländern. Der<br />

Staat hat für die Gesundheit seiner Bürger mehr Verantwortung getragen als sie<br />

selbst. Die Leistungen waren „gratis“ und der Patient hatte keinerlei Einfluss auf<br />

191


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 192<br />

ZUZANA ROITHOVÁ<br />

eine Preis- oder Qualitätskontrolle. Den Patienten waren die Preise für die Leistungen<br />

nicht bekannt und sie waren daran gewöhnt, jederzeit auch wegen banaler Probleme<br />

den Arzt aufzusuchen, was dazu führte, dass Geld verschwendet wurde, das dann<br />

zur Behandlung schwerer Krankheiten fehlte. Eine solche Verhaltensweise findet man<br />

noch immer, selbst dann, wenn die staatliche Versicherung für die Behandlung aufkommt.<br />

Zudem belegen aussagekräftige Fachstatistiken, in welch hohem Maße in<br />

den neuen Mitgliedsländern Gesundheitsdienstleistungen und Mittel in Anspruch<br />

genommen wurden. Reformversuche sind jedoch problematisch, weil sie nicht<br />

populär sind. Wenn sie effektiv sein sollen, müssen sie auch zu einem größeren<br />

Mitspracherecht der Patienten bei Therapie und Prävention führen. Der Patient<br />

muss stärker in das System einbezogen werden, und zwar als ein Konsument von<br />

Leistungen, der seine Rechte und Pflichten kennt und in der Lage ist, sich an der<br />

der Qualitäts- und Kostenkontrolle zu beteiligen. Ihm müssen allerdings genügend<br />

verständliche Informationen zur Verfügung stehen. Zu diesen Maßnahmen gehört<br />

auch die Einführung einer Teilfinanzierung bei banalen Erkrankungen aus der eigenen<br />

Tasche, damit die öffentlichen Mittel für die kostenintensive Behandlung von<br />

schweren Krankheiten und zur finanziellen Hilfe für die wirklich Ärmsten zur<br />

Verfügung stehen. Das Denken der Patienten/Wähler zu ändern, erfordert Zeit und<br />

politischen Mut. Dies liegt bei den neuen Mitgliedsländern näher, da sie unter<br />

einem größeren wirtschaftlichen Druck stehen. Ihre Erfahrungen, die guten wie<br />

die schlechten, sind schon heute für das übrige Europa ein Gewinn.<br />

Auch wenn sich die einzelnen Systeme voneinander unterscheiden, sind sie<br />

sich doch im Wesentlichen ähnlich, und deshalb können auch Probleme wie<br />

Kostenkontrolle, Qualitätskontrolle sowie Sicherstellung von Gesundheitsfürsorge<br />

und Sozialleistungen unter Berücksichtigung der sich vollziehenden Veränderungen<br />

auf ähnliche Weise gelöst werden. In diesem Kontext ist auch das Problem des<br />

Alterns von Europa zu sehen. Die jüngste Erweiterung der Union ist eine Gelegenheit,<br />

dieses Problem gemeinsam zu lösen und die Kräfte bei der Reform der Gesundheitsund<br />

Sozialfürsorge zu bündeln.<br />

Die Bevölkerungsentwicklung in Europa ist so alarmierend, dass neue Formen<br />

der Solidarität zwischen den Generationen entwickelt werden müssten. Das<br />

Programm zur Achtung von Mutterschaft und Kindererziehung wird, wie ich hoffe,<br />

zu einer gesamteuropäischen Angelegenheit. Gerade die Christdemokraten und<br />

Mitglieder der Volksparteien streben danach, dass Mutterschaft und Erziehung<br />

gesellschaftlich anerkannt werden, indem sie moralisch und finanziell stärker unterstützt<br />

werden. Diese Anerkennung muss sich in den Maßnahmen zu den geplanten<br />

Sozialreformen widerspiegeln, die aber nicht nur eine bessere Lösung der sozialen<br />

Probleme von Familien mit Kindern, sondern auch die Erneuerung der<br />

europäischen Gemeinschaft zum Ziel haben sollten. Das ist eine der wichtigsten<br />

Aufgaben für die weitere gemeinsame europäische Politik.<br />

192<br />

April 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 193<br />

Ivo SANA<strong>DE</strong>R<br />

Ministerpräsident von Kroatien<br />

Kroatien und Europa im Jahre 2020<br />

Kroatien auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft<br />

Seit Juni 2004 ist Kroatien ein Bewerberland für die Mitgliedschaft in der EU<br />

und wird in Kürze offiziell Verhandlungen mit der Union über einzelne Kapitel des<br />

Acquis aufnehmen und in diesem Zusammenhang sein Regierungssystem weiter<br />

angleichen und modernisieren.<br />

In den letzten Jahren hat Kroatien auf dem Gebiet der politischen Reformen<br />

große Fortschritte gemacht, und als langfristige Aufgabe steht nun die Erhöhung<br />

der Wettbewerbsfähigkeit der kroatischen Wirtschaft gegenüber den Mitbewerbern<br />

aus der Union. Eine Voraussetzung für dieses wirtschaftliche Kriterium ist ein<br />

funktionierendes Rechtssystem sowie gut ausgestattete und arbeitende Einrichtungen<br />

für die Überwachung und Durchsetzung des Rechtsstaatsprinzips in einer freien<br />

Marktwirtschaft. Dazu ist es notwendig, den Staat in Bezug auf seine ordnungspolitischen<br />

und regelnden Funktionen zu stärken, gleichzeitig jedoch die aus Sicht<br />

eines förderlichen wirtschaftlichen Wettbewerbs unerwünschten Interventionen<br />

am Markt abzubauen. Dieser wirtschaftliche Aspekt der Anpassung an EU-Normen<br />

ist eine logische Fortsetzung des Weges, den Kroatien seit Abschaffung des sozialistischen<br />

Wirtschaftsmodells geht, das vor den Neunzigerjahren bestand.<br />

Wir setzen auch weiterhin alles daran, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen;<br />

die institutionellen und viele politische Voraussetzungen sind bereits gegeben<br />

und weisen Kroatien als eine funktionierende Marktwirtschaft aus. Das wurde<br />

auch von der Europäischen Kommission in ihrer Stellungnahme zum Beitrittsgesuch<br />

Kroatiens anerkannt, das dem Rat im April 2004 übergeben wurde.<br />

Diese Anerkennung ist das Ergebnis unserer systematischen Bemühungen um<br />

die Errichtung einer Marktwirtschaft, Vollendung des Privatisierungsprozesses und<br />

Aufnahme und Vertiefung der Handelsbeziehungen zu europäischen Partnern.<br />

Das bisherige Ergebnis dieser Bemühungen sollte im Lichte der sozioökonomischen<br />

und politischen Bedingungen betrachtet werden, wie sie im Anschluss an den<br />

193


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 194<br />

IVO SANA<strong>DE</strong>R<br />

Krieg bestanden. Angesichts der Auswirkungen dieser Geschehnisse auf den politischen<br />

Spielraum in Kroatien kann ich voller Stolz erklären, dass die kroatische<br />

Wirtschaft in jüngster Vergangenheit einen Aufschwung erlebt hat und dass die<br />

Regierung in der Lage ist, sich durchaus langfristig um eine anhaltende Stabilität<br />

der Volkswirtschaft, um steuerpolitische Konsolidierung und Strukturreformen zu<br />

bemühen. Die Rahmenbedingungen für diese Bemühungen bietet das wirtschaftliche<br />

Heranführungsprogramm, ein Planungsinstrument zur Beitrittsvorbereitung,<br />

das die Europäische Union von den Mitgliedstaaten und Bewerberländern gleichermaßen<br />

für (die Angleichung) ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik fordert.<br />

Diese gezielten Bemühungen um Reformen und Modernisierung im<br />

Allgemeinen werden durch eine große politische Entschlossenheit von Regierung<br />

und Parlament unterstützt. Mit zunehmendem Tempo des Integrationsprozesses<br />

in die EU ist es der Führung des Landes gelungen, die Bereitschaft der verschiedenen<br />

politischen Parteien für die offizielle Mitwirkung am europäischen Projekt<br />

zu gewinnen. Bereits im Dezember 2002 nahm das kroatische Parlament eine<br />

Entschließung an, in der sich alle im Parlament vertretenen Parteien einverstanden<br />

erklären, den EU-Beitritt als vorrangiges außenpolitisches Ziel zu unterstützen.<br />

Diese Zustimmung ermöglichte auch die Durchführung eines parlamentarischen<br />

Eilverfahrens zur Angleichung von nationalen Rechtsakten an den Acquis.<br />

Anfang 2005 schloss die regierende Kroatische Demokratische Gemeinschaft<br />

(HDZ) mit der Opposition eine „Allianz für Europa“ mit dem Ziel, den<br />

Beitrittsprozess aus allen parteipolitischen Auseinandersetzungen herauszuhalten.<br />

In diesem Zusammenhang kann ich mit Freude feststellen, dass die konzertierten<br />

Bemühungen nochmals bestätigt wurden und die Grundlage bildeten, als das<br />

Parlament den Grundsätzen der Verhandlungen mit der EU und der Einrichtung<br />

eines Nationalen Ausschusses für die Überwachung der Verhandlungen zustimmte<br />

und gemeinsam mit der Regierung eine Erklärung zum gemeinsamen Vorgehen<br />

im Verhandlungsprozess verabschiedete. Die Tatsache, dass der Vorsitzende der<br />

größten Oppositionspartei zum Leiter des Nationalen Ausschusses für die Überwachung<br />

der Verhandlungen ernannt wurde, beweist, in welch bemerkenswerter<br />

Weise das EU-Integrationsprojekt die kroatische politische Szene und die<br />

Bevölkerung, die sie vertritt, vereint.<br />

Auch in Zukunft werde ich mich für eine ähnlich gute Zusammenarbeit und<br />

Konsultation aller maßgeblichen Akteure in dieser Frage einsetzen, die die jetzigen<br />

und zukünftigen Generationen Kroatiens unmittelbar betrifft. Die Notwendigkeit<br />

der Zusammenarbeit bestärkt mich in meiner Begeisterung für Kroatiens weiteres<br />

Voranschreiten auf dem Weg in die EU, zumal wenn man bedenkt, dass eine<br />

effektive Zusammenarbeit von Regierung und Opposition in der Vergangenheit<br />

kaum zu erreichen war. Die „Allianz für Europa“ zwischen Regierung und<br />

Opposition beweist, dass die politische Zusammenarbeit in Kroatien einen beneidenswerten<br />

Stand erreicht hat und dass Kroatien erfolgreich eine niveauvolle politische<br />

Kultur entwickelt.<br />

In diesem Sinne haben sich unsere Anstrengungen für die Reformierung unse-<br />

194


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KROATIEN UND EUROPA IM JAHRE 2020<br />

rer Partei, die Kroatische Demokratische Gemeinschaft, in den vier Jahren, in<br />

denen wir in der Opposition waren, mehr als gelohnt. Die von uns angestrebte<br />

Reform war erfolgreich, denn sie machte es möglich, dass Offenheit und<br />

Anerkennung der europäischen Ausrichtung Fuß fassen konnten und die<br />

Herausforderung als der sicherste Weg für Weiterentwicklung akzeptiert wurde.<br />

Darin sind wir uns einig mit den übrigen Mitgliedern der Familie der Europäischen<br />

Volkspartei sowie mit all denen, die sich dem Erfolg des gemeinsamen europäischen<br />

Projekts verschrieben haben.<br />

Kroatiens Beitrag zum Europa des Jahres 2020<br />

Auf den folgenden Seiten möchte ich darlegen, welchen Beitrag Kroatien<br />

meiner Ansicht nach zum europäischen Projekt leisten kann, in das es hoffentlich<br />

bald aktiv eingebunden ist.<br />

Erstens: Wir haben innenpolitische Reformen in Angriff genommen, um neue<br />

politische Normen für unsere eigene Gesellschaft festzulegen, gleichzeitig aber<br />

auch in der Absicht, ein Beispiel für andere Länder im benachbarten Südosteuropa<br />

zu geben.<br />

Kroatien ist ein mitteleuropäisches Land, das in sich die mediterrane Kultur<br />

und die mitteleuropäische Kultur der Donauregion vereinigt. Dank seiner geopolitischen<br />

Lage und der bereits erreichten Fortschritte bei der Angleichung an<br />

EU-Normen kann Kroatien die Rolle eines Bindeglieds zwischen der EU und<br />

Südosteuropa spielen. Durch unsere positive Politik gegenüber unseren Nachbarn<br />

im Osten dürften wir zu einem Vorbild für EU-Standards in dieser Region werden,<br />

deren Geschichte, Sprachen, Mentalität und Schwierigkeiten wir nur zu gut<br />

kennen.<br />

Mit dieser <strong>Vision</strong> vor Augen haben wir die Ärmel hochgekrempelt und bei uns<br />

selbst mit den Veränderungen angefangen. Kroatien bemüht sich aktiv um<br />

Versöhnung im Lande, und der Wandel hin zu einer modernen Gesellschaft, die<br />

ihre Bürger und deren kulturelle Vielfalt achtet, ist gelungen. Diese Regierung fühlt<br />

sich voll und ganz einer stärkeren sozialen Integration der nationalen Minderheiten<br />

verpflichtet. Inzwischen ist dieser Prozess so weit fortgeschritten, dass Minderheiten<br />

sowohl auf nationaler als auch lokaler Ebene politisch integriert sind. So sind<br />

alle Vertreter nationaler Minderheiten im kroatischen Parlament Partner meiner<br />

Regierungskoalition. In diesem Sinne sind sie aktiv und systematisch an der<br />

Entscheidungsfindung in meinem Lande beteiligt und übernehmen die<br />

Verantwortung für deren Ergebnisse und künftige Ausrichtung. Das erreichte<br />

Niveau der Mitwirkung der Minderheiten an der Staatspolitik kann als beispielgebend<br />

nicht nur für Südosteuropa, sondern auch für andere Teile unseres<br />

Kontinents angesehen werden.<br />

In den Einheiten der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung wurden<br />

Wahlen für Minderheitenräte und deren Vertreter durchgeführt. Vorgesehen ist,<br />

dass diese Räte die Organe der lokalen Selbstverwaltung bei Maßnahmen für<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 196<br />

IVO SANA<strong>DE</strong>R<br />

Minderheiten beraten, um deren Position zu stärken. Zu dieser institutionellen<br />

Neuerung fanden Schulungen statt, bei denen die Organe der lokalen<br />

Selbstverwaltung darin angeleitet wurden, wie sie die Arbeitsweise der<br />

Minderheitenräte unterstützen und wirksam mit ihnen zusammenarbeiten können.<br />

Wir setzen in dieses institutionalisierte Element der Zusammenarbeit zwischen<br />

Zivilgesellschaft und Regierung, die meiner Ansicht nach ganz im Einklang mit<br />

der Tendenz zu progressiver Staatsführung andernorts in Europa steht, große<br />

Erwartungen.<br />

Ein weiterer kroatischer Beitrag zum Europa des Jahres 2020 besteht darin, dass<br />

die kroatische Regierung keine Gelegenheit versäumt, ihre ökumenische Überzeugung<br />

zum Ausdruck zu bringen. Ich bin der erste kroatische Ministerpräsident,<br />

der – bisher zweimal – an die serbische orthodoxe Gemeinschaft eine Botschaft<br />

für eine gesegnete Weihnacht aller Gläubigen gerichtet hat. Ich habe das aus<br />

ehrlicher Überzeugung und in der großen Hoffnung getan, dass diese und ähnliche<br />

Gesten dazu beitragen mögen, uns den traditionellen Säulen der östlichen<br />

und der westlichen Gesellschaft – der römisch-katholischen und der orthodoxen<br />

Kirche – näher zu bringen. In einer Zeit, da ein auf religiöser Überzeugung<br />

beruhender guter Wille gegenüber allen Mitmenschen der allgemeingültige und<br />

aussagekräftigste Ausweis in dieser Welt der Differenzen ist, stellt eine solche<br />

Annäherung meines Erachtens nach ein Ziel dar, das sowohl Kroatien und diese<br />

Region als auch Europa selbst anstreben sollten.<br />

Es liegt im Interesse Kroatiens, die Kommunikation mit der Zivilgesellschaft<br />

generell zu intensivieren. Dieser Prozess ist im Hinblick auf unseren Beitritt nicht<br />

nur unabdingbar, sondern auch für unseren aktiven Beitrag zu den<br />

Entscheidungsprozessen in der Union unerlässlich. Vor der Aussprache über die<br />

Zukunft der Union findet eine Debatte statt, bei der es darum geht, dass Staaten<br />

und Völker das gemeinsame EU-Projekt verstehen und es als unmittelbar mit<br />

der Verwirklichung ihrer individuellen Ziele in Verbindung stehend betrachten.<br />

Ausgehend von den vorstehend genannten Fortschritten in Kroatien besteht<br />

der dritte Aspekt seines Beitrags zum Europa des Jahres 2020 in seiner Rolle als<br />

Bindeglied zwischen der EU und Südosteuropa.<br />

Da andererseits die Aussichten, dass diese Region in die Union eingegliedert<br />

wird, immer näher rücken, kann Kroatien viele eigene Erfahrungen aus diesem<br />

Prozess in eine verantwortungsbewusste Erweiterung und die Gestaltung des<br />

Lebens in einer noch stärker erweiterten Europäischen Union einbringen. Dieses<br />

Angebot kann angesichts dessen, dass die Region gegenwärtig immer noch nach<br />

einem machbaren und dauerhaften Frieden und Stabilität sucht, mit Fug und<br />

Recht ernst genommen werden.<br />

Die politische Zusammenarbeit, von der ich spreche, ist für einen effizienten<br />

und ungehinderten Prozess der EU-Integration von Bedeutung. Mehr noch:<br />

sie bestätigt das Engagement des Landes für eine wesentlich umfassendere<br />

Entwicklungsagenda. Verpflichtungen, die wir in diese Richtung übernehmen,<br />

unterstreichen unsere Bereitschaft, ein aktiver Partner Europas zu werden, wenn<br />

196


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 197<br />

KROATIEN UND EUROPA IM JAHRE 2020<br />

es diese Region aufnimmt und wenn es zur Heimat für alle friedliebenden, demokratischen<br />

Nationen wird, die sich in den vergangenen Jahren entschlossen<br />

haben, eine neue Seite in ihren Geschichtsbüchern aufzuschlagen.<br />

Gemäß seinem außenpolitischen Ziel, das Bindeglied zwischen der EU und<br />

Südosteuropa zu sein, hat Kroatien seine stabilisierende Rolle in der Region ernst<br />

genommen. Im Oktober 2004 haben wir eine Charta für gute Nachbarschaft,<br />

Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit in Südosteuropa unterzeichnet, wodurch<br />

Kroatien Mitglied des Südosteuropäischen Kooperationsprozesses (SEECP) wurde.<br />

Die innere Logik dieser und anderer regionaler Rahmenbedingungen für die<br />

Zusammenarbeit besteht im Ausstrahlungseffekt, den wir oftmals mit den Anfängen<br />

der Europäischen Union selbst in Verbindung bringen: Wenn konkrete<br />

Beziehungen und Interessen erst einmal (wieder) hergestellt sind, verstärkt und<br />

vertieft sich naturgemäß die Zusammenarbeit. Und genau von dieser Form der<br />

konkreten und zukunftsweisenden Zusammenarbeit zeugt Kroatiens positive<br />

Haltung gegenüber regionalen Initiativen zur Bekämpfung der organisierten<br />

Kriminalität, der Liberalisierung des Handels, des Aufbaus von Infrastrukturnetzen<br />

im Bereich Verkehr und Energie, für parlamentarische Zusammenarbeit usw. Je<br />

größer die Zahl der Parteien ist, die an einer regionalen Zusammenarbeit interessiert<br />

sind, desto besser stehen die Chancen für eine langfristige Stabilität zwischen<br />

Nachbarn.<br />

Mit der gleichen Absicht unternimmt Kroatien auch auf bilateraler Ebene<br />

Anstrengungen. Ich möchte in diesem Zusammenhang unterstreichen, dass sich<br />

unsere Beziehungen zu Bosnien und Herzegowina deutlich verbessert haben,<br />

wobei sich der Schwerpunkt mehr und mehr von politischen Fragen auf technische<br />

und wirtschaftliche Aspekte verlagert. Wir fördern mit aller Kraft den<br />

Reformprozess des Landes, der auf die Integration in EU und NATO gerichtet<br />

ist, und unterstützen Bemühungen zur Gewährleistung der Gleichbehandlung<br />

der drei Volksgruppen sowie der nachhaltigen Rückkehr der Flüchtlinge und<br />

Vertriebenen. Kroatiens Unterstützung in diesem Bereich geht Hand in Hand mit<br />

den unaufhörlichen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft in diesem<br />

Land. Aufgrund seiner positiven Maßnahmen gegenüber Bosnien und<br />

Herzegowina nimmt Kroatien auch am historischen Dialog zwischen der EU und<br />

dem Islam teil, denn der Islam ist die vorherrschende Religion einer der<br />

Volksgruppen in Bosnien und Herzegowina.<br />

Kroatien hat auch die Beziehungen zu Serbien und Montenegro ausgebaut.<br />

Unser Ziel ist es, gutnachbarliche Beziehungen durch einen offenen Dialog herzustellen.<br />

Aus diesem Grunde war ich auch der erste kroatische Ministerpräsident<br />

nach Kroatiens Unabhängigkeit, der Belgrad Ende 2004 einen offiziellen Besuch<br />

abstattete. Wir erzielten Übereinkommen zum systematischen Schutz der nationalen<br />

Minderheiten in beiden Ländern sowie zur Stärkung der wirtschaftlichen<br />

Zusammenarbeit. Kroatien hat seine Bereitschaft erklärt, seine Erfahrungen im<br />

Prozess der EU-Integration und im Reformprozess im Allgemeinen weiterzugeben.<br />

Die von uns angebotene zukünftige Zusammenarbeit ist ein hervorragender<br />

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IVO SANA<strong>DE</strong>R<br />

Beweis des guten Willens, denn Kroatien hat viel erreicht und tut alles in seinen<br />

Kräften Stehende, um das Problem der Rückkehr der Serben zu lösen, die während<br />

des Krieges Zuflucht in Serbien und Montenegro gesucht hatten.<br />

Bemühungen um die Herstellung praktikabler Beziehungen in der Region<br />

sind kein Nebenprodukt des kroatischen Integrationsprozesses in die EU, sondern<br />

eine Priorität an sich. Auch wenn wir unsere Augen auf den Beitritt zur<br />

Europäischen Union richten, bleibt unsere Heimat doch die Region. Das Ziel,<br />

das wir uns setzen sollten und das auch mit der politischen Agenda der EU in<br />

Südosteuropa in Einklang steht, besteht daher eher in einer starken und weniger<br />

in einer formalen und oberflächlichen Zusammenarbeit. Wie auch im Falle der<br />

EU-Integration liegt dem der Gedanke zugrunde, dass die Länder mit der Aussicht,<br />

Wohlstand durch Zusammenarbeit zu schaffen, die Gefahr wirtschaftlicher Not und<br />

geopolitischer Unsicherheit aus der Welt schaffen, die ihre individuelle soziale,<br />

politische und kulturelle Entwicklung bedroht. Jetzt gilt es, Umfang und Form einer<br />

Zusammenarbeit festzulegen, die der Entwicklung der Beteiligten dient.<br />

Ein weiterer wichtiger Beitrag, den Kroatien als Mitgliedstaat der EU leisten<br />

kann, ergibt sich daraus, dass es eines der wenigen europäischen Länder ist, die<br />

über aktuelle Erfahrungen mit der Teilnahme an einer multinationalen Föderation<br />

verfügen. Aufgrund dessen wissen wir genau, welche Konzepte und Maßnahmen<br />

geeignet sind, um den Wunsch der Menschen nach Freiheit, Identität und<br />

Wohlergehen in einem multinationalen Organismus wie der Europäischen Union<br />

erfüllen zu können.<br />

Jetzt, da wir am Anfang eines weiteren Projekts einer Gemeinschaft von<br />

Nationen stehen, dürfen wir nicht vergessen, was uns die Vergangenheit über<br />

andere und über uns selbst gelehrt hat. Dieses Wissen ist von größtem Wert<br />

innerhalb einer Union, die zur Heimat einer stetig wachsenden und vielfältiger<br />

werdenden Gruppe von Mitgliedstaaten wird. Daher muss die Union alles daransetzen,<br />

das Gespräch zwischen ihren Mitgliedern in Gang zu halten, zuzuhören<br />

und die Erfahrungen und die Weisheit jedes einzelnen Mitgliedstaats zu nutzen.<br />

Der europäische Bürger des Jahres 2020 schließlich muss in verschiedenen<br />

europäischen Kulturen und Sprachen arbeiten und leben und mit diesen Kulturen<br />

und der Mentalität ihrer Menschen vertraut werden. In dieser Hinsicht besitzt<br />

Kroatien bereits umfangreiche Erfahrungen. Ausgehend von Kroatiens historischen<br />

Kontakten zu deutsch-, italienisch- und ungarischsprachigen Gebieten,<br />

der starken Orientierung des Landes auf den Fremdenverkehr und insbesondere<br />

einer großen kroatischen Diaspora im englisch- und deutschsprachigen Raum<br />

gibt es bereits heute viele kroatische Bürger, für die Mehrsprachigkeit Teil ihrer<br />

Identität ist.<br />

In dieser Hinsicht kann Kroatien neben einigen anderen kleineren europäischen<br />

Nationen, die ähnliche multilinguale Merkmale aufweisen, als Modell für<br />

Europas Zukunft dienen.<br />

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Unsere Wege kreuzen sich<br />

KROATIEN UND EUROPA IM JAHRE 2020<br />

Abschließend möchte ich mich noch zu den Aufgaben äußern, die Kroatien<br />

zu lösen hat, da sie meiner Meinung nach denen vergleichbar sind, vor denen auch<br />

die EU steht. Die kurze Zeit, in der Kroatien jetzt unabhängig ist, hat uns vor<br />

viele Herausforderungen gestellt. Möglicherweise ist das Schlimmste geschafft, doch<br />

mit ruhigen Zeiten ist nicht so bald zu rechnen. Ich bin weder verantwortungslos<br />

noch gefühllos, wenn ich sage, dass ich darüber nicht verzweifelt bin, denn<br />

ich sehe den Weg meines Landes als unaufhörliche Verbesserung und<br />

Vervollkommnung. Deshalb sind wir optimistisch, wenn unser administratives<br />

und demokratisches System durch die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft jetzt<br />

vor der Herausforderung steht, in Bezug auf Effektivität, Transparenz, Demokratie<br />

und Staatsführung im Allgemeinen immer besser zu werden.<br />

Wenn sich heute die Mehrzahl der kroatischen Bevölkerung für die<br />

Weiterführung dieser verschiedenen Projekte ausspricht, so beweist das den<br />

guten Willen und die Beharrlichkeit unserer Bürger. Wir wollen voll und ganz zur<br />

europäischen Familie gehören, das europäische Modell und die Normen akzeptieren,<br />

die die Politik regulieren und leiten, sowohl die „hohe Politik“ als auch die<br />

„Politik im Kleinen“. Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass die Standhaftigkeit<br />

des europäischen Integrationsprojekts und sein Erfolg seine Machbarkeit auch in<br />

Zukunft unter Beweis stellen. Dennoch verschließen wir nicht die Augen vor<br />

den Problemen der Union und den noch offenen Fragen, und wir hegen nicht<br />

die Illusion, dass dieser Weg zu Ende ist, wenn wir erst in der Europäischen<br />

Union sind.<br />

Wenn die Europäische Union – wie auch Kroatien – auch weiterhin<br />

Herausforderungen gern annimmt, braucht man sich keine Sorgen über Europas<br />

Zukunft im Jahre 2020 und darüber hinaus zu machen. Das Rezept für den<br />

Wandel ist klar und eindeutig: Man muss die eigenen Schwächen kennen und<br />

bereit sein, daran zu arbeiten. Vor allem darf man nicht vergessen, dass das<br />

Projekt „Europäische Integration“ genau das ist, was es bedeutet: ein Projekt.<br />

Damit hat es weder ein vereinbartes Endziel noch einen vorgeschriebenen Weg,<br />

den man gehen muss. Um ihre Bedeutung und ihren Mehrwert zu bewahren, muss<br />

die Union offen und flexibel bleiben. In diesem Zusammenhang scheint es mir<br />

angebracht, an die Worte des Willkommens zu erinnern, mit denen die EU in<br />

der Vergangenheit oft die unter uns begrüßt hat, die noch draußen stehen, sozusagen<br />

an der Türschwelle. Diese Worte bieten Stoff zum Nachdenken für die<br />

Europäische Union selbst. Sie lauten in etwa: Wir freuen uns, dass sich unsere Wege<br />

kreuzen, denn auch Sie haben ein großes Potenzial.<br />

199<br />

April 2005


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Jacek Emil SARYUSZ-WOLSKI<br />

Vizepräsident des Europäischen Parlaments<br />

Leiter der polnischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

Europäische Nachbarschaftspolitik<br />

Regierungen, Parlamente und Politiker im Allgemeinen sollten keine theoretischen<br />

Konstrukte entwerfen und dann erwarten, dass sich die Realität ihren<br />

Erwartungen anpasst. Sie sollten vielmehr bestehende Probleme definieren, versuchen,<br />

zukünftige Probleme zu prognostizieren und nach effektiven Lösungen<br />

suchen. Beim Konzept der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP) sollte daher<br />

ein möglichst praktischer Ansatz verfolgt werden. Es steht außer Zweifel, dass<br />

die Beziehungen zu unseren Nachbarländern ganz oben auf der Prioritätenliste der<br />

Europäischen Union stehen; von besonders herausragender Bedeutung sind sie<br />

für all jene Mitgliedstaaten, die in Zukunft für den Schutz der gemeinsamen EU-<br />

Außengrenzen zuständig sein werden. Als das Präsidium des Europäischen<br />

Parlaments die Aufgabenzuständigkeiten zwischen den Vizepräsidenten aufteilte,<br />

habe ich mich für die Übernahme des Bereichs der östlichen Nachbarländer<br />

entschieden, da ich der Überzeugung bin, dass die neuen Mitgliedstaaten in ebendiesem<br />

Gebiet für die Gemeinschaft einen besonderen Beitrag leisten können.<br />

Welche Herausforderungen liegen vor uns?<br />

Es gibt zwei Arten an Herausforderungen. Und zwar sind dies einerseits die<br />

Probleme, die die wechselseitigen Beziehungen zu unseren Nachbarn betreffen,<br />

die wir in enger Zusammenarbeit mit selbigen lösen müssen, und anderseits die<br />

EU-internen Problematiken, die in Zusammenhang mit einer effektiven Umsetzung<br />

der Europäischen Nachbarschaftspolitik stehen und die die Mitgliedstaaten untereinander<br />

regeln müssen. Im letztgenannten Fall darf man nicht davon ausgehen,<br />

dass es unter den 25 Mitgliedstaaten kein Wettbewerbspotenzial geben würde. Wir<br />

sollten jedoch trotz der unterschiedlichen Prioritäten, die die verschiedenen EU-<br />

Mitgliedstaaten im Rahmen der Nachbarschaftspolitik naturgegeben verfolgen,<br />

alles tun, um einen solchen Wettbewerb zu vermeiden.<br />

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Wie sieht die Realität aus?<br />

Wir dürfen uns nicht davor scheuen, zu Beginn unserer Überlegungen auszusprechen,<br />

was auf der Hand liegt – dass nämlich die EU-Nachbarn untereinander<br />

sehr tiefgreifende Unterschiede aufweisen. Es wäre daher sinnlos, beispielsweise<br />

gegenüber der Ukraine und dem Libanon ein und dieselbe Strategie zu<br />

verfolgen. Daher erstaunt die Forderung nicht, wonach die EU-Nachbarschaftspolitik<br />

nur einen möglichst breiten Rahmen für differenzierte und länderspezifische<br />

Maßnahmen bieten sollte, um wirklich effektiv sein zu können.<br />

Wenn es uns mit der ENP ernst ist, sollten wir die Realität nicht in Frage stellen,<br />

sondern sie so annehmen, wie sie de facto ist. Wir sollten versuchen, uns auf<br />

die Lösung der tatsächlichen Probleme zu konzentrieren, indem wir Kosten minimieren<br />

und die Effektivität maximieren. Es ist nicht weiter erstaunlich, dass das<br />

Interesse Spaniens an einer Einigung über den Transit durch das Gebiet Kaliningrad<br />

mehr oder weniger genauso groß ist wie das Interesse Litauens an der Überwachung<br />

der Grenze zu den Exklaven Ceuta und Melilla. Zuallererst sollten wir die<br />

naturgegebenen und unvermeidbaren Interessensunterschiede zugeben, um<br />

genau dadurch Konkurrenz zwischen den außenpolitischen Prioritäten der<br />

Mitgliedstaaten zu vermeiden.<br />

Welche Lösungen gibt es?<br />

JACEK EMIL SARYUSZ-WOLSKI<br />

Die östliche Dimension der EU sollte gleichzeitig auf drei Ebenen verfolgt werden:<br />

a) Die europäische Ebene, die die so genannten Tätigkeiten im Rahmen der<br />

ersten Säule (externe Aktivitäten), die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik<br />

und die Zusammenarbeit im Bereich Justiz und innere Angelegenheiten auf ganzheitliche<br />

Weise umfasst, sollte absolute Priorität genießen.<br />

b) Die Regierungsebene – die bilateralen Kontakte sollte den übergeordneten<br />

EU-Bestrebungen untergeordnet werden. Die großen Mitgliedstaaten sollten<br />

der Versuchung, einseitige Politiken gegenüber dem Osten zu verfolgen, nicht<br />

nachgeben. Ein derartiges Vorgehen könnte zu einer Unterminierung der europäischen<br />

Solidarität auf internationaler Ebene führen.<br />

c) Die Nichtregierungsebene – die auf den Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen<br />

(NRO) und anderer nichtstaatlicher Akteure ruht. Dies ist ein Bereich,<br />

in dem die neuen Mitgliedstaaten einen erheblichen Beitrag leisten können.<br />

Polen verfügt in diesem Zusammenhang über umfassende eigene Erfahrungen.<br />

Es darf nie vergessen werden, dass die „Solidarnorść“-Bewegung erheblich von<br />

westeuropäischen und amerikanischen NRO unterstützt wurde, die zum Sieg der<br />

Freiheit Polens im Jahr 1989 beigetragen haben. Dieser Sieg ebnete den Weg<br />

zum Fall der Berliner Mauer und zu den demokratischen Revolutionen in allen<br />

Ländern dieser Region.<br />

Es sollten auch die tiefgehenden und originären Erfahrungen erwähnt werden,<br />

über die Nichtregierungsorganisationen aus den neuen Mitgliedstaaten in Russland,<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 203<br />

EUROPÄISCHE NACHBARSCHAFTSPOLITIK<br />

der Ukraine, Belarus und Moldawien verfügen, unterhalten diese NRO doch ein<br />

weitreichendes Netz an Kontakten und besitzen Kenntnisse örtlicher Eigenheiten<br />

und Sprachen, und diese Kenntnisse sollten zum Vorteil der ENP umfassend<br />

genutzt werden.<br />

Welche Grundsätze sollten angewandt werden?<br />

Es gibt zahlreiche wichtige Grundsätze, die alle Mitgliedstaaten akzeptieren<br />

sollten, wenn wir die ENP wirklich zu einem effektiven Instrument der<br />

Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik machen wollen. Bei diesen<br />

Grundsätzen handelt es sich um Folgendes:<br />

1. „Primum non nocere“ – Respekt der jeweiligen Prioritäten. Die Mitgliedstaaten<br />

sollten den wichtigen Grundsatz, der aus der Medizin wohlbekannt ist, akzeptieren.<br />

Füge (den Interessen anderer Mitgliedstaaten) keinen Schaden zu. Die<br />

Ressourcen der EU für die ENP sind begrenzt. Wenn man sich zu sehr auf eine<br />

bestimmte Priorität konzentriert, könnte das zu einem Mangel an Mitteln in anderen<br />

Bereichen führen. Daher sind Verhandlungen über Prioritätensetzungen<br />

unvermeidbar. Wenn wir eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik wünschen,<br />

die den Namen verdient, muss uns jedoch klar sein, dass die Interessen<br />

eines jeden Mitgliedstaats berücksichtigt werden müssen. Jeder Staat sollte in<br />

den Bereichen aktiv sein dürfen, in denen er dies wünscht. Die ESVP-Operation<br />

„Artemis“ im Kongo, die erste echte Militärmission der EU außerhalb Europas,<br />

wurde von Frankreich geleitet; dennoch hat die EU in ihrer Gesamtheit in Folge<br />

dieser Unternehmung an Glaubwürdigkeit gewonnen. Die Ostpolitik wird wahrscheinlich<br />

schwerpunktmäßig von den Skandinaviern und den neuen Mitglieder<br />

Mitteleuropas vorangetrieben werden. Die verbleibenden Mitgliedstaaten sollten<br />

ihr Engagement unterstützen, anstatt Skepsis zu zeigen; gleichermaßen sollten die<br />

neuen Mitgliedstaaten den Barcelona-Prozess unterstützen. Die EU gewinnt mit<br />

zunehmenden Erfolgen an Glaubwürdigkeit, unabhängig davon, in welchen geografischen<br />

Bereichen diese Erfolge erzielt werden.<br />

2. Der regionale Ansatz ist eine allseits bekannte und praxiserprobte<br />

Herangehensweise im Bereich der GASP. Wir sollten diesem Muster auch weiterhin<br />

treu bleiben. Wir kennen bereits die „nördliche“ und die „Mittelmeerdimension“<br />

und uns liegt auch der polnische Vorschlag einer „östlichen Dimension“ vor, der<br />

Anfang 2003 unterbreitet wurde. Die nördliche Dimension (oder die „baltische<br />

Dimension“, wie unlängst von den nationalen EVP-ED-Delegationen vorgeschlagen),<br />

die von Finnland initiiert und von Schweden und den anderen nordischen<br />

Ländern erfolgreich weiter entwickelt wurde, stellt ein rundum gelungenes Beispiel<br />

für Europäische Nachbarschaftspolitik dar. Die in Nordwest-Russland vorhandenen<br />

Probleme (Umweltbedrohungen, atomare Verschmutzung, Probleme in<br />

Zusammenhang mit Gesundheit, Verkehr und Kommunikation) sind real. Diese<br />

Bedrohungen machen nicht vor Grenzen halt; daher liegt es in unserem ureigensten<br />

Interesse, sie länderübergreifend anzugehen. Die nordische (baltische)<br />

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JACEK EMIL SARYUSZ-WOLSKI<br />

Dimension braucht konkret definierte Ziele und klare Instrumente. Diese<br />

Charakteristika sollten innerhalb aller regionaler Dimensionen der GASP umgesetzt<br />

werden.<br />

3. Differenzierung – es ist unlogisch und kontraproduktiv, eine einheitliche,<br />

unflexible Politik zu entwerfen, die für alle Nachbarländer gleichermaßen gilt. Die<br />

Beispiele Libanon und Ukraine müssen hier nicht erneut angeführt werden. Es<br />

scheint, dass die ENP sogar innerhalb ein und derselben Region stark differenziert<br />

sein muss, um den bestehenden Herausforderungen gerecht zu werden. So<br />

gibt es tiefgehende Unterschiede zwischen der Situation und den Bedürfnissen<br />

in Belarus und in der Ukraine. Die EU kann daher gegenüber diesen beiden<br />

Ländern, die sich in verschiedenen Stadien politischer und wirtschaftlicher<br />

Entwicklung befinden, nicht ein und denselben Ansatz verfolgen. Die EU kann<br />

gegenüber diesen beiden Ländern, die sich auf unterschiedlichen Stufen der politischen<br />

und wirtschaftlichen Entwicklung befinden, nicht gleichermaßen verfahren.<br />

Die EU muss die Politik, die sie gegenüber einem bestimmten Land verfolgt,<br />

nach dem Stand seiner politischen und wirtschaftlichen Reformen richten.<br />

Die Umsetzung einer solchen Regel würde es der EU ermöglichen, die tatsächlichen<br />

Unterschiede in den innenpolitischen Verhältnissen und den internationalen<br />

Bestrebungen und Zielen eines bestimmten Staates zu berücksichtigen.<br />

4. Flexibilität – wir verfügen nicht über ausreichende Ressourcen, um all<br />

unsere Bestrebungen gleichermaßen zu verfolgen. Wir müssen daher einen<br />

Modus zur Aufteilung der vorhandenen Ressourcen entwickeln und umsetzen.<br />

Dieser Verteilungsmodus kann nicht auf Grundlage einer rein mathematischen<br />

Formel (z. B. nach der Länge der Grenzen, der Bevölkerung oder den<br />

Handelsströmen) entwickelt werden, da die Dringlichkeit der Probleme in den<br />

verschiedenen Gebieten nicht immer gleichermaßen groß ist. Leider sind wir<br />

nicht in der Lage, zukünftige Entwicklungen auf internationaler Ebene vorauszusagen<br />

und vorab die entsprechenden notwendigen Ressourcen bereitzustellen.<br />

Wenn die GASP wirklich effektiv sein soll, muss sie weitestgehend flexibel sein.<br />

Sie muss in der Lage sein, auf Krisensituationen zu reagieren. Aus eben diesem<br />

Grund brauchen wir Initiativen wie das Flexibilitätsinstrument. Die EU muss weiterhin<br />

in der Lage bleiben, sich den ändernden Umständen anzupassen.<br />

5. Schließen der Wohlstandslücke. Die immer weiter auseinander klaffende<br />

Wohlstandslücke zwischen der EU und ihren Nachbarn stellt die größte<br />

Herausforderung dar, der wir uns gegenüber sehen. Wir müssen daher dieser<br />

Tendenz entgegensteuern. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage der<br />

Ressourcen in all ihrer Dringlichkeit. In der derzeitigen Haushaltssituation wird<br />

es schwierig sein, zusätzliche Mittel zu finden; die EU muss jedoch richtige<br />

Prioritäten setzen und in der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 für die<br />

Nachbarschaftspolitik Mittel in ausreichender Höhe bereitstellen. Das neue<br />

Nachbarschaftsinstrument sollte so angelegt sein, dass unsere Aktivitäten gebündelt<br />

werden. Diese Reform an sich könnte bereits die schwierige Situation verbessern,<br />

vorausgesetzt, dass dieses Instrument weitestgehend flexibel ist. Schließlich<br />

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EUROPÄISCHE NACHBARSCHAFTSPOLITIK<br />

werden wir die bisherigen 34 Quellen für die Finanzierung unserer gemeinsamen<br />

Nachbarschaftsvorhaben auf eine einzige reduzieren.<br />

Geld ist nicht alles. Wenn wir die Wohlstandslücke zwischen der EU und<br />

ihren Nachbarn wirklich verringern wollen, so müssen die Unterstützungsregelungen<br />

der EU durch eine progressive Öffnung der EU-Märkte für Waren, die<br />

aus unseren Nachbarländern stammen, flankiert werden. Technisch gesehen sollten<br />

wir unseren Nachbarländern einen mit dem Europäischen Wirtschaftsraum vergleichbaren<br />

Status anbieten. Dies stellt einen Weg dar, um mit der finanziellen<br />

Überbeanspruchung der EU umzugehen!<br />

6. Konkreter Charakter. Die Zeit ist gekommen, um rein rhetorische<br />

Erklärungen im Bereich der Nachbarschaftspolitik hinter uns zu lassen und Taten<br />

sprechen zu lassen. Die EU sollte zunächst konkrete, umfassende und länderspezifische<br />

Aktionspläne umsetzen. Es sollte uns gelingen, „Erfolgsgeschichten“ zu<br />

schaffen, die sich bei unseren Nachbarn und deren Bürgern herumsprechen.<br />

Das Schwergewicht sollte auf die Förderung einer neuen politischen und rechtlichen<br />

Kultur gelegt werden, begleitet von der Unterstützung neuer Eliten, die<br />

nach Modernisierung streben.<br />

7. Besonderes Augenmerk sollte auf die Zusammenarbeit im Bereich Justiz<br />

und Innere Angelegenheiten gelegt werden. Es ist mittlerweile offensichtlich,<br />

dass die Europäische Union den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts<br />

nur in enger Zusammenarbeit mit ihren Nachbarn festigen kann. Dies ist insbesondere<br />

bei Ländern, die lange gemeinsame Grenzen im Osten und Süden miteinander<br />

teilen, der Fall. Wenn wir dringende Sicherheitsfragen, wie z. B. organisierte<br />

Kriminalität, Menschenhandel, illegale Einwanderung, lösen wollen,<br />

müssen wir ein vernünftiges Gleichgewicht zwischen Restriktion und Freiheit<br />

finden. Die Bereiche Fremdenverkehr, Handel, Bildung und Kultur, in denen der<br />

Austausch immer mehr zunimmt, erfordern sanfte und flexible Regelungen für<br />

Visumpolitik und Grenzkontrollen.<br />

Das Haager Programm fordert verstärkte Zusammenarbeit und intensiveren<br />

Dialog in Fragen von Migration und Asyl. In diesem Zusammenhang sollte die<br />

Aufteilung von Lasten und Verantwortlichkeiten als Leitprinzip angewandt werden.<br />

Es muss jedoch vergegenwärtigt werden, dass die östliche Außengrenze<br />

nach der Risikoanalyse der EU nicht das Hauptziel illegaler Migration ist, sondern<br />

vielmehr die Südgrenze (Mittelmeerbecken).<br />

Die Schaffung der Europäischen Grenzschutzagentur stellt eine Möglichkeit für<br />

die Entwicklung eines kohärenten Modells dar, das auf enger Zusammenarbeit<br />

und Partnerschaft mit den Nachbarländern basiert. Ein vergleichbares Modell<br />

wurde bereits an der finnisch-russischen Grenze umgesetzt.<br />

Um gegenseitiges Vertrauen zu schaffen, muss sich die EU in diesem<br />

Politikbereich auf Unterstützungsleistungen konzentrieren, mit denen zum Aufbau<br />

autonomer Kapazitäten unserer Nachbarn in diesem Bereich beigetragen wird. Dies<br />

ist insbesondere bei der justiziellen Zusammenarbeit und dem Kampf gegen die<br />

Korruption von Bedeutung.<br />

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JACEK EMIL SARYUSZ-WOLSKI<br />

Alle oben genannten Ziele können mit angemessenen finanziellen Mitteln<br />

erreicht werden, so dass im Rahmen des geplanten europäischen Nachbarschaftsund<br />

Partnerschaftsinstruments für alle notwendigen Maßnahmen Finanzmittel in<br />

ausreichender Höhe bereitgestellt werden sollten.<br />

8. Regel des schrittweisen Vorgehens und der Konditionalität in der<br />

Zusammenarbeit zwischen der EU und ihren Nachbarländern. Die EU sollte die<br />

Zusammenarbeit und insbesondere die Gewährung von Unterstützung vom<br />

Fortschreiten des Transformationsprozesses abhängig machen. Besonderes<br />

Augenmerk sollte auf folgende Punkte gelegt werden: Minderheitenschutz und<br />

Achtung der Menschenrechte, Aufbau demokratischer Institutionen und<br />

Marktwirtschaft, Verbesserungen des Regierungs- und Verwaltungssystems und<br />

Bekämpfung der Korruption. Konditionalität sollte sich jedoch immer an dem<br />

tatsächlich Machbaren orientieren – sie darf nicht zu einem Alibi für Untätigkeit<br />

werden. Daher wäre es empfehlenswert, wenn die EU einen eher graduellen<br />

Ansatz verfolgen würde. Kleine Schritte in die richtige Richtung können wertvoller<br />

sein als das Drängen auf Erfüllung unrealistischer Bedingungen.<br />

Welcher Gestalt ist die <strong>Vision</strong> der östlichen Dimension der ENP?<br />

Die östliche Dimension der ENP stellt einen Bereich dar, in dem die neuen<br />

EU-Mitgliedstaaten ihre praktischen politischen und geschichtlichen Erfahrungen<br />

anwenden können und in dem sie über Kompetenzen und Kenntnisse verfügen,<br />

die sie in den Dienst der neugestalteten GASP stellen können.<br />

Russland – formell gesehen kein Bestandteil der Nachbarschaftspolitik; dennoch<br />

ist es notwendig, einige Worte über den wichtigsten und größten strategischen<br />

Nachbar der Union zu verlieren. Ich bin davon überzeugt, dass die oben<br />

dargelegten Grundsätze zur Umsetzung der ENP auch für Russland gelten sollten.<br />

Einer dieser Grundsätze betrifft den Punkt „Differenzierung“ – und dies<br />

bedeutet nicht, dass Russland keines besonderen Ansatzes bedarf, ganz im<br />

Gegenteil. Dieser Ansatz sollte jedoch auf denselben allgemeinen Grundsätzen<br />

basieren, die die EU auf die gesamte Region anwendet.<br />

Die jüngsten Entwicklungen in diesem Land machen die Herausforderung<br />

noch größer. Die Instrumente, über die die EU in Zusammenhang mit Russland<br />

verfügt, sind leider beschränkt. Die EU kann die Lage in der Ukraine auf relativ<br />

einfache Art und Weise beeinflussen, indem sie die Aussicht (so entfernt sie auch<br />

sein mag) auf eine Assoziierung oder eine Mitgliedschaft anbietet. Die Aussicht<br />

auf künftige Mitgliedschaft stellt das bedeutendste Instrument im Rahmen der<br />

Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dar. Über ein solches Instrument<br />

verfügt die EU gegenüber Russland jedoch nicht.<br />

Wie bereits dargelegt, ist es nicht meine Absicht, näher auf die Schwierigkeiten<br />

in den Beziehungen zwischen der EU und Russland einzugehen; dennoch möchte<br />

ich die Aufmerksamkeit auf die Möglichkeit lenken, „weiche“ Maßnahmen in<br />

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EUROPÄISCHE NACHBARSCHAFTSPOLITIK<br />

den Beziehungen zum größten EU-Nachbarn einzusetzen. Damit ist ein großes<br />

Potenzial verbunden. Das Hauptziel der EU sollte darin bestehen, der Entwicklung<br />

gegenzusteuern, die zu einer fortschreitenden Distanzierung Russlands von der<br />

EU führt; wir sollten nicht zulassen, dass wir uns immer mehr voneinander entfernen.<br />

Besonderes Augenmerk sollte auf den direkten Kontakt mit der russischen<br />

Gesellschaft (regionale Zusammenarbeit, Erleichterung der Visumserteilung,<br />

Studentenaustausch), die Zusammenarbeit zwischen den NRO, die Erleichterung<br />

des Zugangs zu unbeeinflussten Informationen über die EU und die Unterstützung<br />

unabhängiger Medien gelegt werden, um nur ein paar Punkte zu nennen. Selbst<br />

wenn die Distanz zwischen der EU und der russischen Regierung auch in Zukunft<br />

anhalten sollte, so sollte die EU alles daran setzen, um zu verhindern, dass diese<br />

Tendenz auch die Beziehungen zwischen unseren Gesellschaften bestimmt.<br />

Die Ukraine sollte nach der Orangefarbenen Revolution als erklärte<br />

Führungsmacht in dieser Region anerkannt werden, wegen ihrer Größe, ihrer<br />

Zielen (EU-Mitgliedschaft), der politischen Dynamik und der Ausrichtung der<br />

derzeit stattfindenden Änderungen (demokratisch und marktwirtschaftlich ausgerichtete<br />

Reformen, die durch eine aktive und einflussreiche Bürgerbewegung<br />

unterstützt werden). Die Ukraine und Georgien stellen in ihrer EU-orientierten,<br />

demokratischen Form ein wichtiges Beispiel dafür dar, dass sich Demokratie und<br />

Rechtsstaatlichkeit in den postsowjetischen Republiken durchsetzen können.<br />

Die neue demokratische Regierung in Kiew verfügt über einen beschränkten<br />

Zeitraum, um die dringend notwendigen und schwierigen Reformen umzusetzen.<br />

Wenn wir ernsthaft der Meinung sind, dass es in unserem ureigensten<br />

Interesse liegt, einen demokratischen und prosperierenden Nachbarn mit einer<br />

robusten Wirtschaft und einer zufriedenen Bevölkerung zu haben, so müssen<br />

wir die Ukraine in ihren Transformationsbestrebungen unterstützen. Die konzertierte<br />

Aktion der EU sollte zwei Voraussetzungen erfüllen:<br />

– sie muss die politische Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedstaaten erhalten,<br />

– ihre Auswirkungen müssen so nachhaltig sein, dass sie von der ukrainischen<br />

Öffentlichkeit zur Kenntnis genommen werden und so zur Unterstützung<br />

der proeuropäischen Regierung Juschtschenko-Timoschenko führen.<br />

Ich bin fest davon überzeugt, und diese Überzeugung wird auch von einer<br />

deutlichen Mehrheit des Europäischen Parlaments in seiner berühmten<br />

Entschließung vom 13. Januar gestützt, dass der Ukraine eine eindeutige europäische<br />

Perspektive eröffnet werden sollte. Diese Ansicht wird leider von vielen<br />

EU-Regierungen nicht uneingeschränkt geteilt. Die EU kann sich jedoch auf einen<br />

Vielzahl praktischer, und dennoch sehr wichtiger Schritte konzentrieren:<br />

a. Erleichterung der Visaregelungen EU-Ukraine,<br />

b. Aufbau institutioneller Strukturen – Unterstützung des Prozesses der rechtlichen<br />

Harmonisierung mit dem gemeinsamen Besitzstand, Erreichen eines assoziierten<br />

Status gegenüber der EU,<br />

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JACEK EMIL SARYUSZ-WOLSKI<br />

c. Anerkennung der Ukraine als Marktwirtschaft (wie im Fall Russlands) und<br />

Unterstützung bei den Bestrebungen, WTO- und OECD-Mitglied zu werden,<br />

d. Aussicht auf Errichtung einer Freihandelszone zwischen der EU und der<br />

Ukraine (Öffnung des EU-Stahl- und Textilmarkts für ukrainische Erzeugnisse),<br />

e. Besondere Bildungsprojekte, deren Ziel es ist, ukrainische Universitäten<br />

an die EU-Bildungs- und Wissenschaftsprogramme anzukoppeln, Stipendien für<br />

Studenten und Wissenschaftler usw.<br />

f. Intensivierung der Aktivitäten der Euroregion Karpaten (Polen – Slowakei –<br />

Ungarn – Rumänien – Ukraine),<br />

g. Unterstützung des Erdöl-Pipeline-Projekts Odessa-Brody-Gdansk.<br />

Moldawien ist ein weiteres wichtiges Land auf unserer Liste, das dem Beispiel<br />

der Ukraine folgen könnte. Die Lage hat sich nach den jüngsten Wahlen verbessert,<br />

die neue Regierung ist erklärtermaßen proeuropäisch. Moldawien ist wegen eines<br />

grundlegenden Faktors von so großer Bedeutung – wegen des Beitritts Rumäniens<br />

zur EU im Jahr 2007. Vielen Menschen ist noch nicht bewusst, dass circa 1 Million<br />

moldawische Bürger (von einer Bevölkerung von insgesamt 4,5 Millionen) die doppelte<br />

moldawisch-rumänische Staatsangehörigkeit besitzen; dies bedeutet, dass sie<br />

schon sehr bald EU-Bürger sein werden. Das Transnistrien-Problem, das einen<br />

wichtigen Faktor bei der Beurteilung der Situation in Moldawien darstellt, bedarf<br />

gesonderter Behandlung. Die europäische Unterstützung von Demokratie und<br />

Rechtsstaatlichkeit sowie die zusätzlichen Maßnahmen, die voraussichtlich von<br />

Rumänien nach seinem Beitritt vorgeschlagen werden, sollten zu wichtigen<br />

Instrumenten der EU-Politik in dieser Region werden.<br />

Belarus stellt einen völlig anderen Fall dar. Die Diktatur im Sowjet-Stil, die<br />

einen nostalgischen Blick auf die „ruhmreiche Vergangenheit“ fördert – und das<br />

in unmittelbarer Nähe zur EU –, stellt eine Herausforderung für alle Europäer dar.<br />

Änderungen sind in diesem Land unvermeidlich. Die Orangefarbene Revolution<br />

in der Ukraine, die Verbreitung demokratischer Ideen aus den Nachbarländern<br />

Litauen und Polen dürften ihre Wirkung früher oder später entfalten. Die EU sollte<br />

mental und materiell darauf vorbereitet sein, diese Änderungen zu unterstützen,<br />

wenn es soweit ist.<br />

Das autoritäre Regime in Belarus kann angesichts der EU und der demokratischen<br />

Ukraine nur schwerlich überleben. Die EU sollte jedoch bereit sein,<br />

Demokratiebestrebungen in diesem Land mit adäquaten Instrumenten zu fördern.<br />

Nach meinem Dafürhalten sollte die EU:<br />

a. in dem Bestreben, Freiheit und Menschenrechte zu verteidigen, auf die belarussische<br />

Regierung konstanten Druck ausüben,<br />

b. eine freie Hörfunk- und Fernsehsendeanstalt für Belarus einrichten, um so<br />

das Medienmonopol der Regierung zu brechen,<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 209<br />

c. einen europäischen Demokratiefonds gründen, um die Zivilgesellschaft von<br />

Belarus zu unterstützen. Dieses Instrument sollte der Verbesserung der Entwicklung<br />

und Aufnahme finanzieller Hilfen für belarussische Nichtregierungsorganisationen<br />

dienen,<br />

d. ein europäisches Stipendienprogramm für weißrussische Studenten schaffen.<br />

Fazit<br />

EUROPÄISCHE NACHBARSCHAFTSPOLITIK<br />

Die europäische Nachbarschaftspolitik eröffnet der Europäischen Union ein<br />

großes Potenzial und stellt einen wirksamen Weg dar, um an Profil gegenüber ihren<br />

Nachbarn zu gewinnen und ihre zugleich ureigensten Interessen zu verfolgen. Mit<br />

der ENP kann der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik neue Energie zugeführt<br />

werden. Zugleich bietet sie uns ein vielversprechendes Übungsgelände für unsere<br />

gemeinsamen politischen Bestrebungen im Bereich der Außenpolitik. Niemand<br />

zweifelt an ihrer Wichtigkeit. Ich möchte in diesem Zusammenhang daran erinnern,<br />

dass es in der Europäischen Sicherheitsstrategie heißt, dass geografische<br />

Aspekte auch im Zeitalter der Globalisierung wichtig seien und es im Interesse der<br />

EU liege, dass unsere Anrainerstaaten gut regiert werden. Heutzutage stellt kein<br />

Nachbar eine direkte Bedrohung für die EU dar; dennoch könnten interne Probleme,<br />

mit denen die Nachbarländer zu kämpfen haben, auf die EU übergreifen. Es liegt<br />

daher in unserem gemeinsamen Interesse, dass unsere Nachbarn stabil, gut regiert,<br />

demokratisch und wirtschaftlich möglichst erfolgreich sind und sie zu einem effektiven<br />

Kooperationsnetzwerk gehören – einem wahren „Ring of Friends“.<br />

Die ukrainische Revolution hat gezeigt, dass ein friedlicher Umbruch letztendlich<br />

möglich ist. Ich bin der Meinung, dass sie im Hinblick auf politische<br />

Veränderungen in dieser Region inspirierend wirken wird. Die Rolle der EU besteht<br />

insbesondere darin, ihren Werten treu zu bleiben: Unterstützung von Demokratie,<br />

Rechtsstaatlichkeit, Recht auf freie Meinungsäußerung und Menschenrechten. Dies<br />

ist die Grundlage, auf der die EU errichtet wurde, und gleichzeitig das wichtigste<br />

Instrument für eine wahrhaft gemeinsame Außenpolitik.<br />

Das Beispiel der Ukraine hat zudem gezeigt, dass die Gemeinsame Außen- und<br />

Sicherheitspolitik letzten Endes wirklich effektiv sein kann und dass sie in der Lage<br />

ist, einer sich anbahnenden Krise präventiv zu begegnen. Es hat auch gezeigt, dass<br />

das Europäische Parlament eine wichtige, selbständige Rolle in der Außenpolitik spielen,<br />

seine Prioritäten umsetzen und als echter, mutiger Anführer in bestimmten<br />

Themenbereichen der Außenpolitik fungieren kann. Es hat schließlich gezeigt, dass<br />

die neuen Mitgliedstaaten für die EU ein echter Zugewinn sind und ihnen schnell<br />

bewusst geworden ist, dass sich ihre spezifischen nationalen Interessen und die<br />

Interessen der gesamten europäischen Gemeinschaft in den meisten Fällen<br />

ergänzen.<br />

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April 2005


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Gitte SEEBERG<br />

Leiterin der dänischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Gemeinsame Werte – Gemeinsame Zukunft<br />

Eine Gemeinschaft, die den Nationalstaat schützt und die Freiheit des<br />

Einzelnen verteidigt<br />

Europa kann auf eine lange Geschichte zurückblicken. Eine Geschichte, die<br />

angefüllt ist mit Krieg, Grauen, Pest und Cholera. Aber auch eine Geschichte, die<br />

reich an Entdeckungen und neuem Gedankengut ist. Die Demokratie wurde in<br />

Europa neu erfunden. In Europa wurden die bürgerlichen Freiheitsrechte formuliert<br />

und die Industrialisierung vorangetrieben, durch die die menschliche Zivilisation<br />

einen Quantensprung vollzogen hat.<br />

Die neuere Geschichte Europas hat sich im Guten wie im Schlechten in einem<br />

ständigen Wechsel von Rivalität und Zusammenarbeit zwischen unabhängigen<br />

Nationalstaaten vollzogen. Wenn die Rivalität Überhand nahm, brachen über<br />

Europa verheerende Kriege herein, in denen viel Blut vergossen und den Bürgern<br />

unermessliches Leid zugefügt wurde. Wenn Fortschritte in der Zusammenarbeit<br />

zwischen den Staaten zu verzeichnen waren, führte dies auch zum Aufblühen der<br />

Zivilisation und zu mehr Frieden.<br />

Mit der Errichtung der Europäischen Union haben die europäischen<br />

Nationalstaaten eine Formel gefunden, die die Phase des Friedens ins Unendliche<br />

fortschreiben könnte. Der Friede in Europa ist vorrangigste Aufgabe der EU und<br />

zugleich Voraussetzung für all das, was die europäischen Staaten im Miteinander<br />

erschaffen wollen.<br />

Das zwischenstaatliche Vertrauen bildet das Fundament für den Frieden in<br />

Europa. Kein EU-Mitgliedstaat fühlt sich heute von seinen Nachbarn in der Union<br />

bedroht. Die Grenzen sind offen, aber gleichwohl genau festgelegt und unverletzbar.<br />

Im Rahmen des Nationalstaats können die Bürger in Freiheit und in einer<br />

nationalen Gemeinschaft leben, die es ihnen ermöglicht, an der transnationalen bindenden<br />

Zusammenarbeit der Union mitzuwirken, die ihnen Sicherheit in wirtschaftlicher,<br />

politischer und kultureller Hinsicht bringt.<br />

Ich möchte meiner Hoffnung Ausdruck geben, dass die Europäische Union in


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GITTE SEEBERG<br />

den kommenden Jahren in der Lage ist, ihrer Aufgabe als Hüterin der unabhängigen<br />

Nationalstaaten gerecht zu werden. Das Motto der Union, wie es im<br />

Verfassungsvertrag formuliert ist - „in Vielfalt geeint“ - belegt, dass gerade die<br />

Achtung der nationalen Unabhängigkeit der Mitgliedstaaten und der individuellen<br />

Rechte der Bürger als tragendes Prinzip der Union gilt. Ohne diese ausdrückliche<br />

Anerkennung der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Mitgliedstaaten wäre<br />

die Union nicht in der Lage, ihre erklärte Zielstellung umzusetzen: den Frieden, ihre<br />

Werte und den Wohlstand der Bevölkerung zu fördern.<br />

Seit in der Nachkriegszeit der Fünfzigerjahre von fünf Staaten eine engere<br />

Zusammenarbeit angestrebt wurde, hat die Europäische Union eine sehr weit reichende<br />

Entwicklung vollzogen und ist wesentlich größer geworden. Ich will hier<br />

nicht in Abrede stellen, dass die Gründungsväter der Union die <strong>Vision</strong> von der<br />

Auflösung des Nationalstaats als Weg zur Vermeidung künftiger Kriege ansahen.<br />

Doch diese Zeit ist vorbei. In einer Union mit bis zu 30 Mitgliedstaaten stehen<br />

wir vor anderen Herausforderungen. Die vielen kleinen und weniger großen<br />

Mitgliedstaaten der EU erwarten, dass ihre nationalen Besonderheiten respektiert<br />

und anerkannt werden. Dass die Union keine Strategie verfolgt, die auf die<br />

Abschaffung der Nationalstaaten abzielt, ist schlichtweg eine Voraussetzung für<br />

die Übertragung von Souveränität an die Institutionen der EU. Die Kommission und<br />

das Europäische Parlament als die am stärksten auf Integration ausgerichteten<br />

Institutionen sollten vielmehr einen aktiven Beitrag dazu leisten, das Gespenst<br />

des Föderalismus zu vertreiben.<br />

Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die europäischen Institutionen zu der<br />

Erkenntnis kommen, dass ohne die Nationalstaaten als Fundament der Union der<br />

Zusammenarbeit der Boden entzogen wird und wir Gefahr laufen, dass die Epoche<br />

des Friedens weniger von Dauer ist, als wir erhoffen und alle anstreben..<br />

Eine Gemeinschaft, die die Privatinitiative als Weg zu Wachstum und<br />

Fortschritt anerkennt<br />

Mit dem Zusammenbruch im Osten und dem Ende des Kommunismus ist die<br />

Welt ein besserer Ort zum Leben geworden. Die Verbrechen des Kommunismus<br />

gegen die Menschheit sind unverzeihlich. Unzählige Menschen sind unter der<br />

Tyrannei des Sowjetimperiums ums Leben gekommen. Die wirtschaftlichen<br />

Fehlentwicklungen, die unter dem Joch des Kommunismus erfolgt sind, haben<br />

eine ganze Generation um ihre berechtigten Hoffnungen auf sozialen Fortschritt,<br />

Wohlstand und Gesundheit gebracht. Die völlige Missachtung des Initiativgeists<br />

und Tatendrangs des Menschen, die in der kollektivistischen Planwirtschaft vorherrschte,<br />

hat dazu geführt, dass Produktion und Wohlstand auf einem ungeheuer<br />

niedrigen Niveau verblieben.<br />

Heute müssen wir eingestehen, dass die Europäische Union in bestimmten<br />

Bereichen unverkennbar Züge angenommen hat, die auf eine falsch verstandene<br />

Akzeptanz der Planwirtschaft als brauchbares Instrument schließen lassen.<br />

212


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 213<br />

GEMEINSAME WERTE – GEMEINSAME ZUKUNFT<br />

Es gibt zahllose Beispiele überzogener Regulierung der Wirtschaft. Unaufhörlich<br />

werden Versuche unternommen, Detailfragen bis ins Absurde zu regulieren, und<br />

im Haushaltsbereich steckt die Union in einem Sumpf aus staatlichen Beihilfen, die<br />

in manchen Ländern in unrentable Wirtschaftszweige fließen, und intern wird eine<br />

anachronistische Agrarbeihilfe praktiziert, die eine zukunftsorientierte Förderung<br />

von Forschung und Entwicklung verhindert und zugleich für die Verbraucher<br />

Lebensmittel verteuert. Darüber hinaus wird der freie Wettbewerb mit den Ländern<br />

der dritten Welt behindert, wenn es um den Verkauf von Lebensmitteln an die<br />

europäischen Verbraucher geht.<br />

Eine der großen Aufgaben der kommenden Jahre wird darin bestehen, die<br />

Anzahl der Rechtsvorschriften in der EU zu verringern. Nutzlose und über Gebühr<br />

regulierende Einschränkungen der Entfaltungsmöglichkeiten für Privatinitiative<br />

sollten gestrichen werden. Die Agrarbeihilfen müssen zwar nicht ganz abgeschafft,<br />

aber doch so stark reduziert werden, dass sie keine Belastung des<br />

Gemeinschaftshaushalts mehr darstellen.<br />

Wachstum und Fortschritt werden nicht durch Regulierungsmaßnahmen der<br />

Staaten oder der Union erreicht. Wachstum und damit die Grundlage des Wohlstands<br />

wird durch private Initiative und Tatendrang geschaffen.<br />

Bei unseren gemeinsamen Bestrebungen, die Ziele von Lissabon zu erfüllen,<br />

müssen wir uns vor Augen halten, dass ein unflexibler Arbeitsmarkt, eine überregulierte<br />

Wirtschaft und ein aufgeblähter und bürokratischer öffentlicher Sektor in<br />

die entgegengesetzte Richtung führen.<br />

Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die europäischen Regierungen in<br />

den kommenden Jahren zu dieser Erkenntnis kommen und in Europa Entfaltungsmöglichkeiten<br />

für Kreativität und Tatendrang einräumen. Das sozialdemokratische<br />

Sicherheitsdenken, das auf Zentralismus und Überregulierung basiert, wird die<br />

Bürger Europas in Bezug auf Wohlfahrt und Wohlstand letztlich teuer zu stehen<br />

kommen.<br />

Eine Gemeinschaft, die bei gleichzeitiger Übernahme von Verantwortung für<br />

Umwelt und Nachhaltigkeit den freien Wettbewerb gewährleistet<br />

Der freie und faire Wettbewerb ist ein Grundpfeiler der europäischen<br />

Zusammenarbeit. So wie Überregulierung und ins Detail gehende Bevormundung<br />

der Wirtschaft der Fähigkeit der Gesellschaft, innovativ und zukunftsorientiert<br />

Wachstum und Wohlstand zu sichern, nicht wieder gut zu machenden Schaden zufügen,<br />

wirken sich Kartellbildungen, Sozialdumping und verantwortungsloser Umgang<br />

mit der Umwelt und den natürlichen Ressourcen verheerend auf die Fähigkeit der<br />

Wirtschaft aus, für die Bevölkerung Europas nachhaltige Fortschritte zu erzielen.<br />

Aus Erfahrung wissen wir, dass Forschung und Investitionen in eine sauberere<br />

Umwelt sich auszahlen und die Wettbewerbsfähigkeit erhöhen. Eine stringente<br />

Umweltpolitik trägt zugleich zur Stärkung der Volksgesundheit bei und bringt<br />

der öffentlichen Hand auf längere Sicht Kosteneinsparungen.<br />

213


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 214<br />

GITTE SEEBERG<br />

Die Europäische Union muss es sich zum Ziel machen, die Umweltstandards<br />

in allen Bereichen zu verbessern, damit die EU im weltweiten Kampf für eine sauberere<br />

und gesündere Umwelt zum Vorreiter wird.<br />

Die Verschmutzung der Umwelt mit immer mehr Chemikalien stellt ein gewaltiges<br />

Problem dar, und zwar nicht nur in der EU, sondern in der ganzen Welt.<br />

Den Behörden fällt es schwer, mit den Entwicklungen in der Industrie Schritt zu<br />

halten. Immer mehr Chemikalien kommen in zunehmend schnellerer Abfolge auf<br />

den Markt, sodass die Auswirkungen der Substanzen auf Mensch und Umwelt<br />

nicht mehr bewertet werden können.<br />

Die Analyse und Bewertung dieser Stoffe ist eindeutig Aufgabe der EU. Kein<br />

Land wäre allein in der Lage, diese Aufgabe zu schultern, und darüber hinaus<br />

besteht für sie eine ganz natürliche Verpflichtung, da der freie Warenverkehr über<br />

die innergemeinschaftlichen Grenzen hinweg nicht dazu führen darf, dass die<br />

Gesundheit der Bevölkerung gefährdet wird.<br />

In der Agrarproduktion muss die EU in den kommenden Jahren strengere<br />

Anforderungen an die Landwirte stellen, was die Tierhaltung angeht. Um den<br />

Gesundheitszustand der Tiere in modernen effizienten Agrarbetrieben ist es allzu<br />

schlecht bestellt. Es kommen immer mehr Antibiotika zum Einsatz, und viele Tiere<br />

werden in den Schlachtbetrieben ausgesondert, weil sie entweder krank sind oder<br />

große Wunden wegen schlechter Behandlung aufweisen.<br />

Dies ist ein inakzeptabler Zustand, das darf nicht so weitergehen. Der häufige<br />

Einsatz von Antibiotika in der Landwirtschaft beschwört die Gefahr der<br />

Kreuzresistenz beim Menschen herauf, die dazu führen könnte, dass uns in Zukunft<br />

die Fähigkeit zur wirksamen Behandlung anderer Krankheiten entzogen ist. Darüber<br />

hinaus ist es moralisch verwerflich, die Tiere, die wir für unsere Ernährung nutzen,<br />

mit so wenig Achtung für ihr Wohlergehen behandeln. Die allzu langen<br />

Tiertransporte durch Europa sind Ausdruck derselben falschen Einstellung, nach<br />

der landwirtschaftliche Nutztiere ausschließlich als eine Ware behandelt und angesehen<br />

werden und nicht als lebende Wesen, die ein Recht auf ordentliche<br />

Behandlung haben.<br />

Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die Bürger Europas den Kampf für<br />

eine gesündere und sauberere Umwelt in Industrie und Landwirtschaft in den<br />

kommenden Jahren zum Anliegen der Bevölkerung erheben. Die Verbraucher sitzen<br />

letztendlich am längeren Hebel, schließlich sind sie es, die die Waren kaufen<br />

und bezahlen sollen. Es kommt darauf an, die Interessen der starken<br />

Landwirtschaftsorganisationen und die Lobbyisten der Chemieindustrie in die<br />

Schranken zu weisen.<br />

Eine Gemeinschaft, die ihren Nachbarn die Hand reicht<br />

Nicht alle Länder, die in geografischer Nähe zur Union gelegen sind, können<br />

Mitglied der Europäischen Union werden. Die EU ist ein Zusammenschluss europäischer<br />

Ländern, daher ist u. a. den nordafrikanischen Ländern, Russland und<br />

214


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 215<br />

GEMEINSAME WERTE – GEMEINSAME ZUKUNFT<br />

den Ländern des Kaukasus für immer die Möglichkeit entzogen, die Aufnahme<br />

in die Union zu beantragen.<br />

Die EU hat ihre Grenzen, doch für die Idee einer verbindlichen Zusammenarbeit<br />

als Weg zu Frieden, Wachstum, Wohlstand und Wohlergehen gibt es keine Grenzen.<br />

Daher muss die EU ihren Nachbarn in den kommenden Jahren die Hand reichen<br />

und ihnen mehr als nur die traditionellen Kooperationsabkommen anbieten.<br />

Wohlstand und Frieden bei uns hängen davon ab, dass die Nachbarstaaten der<br />

EU sich in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht harmonisch und dynamisch<br />

entwickeln. In der Tat bedeutet eine Bedrohung der zerbrechlichen demokratischen<br />

Institutionen Russlands eine Bedrohung für uns alle. Und fortdauernde<br />

Armut, Arbeitslosigkeit und Analphabetismus in Nordafrika bedrohen auf längere<br />

Sicht uns alle.<br />

Die Nachbarstaaten der EU im Süden und im Osten unterscheiden sich voneinander,<br />

und dies sollte sich im Angebot der EU für Zusammenarbeit, Entwicklung<br />

und Beihilfen wiederspiegeln.<br />

Im Zusammenhang mit Nordafrika mutet es absurd an, dass dort nur sehr<br />

geringe – wenn überhaupt – Fortschritte erzielt werden, während die ostasiatischen<br />

Länder eine rasante Entwicklung in Riesenschritten vollziehen. In Anbetracht<br />

der geringen Entfernung zum europäischen Markt sollte Nordafrika in der Lage sein,<br />

weitaus umfassendere private Investitionen anzuziehen, als dies heute der Fall ist.<br />

Der enorme Zuwanderungsdruck aus Nordafrika liegt ganz einfach darin begründet,<br />

dass die Wirtschaft der nordafrikanischen Staaten nicht in der Lage ist, ihren<br />

eigenen Bürgern eine angemessene Zukunft zu bieten, die darauf beruht, dass<br />

diese für ihre eigene Arbeit angemessenen Lohn erhalten. Der Verfall der Gesellschaft<br />

ist eben diesem Fehlens wirtschaftlicher Dynamik geschuldet. Die Infrastruktur ist<br />

unzureichend, die Staaten können öffentliche Bildungs- und Gesundheitssysteme<br />

nicht fördern, und wir geraten zunehmend in eine Situation, in der der nationale<br />

Zusammenhalt mehrerer nordafrikanischer Länder durch das Bevölkerungswachstum<br />

in Gefahr gerät.<br />

Den Regierungen der EU-Mitgliedstaaten muss zu der Erkenntnis verholfen<br />

werden, dass der elende Zustand Nordafrikas alle Bürger Europas angeht.<br />

Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die EU-Staaten einen gemeinsamen<br />

Beschluss fassen, Nordafrika aus dem Sumpf von Armut, Arbeitslosigkeit und<br />

Trostlosigkeit herauszuziehen, der für die Länder südlich des Mittelmeers kennzeichnend<br />

ist. Dies wird Geld kosten – sehr viel Geld –, doch wir müssen das als eine<br />

Investition in unsere eigene Zukunft verstehen.<br />

Eine Gemeinschaft, die sich aktiv für Demokratie und Menschenrechte<br />

einsetzt<br />

Die wichtigste Aufgabe der Europäischen Union ist es, die Grundlage für dauerhaften<br />

Frieden zwischen den Staaten Europas zu schaffen. Die EU als solche<br />

hat die demokratischen Systeme in den europäischen Ländern weder geschaffen<br />

215


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 216<br />

GITTE SEEBERG<br />

noch gesichert. Dies ist allein das Verdienst der Völker Europas – und nur deren<br />

Verdienst.<br />

Aber mit ihrer grundlegenden Idee, dass wirtschaftlicher Fortschritt der beste<br />

Weg zur Stabilisierung von Demokratien ist, war die EU ein Katalysator für die<br />

demokratischen Bewegungen in Osteuropa wie auch in der Dritten Welt.<br />

Der Weg zum Frieden führt über eine Arbeit, eine Ausbildung und die Fähigkeit,<br />

sich selbst und seine Familie versorgen zu können. Die EU sollte besser in der Lage<br />

sein, diese Sicht auf den europäischen Erfolg in der Welt publik zu machen. Unter<br />

anderem im Verhältnis zu den Entwicklungsländern Afrikas kommt es darauf an,<br />

eine Erwartungshaltung, ein besseres Leben betreffend, aufzubauen, bevor sich diese<br />

Länder, die heute von Korruption, Krieg und Unterdrückung geprägt sind, für<br />

einen anderen Weg entscheiden.<br />

40 Jahre Entwicklungshilfe für Afrika haben für sich genommen das Leben auf<br />

diesem Kontinent nicht lebenswerter gemacht. Die nächsten 40 Jahre<br />

Entwicklungshilfe werden auch keinen großen Unterschied ausmachen, sofern<br />

nicht verantwortungsbewusstes Regieren, Menschenrechte und Demokratie zu tragenden<br />

Säulen der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik der europäischen<br />

Staaten werden.<br />

Einstige europäische Großmächte, die heute an Macht verloren haben, sind<br />

sich über Jahre hinweg gegenseitig auf die Zehen getreten und haben zugleich die<br />

afrikanischen Völker mit Füßen getreten mit ihren Versuchen, den einen oder<br />

anderen afrikanischen Führer entweder zu unterstützen oder durch eine andere<br />

Person zu ersetzen. Dieses Großmachtspiel auf Kosten der Afrikaner muss ein<br />

Ende haben. Es gibt keine europäischen Großmächte mehr, aber es gibt weit verbreiteten<br />

Hunger, Not und Elend auf dem ganzen afrikanischen Kontinent von<br />

Casablanca bis Kapstadt.<br />

Die europäischen Staaten sollten eine gemeinsame koordinierte Afrika-Politik<br />

führen, die mit alten Vorurteilen Schluss macht und ausschließlich darauf ausgerichtet<br />

ist, durch Stärkung der Menschenrechte, der Demokratie und einer offenen<br />

Marktwirtschaft die Armut auszumerzen.<br />

Dies bedeutet nicht, dass die Entwicklungshilfe gekürzt werden soll, aber die<br />

Erfahrungen haben uns gelehrt, dass Entwicklungshilfe auf längere Sicht keinen<br />

Nutzen bringt, wenn in den Ländern Diktaturen herrschen und sie am Rande des<br />

Bürgerkriegs stehen.<br />

Meine eigene Hoffnung geht dahin, dass die Europäische Union in Anbetracht<br />

ihrer eigenen unverkennbaren Erfolge bei der Schaffung von Fortschritt und<br />

Wohlstand für ihre eigenen Bürger, künftig eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung<br />

eines neuen Denkansatzes im Zusammenhang mit den Beziehungen zwischen<br />

der EU und Afrika übernimmt.<br />

216<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 217<br />

217<br />

Jean SPAUTZ<br />

Leiter der luxemburgischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Europatag, 9. Mai 2020<br />

Unsere <strong>Vision</strong> für Europa zu beschreiben, kann auf zwei Arten gelingen. Die<br />

eine, die konventionellere, ist eigentlich das Aneinanderreihen von Wünschen<br />

für die politische Zukunft unseres Kontinents. Dies passiert jeden Tag, in Brüssel<br />

und anderswo, in Reden und freien Tribünen, in Regierungen und Parlamenten.<br />

Die Summe der geäußerten Wünsche kann eine <strong>Vision</strong> ergeben. Doch eine <strong>Vision</strong><br />

ist eigentlich auch ein Traum, und deswegen existiert eine zweite, unkonventionellere<br />

Manier, das ideale Europa des Jahres 2020, und den Weg dorthin, zu schildern.<br />

Nämlich als Erzählung eines Traums, der sich am 9. Mai 2020 abspielt – am<br />

Europatag. In diesem Traum passieren 13 Jahre europäischer Geschichte Revue.<br />

Jene Jahre, deren Ereignisse das Europa des 9. Mai 2020 möglich gemacht<br />

haben.<br />

Der 9. Mai des Jahres 2020 ist ein Feiertag. Der erste unionsweite neue Feiertag,<br />

der 2017 eingeführt wurde, nachdem die Türkei, Moldawien, die Ukraine,<br />

Weißrussland und die Republiken des Südkaukasus der Union beigetreten waren.<br />

2012 bereits waren Bosnien-Herzegowina, Albanien, Serbien, Montenegro, Kosovo<br />

und Makedonien aufgenommen worden. Norwegen hatte im Jahr 2010 dem<br />

Beitritt zugestimmt, und die Schweiz war am 1. Januar 2019 das neueste Mitglied<br />

der Union geworden.<br />

Der erste gemeinsame Feiertag von nunmehr rund 600 Millionen Europäern,<br />

an dem zwischen Lissabon und Donezk, zwischen Diyarbakir und Tromsö, die<br />

Arbeit ruht. Seit 2017 wurde dieser Tag in jeweils einer europäischen Stadt besonders<br />

feierlich begangen. Nach Straßburg, Wien und Istanbul war die Reihe nun<br />

an der moldawischen Hauptstadt Chisinau. Der Bürgermeister der Stadt unterstrich<br />

in seiner Rede, dass der eben eingeweihte Schnellzugbahnhof von Chisinau das<br />

Symbol des europäischen Moldawien sei. Wien lag nur mehr dreieinhalb<br />

Bahnstunden entfernt. Von dort nach Brüssel schafften es die gemeinsam mit<br />

Japan entwickelten europäischen Magnetschwebezüge in zwei Stunden und fünfzig<br />

Minuten. Die transeuropäischen Netze waren nun schon zu einem guten Teil


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 218<br />

JEAN SPAUTZ<br />

Wirklichkeit – nachdem die Strukturfonds der Union hauptsächlich zugunsten<br />

der Transportpolitik reformiert worden waren.<br />

Die vergangenen Jahre waren nicht einfach gewesen. Die erste große<br />

Erweiterungsrunde der Union nach Osten, im Jahr 2004, war weniger leicht verdaulich,<br />

als viele sich das vorgestellt hatten. In einigen neuen Mitgliedsstaaten<br />

erstarkten schnell national ausgerichtete Protestbewegungen, deren Anhänger<br />

ihrem Frust über unerfüllte Erwartungen Luft machten. Als am 1. Januar 2007<br />

Kroatien, Bulgarien und Rumänien der Union beitraten, war deren<br />

Aufnahmefähigkeit überschritten. Der Verfassungsvertrag war zuvor in einzelnen<br />

Mitgliedsstaaten abgelehnt worden, doch wollte man den Erweiterungsprozess<br />

dennoch nicht unterbrechen. Ein Drittel aller Europäer, die in Referenden zur<br />

Verfassung befragt wurden, gingen zu den Urnen, ohne überhaupt etwas von<br />

dieser Verfassung gehört zu haben. Europa steckte in einer tiefen Krise.<br />

Die 28 Mitgliedsstaaten des Jahres 2007 mussten nun mit einer Union auskommen,<br />

deren institutioneller Zuschnitt im Vertrag von Nizza festgelegt war. Es<br />

kam zu Blockaden im Entscheidungsprozess. Die Verfassung konnte nicht in<br />

Kraft treten. Die Staaten des westlichen Balkan, die Ukraine, Moldawien und die<br />

Türkei begannen, an ihrer Beitrittsperspektive zu zweifeln. Konnte es zu dem<br />

Zeitpunkt ihrer endgültigen Beitrittsreife überhaupt noch eine Union geben? Die<br />

Zweifel, von denen die Europäer im Jahr 2007 geplagt wurden, waren die<br />

schlimmsten seit dem Scheitern der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im<br />

Jahr 1954. Hätte sich die französische Nationalversammlung damals dem Projekt<br />

nicht in den Weg gestellt, es wäre denkbar gewesen, dass bereits um 1960 eine<br />

föderale Gemeinschaft entstanden wäre – mit einem gemeinschaftlichen<br />

Besitzstand, einem „acquis communautaire “, der politischer Natur gewesen<br />

wäre, und sich nicht in einem von unzähligen Europäern als widerwärtig empfundenen<br />

Überregulierungswerk ausgedrückt hätte. Doch an dem Pariser Votum<br />

von 1954 war nichts mehr zu ändern. Die Frage war: Würde die Union von 2007,<br />

so wie die Montanunion der fünfziger Jahre, die Kraft finden, sich zu einem<br />

neuen Projekt aufzuschwingen? Würde sie die Europäer für einen neuen Anlauf<br />

begeistern können? Würde es ein neues Messina geben?<br />

Der Europäische Rat tagte in Brüssel. An einem trüben Dezembertag im Jahr<br />

2007 saßen die Staats- und Regierungschefs der Union in einem unpersönlich<br />

gehaltenen Sitzungssaal zusammen und berieten über Wege aus der Krise. Die<br />

Aussichten waren genau so bedrückend, wie das Brüsseler Winterwetter. Der<br />

Rat wusste, dass die Zukunft der Union an einem seidenen Faden hing. In<br />

Südpolen hatte es massive Demonstrationen gegeben, in Rumänien war der<br />

öffentliche Transport seit Wochen durch Streiks lahm gelegt, in Norwegen erreichten<br />

die Gegner eines EU-Beitritts in Umfragen 85 Prozent, und in Großbritannien<br />

gab es eine satte Volksmehrheit für den Austritt aus der Union. Wäre die Verfassung<br />

in Kraft gewesen, die Briten hätten die EU vielleicht bereits verlassen – doch auf<br />

Nizzaer Grundlage war dieser Vorgang formal nicht möglich. Noch nicht...<br />

Am Abend des zweiten Sitzungstages kamen die Mitglieder des Europäischen<br />

218


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 219<br />

EUROPATAG, 9. MAI 2020<br />

Rates überein, dass nur ein kompletter Neuanfang Europa würde retten können.<br />

Anders war an die Überwindung der europäischen Verkrampfung nicht mehr zu<br />

denken. Als der nächste Morgen graute, lag eine Skizze auf dem Konferenztisch.<br />

Es war die Skizze einer europäischen Konstituante, einer kontinental angelegten<br />

Neugründung der Union. Es würde einen neuen Konvent geben, dessen Mitglieder<br />

eigens für diese Aufgabe von den Europäern gewählt würden. Jeder Wähler<br />

würde zwei Stimmen haben, eine für einen nationalen Kandidaten seines Landes,<br />

und eine Listenstimme, mit der er die Kandidaten einer europäischen Partei wählen<br />

könnte. Der Konvent würde solange tagen, bis ein neues Europa definiert wäre.<br />

Das Resultat seiner Beratungen würde in einem gesamteuropäischen Referendum<br />

zur Abstimmung gelangen. In der Zwischenzeit rang sich der Rat dazu durch,<br />

sich einen Präsidenten zu geben, um Europa ein Gesicht zu verleihen – auch<br />

ohne Verfassung. Gleichzeitig wurde die Kommission aufgefordert, dem europäischen<br />

Parlament eines oder mehrere seiner Mitglieder für die Wahl zum europäischen<br />

Außenminister vorzuschlagen, damit die Volksvertretung den Außenminister<br />

im Januar 2008 bezeichnen könne. Ratspräsident, Kommissionspräsident und<br />

Außenminister würde jene Troika sein, die Europa bis zur Vollendung der Arbeiten<br />

des Konvents zu führen hätte. Der Rat selbst hatte beschlossen, dass keine zwei<br />

Mitglieder der Übergangstroika aus dem gleichen Land kommen dürften.<br />

Tatsächlich waren der Kommissionspräsident Portugiese, der Vorsitzende des<br />

Europäischen Rates Luxemburger und die Außenministerin Französin. Auf diese<br />

hochgebildete Frau, die fliessend deutsch, englisch und polnisch sprach, hatte sich<br />

das Europäische Parlament einigen können, nachdem der deutsche Parlamentspräsident<br />

als Vorsitzender des Konvents bezeichnet worden war. Er würde allerdings<br />

noch von diesem Gremium selbst bestätigt werden müssen.<br />

Die Bestimmung dieser Führungstroika stieß in der Europäischen Union auf<br />

breite Anerkennung und erregte weltweit Aufsehen. Es hatte nun den Anschein,<br />

als sei Europa doch fähig, sich zusammenzureißen und nach Jahrzehnten eher<br />

bedächtiger Einigungsfortschritte einen Quantensprung zu wagen. Die Partner<br />

der Europäischen Union in der Welt nahmen die Vorgänge in Europa ernst. Die<br />

erste grundsätzliche Entscheidung, die von der Troika getroffen wurde, war, in<br />

Zukunft auf nationalstaatliche Sitze im UN-Sicherheitsrat verzichten zu wollen, und<br />

einen europäischen Sitz in einem reformierten „Governance Council “ anzustreben,<br />

der den Sicherheitsrat ablösen sollte. Schließlich ging es dort, ebenso wie<br />

in Europa, nicht mehr nur um Krieg und Frieden: es ging um globales Vertrauen<br />

in die internationalen Organisationen, um deren Legitimität und ihre Fähigkeit,<br />

die Probleme der Welt anzupacken und mit Lösungen aufzuwarten.<br />

In Europa wurde die Konventswahl für Mitte Februar 2008 angesetzt. Die 112<br />

gewählten Mitglieder (jeweils zwei pro Mitgliedsland, und eine gleiche Zahl von<br />

über Listen gewählten Kandidaten der europäischen Parteien) würden zudem<br />

nicht in Brüssel tagen, sondern in Wien. Die symbolische Tragekraft der Hauptstadt<br />

jenes ersten multinationalen europäischen Staates, der das alte Österreich-Ungarn<br />

gewesen war, hatte den Europäischen Rat davon überzeugt, den Tagungsort des<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 220<br />

JEAN SPAUTZ<br />

Konvents in die kontinentale Mitte zu verlegen, sechzig Kilometer von der<br />

Slowakei und Ungarn entfernt. Der Konvent würde in jener Stadt arbeiten, von<br />

der aus bis 1919 Südtirol und das heute ukrainische Galizien, Bosnien und<br />

Siebenbürgen regiert worden waren. In jenem Wien, wo der junge italienische<br />

Deputierte Alcide de Gasperi vor dem ersten Weltkrieg noch seinen Sitz in der<br />

kaiserlichen Diät einnahm, um später Premierminister Italiens und einer der<br />

Gründungsväter Europas zu werden.<br />

Die Wahl zum Konvent brachte Europa neuen Schwung. Die erste wirklich<br />

europäische Wahlkampagne förderte all jenes zutage, das den Europäern an der<br />

EU Verdruss bereitete. Während dieser intensiven und spannungsgeladenen<br />

Winterwochen Ende 2007 und Anfang 2008 wurde viel über Legitimität und<br />

Akzeptanz, über Europas Rolle in der Welt, über Werte und das Wesen Europas<br />

diskutiert – mehr als zu irgend einem Zeitpunkt davor. Kandidaten und Parteien<br />

bekannten Farbe, nicht über ihre Meinungen zu obskuren Richtlinien über<br />

Dieselkraftstoff und Chemieprodukte, sondern zu einer europäischen<br />

Sozialversicherung, dem mittlerweile von fast allen Listen mitgetragenen europäischen<br />

Mindestlohn, zu Religionsfreiheit und den islamischen Wurzeln unseres<br />

Kontinents, die den europäischen Baum zusammen mit den jüdisch-christlichen<br />

stützen. Die Europäer wollten diskutieren, wollten ihren Kontinent an diesem<br />

Scheideweg selbst erfahren und mitgestalten, ohne dass ihre Lust an Europa<br />

getrübt wurde von Krämergeschacher über den europäischen Agrarhaushalt und<br />

Skandälchen um Sekretariatsabrechnungen europäischer Abgeordneter. Die<br />

gemeinsamen Kampagnenauftritte von Italienern, Iren, Tschechen und Esten auf<br />

der gleichen Liste und bei der gleichen Kundgebung beeindruckten die Europäer<br />

mehr, als irgendeine Butterfahrt zum Parlament es gekonnt hätte. Europa wurde<br />

erlebbar und greifbar: als in Vilnius der englische Spitzenkandidat der liberalen<br />

Liste auf litauisch ausrief „Europa kann nur dann gelingen, wenn europäische<br />

Politiker sich allen Europäern zur Wahl stellen“, folgte eine lange Ovation der versammelten<br />

Menge. Es ging um alles in diesem Wahlkampf – und die Europäer<br />

holten sich ihren Kontinent zurück.<br />

Der Konvent, der am 15. Februar in der Hofburg zusammentrat, war die erste<br />

gesamteuropäisch gewählte und gesamteuropäisch ausgerichtete parlamentarische<br />

Versammlung des Kontinents. Nationale Besonderheiten und Eigeninteressen<br />

hatten im Wahlkampf quasi keine Rolle gespielt. Nun sollte es also ernst werden<br />

mit der Neugründung Europas. Die Parlamente der Staaten des westlichen Balkan,<br />

der Türkei, der Ukraine und Moldawiens hatten Beobachter zum Konvent designiert,<br />

die nicht stimmberechtigt waren. Man hatte diesen Konvent auf die tatsächlichen<br />

Mitglieder der Union begrenzen wollen, um seine Arbeiten nicht<br />

durch geografische Überdehnung vorzubelasten. Allerdings spielten die Beobachter<br />

eine durchaus aktive Rolle, und ihre Eingaben waren nicht nur bereichernd, sondern<br />

teilweise richtungweisend. So war es im Konvent, im Frühjahr 2009, wo<br />

die türkische Delegation – darunter der Chef der parlamentarischen Opposition<br />

in der Türkei – zusammen mit Kollegen aus den sechs Gründerstaaten, vor-<br />

220


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 221<br />

EUROPATAG, 9. MAI 2020<br />

schlug, den Staaten des Südkaukasus, also Georgien, Armenien und Aserbaidschan,<br />

die Perspektive der EU-Mitgliedschaft zu eröffnen, und in ihrem<br />

Entschließungsantrag den osmanischen Genozid am armenischen Volk explizit<br />

anerkannte. Dieser Geste folgte die Einladung des Bürgermeisters von Istanbul<br />

zu einem ökumenischen Gottesdienst in der Hagia Sophia, der Kirche der Heiligen<br />

Weisheit in Istanbul, bei dem der orthodoxe und der armenische Patriarch von<br />

Konstantinopel zusammen mit einem hohen islamischen Geistlichen zelebrierten.<br />

Als die Wahlen für das europäische Parlament anstanden, im Frühsommer<br />

2009, steuerten die Arbeiten des Konvents auf ihren Abschluss zu. Tatsächlich hatten<br />

sich die Konventsmitglieder darauf geeinigt, ihren neuen Verfassungsentwurf<br />

nach Möglichkeit vor den Wahlen zum Europäischen Parlament vorzulegen. Am<br />

9. Mai 2009 war es soweit: Der Konvent präsentierte jenen Text, auf dessen<br />

Grundlage Europas Neugründung erfolgen sollte. Es war ein Konsensdokument:<br />

lediglich 14 euroskeptische Konventionelle stimmten gegen den Entwurf.<br />

Notwendig für dessen Annahme war eine Dreiviertelmehrheit aller Mitglieder:<br />

auf die Einstimmigkeitsregel war bewusst verzichtet worden.<br />

Der neue Textentwurf war das, was man von einer klassischen Verfassung<br />

erwartet: Er war kurz, klar, prägnant und beschränkte sich auf das Wesentliche.<br />

Wenn die Konventsmitglieder und die politische Führung Europas etwas aus den<br />

Abstimmungsniederlagen von 2007 gelernt hatten, dann, dass man den Europäern<br />

keinen hoch technischen 500-Seiter bei einem Referendum vorlegen kann, weil<br />

dessen Inhalt schlicht unkommunizierbar ist. Der neue Text war keine 100 Seiten<br />

lang. In 275 Artikeln lag ein Pionierwerk europäischen Verfassungsgeistes auf<br />

dem Tisch. Ein Dokument, das kein verkapptes Wahlprogramm war, sondern<br />

ein Grundgesetz im eigentlichen Sinn des Wortes: Eine vermittelbare, erklärbare,<br />

geistig und emotional erfassbare Verfassung. Die Politik, die solange die europäischen<br />

Verträge mit unverständlichen Detailbestimmungen überfrachtet hatte,<br />

würde nachkommen müssen.<br />

Es würde endlich eine europäische Regierung geben, die im Parlament auf eine<br />

Mehrheit angewiesen ist. Diese Regierung sollte aus so vielen Ministern und<br />

Stellvertretern bestehen, wie die Union Mitgliedsstaaten zählte. Es sollte eine<br />

gleiche Zahl von Ministern und Stellvertretern geben, die jeweils nach der Wahl<br />

zum Europäischen Parlament von diesem bestimmt würden. Auf die<br />

Bezeichnungen Kommission und Kommissar wurde verzichtet. Eine Regierung<br />

besteht nun einmal nicht aus Kommissaren, sondern aus Ministern.<br />

Der Chef dieser Regierung, der Präsident der Europäischen Union, würde<br />

auch den Rat der Staats- und Regierungschefs leiten und dessen Tagesordnung<br />

festlegen, wobei der Europäische Rat ein weitgehend beratendes Gremium werden<br />

sollte, in dem die nationalen Regierungschefs mit den Mitgliedern der europäischen<br />

Regierung politische Abstimmungen vollzogen und nationale Bedenken<br />

zu europäischen politischen Initiativen erörtert werden könnten. Die Stellvertreter<br />

des Präsidenten sollten der Europäische Außenminister und der Finanzminister<br />

der Europäischen Union sein.<br />

221


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 222<br />

JEAN SPAUTZ<br />

Das Parlament würde den Europäischen Präsidenten und die Mitglieder der<br />

Regierung aus seiner Mitte wählen – mit jener Mehrheit, die während der<br />

Legislaturperiode auch die Regierung stützen sollte. Nach langen Jahren der blinden<br />

Stärkung des Parlaments ohne Gegenleistung würde die Volksvertretung<br />

nun in die Verantwortung genommen. Könnte sie nicht binnen 90 Tagen nach der<br />

Parlamentswahl eine Regierung ins Amt hieven, käme es zur Auflösung des<br />

Parlaments und zu Neuwahlen. Verlöre die Regierung das Vertrauen des<br />

Parlaments, müsste dieses binnen 90 Tagen eine Nachfolgeregierung wählen.<br />

Käme keine Regierung und keine Mehrheit mehr zustande, wären ebenfalls die<br />

Auflösung des Parlaments und Neuwahlen die Folge.<br />

Das Parlament bekäme ebenso wie die Regierung das Recht der legislativen<br />

Initiative. Der Ministerrat, die zweite Kammer des Europäischen Parlaments, würde<br />

diese Initiative im Sinne einer kohärenten und ausschließlich europäisch inspirierten<br />

Gesetzgebung nicht bekommen. Nationale Präsidentschaften der Union<br />

würde es keine mehr geben. Der Ministerrat würde sich selbst in seinen verschiedenen<br />

Zusammensetzungen jeweils für ein Jahr einen Präsidenten wählen.<br />

Alle Mitgliedsstaaten der Union sollten den Euro als Zahlungsmittel einführen.<br />

Der Euro würde in der Verfassung explizit als die europäische Währung bezeichnet.<br />

Er sollte binnen kurzer Frist die verbleibenden nationalen Währungen ablösen.<br />

Eine authentisch europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik sollte die<br />

Grundlage der einheitlichen Geldpolitik werden. Ebenso sollte eine europäische<br />

Sozialpolitik entstehen, die diesen Namen verdiente: ein gemeinsames<br />

Sozialversicherungssystem sollte geschaffen und ein europäischer Mindestlohn eingeführt<br />

werden. Gesellschaften, die in über einem Drittel der Mitgliedsstaaten<br />

tätig wären und Mitarbeiter beschäftigten, würden als europäische Gesellschaften<br />

einem einheitlichen Statut unterworfen, das verbindliche Regeln zur<br />

Sozialpartnerschaft und der gesellschaftlichen Partizipation beinhalten sollte. Der<br />

Europäische Wirtschafts- und Sozialrat würde mindestens einmal pro<br />

Legislaturperiode des Parlaments in einem Gutachten die betriebliche Wirklichkeit<br />

in Europa unter die Lupe nehmen und Verbesserungsvorschläge unterbreiten.<br />

Die Mobilität der Arbeitnehmer in der Union sollte zur Regel werden, Arbeitslosen<br />

sollten von den nationalen Arbeitsmarktverwaltungen passende Stellen in der<br />

gesamten Union angeboten werden. Diese Mobilität würde europäisch finanziell<br />

unterstützt, mit einem Aufwand, der hinter der Summe der nationalen Ausgaben<br />

zur Finanzierung der bestehenden Arbeitslosigkeit weit zurück blieb.<br />

Das Europa der Forschung, der Lehre, der Hochtechnologie und des<br />

Umweltschutzes würde einen wesentlichen Teil der kontinentalen politischen<br />

Anstrengungen ausmachen. Ebenso würde das Erlernen europäischer Sprachen<br />

zum Unionsziel erklärt: Kein Schüler sollte mehr weniger als drei Unionssprachen<br />

fließend beherrschen. Die Sprachenregelungen in den Institutionen würden ihrerseits<br />

drastisch reformiert. Es würde keine Sprache mehr als offizielle Sprache zugelassen,<br />

die nicht wenigstens in zwei Mitgliedsstaaten offiziellen Status genösse.<br />

Die Europäische Außenpolitik, vom Außenminister und seinem Stellvertreter<br />

222


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 223<br />

EUROPATAG, 9. MAI 2020<br />

geleitet, würde eine mehrheitlich bestimmte Angelegenheit. Die Sicherheits- und<br />

Verteidigungspolitik sollte jene Dimension bekommen, ohne die sie keine wirkliche<br />

Bedeutung hat: die Verfassung sah die Schaffung einer regulären europäischen<br />

Berufsarmee vor, die der zweite Pfeiler dieser Politik werden sollte, neben<br />

dem Europäischen Polizei- und Sicherheitsdienst.<br />

Dies waren wesentliche Aspekte des Verfassungsprojekts, das der Konvent<br />

am 9. Mai 2009 der europäischen Öffentlichkeit präsentierte. Die drauf folgende<br />

knapp achtwöchige Informationskampagne war die umfangreichste, die der<br />

Kontinent je erlebt hatte. Die Parlamentswahlen wurden um drei Wochen verschoben,<br />

um zeitgleich mit dem gesamteuropäischen Verfassungsreferendum stattfinden<br />

zu können. Würde die Verfassung angenommen, sollten die Bestimmungen<br />

zur Bildung einer europäischen Regierung sofort in Kraft treten, damit das<br />

Parlament eine Regierung vor dem Herbst würde wählen können.<br />

Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament Anfang Juli 2009 bewarben<br />

sich 13 der 28 Regierungschefs der Europäischen Union um ein Parlamentsmandat.<br />

Europa war wichtig geworden, seine Wichtigkeit überlagerte nun in den konkreten<br />

Fakten die nationale Politik in vielen Mitgliedsstaaten. Kaum einer Partei<br />

wäre es noch in den Sinn gekommen, für diese Wahl Alibikandidaten aufzustellen.<br />

Die Zahl der Bewerber mit vorheriger Regierungserfahrung auf nationaler<br />

Ebene war weit im dreistelligen Bereich. In die Spitzen der Fraktionen rückten<br />

nach der Wahl zahlreiche Männer und Frauen auf, die vorher Minister und<br />

Regierungschefs gewesen waren. Der Glanz des Europäischen Parlaments hatte<br />

aufgrund seiner neuen Zusammensetzung schlagartig zugenommen. Das Interesse<br />

an seiner Arbeit ebenso.<br />

Die beste Nachricht des Wahlsonntags war jedoch die, dass die Bürger der<br />

Europäischen Union die neue Verfassung mit rund 65 Prozent der Stimmen angenommen<br />

hatten. Fast zwei Drittel der Europäer hatten damit ihrem Wunsch<br />

Ausdruck verliehen, die politische Organisation des Kontinents auf eine höhere,<br />

anspruchsvollere Ebene zu stellen. Die große europäische Krise, das drohende<br />

Schisma des alten Kontinents, war überwunden.<br />

Am 15. September 2009 wurde die erste europäische Regierung vom<br />

Präsidenten des Europäischen Gerichtshofs vereidigt. Sie bestand aus 14 Ministern<br />

und 14 Minister-Stellvertretern, für die im Verlauf der Legislaturperiode noch<br />

nach einem definitiven Titel gesucht werden sollte. Binnen zehn Jahren sollte<br />

die Zahl der Mitglieder der Regierung von 28 auf 43 anwachsen. Der Europäische<br />

Präsident wurde bei der Bestimmung der Zahl der Minister-Stellvertreter nicht<br />

mitgezählt, wenn die Regierung eine ungerade Mitgliederzahl hatte. Am Europatag<br />

2020 amtierte eine europäische Regierung, die sich aus dem Präsidenten, 21<br />

Ministern und 21 Minister-Stellvertretern zusammensetzte. Im Lauf der Jahre hatten<br />

die Stellvertreter in ihren respektiven Ressorts die Zuständigkeit für interinstitutionelle<br />

Beziehungen fast gänzlich übernommen. Sie waren eine Art europäische<br />

parlamentarische Staatssekretäre geworden, die für den reibungslosen Ablauf<br />

der Koordinierung zwischen den Institutionen, die Regelmäßigkeit der europäi-<br />

223


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 224<br />

JEAN SPAUTZ<br />

schen Rechtsetzung und die Beziehungen zu den nationalen Entscheidungsinstanzen<br />

zuständig waren. Die Minister selbst kümmerten sich quasi ausschließlich<br />

um die reinen Regierungsgeschäfte der Europäischen Union. Einige Jahre<br />

nach Inkrafttreten der Verfassung mussten die Minister nicht mehr Mitglieder des<br />

Europäischen Parlaments sein. Der Ruck, den Europa 2009 durch die massiven<br />

Parlamentskandidaturen nationaler Spitzenpolitiker gebraucht hatte, war erfolgt.<br />

Man konnte zur „Regierungsnormalität“ zurückkehren, die im Sinne der<br />

Gewaltenteilung verlangt, dass ebenfalls Nichtparlamentarier europäische Minister<br />

werden konnten. Hochqualifizierte Experten aus den verschiedensten Bereichen<br />

wurden so Mitglieder der europäischen Regierung. Die Verantwortung des<br />

Parlaments blieb jedoch die Gleiche.<br />

Europa war mit seiner neuen Regierung und einem nunmehr aus Mehrheit und<br />

Opposition bestehenden Parlament handlungsfähig und konnte sich der vollinhaltlichen<br />

Umsetzung der Verfassungsbestimmungen widmen. Die Grundlagen der<br />

politischen Organisation des Kontinents waren gesichert und sollten nicht wieder<br />

zur Disposition gestellt werden. Die Europäer hatten das Vertrauen in die<br />

Europäischen Institutionen zurückgewonnen.<br />

Kurz vor Weihnachten 2009 stimmten die Norweger über den EU-Beitritt ihres<br />

Landes ab. Eine Mehrheit von über 60 Prozent stimmte dieses Mal dafür – nachdem<br />

zwei Jahre zuvor noch gut 85 Prozent nichts mit dem erschlafften Europa<br />

von Ende 2007 zu tun haben wollten. In den folgenden Jahren nahm die ermittelte<br />

Zufriedenheit der Unionsbürger mit der europäischen Politik ständig zu.<br />

Die neuen Institutionen wurden ihrer Verantwortung gerecht, und auch mit nur<br />

noch knapp zehn Amtssprachen waren die Verwaltungsabläufe in Europa eine<br />

reibungslose Angelegenheit. Die Darstellung Europas in der Welt funktionierte.<br />

Die sozialen Bestimmungen zeigten Wirkung, die Arbeitsmobilität in Europa<br />

nahm zu.<br />

Als in Weißrussland der autoritär regierende Präsident in einer dramatischen<br />

Reaktion die Armee gegen sein eigenes demonstrierendes Volk zu mobilisieren<br />

begann, stellte ihm die europäische Regierung ein Ultimatum: er habe binnen sechs<br />

Monaten zurückzutreten, freie und faire Wahlen zu organisieren und diese von<br />

der Europäischen Union überwachen zu lassen, oder aber er würde mit dem<br />

Einschreiten der europäischen Armee rechnen müssen. An den Grenzen Polens,<br />

Litauens und Lettlands zu Weißrussland wurden europäische Truppen stationiert –<br />

mit dem Einverständnis des russischen Präsidenten. Als die Machthaber in Minsk<br />

erkannten, dass sie ohne die Unterstützung Russlands, das keinen bewaffneten<br />

Konflikt mit der Europäischen Union riskieren wollte, ausgespielt hatten, kam<br />

es dort zu den ersten freien Wahlen seit 1994. Weißrussland hatte sich nun ebenfalls<br />

definitiv auf den Weg nach Europa begeben. Als letzter europäischer Staat<br />

trat es Ende 2011 dem Europarat bei. Sechs Jahre später erfolgte die Aufnahme<br />

in die Europäische Union – zusammen mit der Türkei und den früheren sowjetischen<br />

Republiken Moldawien, Ukraine, Georgien, Armenien und Aserbaidschan.<br />

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EUROPATAG, 9. MAI 2020<br />

So könnte die europäische Geschichte in den kommenden Jahren verlaufen.<br />

Natürlich kann sie weitaus unspektakulärer sein, aber in der Rubrik „<strong>Vision</strong>en“<br />

ist es manchmal angebracht, dramatischere Szenarien zu erdenken, um gegebenenfalls<br />

auf eben diese vorbereitet zu sein. Es ist nicht selbstverständlich, dass die<br />

letzte Erweiterungsrunde auf Dauer problemlos gemeistert wird. Es ist nicht<br />

selbstverständlich, dass alle in Referenden zu befragenden Europäer dem vorliegenden<br />

Verfassungsentwurfs des Konvents zustimmen. Und es ist nicht selbstverständlich,<br />

dass weitere Beitritte zur Union harmonisch und ruhig verlaufen. Wegen<br />

all dieser Unselbstverständlichkeiten sollte man heute, in der Union der 25, bereit<br />

sein, sich auf unkonventionelle Entwicklungen der europäischen Sache einzustellen.<br />

Und wenn die hier niedergelegte <strong>Vision</strong> etwas zeigen soll, dann letztlich die<br />

Entschlossenheit der Europäer, allen Widrigkeiten zum Trotz an ihrem historischen<br />

Einigungsprojekt festzuhalten und Europa mit Leben zu erfüllen.<br />

Das Wort Jean Monnets, nach dem „wir keine Staaten koalisieren, sondern<br />

Menschen vereinen“, wird in den kommenden Jahren von grundlegender<br />

Bedeutung sein. Mehr noch als in der Vergangenheit. Europa, das größere, das<br />

umfassendere, das erweiterte Europa muss seinen Platz in den Herzen vieler<br />

Europäer noch finden. Wir, die wir jeden Tag an diesem menschlichen, freundlichen<br />

und emotional erfassbaren Europa bauen, müssen uns dessen stets bewusst<br />

sein. Ohne dieses Bewusstsein jener, die für das Gelingen Europas verantwortlich<br />

sind, könnte die Geschichte der allernächsten Jahre so verlaufen, wie eben<br />

beschrieben. Das muss sie, wie bereits gesagt, nicht. Und, ehrlich gesagt, ich<br />

selbst sähe es lieber, wenn die kommenden Jahre weniger spektakulär verlaufen<br />

würden. Dafür aber umso erfolgreicher für das beständige und regelmäßige<br />

Gelingen der europäischen Sache.<br />

225<br />

Februar 2005


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ˇ ˇ ´<br />

Peter STASTNY<br />

Leiter der slowakischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Ein prosperierendes und sicheres Europa im Jahr 2020<br />

Die Slowakische Republik ist am 1. Mai 2004 ein vollberechtigtes Mitglied<br />

der Europäischen Union geworden. Neben dem Beitritt unseres Landes zur<br />

Nordatlantischen Allianz ist damit das höchste Ziel in Erfüllung gegangen, dem<br />

unser Bemühen nach dem Fall des Kommunismus im Jahr 1989 galt. Davon<br />

träumten Generationen von Slowaken, die mehr als 40 Jahre hinter dem Eisernen<br />

Vorhang lebten, und das war auch das Ziel der politischen Partei, die ich im<br />

Europäischen Parlament vertrete und die Mitglied der Europäischen Volkspartei<br />

ist – die Slowakische Demokratische und Christliche Union. Als vollberechtigtes<br />

Mitglied der Union haben wir jetzt die Möglichkeit, aktiv tätig zu werden und<br />

auf die europäische Politik Einfluss zu nehmen. Die <strong>Vision</strong> von der Europäischen<br />

Union im Jahr 2020 ist damit auch zu unserer <strong>Vision</strong> geworden, zur <strong>Vision</strong> der<br />

Slowakischen Republik und der politischen Partei, deren Leiter ich im Juni 2004<br />

bei den ersten Wahlen zum Europäischen Parlament in der Geschichte der<br />

Slowakei war.<br />

Gemeinsam wünschen wir uns, dass bis zum Jahr 2020 ein erfolgreiches und<br />

prosperierendes Europa für alle Europäer Wirklichkeit wird, ein gemeinsamer<br />

Raum gleichberechtigter unabhängiger Staaten, ein Europa mit allen<br />

Voraussetzungen für einen hohen Lebensstandard seiner Bürger und für die<br />

Gewährleistung von Freiheit, Sicherheit und Recht. Der Erfolg dieser Ziele ist<br />

keineswegs garantiert, um sie zu erreichen, bedarf es der weiteren Festigung der<br />

grundlegenden Prinzipien und Werte, die das Fundament der Europäischen Union<br />

bilden.<br />

Es gibt viele Bereiche, die ich im Zusammenhang mit der <strong>Vision</strong> des Europa<br />

von 2020 erwähnen könnte. Neben vielen anderen Dingen sehe ich persönlich<br />

eine vordringliche Aufgabe darin, vor allem darauf hinzuarbeiten, den<br />

Lebensstandard der Bevölkerung und die Sicherheit der Bürger der Europäischen<br />

Union zu erhöhen. Diese Hauptziele sind nicht voneinander zu trennen. Während<br />

wir in der im Zeichen der Globalisierung stehenden Welt den Lebensstandard


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PETER STASTNY ˇˇ ´<br />

nur durch Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union und<br />

durch ein hohes Wirtschaftswachstum gewährleisten können, garantieren wir<br />

die Sicherheit der Mitgliedsländer der Europäischen Union wie ihrer Bürger nur<br />

durch Festigung und Konsolidierung des transatlantischen Bündnisses.<br />

Wenn wir wissen wollen, wie das Europa von 2020 aussehen soll, können<br />

wir unseren Blick nicht nur auf das Bild dieser fernen Zukunft richten, sondern<br />

müssen vor allem die Beseitigung negativer Erscheinungen in der<br />

Gegenwart und die Durchsetzung notwendiger und nützlicher Veränderungen<br />

in der allernächsten Zukunft anstreben. Wenn die Europäische Union in dem<br />

verstärkten Wettbewerb einer in Globalisierung begriffenen Welt bestehen soll,<br />

braucht sie ein hohes Wirtschaftswachstum. Betrachtet man jedoch den europäischen<br />

Kontinent und die Wirtschaft der Europäischen Union, so scheint<br />

diese derzeit von Stagnation erfasst. Wenn der Lebensstandard in der<br />

Europäischen Union gehalten und weiter angehoben werden soll, muss Europa<br />

vorankommen, muss sein Wirtschaftswachstum steigern. Dass gegen den<br />

Stabilitätspakt selbst in den Ländern verstoßen wird, von denen er eingeführt<br />

wurde, ist keine Neuigkeit. Die Bundesrepublik Deutschland als die stärkste<br />

Volkswirtschaft Europas vermeldet ein Negativwachstum und fünf Millionen<br />

Arbeitslose. Zusammen mit Frankreich kritisiert sie die progressiven Reformen<br />

in den neuen Mitgliedstaaten und wirft diesen vor, für den Verlust von<br />

Direktinvestitionen verantwortlich zu sein, wodurch es zu einem Arbeitsplätzeschwund<br />

komme und die Einnahmen des Staatshaushalts sänke.<br />

Das Problem besteht jedoch weder in den neuen Mitgliedstaaten noch im<br />

Aufbau der offenen Marktwirtschaft bzw. einer liberalen Wirtschaft in diesen<br />

Ländern. Es geht auf eine ganz andere Ursache zurück: auf weiterhin vorhandene<br />

sozialistische Denkmuster in vielen Teilen des europäischen Kontinents.<br />

Die Slowakische Republik hat Erfahrungen mit dem Sozialismus in seiner<br />

schlimmsten Form, daher weiß ich, wie gefährlich er für ganz Europa sein<br />

kann. Die Europäische Volkspartei muss sich in den nächsten Jahren zu einem<br />

Bollwerk gegen all die sozialistischen Klischees entwickeln, die einem höheren<br />

Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union entgegenstehen. Wir müssen<br />

klar „nein“ sagen zu jeder unangebrachten Einmischung des Staates in die<br />

Wirtschaft, und wir müssen eindeutig „nein“ sagen zu der hochgradigen<br />

Umverteilung und in diesem Zusammenhang auch zur Progressivsteuer, zu<br />

hohen Abgaben und zu hohen Abzügen. Das ist die Basis, aus der sich in der<br />

Wirtschaft alles andere ergeben muss. Dies gilt heute ebenso wie im Jahr 2020.<br />

Damit die Wirtschaft Europas noch in 15 Jahren prosperiert, müssen die sozialistischen<br />

Ansätze in den europäischen Volkswirtschaften verschwinden. Doch<br />

damit ist es noch längst nicht getan mit den gebotenen Veränderungen.<br />

Einige große Länder der Europäischen Union müssen früher oder später ihre<br />

Sozialsysteme und ihr Arbeitsrecht reformieren. Die durchschnittliche<br />

Lebenserwartung in Europa nimmt zu, die Bevölkerung dagegen ab, es werden<br />

immer weniger Kinder geboren. Die Sozialisten aller Länder wollen uns indes<br />

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EIN PROSPERIEREN<strong>DE</strong>S UND SICHERES EUROPA IM JAHR 2020<br />

weismachen, man müsse noch früher in den Ruhestand eintreten als heute. Die<br />

simple Logik sagt doch, dass mehr gearbeitet werden muss, wenn die<br />

Erwerbsbevölkerung zurückgeht. Die 35-Stunden-Woche ist in einigen Ländern<br />

nicht zu halten. An den Tatsachen kommt man in keiner Weise vorbei. Wir in der<br />

Slowakei haben eine erfolgreiche Reform des Sozialsystems vorgenommen. In den<br />

meisten Ländern der Europäischen Union bestehen jedoch bis heute Sozialsysteme,<br />

die den Menschen keine Verantwortung abverlangen, sie nicht zur Arbeit motivieren,<br />

sondern ihnen nur beibringen, wie sich die Sozialsysteme auszunutzen<br />

lassen.<br />

Die Staaten der Europäischen Union können sich heute an einigen ihrer<br />

neuen Mitglieder in puncto richtige und erfolgreiche Reformen der Wirtschaftsund<br />

Sozialsysteme ein Beispiel nehmen. Das ist jedoch nicht das Einzige, was es<br />

zu verändern gilt. Niedrige Steuern und Abgaben und eine freie Wirtschaft sind<br />

zwar eine notwendige Voraussetzung, aus langfristiger Sicht jedoch längst nicht<br />

die einzige. Die Zeit ist nicht mehr fern, in der sich auch die Länder, in denen die<br />

Steuern gesenkt wurden, mit dem Abfließen von Investitionen in Länder außerhalb<br />

der Europäischen Union werden auseinandersetzen müssen, in denen die<br />

Kosten, allen voran die Personalkosten, niedriger sind. Wenn begonnen würde,<br />

außerhalb der Union zu investieren, käme es zu einem wirklichen Problem.<br />

Die Europäische Union ist sich ihrer Defizite bewusst. Eine Maßnahme zur<br />

Steigerung des Wirtschaftswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit der<br />

Europäischen Union ist die Lissabon-Strategie. Schon heute wissen wir, dass sie<br />

sich in der vorgeschlagenen Form nicht umsetzen lässt, auch nicht in Zukunft. Die<br />

Europäische Union hinkt den USA weiterhin mit großem Abstand hinterher, und<br />

dieser Abstand wird nicht geringer. Wo liegt also der Schlüssel zu einem erfolgreichen<br />

Europa als wirtschaftliche Großmacht der Zukunft? Ich meine, nicht in<br />

gleich hohen Steuern, sondern eben im steuerpolitischen Wettbewerb zwischen<br />

den Mitgliedstaaten und in einer liberalen Wirtschaft, auf der die Entwicklung<br />

von Wissenschaft, Bildung und Technologie aufbaut.<br />

Erst vor kurzem hat die neue Europäische Kommission unter Leitung von<br />

Herrn José Manuel Barroso eine neue Strategie vorgestellt, deren Ziel es ist, das<br />

Bruttoinlandsprodukt bis 2010 um 3 % anzuheben und mehr als 6 Millionen<br />

Arbeitsplätze zu schaffen. Anders als die Lissabon-Strategie, deren<br />

Prioritätensetzung auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, soziale Gerechtigkeit<br />

und nachhaltige Entwicklung ausgerichtet war, stellt die neue Strategie konkrete<br />

Begriffe wie Produktivität, Wirtschaftswachstum und Schaffung von neuen<br />

Arbeitsplätzen in den Vordergrund. Diese neuen Ziele sind ungleich realistischer.<br />

Neben der erwähnten Ausmerzung der sozialistischen Klischees in der<br />

Wirtschaft müssen wir in den nächsten Jahren intensiv auf weitere wichtige<br />

Voraussetzungen hinarbeiten, von denen es abhängt, inwieweit unsere <strong>Vision</strong><br />

des Europa von 2020 Wirklichkeit wird. Dies gilt insbesondere für Bereiche wie<br />

das europäische Wirtschaftswachstum und in diesem Zusammenhang für die<br />

Lebensqualität der Bevölkerung.<br />

229


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PETER STASTNY ˇˇ ´<br />

Eine erste wichtige Voraussetzung ist beispielsweise die Aufstockung der<br />

Aufwendungen für Wissenschaft, Forschung und Bildung. In Barcelona ist die EU<br />

die Verpflichtung eingegangen, dass jeder EU-Mitgliedstaat ab 2010 jedes Jahr<br />

mindestens 3 % seines BIP für Wissenschaft und Forschung ausgibt. Derzeit ist<br />

das nur in Schweden und Finnland der Fall. Hieraus ergibt sich für mich die<br />

Frage, weshalb diese Voraussetzung erst ab 2010 gelten soll, obwohl es doch<br />

schon jetzt höchste Zeit dafür ist. Das praktische Handeln geht sogar in die entgegengesetzte<br />

Richtung. Während in den USA 2003 die Aufwendungen für die<br />

Forschung deutlich gestiegen sind, haben einige europäische Unternehmen diese<br />

sogar zurückgefahren. Zur Förderung der Bildung ist zu sagen, dass auch die<br />

älteren Erwachsenen in ihre Zielgruppe aufgenommen werden müssen. Sie stellen<br />

das Gros der Arbeitskräfte und dürfen daher nicht aus dem Bildungsprozess<br />

ausgeschlossen werden. Vielmehr muss die Betonung auf lebenslangem Lernen<br />

liegen. Manche Fähigkeiten und Fertigkeiten lassen sich nur durch Erfahrung<br />

vermitteln, daher ist es wichtig, im EU-Rahmen auch den Austausch von Studenten,<br />

Stipendiaten und Mitarbeitern mit den anderen Ländern der Welt, Begegnungen<br />

mit Forschern, Wissenschaftlern, Fachleuten und den Aufbau gemeinsamer<br />

Institutionen anzustreben, in denen ein Informationsaustausch stattfindet, denn<br />

sie sind der Motor der in rascher Veränderung und Entwicklung begriffenen Welt<br />

von heute.<br />

Für mich stand zu keiner Zeit außer Zweifel, dass Europa hervorragende<br />

Wissenschaftler, Analytiker und Experten besitzt, die den amerikanischen und<br />

anderen Fachleuten ebenbürtig sind, ja diese oft sogar übertreffen. Den<br />

Unterschied zwischen den USA und der EU sehe ich jedoch darin, dass die<br />

Vereinigten Staaten in der Lage sind, auch kleinere wissenschaftliche Erfolge und<br />

Neuheiten in die Praxis umzusetzen und zu nutzen, daher sind sie erfolgreicher<br />

als ihre europäischen Kollegen. Eine Ursache ist auch der Zugang zu „venture capital“,<br />

der bei uns fehlt. Die EU muss sich definitiv auf mehr Flexibilität konzentrieren,<br />

auf die Fähigkeit zur Anpassung an die neuen Bedingungen und<br />

Erkenntnisse, die die Wissenschaft mit sich bringt. Neben den Reformen im wirtschaftlichen<br />

und sozialen Bereich möchte die Slowakei auch auf dem Gebiet der<br />

Informationswirtschaft beispielgebend sein, wo wir die Entwicklung der<br />

Informationsgesellschaft, der Wissenschaft und Forschung, der Investition in<br />

Mensch und Bildung und die weitere Schaffung eines unternehmensgünstigen<br />

Klimas als Hauptziele ansehen.<br />

Eine weitere Voraussetzung für eine erfolgreiche Entwicklung der europäischen<br />

Wirtschaft bis 2020 ist der Einsatz neuer Technologien, wobei ich vor allem<br />

die Biotechnologie und die Nanotechnologie hervorheben möchte. Derzeit spielen<br />

Umweltfragen eine wichtige Rolle und sind viel im Gespräch, und gerade<br />

die Nanotechnologie lässt sich nutzen, um den Schadstoffausstoß zu senken und<br />

die Verschmutzung der Umwelt zu verringern.<br />

Eine hochwichtige Voraussetzung für europäisches Wirtschaftswachstum<br />

besteht im Abbau von Bürokratie. Ich habe den Eindruck, dass das juristische und<br />

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EIN PROSPERIEREN<strong>DE</strong>S UND SICHERES EUROPA IM JAHR 2020<br />

vor allem das administrative Umfeld in vielen Ländern der Europäischen Union,<br />

anders als in den Vereinigten Staaten, dem freien Unternehmertum nicht eben<br />

zugetan ist. Die Probleme, mit denen vor allem kleine und mittlere Unternehmer<br />

bei der Errichtung von Handelsgesellschaften zu kämpfen haben, könnten sie<br />

noch vor der Gründung ihrer Gesellschaft von diesem Vorhaben abhalten. Die<br />

Bürokratie macht den europäischen Unternehmern auch im Zuge ihrer weiteren<br />

Tätigkeit zu schaffen. Gerade bei der Herbeiführung geeigneter<br />

Voraussetzungen für die Unternehmen besteht viel Spielraum, in den sich die<br />

Mitgliedstaaten wie die ganze Union einbringen könnten. Dies gilt auch für die<br />

Förder- und Zuschussprogramme. Ihre Konditionen sind häufig sehr unklar spezifiziert,<br />

und die Gewährung von Zuschüssen aus EU-Fonds hängt oftmals nicht<br />

von der Qualität eines Projektes als vielmehr vom Papierverbrauch ab, wozu<br />

kleine oder mittlere Unternehmer bzw. Menschen mit guten Ideen weder Zeit noch<br />

Lust und Ausdauer haben.<br />

Europa hat somit in nächster Zeit im wirtschaftspolitischen Bereich zwei<br />

Möglichkeiten. Wenn es an seiner derzeitigen Politik und der Kritik an den neuen<br />

Mitgliedstaaten festhält und auch weiterhin verstärkte Investitionen in Wissenschaft<br />

und Forschung unterlässt, jedoch eine einheitliche gesamteuropäische Besteuerung<br />

einführt, dürfte es zu einer hochgradigen Umverteilung und progressiven<br />

Versteuerung kommen und keiner sich an eine Reform des Sozialsystems und des<br />

Arbeitsrechts heranwagen. Auf diese Weise wäre Europa im Jahr 2020 nicht nur<br />

gegenüber den USA nicht wettbewerbsfähig, sondern auch gegenüber beispielsweise<br />

dem in rascher Entwicklung begriffenen Asien. Die EU kann jedoch auch<br />

einen anderen Weg gehen – den Weg wirtschaftlicher und sozialer Reformen,<br />

der Entwicklung und Förderung von Bildung und Wissenschaft sowie der<br />

Minimierung von Bürokratie und Unternehmensrichtlinien. Für kein Mitgliedsland<br />

wären dann 2020 niedrige Steuern und billige Arbeitskräfte noch ein Anreiz, sondern<br />

vielmehr die Wertschöpfung, nämlich die angebotene Technologie, Effizienz,<br />

und Qualität, das Leistungsvermögen, und so könnte man auch mit den Vereinigten<br />

Staaten in Wettbewerb treten. Man wäre in der Lage, etwas anzubieten, womit die<br />

asiatischen und anderen Länder nicht aufwarten können. Ich bin froh, dass ich<br />

im Europäischen Parlament ein Land vertrete, das sich für diese zweite Möglichkeit<br />

entschieden hat. Nun kommt es darauf an, dass die gesamte Europäische Union<br />

mit uns diesen Weg geht.<br />

Ich habe bisher betont, dass Wettbewerb in der Wirtschaft unabdingbar ist. Die<br />

Konkurrenz zwischen Firmen führt dazu, dass den Verbrauchern möglichst billig<br />

Waren und Dienstleistungen in möglichst hoher Qualität angeboten werden.<br />

Der Wettbewerb zwischen den Steuer- und Sozialsystemen der Staaten führt<br />

dazu, dass diese ein bestmögliches Umfeld für die Unternehmen und mithin für<br />

Wirtschaftswachstum und neue Arbeitsplätze erzeugen, was letztlich wiederum<br />

den Bürgern der Europäischen Union nur zum Vorteil gereichen kann. In diesen<br />

Bereichen ist Wettbewerb nützlich und durch nichts zu ersetzen.<br />

Wirtschaftswachstum und Entwicklung sind jedoch nur in einem sicheren<br />

231


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 232<br />

PETER STASTNY ˇˇ ´<br />

Umfeld möglich. Sicherheitsfragen sind auch heute von existenzieller Bedeutung,<br />

da es gilt, zusammen mit unseren nordamerikanischen Verbündeten einen konsequenten<br />

Kampf gegen den Terrorismus zu führen. In den Zeiten des Kalten<br />

Krieges beruhte die Ausgangsprämisse für die amerikanische Präsenz auf dem<br />

europäischen Kontinent und für das transatlantische Bündnis auf dem Umstand,<br />

dass die Sicherheit Europas für die Vereinigten Staaten von herausragendem<br />

Interesse war und dass eine Bedrohung Europas gleichzeitig eine Bedrohung<br />

der Vereinigten Staaten und der ganzen westlichen Welt darstellte. Die Gefahr des<br />

Terrorismus zeigt, dass ein solches Bündnis auch heute wichtig ist. Der Terrorismus<br />

ist heute eine Bedrohung für die gesamte westliche Zivilisation, Europa wie<br />

Amerika. Nur mit vereinten Kräften können wir diesen langen und schweren<br />

Kampf gewinnen.<br />

Die Sicherheit Europas nach dem 2. Weltkrieg hing von den transatlantischen<br />

Beziehungen ab. Bereits aus dieser Zeit datieren jedoch auch Versuche einer<br />

eigenständigeren Sicherheitspolitik Europas, die vor allem von Frankreich ausgingen.<br />

Die Europäische Union wollte und will damals wie heute ihren Teil an<br />

Verantwortung für Sicherheit in der Welt übernehmen. Diese Haltung ist völlig<br />

legitim, Europa hat nachgerade die Pflicht, sich zu engagieren. Zu diesem Bestreben<br />

der Europäischen Union im Widerspruch steht jedoch die Tatsache, dass die<br />

Verteidigungsausgaben der europäischen Länder ungleich niedriger sind als die der<br />

Vereinigten Staaten. Eben daran krankt weitgehend auch das gemeinsame<br />

Verteidigungsprojekt. Die europäischen Staaten unterstützen es zwar, doch sind nur<br />

wenige von ihnen bereit, ihren Verteidigungshaushalt aufzustocken. Ohne höhere<br />

Verteidigungsausgaben wird es niemals möglich sein, sich mit den Vereinigten<br />

Staaten auch nur zu vergleichen, geschweige denn, mit ihnen in den Wettbewerb<br />

zu treten, von dem viele Köpfe in der Europäischen Union träumen.<br />

An dieser Stelle sollte jedoch Klarheit herrschen, dass es bei der Gemeinsamen<br />

Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union nicht um Konkurrenz zu<br />

den Vereinigten Staaten gehen darf. Nach meinem Dafürhalten entbehrt jedoch<br />

der Gedanke einer Konkurrenz zwischen den USA und Europa in der<br />

Sicherheitsfrage jedweder Logik. Europa braucht Amerika und Amerika Europa.<br />

Unser Bündnis beruht auf gemeinsamen demokratischen Werten und auf dem Ideal<br />

einer sicheren, friedlichen Welt, in der die Rechte eines jeden Menschen geschützt<br />

und garantiert sind. Amerika braucht ein starkes Europa. Die Vereinigten Staaten<br />

sind sich dessen bewusst; daher zielten die ersten Schritte der höchsten<br />

Repräsentanten der amerikanischen Regierung unmittelbar nach dem Sieg von<br />

George W. Bush bei den Präsidentschaftswahlen direkt auf ihre europäischen<br />

Verbündeten. Es wäre gut, wenn auch wir uns auf dieser Seite des Atlantik, wo<br />

sogar oft ein primitiver Antiamerikanismus verbreitet ist, dieser Tatsache bewusst<br />

wären. Krisensituationen beschwören in vielen Teilen der Welt Bedrohungen<br />

herauf, beispielsweise in Iran, Syrien oder Nordkorea. Daher spielt unser Bündnis<br />

stets eine wichtige Rolle. Mit vereinten Kräften müssen wir alles tun, um nicht nur<br />

globalen Konflikten entgegenzutreten, sondern auch der schwer wiegenden<br />

232


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 233<br />

EIN PROSPERIEREN<strong>DE</strong>S UND SICHERES EUROPA IM JAHR 2020<br />

Bedrohung durch das internationale islamische Terrornetzwerk, die fatale Folgen<br />

für unseren Kontinent haben könnte.<br />

Ein Schritt zur Stärkung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist<br />

der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Ich glaube daran, dass seine Annahme<br />

in Kürze bevorsteht. Wenn diese Annahme nämlich unterbleibt, müsste ein anderes<br />

Dokument verabschiedet werden, das die gemeinsame Politik im Außenund<br />

Sicherheitssektor in institutionelle Bahnen einfügt. Dies ist notwendig, da<br />

ein nicht einiges Europa weder der Welt noch sich selbst nützt. Sicher wird es<br />

schwer werden, in sensiblen außenpolitischen Fragen zu einem gemeinsamen<br />

Standpunkt zu finden. Er ist jedoch notwendig, damit nie wieder eine Situation<br />

wie in Bosnien oder im Kosovo auftritt. Zumindest auf unserem eigenen Kontinent<br />

sollten wir Europäer in der Lage sein, auch ohne Eingreifen der Vereinigten<br />

Staaten „Ordnung zu schaffen“. Leider war dies bislang nicht der Fall. Auch das<br />

ist ein wichtiger Impuls für die Entwicklung einer wirksamen Sicherheits- und<br />

Außenpolitik. Das hat jedoch überhaupt nichts mit Konkurrenz gegen die USA<br />

zu tun. Je weniger die Vereinigten Staaten auf dem europäischen Kontinent und<br />

in dessen naher Umgebung eingreifen müssen, umso mehr haben die amerikanischen<br />

Streitkräfte die Hände frei für die Lösung von entfernteren Konflikten, die<br />

in der in rascher Veränderung begriffenen Welt von heute eine gefährliche<br />

Bedrohung für uns darstellen könnten.<br />

Die Grundstruktur, in deren Rahmen Europa und die USA zusammenarbeiten,<br />

muss auch in den nächsten Jahren das Nordatlantische Bündnis sein. Im<br />

Gründungsvertrag sind die westlichen Nationen die Verpflichtung eingegangen,<br />

ihr gemeinsames Erbe, das auf den Prinzipien der Demokratie, der persönlichen<br />

Freiheit und des Rechtsstaates beruht, zu verteidigen. Die Praxis zeigt, dass es<br />

in der heutigen Welt keine andere kollektive Sicherheitsorganisation gibt, die in<br />

der Lage wäre, ihre Ziele wirksamer zu erreichen. Wir müssen klar sagen, dass<br />

die NATO für unser gemeinsames Ziel – ein freies und sicheres Amerika und<br />

Europa – eine nicht zu ersetzende Institution darstellt.<br />

Der Aufgaben, denen wir uns bei unserer Auseinandersetzung mit der <strong>Vision</strong><br />

des Europa von 2020 stellen sollten, sind viele. Zwei von ihnen sind jedoch absolut<br />

unabdingbar: Sicherheit und gute Voraussetzungen für wirtschaftliches<br />

Wachstum. Wir europäische Politiker müssen so arbeiten, dass wir diese Aufgaben<br />

auch im Jahr 2020 erfüllen. Die Welt verändert sich schnell, und wenn Europa in<br />

der Entwicklung weiter tonangebend sein will, muss es alles dafür tun, damit<br />

seine Bürger gut und sicher leben können.<br />

233<br />

März 2005


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234


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235<br />

Ursula STENZEL<br />

Leiterin der österreichischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Eine realistische Europavision<br />

Da ich keine Zukunftsforscherin bin, sondern 10 Jahre Europaerfahrung in<br />

der größten Fraktion des Europäischen Parlamentes sammeln konnte, lasse ich<br />

mich auf Spekulationen nicht ein. Ich gehe von dem Ist-Zustand der EU aus<br />

und werde einige Entwicklungen, die absehbar sind, vorweg nehmen.<br />

Zunächst glaube ich, dass wir eine Europäische Verfassung haben werden.<br />

Es wird möglicherweise schon eine andere sein, als die – über die gerade in<br />

Referenden abgestimmt wird, bzw. die in Ratifizierungsprozessen verabschiedet<br />

wird. Ich gehe aber davon aus, dass sich – wenn auch mit Bedenken – letztlich<br />

alle bisherigen Mitglieder der Europäischen Union zu einer Verfassung der<br />

Europäischen Union bekennen werden.<br />

Wir werden aber wahrscheinlich aus dem derzeitigen Verfassungsprozess<br />

unsere Lehren ziehen. Wahrscheinlich werden wir den Abstimmungsmodus darüber<br />

vereinheitlichen. Das heißt nicht in jedem Land, das dies wünscht, eine<br />

gesonderte Volksabstimmung, sondern wenn – eine EU-weite. Egal wie diese<br />

Verfassung in 20 Jahren aussehen wird, sie wird zumindest für 28 Länder gelten.<br />

Das heißt, zu den jetzigen zähle ich natürlich Bulgarien und Rumänien, sowie<br />

Kroatien dazu.<br />

Ob sich bis dahin Albanien, Bosnien-Herzegowina und Serbien-Montenegro<br />

als europareif erweisen, wage ich jetzt nicht zu prophezeien. Obwohl ich es mir<br />

wünsche. Aber dazu bedürfte es zumindest einer endgültigen Klärung des Status<br />

des Kosovo. Und zumindest zur Zeit stehen die Aussichten für eine finale Klärung<br />

nicht sehr gut. Ja, vielleicht schafft es Mazedonien innerhalb der nächsten 20<br />

Jahre. Dies ist durchaus denkbar.<br />

Nicht dabei sehe ich die Türkei. Und zur Zeit auch nicht die Ukraine.<br />

Obwohl die Türkei Beitrittsverhandlungen mit der EU aufnehmen wird und<br />

alle EU-Staats- und Regierungschefs dem auch zugestimmt haben, so nehme ich<br />

an, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei – aber auch die


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 236<br />

URSULA STENZEL<br />

Zypern-Frage solche Schwierigkeiten machen werden, und vielleicht auch einige<br />

Volksabstimmungen in EU-Ländern hier Hürden aufstellen werden, ganz<br />

abgesehen von Regierungswechseln (beispielsweise in Deutschland), sodass ich<br />

annehme, dass man sehr dankbar ein Alternativkonzept für die Türkei im Sinne<br />

einer europäisch-atlantischen Allianz anbieten wird.<br />

Dieses Modell übrigens könnte dann durchaus auch das Ergebnis von<br />

Verhandlungen zwischen der EU und der Ukraine sein.<br />

Sollte die Türkei in 20 Jahren die Vollmitgliedschaft der EU erreichen, so wird<br />

dies eine Vollmitgliedschaft mit gravierenden Ausnahmen sein. Sowohl in der<br />

Landwirtschaftspolitik, als auch im Personenverkehr. Wir werden dann sehr ausgeprägt<br />

ein Europa der unterschiedlichen Integrationskerne haben.<br />

Für manche werden die so genannten vier Freiheiten gelten. Für andere<br />

nicht.<br />

Europa ist durch seine unterschiedliche geschichtliche Entwicklung nicht in<br />

der Lage, alles über einen Kamm zu scheren. Wir sehen dies bereits jetzt – nach<br />

der Erweiterung um 10 neue Mitgliedsstaaten Zentraleuropas und des Baltikums.<br />

In 20 Jahren wird sich möglicherweise der Lebens- und Sozialstandard schon<br />

so weit angeglichen haben, dass wir hier einen mehr oder minder funktionierenden<br />

Binnenmarkt mit einem freien Arbeits- und Dienstleistungssektor vorfinden<br />

können. So lange dies allerdings nicht so ist, werden nach wie vor viele<br />

Ausnahmen die Regel bestätigen.<br />

Was ich allerdings erwarte, ist, dass die meisten Mitglieder der EU dann die<br />

gemeinsame Währung haben werden. Der Euro ist zweifellos eine der größten<br />

Errungenschaften der Europäischen Integration, weil er eben mehr ist, als nur ein<br />

gemeinsames Zahlungsmittel. Er ist natürlich auch eine gemeinsame Verpflichtung<br />

zu einer sparsamen Haushaltspolitik. Und er ist eine Absage an eine übermäßige<br />

Verschuldung.<br />

Ich würde mir wünschen, dass in 20 Jahren die Autorität der Europäischen<br />

Kommission als Hüterin der Verträge soweit gefestigt ist, dass sie in<br />

Währungsfragen auch Sanktionen ergreifen kann – so, wie dies vorgesehen ist.<br />

Und die Mitglieder der EU dieses auch akzeptieren.<br />

Zur Zeit schaut es allerdings nicht so gut aus – mit dem Euro. Und die Gefahr<br />

besteht, dass es sich hier jeder nach seinem Gusto und seinen politischen<br />

Opportunitäten richten will.<br />

Die Kleinen, Ehrlichen und Sparsamen unter uns – so wie Österreich – werden<br />

ja gerne als unbequeme Musterschüler gesehen. Ich finde aber, ihr Beispiel<br />

sollte Schule machen. Sonst bekommen nämlich jene Kritiker recht, die dem<br />

Euro kein langes Leben vorausgesagt haben, weil es eben keinen gemeinsamen<br />

europäischen Staat gibt.<br />

Diesen Staat, also die oft beschworenen so genannten Vereinigten Staaten von<br />

Europa wird es allerdings auch in 20 Jahren nicht geben. Wir werden die bishe-<br />

236


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 237<br />

EINE REALISTISCHE EUROPAVISION<br />

rige Integration zwar nicht in Frage stellen. Ob es aber gelingt, bei immer mehr<br />

und immer unterschiedlicheren Mitgliedern die Integration – also die Anpassung<br />

der Gesetze und Wirtschaftspolitiken – im Sinne einer immer engeren Union<br />

aneinander anzugleichen, wage ich zur Zeit nicht zu sagen. Es ist vielleicht auch<br />

nicht besonders wünschenswert.<br />

Natürlich wünschen sich viele eine Steuerharmonisierung. Weil man dadurch<br />

glaubt, Wettbewerbsverzerrungen auszuschließen. Allerdings glaube ich auch,<br />

dass in 20 Jahren in dieser Frage keine Einstimmigkeit erzielt werden kann.<br />

Denn ein Steuerwettbewerb in Maßen kann sehr wohl auch – wie sich jetzt wiederum<br />

am Beispiel Österreichs zeigt – ein Standort-Vorteil sein.<br />

Wo wir allerdings im Grundsatz mehr Integration brauchen, ist bei der<br />

Europäischen Antwort auf das allgemeine Phänomen der Alterung der Gesellschaft.<br />

Dass wir alle immer älter werden und weniger Kinder in die Welt gesetzt<br />

werden, ist nicht neu – erfordert aber eben die richtigen Antworten. Und diese<br />

Antworten den Mut der europäischen Politiker, denn die Auswege sind nicht<br />

im populär. Wie der Bevölkerungswissenschaftler, Univ. Prof. Dr. Rainer Münz<br />

bei einer ÖVP-Klubklausur ausführte, gelte das Schlagwort der dynamisch alternden<br />

Gesellschaft für die ganze Welt – insbesondere aber für Europa und Japan.<br />

Mitte des 21. Jahrhunderts werde es weltweit bereits 2 Milliarden über 60-Jährige<br />

geben. Der Unterschied zwischen der Europäischen Union und dem Rest der<br />

Welt besteht aber darin, dass in den europäischen Staaten nicht nur die Zahl<br />

der Älteren steige, sondern gleichzeitig jene der Menschen im Haupterwerbsalter<br />

sinke. Im Rest der Welt hingegen steige die Zahl der Erwerbstätigen stärker als<br />

die der älteren Menschen. Was schließe ich daraus?<br />

1. Für aktive ältere Menschen muss es leichter werden, im Arbeitsprozess zu<br />

bleiben. Es muss daher für Betriebe attraktiver werden, Menschen länger im<br />

Betrieb zu halten – und für den Einzelnen weniger attraktiv, früher abschlagsfrei<br />

in die Pension zu gehen. Hier sollte und könnte sich die Europäische Union<br />

sehr wohl auch ein Beispiel an der österreichischen Pensionssicherungsreform<br />

nehmen. Und auch an den Massnahmen, die wir bereits gesetzt haben, um die<br />

Erfahrung älterer Menschen in den Betrieben länger zu nützen.<br />

2. Bedeutet eine längere Lebensarbeitszeit unter diesen gesellschaftlichen<br />

Bedingungen auch mehr Eigenverantwortung und Eigenvorsorge. Denn die staatliche<br />

garantierten Pensionen allein können uns unter diesen Umständen den<br />

lieb gewonnenen Lebensstandard nicht erhalten. Je früher man dies erkennt und<br />

den Europäern auch sagt, umso besser.<br />

3. Es bedarf für jüngere ebenso wie für ältere Menschen im Beschäftigungsprozess<br />

Lebens-begleitendes Lernen.<br />

4. Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Es muss besser möglich sein, Kinder<br />

in unserer Gesellschaft zu integrieren und ihnen ein besseres Umfeld zu bieten.<br />

Dazu bedarf es flexiblerer Arbeitszeiten, aber auch entsprechender<br />

Betreuungsmöglichkeiten während des Tages. Es muss aber möglich sein, den<br />

237


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 238<br />

URSULA STENZEL<br />

Eltern bzw. den Erziehungsberechtigten die Wahlmöglichkeiten zu belassen.<br />

Ganztagsschulen dürfen keine Zwangstagsschulen sein, sondern nur eine Option.<br />

Frauen, aber auch Männer müssen die Möglichkeit haben, ihr Kind nicht in<br />

Horte und Krippen zu geben, sondern eben auch zu Hause zu betreuen.<br />

Spätestens seit Freud wissen wir, dass in den ersten drei Lebensjahren die menschliche<br />

Prägung stattfindet. Daher muss Familienpolitik in der Europäischen Union<br />

einen viel größeren Stellenwert erhalten als bisher.<br />

5. Zuwanderung kann höchstens kontrolliert stattfinden. Sie löst das<br />

Alterungsproblem, darin sind sich die meisten Wissenschaftler einig, nicht. Denn<br />

die unkontrollierte Zuwanderung von Menschen, von denen man hofft, dass sie<br />

für entsprechenden Nachwuchs und Pensions- und Sozialzahlern sorgen, bedeutet<br />

zunächst auch eine große Belastung und Überforderung der Sozialsysteme.<br />

Worum es uns gehen muss, ist, je nach Maßgabe der nationalen Erfordernisse<br />

Zuwanderung zu steuern. Auch hier darf nicht EU-Recht die Handlungsfähigkeit<br />

der einzelnen Mitgliedsstaaten einengen.<br />

Sichere Grenzen. Eine derartige Politik bedarf zwar nicht der Festung Europas,<br />

aber sie bedarf sicherer Grenzen. Sicherer Grenzen – und einer gemeinsamen<br />

Asylpolitik, sowie einem viel effizienteren europäischen System gegen organisierte<br />

Kriminalität. Auf diesem Gebiet bedürfte es mehr Europa und nicht weniger.<br />

Aber ich bin mir natürlich der Tatsache bewusst, dass selbst nach Tampere<br />

es schwierig bleiben wird, den europäischen Raum der Freiheit, der Sicherheit<br />

und des Rechts zu vollenden. In dem finnischen Ort Tampere haben die europäischen<br />

Regierungen die Grundlagen dafür gelegt.<br />

Ich gehe aber davon aus, dass in 20 Jahren die Effizienz von Europol gesteigert<br />

werden wird. Dass es ein europäisches Polizeicorps geben wird – und eine<br />

umfassende EU-Strategie, sowie einen Aktionsplan zu Bekämpfung der Korruption.<br />

Die Europäische Union wird aus diesem Grund auch ihre Gemeinsame Außenund<br />

Sicherheitspolitik zu einem effizienteren Instrument ausbauen müssen.<br />

Fragen der inneren und äußeren Sicherheit sind in der heutigen globalen<br />

Welt engstens miteinander verbunden. Partnerschaften mit Drittländern, gestützt<br />

von Gemeinschaftsfonds müssen in 20 Jahren greifen, um illegale Einwanderung<br />

zu verhindern, Grenzkontrollkapazitäten zu verstärken, sowie Rückkehr-<br />

Abkommen über illegale Zuwanderer mit Ländern, die bisher solche Abkommen<br />

mit der EU noch nicht getroffen haben, zu schließen. Zum Beispiel Russland.<br />

Selbstverschuldete Fehlstrategien, wie die Visa-Affäre unter der Schirmherrschaft<br />

des grünen deutschen Außenministers Joschka Fischer, sollten ein abschreckendes<br />

Beispiel sein.<br />

Natürlich muss alles getan werden, um ein Beziehungsnetz zu Drittstaaten<br />

aufzubauen, die den Drang zur Auswanderung langfristig zügeln. Dazu gehört<br />

natürlich auch ein ausgewogener Marktzugang von Ländern der Dritten Welt –<br />

nicht nur nach Europa, sondern auch in die USA, nach Japan, China, Korea – kurz<br />

in alle Länder, die wirtschaftlich dynamisch sind. Es kann nicht nur so sein, dass<br />

238


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 239<br />

EINE REALISTISCHE EUROPAVISION<br />

die Europäische Union ihren Markt einseitig öffnet – unter dem Stichwort „alles<br />

außer Waffen!“. Dieses Schlagwort ist griffig, führt aber zu schweren Problemen<br />

beispielsweise für die europäische Landwirtschaft.<br />

Das Ringen um einen liberalen und offenen Welthandel wird uns zweifellos<br />

auch in 20 Jahren beschäftigen. Es wird ähnlich sein, wie zu Zeiten des Kalten<br />

Krieges – die Abrüstung. Man hat viel über sie gesprochen, und sie nie erreicht.<br />

So ähnlich wird es dem freien Welthandel gehen. Man wird viel über ihn<br />

sprechen, aber ihn nie zur Gänze erreichen. Es ist allerdings ein Ziel, dass wir<br />

im Auge behalten sollten. Besonders wenn wir das europäische Wirtschaftswachstum<br />

ankurbeln wollen.<br />

Wachstum und Beschäftigung müssen in Europa dringend belebt werden.<br />

Vielleicht schaut dann in 20 Jahren die nächste Lissabon-Bilanz besser aus, als<br />

die derzeitige Halbzeit-Bilanz. Ich bin der Überzeugung, dass mit dem jetzigen<br />

im Europäischen Parlament mit breiter Zustimmung bedachten Arbeitsprogramm<br />

der Europäischen Kommission die Chancen für Wachstums- und<br />

Beschäftigungsimpulse gut sind. Schon allein die Konzentration auf einige wenige<br />

Ziele – wie Wirtschaftswachstum, Forschungspolitik und schrittweise<br />

Liberalisierung der Arbeits- und Dienstleistungsmärkte – weisen in die richtige<br />

Richtung. Auch wenn manche Maßnahmen dieser Strategie vorübergehend<br />

Einschnitte bedeuten, werden sie doch auf längere Sicht die Wettbewerbsfähigkeit<br />

der Europäischen Union stärken. Dies ist dringend notwendig – angesichts des<br />

Drucks, dem uns die dynamische kommende Großmacht China aussetzt.<br />

Wir werden uns in 20 Jahren als Europäer nach wie vor mit der Großmacht<br />

USA messen und auseinandersetzen müssen. Wir werden uns aber auch gegenüber<br />

China behaupten müssen. Dazu kann die Erweiterung der Europäischen<br />

Union über die Nachbarschaftspolitik hinaus – zum Beispiel im Falle der EUambitionierten<br />

Ukraine – durchaus dienen. Dazu bedarf es aber auch einer klaren<br />

Strategie der Europäischen Union gegenüber Russland, gegenüber den USA<br />

und gegenüber dem asiatischen Raum.<br />

Ich hoffe, dass wir in 20 Jahren nicht mit einer zügellosen Verbreitung von<br />

Massenvernichtungswaffen und regionalen Atommächten konfrontiert sein werden.<br />

Wenn wir verhindern wollen, dass zwischen China, Japan, Taiwan, Nordund<br />

Südkorea ein atomares Wettrennen stattfindet, müssen die Maßnahmen dazu<br />

jetzt getroffen werden. Dazu bedarf es einer Abstimmung vor allem der europäischen<br />

und der amerikanischen Strategie.<br />

Noch gefährlicher erscheint mir ein zweites Szenario, das einer Atommacht<br />

Irans. Ob es der Europäischen Union im Dreiklang von Deutschland, Frankreich<br />

und Großbritannnien gelingen wird, das theokratische Regime in Teheran zu<br />

einem Verzicht auf atomare Rüstung zu bewegen, wird ein Testfall für die<br />

Glaubwürdigkeit europäischer Außenpolitik sein. Wenn dies nicht gelingt, wird<br />

erstens eine schwere Krise im Nahen Osten die Folge sein. Und zweitens werden<br />

wir noch in 20 Jahren bedauern, dass uns die Vereinigten Staaten nicht ernst<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 240<br />

URSULA STENZEL<br />

nehmen – und den scheinbar einfacheren Weg einer nicht abgestimmten, einseitigen<br />

unilateralen Politik vorziehen.<br />

Dann allerdings werden wir auch in 20 Jahren mit Bedauern feststellen, dass<br />

die Europäische Union zwar zu den „großen Payern“, aber nicht zu den „großen<br />

Playern“ zählt. Dies ist aber keineswegs ein ungeschriebenes Naturgesetz.<br />

Es lässt sich beeinflussen – vorausgesetzt der politische Wille dazu ist vorhanden.<br />

240<br />

März 2005


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241<br />

József SZÁJER<br />

Stellvertretender Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Leiter der ungarischen Delegation<br />

Eine Gemeinschaft der Gemeinschaften<br />

Einleitung: Eine <strong>Vision</strong> von Europa – eine <strong>Vision</strong> von uns selbst<br />

Unsere <strong>Vision</strong> von Europa und der Europäischen Union ist eng damit verbunden,<br />

was wir über uns selbst denken – mit unserem lokalen, nationalen und sogar<br />

regionalen Selbstbildnis sowie unseren wichtigsten Zielen. Deshalb werden wir in<br />

dieser kurzen Darstellung versuchen, das Konzept der Gemeinschaft, auf dem<br />

die Europäische Union beruht, aus verschiedenen Blickwinkeln zu beleuchten.<br />

Es ist vielleicht angebracht, in diesem Zusammenhang auf eine grundlegende<br />

These der ungarischen Außenpolitik zu verweisen, die unserem Diskurs und<br />

unserer Herangehensweise an den Europäischen Integrationsprozess zugrunde<br />

liegt: Ungarn ist kein neues Mitglied des modernen Europas. Seit mehr als tausend<br />

Jahren ist Ungarn Teil dieses Kontinents und hat zur Schaffung und Gestaltung<br />

Europas beigetragen. Im Laufe unserer turbulenten Geschichte war diese<br />

Zugehörigkeit mehrmals gefährdet und sogar unterbrochen, doch die eindeutige<br />

Haltung Ungarns und der Ungarn zu Europa stand nie außer Frage. Dies trifft<br />

auch auf verschiedene andere Mitgliedstaaten zu, die der EU im Jahre 2004 beitraten<br />

oder dies in den nächsten Jahren tun werden.<br />

Oftmals wird behauptet, dass bei einer politischen Integration schwache und<br />

weniger einflussreiche Länder leicht übervorteilt werden, während mächtige,<br />

einflussreiche Länder an Stärke gewinnen. Stärke kann jedoch unterschiedlich<br />

ausgelegt werden: Der Europäische Integrationsprozess ist ein gutes Beispiel,<br />

wie ein ansonsten kleines Land durch seine intellektuelle und visionäre Stärke maßgeblich<br />

zu einem Prozess beitragen kann. Daher vertreten wir die Auffassung, dass<br />

unser Land sowie alle anderen Mitgliedstaaten über eine solide und ausgereifte<br />

<strong>Vision</strong> von der Zukunft Europas verfügen müssen und sich auch über die damit<br />

verbundenen Aufgaben im Klaren sein sollten.<br />

Das ist von entscheidender Bedeutung für die Union, denn zum ersten Mal<br />

in ihrer Geschichte ist ein wirklicher Verfassungsprozess im Gange. Anders gesagt,


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 242<br />

JÓZSEF SZÁJER<br />

die Union stellt noch kein fertiges politisches Gebilde dar: Ihre künftige<br />

Ausrichtung hängt sehr stark von den Vorstellungen ihrer Bürger und ihrer politischen<br />

Vertreter ab. All diese Punkte können beim Aufbau der Europäischen<br />

Union des 21. Jahrhunderts eine Rolle spielen.<br />

Bestimmung nationaler und europäischer Interessen<br />

Im Hinblick auf die Dichotomie der nationalen und europäischen Interessen<br />

steht ganz obenan die Frage, welchen Standpunkt man zur klassischen Kontroverse<br />

bzw. zum Streitpunkt zwischen dem „Europa über den Nationen“ und dem<br />

„Europa der Nationen“ bezieht. Zunächst einmal müssen wir unserer Ansicht<br />

nach über den Rahmen dieser Kontroverse hinausgehen und uns über diese<br />

Debatte erheben. Hierfür bieten sich zwei Dinge an: zum einen die Stärkung<br />

des Regionalismus, d. h. der Ausbau der lokalen Selbstverwaltungen, und zum<br />

anderen die Anerkennung und Einbindung von Völkergemeinschaften, die vielfach<br />

über die Grenzen eines bestimmten Gebietes hinaus verbreitet sind, zum<br />

Beispiel nationale Minderheiten. Verbindet man diese beiden Theoreme, die<br />

beide auf dem Subsidiaritätsprinzip beruhen, dann müssen wir auch lokale<br />

Gebietskörperschaften, autonome Körperschaften und die lokalen Selbstverwaltungen<br />

anerkennen. Ihnen kommt bei der Gestaltung der Zukunft Europas eine<br />

entscheidende Rolle zu.<br />

Ein „Europa über den Nationen“ würde zur Schaffung der Vereinigten Staaten<br />

von Europa führen, in denen die meisten Entscheidungen fernab von den Bürgern<br />

und ihren Gemeinden gefällt werden würden. Die Union sollte sich jedoch nicht<br />

über die Mitgliedstaaten stellen, sondern für eine effiziente Zusammenarbeit zwischen<br />

ihren Mitgliedern Sorge tragen. Andererseits kann man auch das Konzept<br />

des „Europa der Nationen“ nicht gutheißen, denn zum einen ist hier der Terminus<br />

„Nation“ ungenau (er umfasst nur die politische Nation) und zum anderen gehen<br />

die Vertreter dieses Konzepts von der traditionellen Idee eines homogenen<br />

Nationalstaates aus. Wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der europäischen<br />

Integration war bisher die Abwendung von dieser Idee sowie die verstärkte<br />

Anerkennung der Grundsätze der Dezentralisierung, der Subsidiarität und der<br />

Selbstverwaltung, und dies sollte unserer Meinung nach auch künftig der Fall<br />

sein.<br />

Ich bin der festen Überzeugung, dass in Zukunft nationale Interessen sowie das<br />

Allgemeininteresse der Europäischen Union Berücksichtigung finden müssen.<br />

Die Mitgliedstaaten sollten zwar stets ihren eigenen Standpunkt vertreten, gleichzeitig<br />

aber auch dem europäischen Interesse Rechnung tragen. Die Europäische<br />

Union ist über die Anfangsphase längst hinweg, als es bei dem Prozess lediglich<br />

um die wirtschaftliche Integration und Zusammenarbeit ging. Die EU kann nicht<br />

wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden, bei dem die Anteilseigner je<br />

nach ihrem Anteil am Grundkapital Anspruch auf eine Dividende haben. Bei der<br />

Festlegung der Ziele der Union und der Auswahl der anzuwendenden Mittel<br />

242


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 243<br />

EINE GEMEINSCHAFT <strong>DE</strong>R GEMEINSCHAFTEN<br />

sollte die Solidarität zwischen den Nationen ausschlaggebend sein und noch<br />

weiter ausgebaut werden.<br />

Europa – Eine Gemeinschaft der Gemeinschaften<br />

Das Konzept der „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ unterstreicht die<br />

Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips und die Stärkung der lokalen Selbstverwaltungen.<br />

Zudem wird die verstärkte Anerkennung von Gemeinschaften, die nicht<br />

einem Land oder einer Region angehören müssen, hervorgehoben. Aus diesem<br />

Grund sollte der Umfang der Befugnisse, die bei den Institutionen der Union<br />

verbleiben, erweitert werden. Das ist jedoch lediglich auf die Bereiche zu beschränken,<br />

in denen die Maßnahmen der Union wirksamer sind als die Maßnahmen, die<br />

auf nationaler Ebene bzw. darunter getroffen werden können. Eine moderne<br />

Europäische Union in Form einer „Gemeinschaft der Gemeinschaften“ und die<br />

Konzepte Nation und Demokratie bedingen einander. Sie stehen in enger<br />

Beziehung zueinander und können am besten im Rahmen einer europäischen<br />

Einheit umgesetzt werden.<br />

Die Union sollte ihre Befugnisse unbedingt auf transparente, verantwortungsbewusste<br />

und demokratische Art und Weise ausüben. Daher dürfen die nationalen<br />

Parlamente, von denen schließlich die Souveränität ausgeht, nicht ihrer Rolle<br />

bei der Beschlussfassung innerhalb der Union beraubt werden. Im institutionellen<br />

Dreieck der Union müssen das Europäische Parlament und der Rat in effizienter<br />

Weise zusammenarbeiten, um nicht den Anschein zu erwecken, dass<br />

Entscheidungen über die Köpfe der Bürger hinweg getroffen werden. Aber auch<br />

die Regierungen aller Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass vor der<br />

Verabschiedung eines Standpunktes im Rat die Ansichten ihrer nationalen<br />

Gesetzgebungsorgane berücksichtigt werden. Darüber hinaus muss betont werden,<br />

dass eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments – dem einzigen,<br />

unmittelbar gewählten, repräsentativen Organ der Europäischen Union – unbedingt<br />

erforderlich ist. Die weitere „Parlamentarisierung“ der EU scheint der<br />

beste Weg zu sein, um die EU zu demokratisieren und eine direktere Verbindung<br />

zwischen dem Leben der EU-Bürger und der Union herzustellen.<br />

Versöhnung als eine Vorbedingung und Bereicherung für die Union<br />

Es ist hervorzuheben, dass es die Europäische Union in ausgezeichneter Weise<br />

verstanden hat, die Versöhnung zwischen den Ländern bzw. Regionen, die sich<br />

vor ihrem EU-Beitritt feindlich gegenüberstanden, zu erreichen und sich als ein<br />

historisch hervorragender Wahrer des Friedens zwischen ihren Mitgliedstaaten<br />

erwiesen hat. Im Falle Ungarns diente beispielsweise der Beitritt zur Europäischen<br />

Union als Instrument zur nationalen Wiedervereinigung. Im Mai 2004 wurden<br />

nicht nur 10 Millionen ungarische Bürger, sondern ungefähr 10,8 Millionen Ungarn<br />

zu EU-Bürgern, wenn man die ungarischen Minderheiten in der Slowakei und in<br />

243


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JÓZSEF SZÁJER<br />

Slowenien dazurechnet. Nach dem Beitritt Rumäniens wird diese Zahl auf über<br />

12,4 Millionen ansteigen. Die Europäische Volkspartei setzt sich dafür einsetzen,<br />

dass die Autonomie der Minderheitengemeinschaften in das Konzept der<br />

Subsidiarität aufgenommen wird, da dies seit jeher als christlich-demokratischer<br />

Grundsatz gilt.<br />

Wir vertreten die Auffassung, dass die Aussöhnung und die Bewahrung des<br />

Friedens weiterhin im Mittelpunkt des Wertegefüges der EU stehen sollten. Dies<br />

ist im Bereich der außenpolitischen Prioritäten der Union und vor allem auf dem<br />

Gebiet ihrer Nachbarschaftspolitik von besonderer Bedeutung. Es ist dringend<br />

geboten, dass die Europäische Union in erster Linie eine starke und wirksame<br />

Präsenz in ihrer Nachbarschaft zeigt. Anders gesagt, die Union sollte die Probleme<br />

und Herausforderungen ihrer neuen Mitgliedstaaten berücksichtigen und sich<br />

ihrer annehmen. Die Art und Weise, wie die EU und insbesondere das Europäische<br />

Parlament die demokratische Bewegung in der Ukraine in den Jahren 2004/2005<br />

unterstützte, sollte als gutes Beispiel für eine mutige und fortschrittliche<br />

Außenpolitik dienen.<br />

Die Union wird auch ihre eigenen Verteidigungskapazitäten aufbauen: Dazu<br />

müsste sie auch in der Lage sein, falls sie nach der Konsultation mit der NATO<br />

einen eigenständigen Weg wählen möchte. Die EU sollte zwar ihre Handlungsfähigkeit<br />

im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik weiter ausbauen, doch<br />

besteht unseres Erachtens nach wie vor ein gemeinsames Interesse darin, dass<br />

die NATO weiterhin die Federführung auf dem Gebiet der globalen Sicherheit<br />

innehat.<br />

Neben der Schärfung des Bewusstseins für unsere Prioritäten müssen wir<br />

auch den Befindlichkeiten anderer Länder Rechnung tragen. Für die Union bedeutet<br />

dies, dass wir uns darüber im Klaren sein müssen, welche Bedeutung der<br />

Mittelmeerraum für die Zukunft Europas hat. Wir sollten nicht nur Verständnis für<br />

die dortigen Probleme aufbringen, sondern auch unsere eigenen Politiken entwickeln,<br />

um den Kontakt zu den Mittelmeerländern zu pflegen. Im Interesse der<br />

Sicherheit und des Fortbestands der Union müssen wir dafür sorgen, dass die<br />

Union weiterhin einen Teil der finanziellen Last trägt, die für den Schutz unserer<br />

Außengrenzen erforderlich ist.<br />

Was für ein Europa bei welchem Tempo?<br />

Angesichts der allmählichen Erweiterung der EU, in die ja der gesamte europäische<br />

Kontinent einbezogen werden soll, lautet eine der grundlegenden Fragen,<br />

wie wir zur Problematik eines Europas der zwei oder mehrerer Geschwindigkeiten<br />

stehen. Zunächst einmal sollten die verschiedenen Konzepte näher erläutert werden.<br />

Gegenwärtig ist das Europa der zwei Geschwindigkeiten zwar bereits eine<br />

Realität (beispielsweise gehören Dänemark, Schweden und das Vereinigte<br />

Königreich weder der EWU noch dem Schengener Raum an), doch kann trotz dieser<br />

freiwillig gewählten Nichtbeteiligung nicht die Rede davon sein, dass der<br />

244


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 245<br />

EINE GEMEINSCHAFT <strong>DE</strong>R GEMEINSCHAFTEN<br />

endgültige Zustand bereits erreicht sei. Aus diesem Grund ist der Begriff<br />

„Geschwindigkeit“ zutreffend, denn die Mitgliedstaaten arbeiten auf ein und dasselbe<br />

Ziel hin, das sie jedoch zu verschiedenen Zeitpunkten erreichen werden.<br />

Auch das Konzept der „verstärkten Zusammenarbeit“ ist nicht weiter problematisch,<br />

weil es in bestimmten Fällen den Integrationsprozess sogar anstoßen kann,<br />

sofern bestimmte grundlegende Kriterien, wie beispielsweise Offenheit und<br />

Motivierung der nicht beteiligten Länder zum Aufholen, eingehalten werden.<br />

Allerdings kann das Konzept eines „harten Kerns“ zu einem grundlegenden<br />

Problem führen. Denn bei einem „Europa der konzentrischen Kreise“ besteht<br />

die Gefahr, dass interne Kräfte in der Auflösung der EU bestärkt werden. In<br />

gewisser Weise würde dadurch die Gemeinsame Europäische <strong>Vision</strong> verloren<br />

gehen. Das könnte schließlich den gesamten Vereinigungsprozess gefährden.<br />

Stabilität stellt den wichtigsten Wert der Europäischen Union dar. Sie beruht<br />

auf drei Pfeilern: demokratische Beschlussfassung, ausgewogene Außenbeziehungen<br />

und ein durch das europäische System der Wirtschaftsvorschriften erzieltes<br />

Gleichgewicht sowie das fortwährende Streben der Union nach einer politischen<br />

Einheit. Aus diesem Grunde stellt die Europäische Union für uns gegenwärtig<br />

eine Realität dar, die wir im moralischen Sinne verstehen können. Aus dieser<br />

Überzeugung heraus nehmen wir schwere Lasten auf uns und ersuchen um Hilfe<br />

bei der Überwindung unserer Schwierigkeiten, und genau dies ist auch der<br />

Grund, weshalb eine erneute Teilung Europas, die vielleicht nach den Kategorien<br />

alt und neu, sie und wir, schneller und langsamer oder ärmer und wohlhabender<br />

erfolgen könnte, für uns nicht akzeptabel wäre. Die Erzielung eines Konsenses<br />

über die Richtung und Qualität des Europäischen Integrationsprozesses ist ein mühsamer<br />

und zuweilen frustrierender Prozess, und dies wird sich zweifelsohne auch<br />

in Zukunft nicht ändern. Doch die Prämisse der Gründungsväter der Europäischen<br />

Union, dass der weitere Weg nur gemeinsam und einvernehmlich zurückgelegt<br />

werden darf, muss gewahrt bleiben.<br />

Wettbewerbsfähigkeit und sozialer Zusammenhalt<br />

Die schwierigste Aufgabe, mit der Europa gegenwärtig in sozialer und wirtschaftlicher<br />

Hinsicht konfrontiert wird, besteht darin, die Wettbewerbsfähigkeit auf<br />

dem globalen Markt zu verbessern und gleichzeitig den sozialen Zusammenhalt<br />

zu bewahren. Eng verbunden damit ist die Frage, ob die Union in der Lage sein<br />

wird, die Lissabon-Strategie umzusetzen. Gemäß dieser Strategie, die im März<br />

2000 verabschiedet wurde, soll die Europäische Union zum wettbewerbsfähigsten<br />

und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt werden, wobei<br />

ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und<br />

einem größeren sozialen Zusammenhalt verbunden werden soll.<br />

Somit sollte der Schwerpunkt nicht auf dem Konzept der Wohltätigkeit, sondern<br />

auf der Vermittlung von Wissen, der Schaffung von Arbeitplätzen und dem<br />

Ausbau der Beschäftigungsfähigkeit liegen. Der Staat trägt zur Ausbildung der<br />

245


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 246<br />

Arbeitkräfte, zum Aufbau einer wissensbasierten Gesellschaft, zur Unterstützung<br />

kleiner und mittelständischer Unternehmen und zur Beschleunigung größerer<br />

Investitionen in die Infrastruktur bei. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass<br />

die Union das Leben auf dem Lande und die Landwirtschaft als eine Quelle der<br />

Bereicherung – sowohl in kultureller als auch in sozialer Hinsicht – und nicht als<br />

eine Last betrachten sollte.<br />

Interessen und Werte<br />

JÓZSEF SZÁJER<br />

Den äußeren Rahmen für die Berücksichtigung nationaler Interessen bildet<br />

einerseits das System der Institutionen der Union und andererseits das Netz der<br />

Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten. Diese beiden Bereiche sind eng miteinander<br />

verknüpft und stellen insgesamt ein recht komplexes Gefüge von<br />

Bedingungen dar. Im Rahmen dieses Systems setzen sich die Mitgliedstaaten für<br />

die Berücksichtigung ihrer Interessen ein und versuchen, die verschiedenen<br />

Interessen miteinander zu vereinbaren. Alle Mitgliedstaaten der EU haben die<br />

Aufgabe, zur Herausbildung der Verfahren beizutragen, mit deren Hilfe bestimmte<br />

Interessen vorgebracht und dann mit dem Gemeinschaftsinteresse so weit wie<br />

möglich in Einklang gebracht werden.<br />

In diesem Zusammenhang ist die Gleichheit der Mitgliedstaaten von entscheidender<br />

Bedeutung und muss in den kommenden Jahren eine Priorität der Union<br />

darstellen. Dieser Punkt wird weiterhin ganz oben auf der Tagesordnung stehen,<br />

denn den Beitrittskriterien zufolge gilt (zumindest bis Ende 2006) der<br />

Grundsatz der Gleichheit weder für Beihilfen aus den Struktur- und<br />

Kohäsionsfonds noch für Direktbeihilfen im Bereich der Landwirtschaft (hier<br />

wird die ungleiche Behandlung auch nach 2006 fortgeführt). Das Gleiche trifft<br />

auch auf viele andere Gebiete zu (z. B. die Möglichkeit der Anwendung von<br />

Sicherheitsklauseln und die Diskriminierung bei der Freizügigkeit von<br />

Arbeitnehmern).<br />

Wir betrachten das Prinzip der Nichtdiskriminierung als einen Grundwert der<br />

Union, der für die Zukunft von Bedeutung ist und sich aus den christlichen<br />

Traditionen ergibt. Als Mitglied der Familie der Europäischen Christdemokraten<br />

vertrete ich die Überzeugung, dass die Zukunft der Union langfristig davon<br />

abhängt, inwieweit die christlichen Grundwerte umgesetzt werden.<br />

246<br />

März 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 247<br />

247<br />

Antonio TAJANI<br />

Leiter der italienischen Delegation Forza Italia - P der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Das Europa, das wir wollen<br />

Welches Europa wollen wir? Eine Föderation von Nationalstaaten, die auf den<br />

Grundsätzen der Solidarität und Subsidiarität sowie auf der Achtung der<br />

Menschenwürde beruht.<br />

Ein politisch starkes Europa, das auf der Weltbühne die Rolle eines Vorkämpfers<br />

für den Frieden spielt und das ein privilegierter und gleichberechtigter<br />

Gesprächspartner der USA sowie künftig Chinas sein wird.<br />

Ein Europa, dessen Grenzen sich noch erweitern werden und dessen aufmerksamer<br />

Blick auf Russland gerichtet wird. Ein Europa mit einer gemeinsamen<br />

Außen-, Verteidigungs-, Sicherheits- und Einwanderungspolitik.<br />

Eine Union, die über die wichtigen Themen entscheidet und die anderen<br />

Zuständigkeiten den Nationalstaaten, den Regionen und den Großstädten überlässt.<br />

Ein Europa, das sich mit allem befasst, ist ein schwaches Europa und läuft<br />

eben wegen seiner Schwäche Gefahr, die Freiheiten der Bürger zu verletzen. Es<br />

muss das Europa der Bürger sein, in dem die Parlamente eine starke, eine stärkere<br />

Rolle als heute, wahrnehmen.<br />

Die Verabschiedung des neuen Verfassungsvertrags bietet die Gelegenheit zur<br />

institutionellen Neugestaltung der Union.<br />

Ein Europa, mit dem sich die Mehrheit der Unionsbürger zu identifizieren vermag;<br />

das aus jenen, von uns allen angestrebten transparenteren und demokratischeren<br />

Institutionen besteht, durch die Debatten in der Öffentlichkeit der verschiedenen<br />

Länder angestoßen werden und ein Forum gebildet wird, das den von<br />

der Basis vorgebrachten Anliegen Gehör schenkt.<br />

Die Bereitschaft zum Dialog mit den gesellschaftlichen und kulturellen<br />

Hauptakteuren impliziert meines Erachtens jedoch auch die Einsicht in ihre Rolle<br />

und Bedeutung, wodurch man zu einem Institutionenbegriff gelangt, dessen<br />

Grundlage die Anerkennung des Reichtums und der Vitalität unserer<br />

Bürgergesellschaften bildet.


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 248<br />

ANTONIO TAJANI<br />

Es gilt zu begreifen, dass bei dem in dem neuen Kontext der globalisierten Welt<br />

zum Durchbruch kommenden Prozess einer Souveränitätsbeschränkung der<br />

Nationalstaaten nicht gleichzeitig versucht werden darf, einen neuen europäischen<br />

Staat, der sich auf den hypothetischen Begriff einer supranationalen<br />

Souveränität stützt, zu konstruieren bzw. – schlimmer noch – einen mächtigen bürokratischen<br />

Apparat aufzubauen, der einen neuartigen Leviathan verkörpern würde;<br />

da bei solchen Lösungen die nationalen Interessen sowie die Notwendigkeit eines<br />

demokratischen Konsenses unberücksichtigt blieben, würden wir damit zu einem<br />

Europa nicht nur der Unfreiheit, sondern auch der Instabilität gelangen.<br />

Ein Europa, das den europäischen Bürgern zu Glück und Wohlstand verhilft<br />

und darüber hinaus die Vielfalt der sozialen Gebilde sowie der regionalen und lokalen<br />

Gemeinschaften anerkennt und ihnen einen höheren Stellenwert verleiht.<br />

Europa als ein System, das auf einem homogenen Rahmen gemeinsamer<br />

Regeln und auf den Grundsätzen der – horizontalen und vertikalen – Subsidiarität<br />

basiert und in dem das Bestehen mehrerer, die Koexistenz unterschiedlicher – auch<br />

nationaler Interessen – ermöglichender Ordnungen vorgesehen ist, ohne den<br />

Anspruch, alles kontrollieren und von oben planen zu wollen. Ein System, das das<br />

Problem der demokratischen Zustimmung zur Union auf allen bestehenden institutionellen<br />

Ebenen anpackt, ohne die Illusion, ein sie umgehendes<br />

Institutionengefüge zu bilden.<br />

Das „offene Modell“ ist jedoch nur unter der Voraussetzung funktionsfähig,<br />

dass die soziale Rolle der konstitutiven Elemente jener von den Institutionen zu<br />

fördernden Gesellschaften anerkannt wird.<br />

Unter diesem Aspekt möchte ich auf zwei Akteure eingehen, die aus unterschiedlichen<br />

Gründen eine Funktion von primärer Bedeutung ausüben: die<br />

Kirchen und die Unternehmen.<br />

Die Kirchen und die Religion spielen eine wichtige Rolle für die Stabilität der<br />

europäischen Gesellschaften und die Bestimmung der kulturellen Identität unseres<br />

Kontinents. Zu berücksichtigen ist dabei die Bedeutung, die die christlichen<br />

und jüdischen Wurzeln – zusammen mit denen, die wir aus der Aufklärung, dem<br />

römischen Recht, den Hochschulen und der lateinischen Sprache beziehen – für<br />

die Schaffung eines idem sentire de re publica hatten, ohne das keine politische<br />

Gemeinschaft überlebensfähig ist.<br />

Gerade weil Institutionen und Gesellschaft getrennt bleiben müssen und Erstere<br />

nicht die Zweite unterdrücken dürfen, sondern sie stützen müssen, ist es letztendlich<br />

unabdingbar, einem Subjekt – Kirchen und Religionsgemeinschaften –, das<br />

im Leben der Bürger von so großer Bedeutung ist (man denke an die<br />

Freiwilligentätigkeit) und einen so wichtigen Beitrag zur Bestimmung der Grundwerte<br />

unserer Zivilisation (zentrale Stellung des Menschen, Pluralismus der gesellschaftlichen<br />

Ausdrucksformen, Kultur der Autonomien, Solidarität) leistet, die gebührende<br />

Würdigung zuteil werden zu lassen.<br />

Diejenigen, die die von den Religionen wahrgenommene Rolle argwöhnisch<br />

betrachten, möchte ich an die Worte eines in laizistischen Kreisen beliebten ita-<br />

248


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 249<br />

DAS EUROPA, DAS WIR WOLLEN<br />

lienischen Philosophen, Noberto Bobbio, erinnern. Eines Intellektuellen, der die<br />

Notwendigkeit der Religion für die wahre Demokratie erkannte. „Sofern es – so<br />

sagte er – keine sonstige Kraft gibt, die die inneren Beweggründe zum Handeln<br />

zu bestimmen vermag, muss der Gedanke akzeptiert werden, dass das Religiöse<br />

notwendig ist“.<br />

Der zweite gesellschaftliche Akteur, auf den ich mich beziehen möchte, besteht<br />

aus den zahlreichen Personen- und Kapitalgesellschaften oder Genossenschaften,<br />

die zur Schaffung unseres Wohlstands beitragen.<br />

Nach der Lehre der Gründungsväter muss die Union den entschlossenen geistigen<br />

Willen zur Einheit Europas im Hinblick auf die Friedenswahrung mit der<br />

Förderung des Wohlstands verbinden, der an diesem Frieden einen so wesentlichen<br />

Anteil hat. Sie muss der – heute unter vielen anderen Bestimmungen in<br />

Artikel 16 der Grundrechtecharta etwas restriktiv vorgesehenen – unternehmerischen<br />

Freiheit (und der Modernisierung des Wohlfahrssystems) im Rahmen der<br />

wirtschaftlichen Liberalisierungsprozesse, durch die ein effektiver Wettbewerb<br />

ermöglicht werden soll, ein angemessenes Gewicht verleihen. Sie muss wirtschaftlich<br />

effizienter werden, um nicht bloß Planifikation und Bürokratismus zu<br />

betreiben, sondern einen „Wettbewerbsföderalismus“ zu fördern, durch den mittels<br />

des freien Wettbewerbs die Effizienz der nationalen Systeme und der leistungsfähigsten<br />

zwischenstaatlichen Systeme gesteigert werden kann und durch den<br />

ferner die Valorisierung jener von der Geografie der Nationalstaaten unabhängigen<br />

Produktionsketten, die durch die fortschreitende Interdependenz der<br />

Wirtschaftssysteme entstehen werden, ermöglicht wird.<br />

Sollten wir die große Bewährungsprobe der Ratifizierungen des EU-<br />

Verfassungsvertrags bestehen, so würden wir – um eine der treffendsten Aussagen<br />

in der Eröffnungsrede des Vorsitzenden Valéry Giscard d’Estaing vor dem Konvent<br />

zur Zukunft Europas zu zitieren – „ein Europa, in dem sich ein weiter Raum der<br />

Chancen und des Fortschritts für die Bürger eröffnet“, gestalten.<br />

249<br />

September 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 250<br />

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<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 251<br />

Ioannis M. VARVITSIOTIS<br />

Leiter der griechischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Die Epoche der globalen Verflechtung –<br />

Die Ökologie der Kulturen und die Rolle der EU<br />

In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist eine neue Welt entstanden. Wir<br />

wurden Zeuge noch nie da gewesener Veränderungen, denn die Globalisierung<br />

hat die Güter-, die Dienstleistungs- und die Kapitalmärkte vereint, und im Zuge<br />

dessen haben sich neue produktive Strukturen von globaler Dimension herausgebildet.<br />

Das 21. Jahrhundert kann das Jahrhundert der sozialen Verantwortung werden,<br />

in dem jeder Bürger eine aktive Rolle spielt, unmittelbar Anteil an der<br />

Entwicklung nimmt, Beschlüsse kritisch beurteilt, sich an der Entscheidungsfindung<br />

beteiligt und schließlich einen ideologischen und produktiven Faktor darstellt.<br />

Die aktive Beteiligung der Bürger ist unabdingbar, denn nur dadurch können wir<br />

zu einer Internationalität gelangen, bei der das Individuum Träger von Ideen<br />

und Initiativen ist, und nur auf diese Weise können die drei Aspekte der so<br />

genannten Globalisierung verwirklicht werden: die wirtschaftliche Globalisierung,<br />

bei der das Gewicht insbesondere auf der individuellen Initiative und dem<br />

Unternehmergeist des Einzelnen liegt, die kulturelle Globalisierung, bei der die<br />

Bürger durch ihre aktive Beteiligung ihre ästhetischen Optionen zum Ausdruck<br />

bringen, und die politische Globalisierung, bei der sie Ideen entwickeln und<br />

umsetzen. Denn die Politiker scheinen mit ihren Initiativen ihre Möglichkeiten<br />

als Triebkraft der europäischen Integration ausgeschöpft zu haben. Diese sollte<br />

mehr und mehr in die Hände der Bürger gelegt werden, sie sollte Ausdruck der<br />

Vielfältigkeit sein, die Voraussetzung dafür besteht jedoch darin, das Neue und<br />

Besondere zu akzeptieren.<br />

Auf diese Weise gewährleisten wir auch die Mannigfaltigkeit der europäischen<br />

Kultur, die wir gleichzeitig weiterentwickeln, und wir beugen damit der<br />

Homogenität der Kultur vor, weil sie durch ihre menschliche Dimension gefestigt<br />

wird, ein Element, das das Fundament der westlichen Zivilisation bildet.<br />

Der Prozess der europäischen Integration bzw. Globalisierung, der – insbesondere<br />

nach dem Zerfall der Sowjetunion – nahezu unseren gesamten Kontinent<br />

251


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 252<br />

IOANNIS M. VARVITSIOTIS<br />

erfasst hat, fördert nicht nur die Entstehung neuer politischer Institutionen und<br />

Funktionen, sondern hat auch Einfluss auf den Alltag der Unionsbürger.<br />

Neben den wirtschafts- und sicherheitspolitischen Fragen und den Fragen<br />

der Funktionalität trägt der Integrationsprozess zudem zur Entwicklung und<br />

Förderung neuer Ideen und kultureller Impulse bei.<br />

Wir erleben als Europäer am Beginn des 21. Jahrhunderts, wie sich unsere<br />

Zivilisation bewusst darum bemüht, die Erfahrungen unserer langen Geschichte<br />

zur Geltung zu bringen. Jetzt, in der neuen Epoche, in der das politische Denken<br />

und Handeln in den Vordergrund tritt, darf sich dieses Bemühen nicht auf die<br />

nationalen Grenzen beschränken. Wir müssen begreifen, dass wir nicht mehr<br />

die historischen Erfahrungen eines Volkes durchleben, sondern die einer ganzen<br />

Welt.<br />

Die Thematik des „Raubs der Europa“ gewinnt in der Geschichte der westlichen<br />

Zivilisation wieder an Aktualität, sie ist Ausdruck der Vielfältigkeit und<br />

schafft die Grundlage für eine neue Mythologie. Die westliche Zivilisation, deren<br />

Alterung bedrohliche Züge annimmt, sucht sich mithilfe eines „faustischen“ Ideals<br />

zu erneuern, das den Menschen von seiner euklidischen Beschränkung auf den<br />

überschaubaren Körper, den engen Begriff des Stadtstaates und seine nationalen<br />

Grenzen befreit.<br />

Durch die Bewahrung der kulturellen Werte, die in der heutigen Zeit mitunter<br />

in Zweifel gezogen wird, können wir verhindern, dass unser Vorhaben scheitert.<br />

Dazu müssen wir aber die Notwendigkeit akzeptieren, über die Grenzen<br />

hinauszuschauen, andere Perspektiven zu verfolgen und in anderen Dimensionen<br />

zu denken. Die <strong>Vision</strong> des zukünftigen Europas muss sich auf das Wesen des<br />

Humanismus stützen, die Voraussetzung dafür besteht darin, dass wir durch unsere<br />

Stellung in der Welt, durch Zweifeln und Forschen unsere Existenz begreifen.<br />

Aufgabe der kommenden Generationen wird es sein, eine globalisierte<br />

Gesellschaft zu schaffen, in der das Individuum, der Bürger, eine regulative Rolle<br />

spielt. Das 21. Jahrhundert, die Ära nach dem Ende des Kalten Krieges, ist durch<br />

eine neue globale Struktur gekennzeichnet, auf wirtschaftlicher Ebene sind die<br />

Grenzen weggefallen, eine Flut von Informationen ergießt sich täglich über die<br />

ganze Welt und durch die Entwicklung der digitalen Kommunikation ist der<br />

Zugang zu noch mehr Informationen gewährleistet. In dieser neuen Realität spielen<br />

die lokalen Gemeinschaften und die Bürger eine immer umfassendere Rolle,<br />

denn sie sehen sich gemeinsam mit sozialen Problemen, wie der Arbeitslosigkeit,<br />

der Entfremdung, der Kriminalität und der Unsicherheit, konfrontiert.<br />

Gleichzeitig sollten wir nicht vergessen, welch hohen Wert die regionalen<br />

Kulturen besitzen und welch besondere Bedeutung in diesem Zusammenhang<br />

der Ökologie der Kulturen zukommt, so klein, so schwach und so wirkungslos<br />

sie auch zu sein scheinen. Namhafte Historiker und große <strong>Vision</strong>äre stimmen<br />

darin überein, dass die Wiedergeburt der „Metropole“ durch den Einfluss neuer<br />

Gedanken aus den Regionen gestärkt wird. Es gibt in der Weltgeschichte zahlreiche<br />

Beispiele mächtiger Reiche, die schließlich in dem Augenblick untergin-<br />

252


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 253<br />

DIE EPOCHE <strong>DE</strong>R GLOBALEN VERFLECHTUNG<br />

gen, als sie ihre letzte Region vollends aufgesogen hatten. Es handelt sich hierbei<br />

um die Theorie der Entropie, an der in isolierten Systemen festgehalten wird.<br />

Wenn es keine Reibung gibt, dann ist das System zwangsläufig zum Untergang<br />

verurteilt. Die EU sollte also bestrebt sein, neuen Einflüssen gegenüber aufgeschlossen<br />

zu sein.<br />

Ich bin der Ansicht, dass in diesem Klima der politischen und wirtschaftlichen<br />

Verflechtung mit den Nachbarländern der EU die Schaffung einer erweiterten<br />

Region der politischen Stabilität und Rechtsordnung zum gegenseitigen Austausch<br />

kultureller und ideologischer Güter und folglich zu einem umfassenderen sozialen<br />

Zusammenhalt beitragen wird. Wir müssen uns deshalb darum bemühen,<br />

immer mehr Länder zu integrieren und somit einen neuen Rechtsrahmen zu<br />

schaffen, das heißt, wir müssen Mittel und Wege finden, all jene mit einzubeziehen,<br />

die wir nicht vollständig integrieren können. Wir haben die Möglichkeit, ein<br />

Europäisches Commonwealth der Freiheit und der Prosperität (European<br />

Commonwealth of Freedom and Prosperity – ECFP) zu errichten.<br />

Seit einem Jahr verfügt die Europäische Union über eine Europäische<br />

Nachbarschaftspolitik (ENP), deren Ziel darin besteht, Kontakte zu allen angrenzenden<br />

Ländern, sowohl im Osten als auch im Süden, zu knüpfen. Langfristig<br />

gesehen wird die Europäische Union dadurch ihre Grenzen festlegen, ohne dass<br />

dabei eine engere Zusammenarbeit im Bereich der politischen und wirtschaftlichen<br />

Entwicklung mit einigen ihrer Partner ausgeschlossen ist. Die Europäische<br />

Union der 27 (die Beitrittsländer Bulgarien und Rumänien mit eingerechnet)<br />

wird sich mit der ENP weiter ausdehnen und auf internationaler Ebene einen führenden<br />

Platz einnehmen.<br />

Die ENP muss, auch wenn sie sich noch im Anfangsstadium befindet, auf<br />

eine rechtliche Grundlage gestellt werden. Die beteiligten Länder sollten sich<br />

nicht nur darauf beschränken, auf wirtschaftlichen Gebiet und im Bereich der<br />

Entwicklungshilfe zusammenzuarbeiten.<br />

Die Schaffung eines Rechtsrahmens und die Einrichtung von Instrumenten für<br />

die Partner- und Nachbarschaftspolitik würden dazu beitragen, dass die ENP für<br />

die beteiligten Länder attraktiver und folglich nützlicher wird. Zudem könnte<br />

ein Kandidatenland für den Beitritt zur EU, wenn es Schwierigkeiten bei diesem<br />

Prozess hat, die Möglichkeit nutzen, sich an der ENP zu beteiligen, zumal<br />

sie in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht davon profitieren würde.<br />

Mit der Errichtung eines Europäischen Commonwealth der Freiheit und der<br />

Prosperität, das in gewisser Weise eine verbesserte Version des Britischen<br />

Commonwealth darstellen würde, könnte die EU zusammen mit ihren Partnern<br />

einen Pol des Friedens, der Freiheit und der Prosperität schaffen.<br />

Dem Commonwealth würden die Nachbarländer der EU angehören, die<br />

bereits in die Europäische Nachbarschaftspolitik eingebunden sind und die untereinander<br />

sowie mit anderen Staaten eine „besonderes Verhältnis“ intensivierter<br />

Kooperation pflegen. Neben den im Rahmen der ENP festgelegten Bestimmungen<br />

(wie beispielsweise die Schaffung eines Finanzinstruments zur Integration des<br />

253


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 254<br />

IOANNIS M. VARVITSIOTIS<br />

TACIS- und des MEDA-Programms) werden für alle Länder die Regelungen der<br />

Zollunion gelten. Die Bürger dieser Länder werden jedoch weder das Recht<br />

haben, sich frei in den Ländern der Union niederzulassen, noch, sich an den<br />

beschlussfassenden Gemeinschaftsorganen zu beteiligen, und selbstverständlich<br />

werden diese Länder nicht in die Währungsunion aufgenommen. Sie werden<br />

jedoch in etlichen Bereichen finanzielle Unterstützung erhalten und eine Reihe<br />

weiterer Vorteile genießen. Zum Beispiel wird für die Einreise ihrer Bürger in die<br />

Union keine Visumpflicht bestehen, was im Vergleich zur ENP eine Neuerung darstellt.<br />

Die wirtschaftlichen und sonstigen Vorteile dieses „besonderen Verhältnisses“<br />

der Commonwealth-Staaten werden, was die „Drittländer“ betrifft, beträchtlich sein,<br />

sodass sie einen Anreiz für den Beitritt zum Commonwealth schaffen, mit den<br />

Vorteilen eines vollständigen Beitritts zur EU werden sie jedoch nicht vergleichbar<br />

sein.<br />

Es wird eine Parlamentarische Versammlung geben, die sich aus Vertretern der<br />

Parlamentarischen Versammlung Europa-Mittelmeer (für die Mittelmeerländer)<br />

sowie aus Vertretern der nationalen Parlamente der anderen Staaten und des<br />

Europäischen Parlaments zusammensetzt. Diese kann zwei Mal jährlich zusammentreten<br />

und Entschließungen verabschieden, die sich mit Fragen bezüglich der<br />

Politiken beschäftigen, die im Hinblick auf Wirtschaftswachstum, sozialen<br />

Zusammenhalt, Sicherheit und die Wahrung der gemeinsamen Prinzipien verfolgt<br />

werden und die für die Commonwealth-Staaten Bedeutung haben bzw.<br />

von internationaler Tragweite sind. Dadurch wird die Zusammenarbeit zwischen<br />

all diesen Ländern sowohl auf Ebene der einzelnen Politikbereiche als auch auf<br />

regionaler Ebene gewährleistet.<br />

Die Beschlüsse der Parlamentarischen Versammlung werden konsultativen<br />

Charakter haben. Sie können jedoch entsprechend den Verfassungsbestimmungen<br />

der einzelnen Staaten und der Europäischen Union die Grundlage für die<br />

Ausarbeitung gesonderter Beschlüsse der nationalen Parlamente der<br />

Commonwealth-Staaten, des Europäischen Rates und des Europäischen Parlaments<br />

bilden.<br />

Die Länder des Commonwealth werden sich dazu verpflichten, untereinander<br />

sowie zu den Mitgliedstaaten der Union friedliche Beziehungen zu unterhalten.<br />

Wenn eines dieser Länder mit einem anderen Mitgliedsland des Commonwealth<br />

bzw. mit einem Mitgliedstaat der Union in Konflikt gerät, so kann dies einen Grund<br />

für seinen Ausschluss aus dem Commonwealth darstellen.<br />

Das Commonwealth kann relativ kurzfristig (sobald die Konsultationen über seinen<br />

Rechtsrahmen abgeschlossen sind) proklamiert und mit der Perspektive errichtet<br />

werden, dass innerhalb von zehn Jahren Länder des südlichen Mittelmeerraums<br />

(Marokko, Tunesien, Algerien, Libyen, Ägypten, Syrien, der im Aufbau befindliche<br />

palästinensische Staat und Israel, sofern sie dies wünschen) aufgenommen werden.<br />

Die Voraussetzungen für ihre Mitgliedschaft werden die gleichen sein, wie sie von<br />

der EU im Rahmen der Partnerschafts- und Kooperationsabkommen bzw. der<br />

Europa-Mittelmeer-Kooperation gefordert werden.<br />

254


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 255<br />

DIE EPOCHE <strong>DE</strong>R GLOBALEN VERFLECHTUNG<br />

Die Errichtung des Commonwealth bietet uns zudem eine Behelfslösung,<br />

falls der vollständige Beitritt eines Landes in die Europäische Union ernsthafte<br />

Probleme bereitet. Wenn ein Kandidatenland nicht aufgenommen werden kann<br />

bzw. wenn einige EU-Mitgliedstaaten seine Aufnahme ablehnen, dann kann es<br />

auf jeden Fall dem Commonwealth beitreten. Die alternative Perspektive, statt der<br />

Europäischen Union dem Commonwealth beizutreten, kann den Druck, den<br />

antieuropäische Kräfte in der EU und in den Kandidatenländern ausüben, entschärfen.<br />

Das Commonwealth wird eine wertvolle „Vorstufe“ bilden, auf der die Länder<br />

des europäischen Raums sich bei konstantem Peer-Pressure (Druck unter<br />

Gleichgestellten) der Union schneller und sicherer annähern können. Der „horizontale“<br />

Druck durch „Gleichgestellte“ ist oftmals effizienter als der „vertikale“<br />

Druck (vonseiten der EU).<br />

Schließlich wird rund um Europa eine Zone von Ländern mit europäischer<br />

Orientierung geschaffen, die seinen Wirtschaftsraum erweitert, seine Sicherheit<br />

stärkt und seine Autorität sowie seinen Einfluss auf internationaler Ebene erhöht,<br />

ohne dass damit zusätzliche finanzielle Belastungen verbunden sind und sein inneres<br />

Gleichgewicht gestört wird.<br />

In gewisser Weise wird dadurch auch das Dilemma gelöst werden, das uns<br />

seit langem quält, nämlich die Frage, wie sich die kontinuierliche Erweiterung<br />

und die Vertiefung der Integration miteinander vereinbaren lassen (das Verhältnis<br />

von Erweiterung und Konsolidierung).<br />

Mit der Errichtung des Commonwealth wird es möglich sein, die Europäische<br />

Integration zu vertiefen, ohne die Erweiterung zu behindern (da diese innerhalb<br />

des Commonwealth vorangetrieben wird). Damit können alle Probleme,<br />

die es gegenwärtig in Europa gibt (sowie andere, die künftig auftreten könnten),<br />

beizeiten entschärft und neue Dilemmata sowie neue Polarisierungen in<br />

der Union rechtzeitig vermieden und überwunden werden, bevor diese die<br />

Einheit Europas beeinträchtigen. Dies wird uns einen und zugleich stärken, und<br />

zwar ohne zusätzliche Kosten und sicherlich mit einem geringeren Risiko.<br />

Wenn unsere politische Führung bei Themen globaler Bedeutung eine wichtige<br />

Rolle spielen soll, dann muss das europäische Gebäude einen demokratischeren<br />

und folglich politischeren Charakter haben. Die Frage, wie die Demokratie<br />

mit der kontinuierlich wachsenden internationalen Verflechtung in Einklang<br />

gebracht werden kann, hängt von der Globalisierung ab. Die Nachkommen der<br />

Begründer der nationalen Philosophie müssen das supranationale Element verwirklichen.<br />

Darüber hinaus brauchen wir eine neue <strong>Vision</strong>, die die kommenden<br />

Generationen in Europa verstehen und die sich zu eigen machen können.<br />

Zudem muss das Verhältnis zwischen den Zielen der EU und ihrem Handeln<br />

sichtbar gemacht werden. Das Projekt der europäischen Integration zeigt<br />

Abnutzungs- und Ermüdungserscheinungen, und dies gilt auch für die Mehrheit<br />

derer, die damit befasst sind.<br />

255


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IOANNIS M. VARVITSIOTIS<br />

Wenn die Europäischen Institutionen sich nicht weiterentwickeln, dann werden<br />

sie in ihrem Wirken auf die Verwaltung bzw. bestenfalls auf die Regelung<br />

des Binnenmarktes beschränkt bleiben.<br />

Die Frage, wie die Demokratie mit der kontinuierlich wachsenden internationalen<br />

Verflechtung in Einklang gebracht werden kann, geht sicherlich über die<br />

Grenzen der EU hinaus und hängt mit dem gesamten Globalisierungsprozess<br />

zusammen. Die jüngsten Terrorakte haben das Stabilitätsgefühl, das sich nach dem<br />

Fall der Berliner Mauer einzustellen begann, erschüttert und das Fundament,<br />

die Menschenrechte, zum Wanken gebracht. Das humanistische Europa wird<br />

durch religiösen Fanatismus und Nationalismus untergraben, der Terrorismus<br />

bildet zudem einen fruchtbaren Nährboden für Unterentwicklung und Armut.<br />

Unsere Perspektiven besitzen die Größe unserer <strong>Vision</strong>en, eine veränderliche<br />

Größe, die unseren Leistungen auf politischem, wirtschaftlichem und sozialem<br />

Gebiet entspricht. Wenn wir das, was Europa in den letzten Jahrzehnten – seit<br />

1970 – nach dem Niedergang des technologischen Humanismus durchlebt hat,<br />

überwinden und wenn wir etwas erreichen wollen, das über die unkoordinierten<br />

Leistungen unserer Zivilisation hinausgeht, dann müssen wir ein solch politisches<br />

Gefühl und eine solch politische Aktivität entwickeln, die es uns ermöglichen,<br />

große <strong>Vision</strong>en für die kommenden Jahrzehnte zu entwickeln. Diese<br />

<strong>Vision</strong>en können nur verwirklicht werden, wenn wir gutnachbarschaftliche<br />

Beziehungen pflegen und konstruktiv zusammenarbeiten.<br />

256<br />

Mai 2005


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 257<br />

257<br />

Bernhard VOGEL<br />

Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung<br />

Europäisches Erbe und Europäische Aufgabe –<br />

Europa 2020: Eine Werte- und Kulturgemeinschaft<br />

Herodot von Halikarnas, der griechische Geschichtsschreiber aus dem heutigen<br />

Bodrum in der Türkei, schrieb vor rund 2500 Jahren: „Von Europa weiß<br />

kein Mensch, weder ob es vom Meer umflossen ist, noch wonach es benannt<br />

ist, noch wer es war, der ihm den Namen Europa gegeben hat“. Bis heute gibt<br />

es die Schwierigkeit zu definieren, was Europa ausmacht. Europa ist eben nicht<br />

nur ein vager geographischer Begriff, sondern vor allem – wie der französische<br />

Philosoph Henri-Bernard Lévy gesagt hat – „eine Idee“.<br />

Politiker wie Jean Monnet, Robert Schuman, Alcide de Gasperi und Konrad<br />

Adenauer haben begonnen, der Idee Gestalt zu verleihen. Europa hat nicht<br />

allein, aber doch auch in der Europäischen Union eine neue Form gefunden.<br />

Die Sehnsucht nach Frieden, Stabilität und Wohlstand schuf die Bereitschaft<br />

zur Zusammenarbeit. Es war die Erfahrung mit zwei totalitären Regimen, die die<br />

Menschen zunächst in Westeuropa zueinander finden ließ. Es war aber auch das<br />

Bewusstsein um die gemeinsamen Ursprünge, das der europäischen Idee<br />

Substanz und Kraft verlieh.<br />

Gerade die Menschen in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas haben<br />

in der Zeit des Kommunismus mit Nachdruck darauf bestanden, nicht nur geographisch,<br />

sondern auch geistig-kulturell zu Europa zu gehören. „Wir sind wieder<br />

daheim!“, sagte der polnische Ministerpräsident am 1. Mai 2004, als sein Land<br />

der Europäischen Union beitrat. Das Zusammengehörigkeitsgefühl überdauerte<br />

die Jahrzehnte der europäischer Teilung, erwies sich als tragfähig genug,<br />

um die Einigung des Kontinents zu ermöglichen.<br />

Die Idee eines in Freiheit und Frieden vereinten Europa ist politische<br />

Wirklichkeit geworden. Aber ist das europäische Projekt als „einer wertefordernden<br />

und sinngebenden Anstrengung“, wie sie Raymond Aron – er wäre in<br />

diesem Jahr hundert Jahre alt geworden – gefordert hat, ans Ziel gekommen?<br />

Ohne verbindende Werte und geistige Grundlagen wäre die Union niemals<br />

zustande gekommen, ohne sie wird die Gemeinschaft nicht dauerhaft lebens-


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 258<br />

BERNHARD VOGEL<br />

fähig sein. Es bleibt dabei: Europa kann und darf nicht nur pragmatisch und<br />

kurzatmig organisiert werden. Europa braucht feste Fundamente, ein vertieftes<br />

Bewusstsein seiner kulturellen und wertmäßigen Dimension. Die Pflege und<br />

Wahrung unseres europäischen Erbes ist Teil des europäischen Auftrags. Die<br />

<strong>Vision</strong> Europa im Jahr 2020 ist auch die <strong>Vision</strong> einer Kultur- und<br />

Wertegemeinschaft. „Wertefordernde und sinngebende Anstrengungen“ hat es<br />

bereits gegeben, aber sie reichen nicht aus.<br />

Nach dem zweiten Weltkrieg waren die Grundwerte – Achtung der<br />

Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gewaltenteilung, Rechtsstaat und soziale<br />

Verantwortung – in der europäischen Gemeinschaft nie umstritten und bildeten<br />

die geistige Grundlage für das Zusammenwachsen der Völker. Dieses<br />

Wertefundament war für die Bürgerinnen und Bürger zwar erfahrbar, doch<br />

kaum sichtbar. „Europäische“ Grundrechte existierten nur als so genanntes<br />

„ungeschriebenes Richterrecht“ des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften.<br />

Mit dem Europäischen Verfassungsvertrag wird die europäische Grundrechtecharta<br />

Rechtsverbindlichkeit erhalten. Der Verfassungsvertrag enthält, obwohl<br />

der Gottesbezug fehlt, einiges von dem, was bisher an „Seele“ und „Geist“<br />

Europas vermisst worden ist. Gleich zu Beginn – in Artikel 2 – werden die<br />

Werte, auf denen die Union gründet, aufgezählt: „Menschenwürde, Freiheit,<br />

Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte.“<br />

Der Verfassungsentwurf macht deutlich, dass in der Union – ausgehend von der<br />

Unantastbarkeit der Menschenwürde – ein breites, gemeinsames Wertefundament<br />

vorhanden ist. Die Erwartung, man könne zu einem kurzen und für jedermann<br />

verständlichen und transparenten Text kommen, hat sich leider nicht erfüllt.<br />

Der Vertragsentwurf umfasst mehr als 400 Artikel.<br />

Es ist auch nicht gelungen, den Entwurf der Verfassung vor der EU-<br />

Osterweiterung zu verabschieden. Ob er in allen EU-Mitgliedstaaten Zustimmung<br />

findet, ist noch nicht gewiss. Hoffen wir, dass uns eine Ablehnung in einem oder<br />

gar mehreren Staaten erspart bleibt. Aber, selbst wenn es in absehbarer Zeit eine<br />

europäische Verfassung geben sollte, werden die Diskussionen um die europäische<br />

Identität nicht beendet sein.<br />

Die Frage nach den Inhalten, Entfaltungsmöglichkeiten und Zielvorstellungen<br />

der Gemeinschaft stellt sich dringlicher denn je. Sie entscheidet letztlich mit<br />

über die weitere Aufnahmefähigkeit der EU. Wie definieren wir die Union? Wo<br />

liegen ihre Grenzen? Wie bestimmen wir die langfristigen Beziehungen zu den<br />

Nachbarn der EU? Welche Rolle soll Europa in der Weltgemeinschaft spielen?<br />

Noch haben wir auf diese Fragen keine endgültigen Antworten, aber dass wir<br />

sehr bald zu einer grundsätzlichen Zukunftsvorstellung von Europa finden müssen,<br />

ist unausweichlich. Davon hängt viel ab – nicht zuletzt, ob Europa die<br />

Zustimmung seiner Bürgerinnen und Bürger gewinnt.<br />

Bislang ist die Identifikation der Bürger mit der Europäischen Union wenig<br />

ausgebildet. Jedenfalls ist sie zu schwach, als dass man von ihr einen substan-<br />

258


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EUROPÄISCHES ERBE UND EUROPÄISCHE AUFGABE<br />

tiellen Beitrag für eine stabile und dauerhafte Entwicklung erwarten könnte. Bei<br />

jeder Wahl zum Europäischen Parlament, auch bei der im Juni 2004, ist eine<br />

geringe Wahlbeteiligung zu beklagen. Nationale, nicht europäische Themen<br />

stehen im Mittelpunkt. Europa ist, so hat es den Anschein, eine Sache von<br />

Politikern, Bürokraten und Parteien; die Bürger bleiben auf Distanz. Die Union<br />

kann aber nicht nur von „oben“ gebildet werden, sie muss auch „von unten“<br />

wachsen.<br />

In den kommenden Jahren ist die Frage vordringlich, ob Unionsbürger den<br />

gegenwärtigen Integrationsprozess unterstützen? Bei den Deutschen stößt die<br />

Osterweiterung der EU nur auf begrenzte Zustimmung. Das ist eines der wichtigsten<br />

Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage, die die Konrad-Adenauer-<br />

Stiftung Ende 2003 durchführen ließ: 59 Prozent halten den Erweiterungszeitpunkt<br />

für verfrüht, 85 Prozent befürchten, dass viele deutsche Unternehmen<br />

durch Billigkonkurrenz aus den Beitrittsländern in Schwierigkeiten kommen, 83<br />

Prozent sehen die Zuwanderung anwachsen, 74 Prozent machen sich in diesem<br />

Zusammenhang Sorgen um ihren Arbeitsplatz.<br />

Skepsis herrscht in allen alten Mitgliedstaaten, aber sie nimmt zu, je mehr<br />

man sich den Grenzen zu den neuen Mitgliedstaaten nähert. Die<br />

Solidaritätsbereitschaft stößt an Grenzen. Umfragen des Eurobarometers belegen:<br />

Die EU-15-Bürger bringen den Menschen in den Beitrittsländern nur „geringes<br />

Vertrauen“ entgegen. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Aufnahme ärmerer<br />

Länder negativ auf das transnationale Vertrauensvermögen innerhalb der EU<br />

auswirkt. Ohne Zweifel ist es daher eine ernsthafte Belastungsprobe für den<br />

Zusammenhalt in der EU, wenn der Anteil der Mitgliedstaaten, deren<br />

Sozialprodukt weit unter den Durchschnittswerten des Europäischen Union<br />

liegt, deutlich anwächst.<br />

Auch in den Beitrittsländern verliert die Europäische Union an Strahlkraft.<br />

Enthusiasmus ist mancherorts in Enttäuschung umgeschlagen. Die Letten und<br />

Esten zum Beispiel halten die EU-Mitgliedschaft nur noch zu etwa 30 Prozent<br />

für eine gute Sache. Der ökonomische Aufschwung gestaltet sich schwieriger<br />

und langwieriger als erhofft. Nicht für jeden hat sich die soziale Lage gegenüber<br />

1989 verbessert. Für viele ist sie sogar schlechter geworden. Manche Frustration<br />

hat sich eingestellt. Kein Bauer kann mehr sein Feld bestellen, kein Unternehmer<br />

kann mehr investieren und produzieren, ohne Vorgaben aus Brüssel beachten<br />

zu müssen.<br />

Weil sich die Völker Mittel- und Osteuropas gerade erst von der<br />

Unterdrückung der Sowjetunion befreit haben, ist es für sie eine sehr bedeutsame<br />

Frage, inwieweit nationale Souveränität und Kultur, die Würde und der<br />

Stolz der Nation gegenüber der Europäischen Union behauptet werden können.<br />

Längst werden Stimmen laut, die der Union die notwendige moralische Kraft<br />

und Orientierung absprechen.<br />

Ich will zu einer pessimistischen Grundstimmung nicht beitragen. Ohne<br />

Zweifel stehen den beträchtlichen Risiken der EU-Erweiterung gewaltige Chancen<br />

259


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 260<br />

BERNHARD VOGEL<br />

gegenüber. Aber die Vehemenz des Misstrauens und die Intensität der<br />

Befürchtungen, wie sie aus den Umfragen hervorgehen, dürfen niemanden in<br />

politischer Verantwortung gleichgültig lassen. Chancen und Risiken müssen<br />

gleichermaßen beachtet werden.<br />

Die Warnungen, dass die Europäische Union mit der Integration der zehn<br />

neuen, teils wirtschaftlich noch nicht entwickelten Mitgliedstaaten an den Rand<br />

ihrer Leistungsfähigkeit gekommen ist und dass es noch viel Mühe kosten wird,<br />

die Integration politisch, finanziell und wirtschaftlich zu verkraften, sind alles<br />

andere als aus der Luft gegriffen. Darüber hinaus besteht aber die Gefahr, dass<br />

sich die Konturen des Europa-Gedankens aufzulösen drohen und er seine integrierende<br />

Kraft verliert.<br />

Der Hinweis auf die Werte und demokratischen Grundprinzipien in der<br />

Europäischen Verfassung reicht nicht aus, um eine starke Bindungswirkung zu<br />

entfalten. Europa hat weitaus mehr zu überliefern als universale Menschenrechte,<br />

Demokratie und Freiheit; Europa hat auch eine nicht austauschbare eigene<br />

Geschichte, für die drei Traditionsstränge eine zentrale Bedeutung haben: die<br />

griechisch-römische Antike, die jüdisch-christliche und die aufklärerische<br />

Tradition.<br />

Exklusivität und Ausschließlichkeitsansprüche sind daraus freilich nicht<br />

abzuleiten. Auch die großen Kulturleistungen anderer Traditionen gehören<br />

unzweifelhaft mit zu Europa. Seit jeher ist Europa ein Kontinent des weltanschaulichen<br />

Pluralismus und der religiösen Vielfalt – er muss es auch bleiben. Das<br />

Spezifische und Verbindende einer europäischen Identität leitet sich aber vor<br />

allem daraus ab, dass es gelungen ist, die Traditionslinien Antike, Christentum<br />

und Aufklärung miteinander zu verbinden und sie in einer gegenseitigen kritischen<br />

Spannung zu halten. Wo man in Europa diese Traditionslinien zu durchtrennen<br />

versuchte, waren Diktatur und Menschenverachtung nicht weit. Wo<br />

man den Traditionen und ihrer Verbindung festhielt und sich an ihnen orientierte,<br />

hat Europa eine humane und freiheitliche Gesellschaft ausformen können.<br />

Verbindung und Spannung der zentralen Traditionsbestände heißt zum<br />

Beispiel, dass zu den Grundlagen der europäischen Identität neben der Bibel,<br />

neben dem Alten und Neuen Testament, seit der Aufklärung auch Gotthold<br />

Ephraim Lessings Ringparabel gehört, in der zu Menschlichkeit und Toleranz aufgefordert<br />

wird. Die Religionsfreiheit ist ein selbstverständlicher Bestandteil der<br />

europäischen Grundrechtecharta: Die Union achtet die Vielfalt der Religionen<br />

(Artikel 22) und verbietet Diskriminierung auf Grund der Religion (Artikel 21<br />

Abs. 1). Christ, Muslim, Jude oder Atheist können gleichermaßen und mit demselben<br />

Recht Europäer und Unionsbürger sein.<br />

Die Europäische Union ist keine Gemeinschaft ausschließlich von Christen,<br />

sie ist eine säkulare Wertegemeinschaft. Doch ist sie ohne Zweifel eine säkulare<br />

Wertegemeinschaft, in der das christliche Element eine bedeutende Rolle<br />

spielt. Dass bisher alle EU-Mitgliedstaaten in einer christlichen Traditionslinie<br />

260


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 261<br />

EUROPÄISCHES ERBE UND EUROPÄISCHE AUFGABE<br />

stehen, dass von den rund 720 Millionen Menschen in ganz Europa mehr als<br />

500 Millionen Christinnen und Christen sind, lässt sich aber nicht übersehen und<br />

kann nicht ohne Folgen bleiben.<br />

So falsch es ist, Christentum und Europa gleich zu setzen, so richtig ist es,<br />

dass der christliche Glaube zum Wurzelboden Europas gehört und eine entscheidende<br />

Klammer für die vielgestaltigen europäischen Kulturen in der Union ist.<br />

Konrad Adenauer und Charles de Gaulle verhalfen der deutsch-französischen<br />

Aussöhnung 1962 in der Kathedrale von Reims endgültig zum Durchbruch.<br />

Reims verweist auf die Anfänge Europas – für das politische Europa als<br />

Krönungsort der fränkischen Könige, aber auch für das christlich geprägte<br />

Europa, weil in Reims König Pippin der Jüngere mit Papst Stephan III. und<br />

später Karl der Grosse mit Papst Leo III. zusammentrafen.<br />

Seit dem 19. Jahrhundert stand der Universalismus der katholischen Kirche<br />

dem aufkommenden Nationalismus in Westeuropa entgegen. Die schlimmen<br />

Folgen des Nationalismus konnte er nicht verhindern, aber im 20. Jahrhundert<br />

fiel es christlich-demokratischen Politikern deshalb leichter, eine supranationale<br />

Integration der europäischen Nationalstaaten in den Köpfen der Menschen<br />

zu verankern und umzusetzen. In der Zeit der europäischen Teilung war es<br />

von außerordentlicher Bedeutung, dass die Kirchen eine Brücke über den<br />

Eisernen Vorhang hinweg bildeten. Dass wir Deutschen 2005 den 15. Jahrestag<br />

der Wiedervereinigung unseres Vaterlands feiern können, ist auch ein Verdienst<br />

der Kirchen. Denn erst der Schutz der Kirchen machte in vielen Fällen<br />

Widerstand gegen Unfreiheit und Unterdrückung möglich.<br />

Von den christlich-demokratischen Parteien Europas ging nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg die europäische Einigungsbewegung aus, sie haben den<br />

Europagedanken konzipiert und durchgesetzt. Das christlich-demokratische<br />

Werte- und Ideenspektrum hat auch die Ausgestaltung der europäischen Union<br />

maßgeblich beeinflusst. Dabei ist unbestritten: Das Neue Testament ist weder<br />

eine Staatslehre, noch enthält es eine Staatsphilosophie. Eine „christliche Politik“<br />

kann es nach meinem Verständnis daher nicht geben. Aber es gibt christliche<br />

Politiker, die ihr Handeln an ihren christlichen Überzeugungen ausrichten.<br />

Bestimmte Wertvorstellungen können wir nicht relativieren. Toleranz heißt nicht<br />

Standpunktlosigkeit.<br />

Das christlich-demokratische Gesellschaftsmodell beruht auf dem christlichen<br />

Menschenbild, auf der Idee der Unverfügbarkeit der Person. Diesen<br />

Grundsatz zu akzentuieren, ihn auch kontrovers zu vertreten, ist die Grundlage<br />

einer christlich-demokratischen Politik. Andere Wertesphären, die wir als unser<br />

Proprium pflegen und bewahren, kommen hinzu. Sie haben in den<br />

Gesellschaften der europäischen Union breiten Widerhall gefunden: unter anderem<br />

die Verbindung von Freiheit und Verantwortung, die sich in einer aktiven<br />

Zivilgesellschaft widerspiegelt; die Verankerung der repräsentativen Demokratie<br />

und die Abkehr von autoritären Staatsmodellen, die besondere Bedeutung von<br />

Ehe und Familie, die sich in einer bestimmten Form der Kindererziehung, aber<br />

261


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 262<br />

BERNHARD VOGEL<br />

auch in der gleichberechtigten Stellung der Geschlechter zueinander äußert;<br />

der Schutz von Minderheiten oder die Bereitschaft zur wechselseitigen religiösen<br />

Toleranz.<br />

Ohne Zweifel bestimmen diese Werte das kulturelle Selbstverständnis der<br />

Union mit. Wenn es um die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten geht, müssen wir<br />

darum auch fragen: Tragen eure Bürgerinnen und Bürger diese Werte mit? Oder<br />

besteht Aussicht, dass sie sie bald mittragen werden? Wir selbst müssen uns<br />

die Frage stellen: Wie steht es in der gegenwärtigen Union mit der Bereitschaft<br />

zur Identifikation? Ist der Verbund unter den EU-Staaten und Völkern fest genug,<br />

um mehr Integration verkraften zu können? Die Aufnahme neuer Mitgliedstaaten<br />

ist gegenwärtig weniger eine Frage der Beitrittsfähigkeit als der Aufnahmefähigkeit.<br />

Das vierte Kopenhagener Kriterium verlangt „die Fähigkeit der Union, neue<br />

Mitglieder aufzunehmen, dabei jedoch die Stoßkraft der europäischen Union zu<br />

erhalten.“ Die Aufforderung, die Stoßkraft der Union zu erhalten, verweist<br />

darauf, dass Integration nicht allein als eine Frage der Quantität, sondern auch<br />

als eine Frage der Qualität zu beurteilen ist. Das heißt: Bevor man sich daran<br />

macht, die Integration neuer Mitglieder voranzutreiben, muss man zunächst<br />

den Zerfall von Integration vermeiden.<br />

Der 1. Mai 2004 liegt kaum ein Jahr zurück. Das Gebot der Stunde muss<br />

lauten, Europa wetterfest zu machen und die Union so zu bauen, dass sie<br />

Bestand hat und sich zu einer wirklich politischen, sozialen und Werteunion entwickeln<br />

kann. Die Vertiefung der EU muss im Vordergrund stehen. Das bedeutet:<br />

Annäherung des wirtschaftlichen und sozialen Niveaus, die Ratifizierung<br />

der EU-Verfassung und die Reform von Entscheidungsgremien und<br />

Zuständigkeiten. Vertiefung bedeutet aber auch, darauf hinzuwirken, dass die<br />

Union die Zustimmung ihrer Bürgerinnen und Bürger findet. Es gilt, das „Wir-<br />

Gefühl“ unter den Völkern zu stärken und dabei europäische Werte und<br />

„Wurzeln“ einzubringen.<br />

Es fehlt an gemeinsamer Identität und Orientierung. Václav Havel hat kürzlich<br />

von einer „Art Krise“ des „demokratischen Ethos“ gesprochen. Ohne Zweifel<br />

drohen antidemokratische Verdrossenheit und heilsversprechende Ideologien,<br />

wenn es nicht gelingt, für die Menschen Orientierungspunkte zu setzen. Als<br />

eine bessere Freihandelszone kann Europa dazu keinen Beitrag leisten. Aus<br />

seiner Analyse leitet Havel die Forderung ab: „Europa muss der Welt ein Beispiel<br />

geben!“ Für ihn ist der Erfolg der Europäischen Integration eng verbunden mit<br />

der „Erfüllung des europäischen Empfindens weltweiter Verantwortung.“<br />

In der Tat muss unsere Sorge sein, wie wir es schaffen, die Menschen nicht<br />

allein in Europa in ihrem Willen zu Demokratie, Freiheit, Frieden und<br />

Menschenrechten zu bestärken oder sie dafür zu gewinnen. Europa muss,<br />

gemeinsam mit den USA und anderen Partnern, noch mehr zu einer Kraft werden,<br />

die diese Entwicklungen fördert und in Gang bringt. Nichts wäre deshalb<br />

unklüger, als Europa zu einer Festung zu machen. Es geht ganz wesentlich<br />

262


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EUROPÄISCHES ERBE UND EUROPÄISCHE AUFGABE<br />

auch darum, weltweit Armut und soziale Ungerechtigkeit abzubauen. Als größter<br />

Binnenmarkt hat Europa nicht nur die Chance, sondern die Verpflichtung<br />

daran mitzuwirken, dass die globalisierte Welt eine humane und deswegen für<br />

alle sicherere Welt wird.<br />

Dazu muss sich die Europäische Union politisch besser formieren. Sonst<br />

bleiben ihr Einfluss und ihre Ausstrahlungskraft gering. Europa muss seine<br />

Interessen definieren, strategische Überlegungen dürfen nicht außen vor bleiben.<br />

Doch ebenso haben wir darauf zu achten, dass auch weltweit ein<br />

Ordnungsrahmen für die Wirtschaft geschaffen wird, der sich an ethischen<br />

Maßstäben orientiert und Wettbewerb mit Solidarität verbindet. Nur so können<br />

wir langfristig darauf hoffen, dass Demokratie, Freiheit, auch freier Handel,<br />

weltweit Wurzeln schlagen.<br />

Europa braucht ein gültiges, verbindendes Wertesystem, damit es nach innen<br />

gefestigt ist, aber auch damit es ein Ziel und eine Bestimmung hat und nach<br />

außen positive Impulse für Demokratie und Freiheit setzen kann. Der Auftrag,<br />

„wertefordernder und sinngebender Anstrengung“ ist nicht geringer geworden.<br />

Europa als ein Beispiel für die Welt. Was für eine <strong>Vision</strong> für das Jahr 2020!<br />

263<br />

Februar 2005


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265<br />

Jan ZAHRADIL<br />

Leiter der tschechischen Delegation der EVP-ED-Fraktion<br />

im Europäischen Parlament<br />

Gegenwart und Zukunft der<br />

Europäischen Integration<br />

Der Beitritt der Tschechischen Republik zur EU, der am 1 Mai 2004 vollzogen<br />

wurde, war für uns aus wirtschaftlichen und politischen Gründen strategisches<br />

Ziel und entsprach auch der Meinung der übergroßen Mehrheit unserer<br />

Wähler. Als positives Ergebnis unseres Beitritts zur EU betrachten wir die Öffnung<br />

eines großen politischen und wirtschaftlichen Raums und die<br />

Implementierung desjenigen Teils des europäischen Rechts, der zu einer<br />

Verbesserung des Rechtssystems in der Tschechischen Republik beitrug. Die<br />

größte Errungenschaft der EU und Grundlage der europäischen Integration<br />

bleibt für uns nach wie vor der einheitliche Europäische Markt.<br />

Die EU muss man jedoch realistisch betrachten, und zwar als eine Art<br />

Mischung aus liberalisierenden und regulierenden Elementen, von zwischenstaatlichen<br />

und übernationalen Entscheidungen, von Zusammenarbeit und<br />

Interessenkollisionen. Der Europäische Integrationsprozess ist durch einige<br />

Relikte der Vergangenheit negativ belastet – es geht insbesondere um das bereits<br />

überwundene Modell des umverteilenden Sozialstaats und um die Politik der<br />

Schutzzölle (gemeinsame Landwirtschaftspolitik). Auch das Übermaß an<br />

Regulierungsmaßnahmen, die im Gemeinschaftsrecht enthalten sind, behindert<br />

das Wirtschaftswachstum der einzelnen europäischen Volkswirtschaften und<br />

verringert ihre Konkurrenzfähigkeit.<br />

Mit dem Beitritt zur Europäischen Union werden wir zum aktiven Mitgestalter<br />

der Europäischen Integration, und diese Chance müssen wir nutzen. Die<br />

Tschechische Republik gehört zu den mittelgroßen EU-Ländern, unter den<br />

neuen Mitgliedern zu den wirtschaftlich am stärksten entwickelten. Tschechien<br />

ist einerseits Bestandteil des schon immer unruhigen mitteleuropäischen Raums<br />

„zwischen Deutschland und Russland“, gleichzeitig aber auch Bestandteil einer<br />

der zwei traditionellen geopolitischen Nordsüdvertikalen, die in Europa immer<br />

einen Raum für Wirtschaftswachstum und somit für Wohlstand bildeten. In unserem<br />

Verhältnis zur Europäischen Integration und bei unserem Vorgehen innerhalb<br />

der EU müssen wir uns deshalb unsere negativen und positiven historischen


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 266<br />

JAN ZAHRADIL<br />

Erfahrungen vor Augen führen und eine Position einnehmen, die unserer geografischen<br />

und geopolitischen Stellung entspricht.<br />

Die heutige Europäische Union gründet sich auf eine Reihe von vertraglichen<br />

Beziehungen zwischen einer ständig steigenden Anzahl europäischer Staaten. Die<br />

Grundtendenz dieser Beziehungen war bisher das Bestreben nach einer ständigen<br />

„Vertiefung“ der Integration. Der Komplex europäischer Verträge der letzten zehn<br />

Jahre (Vertrag von Maastricht, Vertrag von Amsterdam, Vertrag von Nizza), auf<br />

dessen Grundlage sich die Entwicklung der Europäischen Gemeinschaften zur<br />

Europäischen Union vollzogen hat, hatte vor allem die schrittweise Schaffung<br />

einer politischen Union zum Ziel, die auf der politischen Weltbühne als geschlossene<br />

Staatengemeinschaft auftreten würde. Der Entwurf eines Vertrages über eine<br />

Verfassung für Europa ging noch weiter. In diesem Vertrag schlugen die Befürworter<br />

der Integration eine weitere „Föderalisierung“ und „Vergemeinschaftung“ im<br />

Rahmen der EU vor, d. h. die weitere Beschneidung des Vetorechts der einzelnen<br />

Mitglieder, die Änderung der Stimmgewichtung der einzelnen Mitgliedstaaten<br />

zugunsten der großen Staaten, die Erweiterung der Mehrheitsentscheidung in der<br />

EU und die weitere Verlagerung wesentlicher Rechtsbefugnisse auf die europäische<br />

Ebene. Die radikalsten Vertreter dieser Position zielen letztendlich auf die<br />

Schaffung einer gesamteuropäischen Föderation – also einer Währungs- und<br />

Finanzunion sowie einer außenpolitischen und Verteidigungsunion mit gesamteuropäischen<br />

legislativen und exekutiven Organen.<br />

Eine solche Entwicklung hätte allerdings eine erheblichen Aushöhlung oder<br />

sogar die Aufgabe der staatlichen Souveränität der einzelnen Mitgliedsländer der<br />

EU zur Folge. Davon wären selbstverständlich die großen und dichtbevölkerten<br />

Staaten weitaus weniger betroffen als die mittelgroßen oder kleinen Staaten, deren<br />

Einfluss auf den Entscheidungsprozess in der EU und damit auch im Hinblick auf<br />

ihre eigenen nationalen Interessen schwinden würde. Mit diesem System würde<br />

sich angesichts der komplizierten EU-Strukturen auch die Distanz zwischen der<br />

Politik und dem Bürger weiter vergrößern, das demokratische Defizit der EU verstärken,<br />

und die demokratische Kontrolle der Wähler über die gewählten politischen<br />

Repräsentanten würde schwieriger werden.<br />

Diese Vorstellungen von einer einseitigen, ständig fortschreitenden<br />

Vereinheitlichung werden jedoch immer mehr mit der heutigen Realität in der<br />

Welt und in Europa konfrontiert und stoßen an die Grenzen dessen, was hinsichtlich<br />

der Integration erreichbar ist. Jede Erweiterung der EU, die jüngste<br />

Aufnahme der zehn neuen Mitgliedstaaten eingeschlossen, erfolgte letztlich auf<br />

Kosten ihres inneren Zusammenhalts und ihrer Handlungsfähigkeit. Sie verringerte<br />

die Chancen der EU, einen Konsens zu erzielen und auf die aktuelle politische<br />

und wirtschaftliche Entwicklung in der Welt zu reagieren. Die EU verliert<br />

damit allmählich ihren „Mehrwert“ als eine Gemeinschaft, die insbesondere die kleinen<br />

und mittelgroßen Staaten (z. B. Tschechische Republik) bei der Durchsetzung<br />

ihrer nationalen Interessen auf internationaler Ebene unterstützen könnte. Die<br />

Erweiterung der EU führt zur Lockerung der inneren Bindungen und beeinträchtigt<br />

die Möglichkeiten, von der europäischen Ebene aus die Politik der<br />

266


<strong>Projet</strong>_<strong>Notre</strong> <strong>Vision</strong> <strong>DE</strong> 10/01/06 11:31 Page 267<br />

GEGENWART UND ZUKUNFT <strong>DE</strong>R EUROPÄISCHEN INTEGRATION<br />

Mitgliedsländer zu beeinflussen. Viele Mitgliedstaaten sind sich dessen sehr wohl<br />

bewusst und beginnen deshalb, die europäische Rhetorik nur als Deckmantel für<br />

ihre eigenen nationalen Interessen zu verwenden. Die Linie der Integration verfolgen<br />

sie nur dort, wo es für sie von Vorteil ist (z. B. Versuche der großen Länder,<br />

eine gemeinsame Außenpolitik zu schaffen). Sehen sie keine Vorteile, stellen sie<br />

sich hartnäckig dagegen (Widerstand derselben Länder gegen die Bemühungen<br />

um Finanzdisziplin, wie sie im so genannten Stabilitätspakt der EU festgeschrieben<br />

ist). Die Rolle der Nationalstaaten als Grundbausteine der Europäischen<br />

Integration wird sich daher nicht nur nicht verringern, sondern in Zukunft möglicherweise<br />

weiter wachsen. Eine realistische Außenpolitik sollte deshalb berücksichtigen,<br />

dass sich der Schwerpunkt der politischen Entscheidung schrittweise<br />

von der zentralen europäischen Ebene auf die Ebene bilateraler Beziehungen<br />

zwischen den einzelnen EU-Mitgliedstaaten verlagern wird, wo es zur Bildung<br />

von Interessenkoalitionen kommen wird. Für die Zukunft muss das bisherige einseitige<br />

Paradigma der Vereinheitlichung der Europäischen Integration grundsätzlich<br />

zu einem Modell der Integration „der verschiedenen Geschwindigkeiten“<br />

umgewandelt werden, in dem verschiedene Gruppen von Staaten mit unterschiedlichem<br />

Integrationsgrad entsprechend ihren eigenen Interessen und Prioritäten<br />

koexistieren. Die Institutionen und Entscheidungsverfahren der EU müssen weitestgehende<br />

Gleichberechtigung aller Mitgliedstaaten – ungeachtet ihrer Größe<br />

und Einwohnerzahl – gewährleisten.<br />

Eine Gemeinsame Europäische Außenpolitik muss auch weiterhin auf dem<br />

Prinzip der Freiwilligkeit und des Konsenses beruhen. Der Versuch, eine gemeinsame<br />

Position zu erzwingen oder willkürliche Abstimmungsmechanismen in diesem<br />

Bereich einzuführen, kann nicht hingenommen werden. Die gemeinsame<br />

europäische Außenpolitik darf nicht zu einem bloßen Instrument einiger europäischer<br />

Mächte werden, um ihre Position im System der internationalen<br />

Beziehungen zu stärken. Das entscheidende Organ zur Schaffung einer gemeinsamen<br />

Außenpolitik muss nach wie vor der Rat der Europäischen Union sein,<br />

der den Standpunkt der nationalen politischen Vertreter zum Ausdruck bringt.<br />

Die Positionen der europäischen Außenpolitik dürfen nicht zu einer Schwächung<br />

der transatlantischen Bindungen oder sogar zu einer Konkurrenz zwischen Europa<br />

und den USA führen. Das Hauptaugenmerk einer gemeinsamen europäischen<br />

Außenpolitik muss darauf gerichtet sein, die Standpunkte gegenüber ihrem nächsten<br />

Umfeld und den Nachbarn der EU (Nordafrika, Naher und Mittlerer Osten,<br />

Türkei, Osteuropa) zu koordinieren, die Entwicklung von Stabilität und Wohlstand<br />

in diesen Regionen zu fördern und damit auch zu Stabilität und Sicherheit der<br />

EU beizutragen. Die EU muss eine offene Struktur bleiben, die in ihrer künftigen<br />

flexiblen Gestalt in der Lage ist, verschiedene Formen der Partnerschaft anzubieten,<br />

einschließlich der Vollmitgliedschaft für diejenigen ihrer Nachbarn, die daran<br />

interessiert sind und für eine solche Partnerschaft oder Mitgliedschaft die erforderlichen<br />

Bedingungen erfüllen.<br />

Im Hinblick auf die Gewährleistung der inneren Sicherheit in Europa wurde<br />

nach dem Ende der bipolaren Welt der internationale Terrorismus (neben ande-<br />

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JAN ZAHRADIL<br />

ren Formen des organisierten Verbrechens) zur größten Bedrohung für unsere<br />

Zivilisation, jener Terrorismus, der gegen die modernen, liberalen und demokratischen<br />

Auffassungen der westlichen Gesellschaft gerichtet ist. Das verzweigte Netz<br />

des internationalen Terrorismus macht den Kampf gegen ihn außerordentlich<br />

schwierig. Bei einer direkten (bewaffneten) Auseinandersetzung können die bisherigen<br />

Methoden der Kriegsführung meist nicht angewandt werden. Auch bietet das<br />

Völkerrecht keine wirksame Handhabe gegen terroristische Aktivitäten. Die<br />

Terrorismusprävention (Kontrollen, neue Methoden der Identifizierung,<br />

Einschränkung der Freizügigkeit von Personen usw.) wiederum kann leicht in die<br />

Privatsphäre der persönlichen Freiheiten der Bürger eingreifen. Auch das muss bei<br />

der Schaffung gemeinsamer Instrumente der europäischen Politik bedacht werden.<br />

Der Europäische Integrationsprozess sollte die Veränderungen im System der<br />

internationalen Beziehungen an der Schwelle des 21. Jahrhunderts besser als bisher<br />

widerspiegeln. Es geht insbesondere um die Folgen der so genannten<br />

Globalisierung. Diese Erscheinung ist nicht neu, und es gibt sie schon seit<br />

Jahrzehnten. In der letzten Zeit hat sie jedoch vor allem dank der dynamischen<br />

Entwicklung neuer Technologien und des beschleunigten Informationsaustauschs<br />

spürbar an Tempo gewonnen und ist damit deutlicher sichtbar geworden.<br />

Globalisierung bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass willkürlich große<br />

Integrationskomplexe geschaffen werden. Voraussetzung für den Erfolg in einer<br />

globalisierten Welt ist nicht Größe, sondern Geschwindigkeit, Mobilität,<br />

Anpassungsfähigkeit und Flexibilität. Internationale und multinationale<br />

Organisationen können zwar expandieren, doch büßen sie dadurch gleichzeitig<br />

an Handlungsfähigkeit ein. Sind sie in ihrer Handlungsfähigkeit geschwächt, können<br />

sie nicht mehr in dem Maße wie bisher zur Bewältigung neuer<br />

Herausforderungen beitragen. Nationalstaaten können als große Gruppierungen<br />

schneller und effektiver handeln, und es besteht auch ein stärkerer innerer<br />

Zusammenhalt. Damit muss sich auch die Europäische Union abfinden.<br />

Es wäre ein Fehler, die Europäische Union als eine für immer gegebene, unveränderliche<br />

und endgültige Form des Zusammenlebens der europäischen Völker<br />

und Staaten zu betrachten. Kein System internationaler Beziehungen (weder in<br />

Europa, noch sonst wo auf der Welt) ist dauerhaft stabil, sondern nur vorübergehend.<br />

Es gibt keine „Finalität“, nur ein zeitweiliges Gleichgewicht des Systems,<br />

das sich dynamisch verändert. In dieser sich verändernden Umwelt sind die internationalen<br />

und multinationalen politischen, Wirtschafts- und Sicherheitsorganisationen<br />

nie das Ziel einer Politik, sondern lediglich Mittel und Instrument zu deren<br />

Umsetzung. Einziger Maßstab für den Erfolg dieser Organisationen muss deshalb<br />

sein, dass sie für diejenigen, denen sie dienen sollen, von Nutzen sind und dazu<br />

beitragen, unsere grundlegenden gemeinsamen Interessen – Sicherheit, Stabilität<br />

und Wohlstand – durchzusetzen. Das gilt ebenso für die Europäische Union, und<br />

unter diesem Blickwinkel muss sie auch beurteilt werden.<br />

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März 2005


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Herausgabe im Februar 2006<br />

D/2006/2682/3<br />

Printed in Belgium<br />

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