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Unsere Vision von Europa 2020
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Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten)
und europäischer Demokraten im Europäischen Parlament
Unsere Vision von
Europa 2020
2006
PUBLISHING – BRÜSSEL
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Herausgeber EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament
Vorsitzender Hans-Gert Pöttering
Generalsekretär Niels Pedersen
Verantwortlich Dienststelle Dokumentation - Veröffentlichungen - Forschung
Pascal Fontaine
stellvertretender Generalsekretär
Koordinatoren Andrea Cepová-Fourtoy
ˇ
Emma Petroni
Kooperation Eugenia Bellino
Patricia Halligan
Pascaline Raffegeau
Adresse Europäisches Parlament
60, rue Wiertz
B-1047 Brüssel
Belgien
Telefon + 32 2 283 1293
+ 32 2 284 2284
Internet http://www.europarl.eu.int
E-mail epp-ed@europarl.eu.int
Photos © Europäisches Parlament
© Mediathek der Europäischen Kommission
Beiträge © EVP-ED-Fraktion, Brüssel, 2006
All rights reserved
Layout © Studio Delta
Jean-Claude Grafé (Einband) – Myriam Lequenne
Daniel Van Den Meerssche (Paginierung)
Die Beiträge in diesem Buch spiegeln die Sicht der Autoren wider und nicht
notwendigerweise jene der EVP-ED-Fraktion im Europäischen Parlament.
ISBN: 2-8029-0169-9
Editions Delta SA
416, avenue Louise – B-1050 Brüssel – editions.delta@skynet.be
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Inhaltsverzeichnis
Hans-Gert PÖTTERING 9
EINFÜHRUNG: Unsere Vision von Europa 2020
1. Roselyne BACHELOT-NARQUIN 17
Dem europäischen Zukunftsgedanken treu bleiben
2. Jan Peter BALKENENDE 25
Europa: Für eine sichere Zukunft müssen wir zurück
zu den Anfängen
3. José Manuel BARROSO 35
Unsere Vision von Europa
4. Jacques BARROT 41
Auf dem Weg ins Jahr 2020: Wiederbelebung Europas
5. Simon BUSUTTIL 51
Europas Zukunft gestalten
6. Panayiotis DEMETRIOU 59
Quo vadis Europa?
7. Armando DIONISI 65
Christentum, Europa und Abendland
8. Valdis DOMBROVSKIS 71
Lettland und Europa für die zukünftigen Generationen –
Wie wird es aussehen?
9. Avril DOYLE 81
Gesundheit – Unsere Vision für Europa
Steuerung durch Gesetze oder durch Gerichte?
10. Camiel EURLINGS 91
Den europäischen Traum aufrechterhalten
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INHALTSVERZEICHNIS
11. Jonathan EVANS 99
Europa im Jahr 2020: Die Wirtschaftliche Revolution ist vollendet
12. Benita FERRERO-WALDNER 107
Europa als globaler Partner
13. Ján FIGEL’ 115
Europa – Raum der Hoffnung
14. Vasco GRAÇA MOURA 121
Die neue Dynamik Europas
15. Mathieu GROSCH 127
Die Europäische Integration vor dem Hintergrund
der Globalisierung
16. Gunnar HÖKMARK 133
Europas Erfolge basieren auf dem Mut,
über die Grenzen von heute hinaus zu sehen
17. Piia-Noora KAUPPI 143
Vision für Europa 2020
18. Vytautas LANDSBERGIS 151
Visionen und Handlungsmöglichkeiten
19. Wilfried MARTENS 155
Die Zukunft der Lissabon-Strategie:
Europa auf den Wachstumspfad bringen
20. Jaime MAYOR OREJA 161
Europa: Eine Geschichte der Freiheit
21. Henryk MUSZYŃSKI 167
Europa im Jahr 2020
22. Markus FERBER und Hartmut NASSAUER 175
Europa als Wertegemeinschaft
23. Ana PALACIO 181
Unsere Sicherheit
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INHALTSVERZEICHNIS
24. Alojz PETERLE 185
Vision für ein Europa 2020
25. Zuzana ROITHOVÁ 187
Gemeinsames Erbe, gemeinsame Aufgaben, gemeinsamer Wille
26. Ivo SANADER 193
Kroatien und Europa im Jahre 2020
27. Jacek Emil SARYUSZ-WOLSKI 201
Europäische Nachbarschaftspolitik
28. Gitte SEEBERG 211
Gemeinsame Werte – Gemeinsame Zukunft
29. Jean SPAUTZ 217
Europatag, 9. Mai 2020
30. Peter ŠŤASTNÝ 227
Ein prosperierendes und sicheres Europa im Jahr 2020
31. Ursula STENZEL 235
Eine realistische Europavision
32. József SZÁJER 241
Eine Gemeinschaft der Gemeinschaften
33. Antonio TAJANI 247
Das Europa, das wir wollen
34. Ioannis M. VARVITSIOTIS 251
Die Epoche der globalen Verflechtung –
Die Ökologie der Kulturen und die Rolle der EU
35. Bernhard VOGEL 257
Europäisches Erbe und europäische Aufgabe –
Europa 2020: Eine Werte- und Kulturgemeinschaft
36. Jan ZAHRADIL 265
Gegenwart und Zukunft der europäischen Integration
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Hans-Gert PÖTTERING
Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Unsere Vision von Europa 2020
„Where there is no vision, people perish.“
I
Als Jean Monnet 1 im September 1939 mit diesem Bibelzitat sein Memorandum
an Winston Churchill und Franklin Roosevelt schloss, rief er eine alte Weisheit in
Erinnerung: Völker, Nationen, Organisationen, ja selbst Familien – wir alle brauchen,
um dem Leben einen Sinn zu geben, eine Vision von der Zukunft. Eine
Vision ist nicht einfach ein Bild oder eine bloße Fortschreibung der Gegenwart; eine
Vision beinhaltet einen Plan, eine Hoffnung. Ohne Plan und ohne Hoffnung fehlt
uns die Energie, die notwendig ist, um das Leben zu genießen und etwas zu
bewirken.
1939 galt es, die Demokratien zu mobilisieren, um sich auf die gewaltigste
Kriegsanstrengung vorzubereiten, die von Europäern und Amerikanern je unternommen
wurde, um den Albtraum des Nazi-Totalitarismus und des Faschismus zu
überwinden und um die Freiheit und die Menschenrechte wiederherzustellen.
Auch Johannes Paul II. eröffnete den von der kommunistischen Diktatur jahrzehntelang
unterdrückten Völkern Mittel- und Osteuropas eine Vision ihres Schicksals
und ihrer Zukunft, als er sie in ihrer Hoffnung bestärkte. Der Glaube an den
Menschen, getragen von der Liebe zur Freiheit und zur Spiritualität, ließ diese
Völker den langen Winter überstehen, der ihnen von der Geschichte aufgezwungen
wurde.
Zur gleichen Zeit hat im Westen unseres Kontinents die gemeinsame Vision
von Robert Schuman, Konrad Adenauer und Alcide De Gasperi 1950 das möglich
werden lassen, was für die Opfer des Krieges unerreichbar schien: Vergebung,
Versöhnung und Brüderlichkeit. Wie es Hannah Arendt in ihrem Buch Vita activa
oder Vom tätigen Leben 2 meisterhaft formulierte, ist das Wunder der Vergebung
als Ausweg aus der Unabänderlichkeit des Getanen eng mit der Fähigkeit verbunden,
als Rettung vor der Unvorhersehbarkeit des Zukünftigen Versprechen abzugeben
und sie zu halten. Die Vision von einer besseren Welt, das Versprechen
eines Europas des Friedens und der Toleranz waren die ureigenste Triebkraft und
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HANS-GERT PÖTTERING
der Schlüssel zum Erfolg des Schuman-Plans vom 9. Mai 1950, der die Europäische
Gemeinschaft für Kohle und Stahl ins Leben rief, aus der das politische und institutionelle
System der Europäischen Union hervorgegangen ist.
Jean Monnets Vision von 1939, die Vision der Gründungsväter der Union von
1950 und die Vision von Johannes Paul II., die von den Führern der Solidarnorść
1980, mit Lech Wałęsa an der Spitze, aufgegriffen wurde – sie alle sind Quellen,
aus denen unsere Völker schöpften, um ihre Verzweiflung und Verstörung zu
überwinden und Orte für das Glück zu erobern.
II
„Ohne Vision sind die Völker dem Untergang geweiht “. An dieses Zitat wurden
wir auch im Frühjahr 2005 erinnert, als viele Europäer im Zusammenhang
mit der Ratifizierung der Europäischen Verfassung Notsignale aussandten und
Symptome 'kollektiver Ermüdung' zeigten. Steigende Arbeitslosigkeit, Existenzangst,
aufkeimender Populismus, Angst vor Identitätsverlust, Überdruss an übertriebenen
und wirklichkeitsfremden Rechtsvorschriften, die Globalisierung der Wirtschaft
und ihre Folgen für Europa – diese Fragen bewegen heute die Europäer.
Dabei ist in der Union der 25 Mitgliedstaaten mit ihrer immensen historischen
und kulturellen Vielfalt, ihren so unterschiedlichen Traditionen und
Wahrnehmungen die Zahl der Fragen noch weitaus größer. Sie stellen sich im
Norden des Kontinents anders als im Süden, im Osten anders als im Westen. Das
ethnische Gefüge der europäischen Bevölkerung ist so komplex, dass von einem
europäischen Volk nicht die Rede sein kann, nicht einmal von einem öffentlichen
europäischen Raum – trotz der neuen Kommunikationstechniken, die den Austausch
erleichtern und in Realzeit eine Vielzahl von Informationen liefern.
Einen Vorschlag, den die EVP-ED-Fraktion den Europäern am 7. Juni – einige
Tage nach dem 'Nein' im Referendum über die Europäische Verfassung am 29.
Mai in Frankreich und am 1. Juni in den Niederlanden – gemacht hatte, griff der
Europäische Rat am 17. Juni 2005 auf und einigte sich auf eine „Zeit des
Nachdenkens“. Damit wird dem europäischen Aufbauwerk eine demokratische
Atempause gegönnt, die für Foren, Diskussionsveranstaltungen und einen intensiven
Meinungsaustausch genutzt werden kann.
Es ist an der Zeit, dass sich die Europäer besser kennen lernen, denn der historische
Prozess, der vor fünfzehn Jahren – einer halben Generation – zur Niederlage
des Kommunismus und zum Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums führte,
kam jäh und einschneidend.
Die Erweiterung der EU von 15 auf 25 Staaten innerhalb weniger Jahre ist
zweifellos einer der großartigsten Erfolge, an denen die EVP-ED-Fraktion je maßgeblich
mitgewirkt hat (was übrigens auch für die Einführung des Euro gilt). An
der Verwirklichung des größten politischen und kulturellen Vorhabens dieser Zeit,
nämlich der Einigung Europas in Frieden und Freiheit beteiligt zu sein, ist der
Traum eines jeden Entscheidungsträgers auf unserem Kontinent. Wir waren zugleich
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UNSERE VISION VON EUROPA 2020
aktiv Beteiligte und Augenzeugen einer Bewegung, die schneller verlief, als wir es
uns vorzustellen vermochten. Nur wenige hatten eine große und kühne Vision: Das
gemeinsame Engagement von Bundeskanzler Helmut Kohl, von Staatspräsident
François Mitterrand und von Kommissionspräsident Jacques Delors wird in die
Annalen unserer Geschichte eingehen.
Heute haben wir in diesem vereinigten Europa viel voneinander zu lernen.
Die Erfahrungen, welche die Menschen im Osten des Kontinents in den unheilvollen
Jahrzehnten des Kommunismus gemacht haben, unterscheiden sich von
den Erfahrungen Westeuropas, das im Schutz des transatlantischen Schildes seit über
50 Jahren von der Wachstums- und Konsumgesellschaft geprägt wurde. Ich bin
davon überzeugt, dass das reiche geistige und kulturelle Potenzial, über das die
Gesellschaften Mittel- und Osteuropas verfügen, für die Völker Westeuropas eine
enorme Bereicherung darstellen wird.
Kommunikation und verstärkter Gedankenaustausch werden der Schlüssel zu
unserem Erfolg als Europäer auf dem Weg ins Jahr 2020 sein, etwa auf der Ebene
der Kontakte zwischen jungen Menschen (Begegnungen auf Hochschulebene,
Reisen, religiöse und ökumenische Veranstaltungen, Kunstfestivals), als Kontakte
zwischen Städten und Regionen (in Form von Partnerschaften und gemeinsamen
Projekten, auch im karitativen Bereich) oder auch als Kontakte zwischen den
europäischen und den nationalen Institutionen, vor allem zwischen den
Abgeordneten und den gewählten Kommunalvertretern.
Wir müssen einander besser kennen lernen, um uns zu akzeptieren, uns mittels
unserer Unterschiede gegenseitig zu bereichern und die Zukunft gemeinsam
zu gestalten. Das erfordert natürlich Zeit und Geld. Sind wir heute alle davon
überzeugt, dass Europa Frieden bedeutet? Dass jeder Tag, der in den Frieden
investiert wird, die bestmögliche Investition überhaupt ist? Dass aber nationaler
Egoismus, Misstrauen, Überlegenheitsgefühle und Diskriminierungstendenzen
schleichend und unausweichlich zum Konflikt führen, dessen Preis – Leid und
Zerstörung – immer unerträglich hoch ist?
Mit dem Buch Unsere Vision von Europa 2020 möchten wir uns als erste
Fraktion im Europäischen Parlament in die demokratische Diskussion einschalten,
die auf das „Versprechen für die Zukunft“ setzt, um die Schwierigkeiten der
Gegenwart und den nagenden Groll der Vergangenheit zu überwinden. Unsere
Fraktion – die als einzige im Europäischen Parlament in allen 25 Mitgliedstaaten
der Union vertreten ist – und die uns nahestehenden oder zu unserer politischen
Familie zählenden politischen Persönlichkeiten haben für das Europa der kommenden
15-20 Jahre nicht nur ein- und dieselbe Vision. Das breite Meinungsspektrum
der Parteien, aus denen sich die EVP-ED-Fraktion zusammensetzt, ist gleichermaßen
bekannt wie erwünscht. Wichtig ist aber, was das politische Handeln in den
Mitgliedstaaten und im Europäischen Parlament angeht, dass sich alle über das
Wesentliche einig sind, nämlich die unverrückbare Vorstellung, das alle Menschen
unantastbar und von Geburt an frei sind und dieselben Rechte und Pflichten
gegenüber der Schöpfung haben. Niemand von uns wird den geringsten Abstrich
an diesem Glaubensbekenntnis machen, mit dem alle materiellen Unterschiede, alle
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HANS-GERT PÖTTERING
oberflächlichen und flüchtigen Rivalitäten, alle unterschiedlichen Ansätze überwunden
werden können, um Wirtschaft und Gesellschaft bestmöglich zu gestalten.
An den Menschen glauben, weil der Mensch Mysterium und Hoffnung zugleich
ist; für das Gemeinwohl arbeiten und dabei die Werte bewahren, die in unserem
jüdisch-christlichen Erbe zutiefst verwurzelt sind; sich unermüdlich für die
Durchsetzung von Recht, Solidarität und zwischenmenschlicher Achtung einsetzen –
das sind die Aufgaben, denen sich alle in diesem Buch vertretenen Mitglieder der
EVP-ED-Familie verpflichtet fühlen.
III
Ein solches Erbe fordert unsere Verantwortung als politische Kraft. Bis zum
Jahre 2020 werden die Europäer Stellung beziehen müssen hinsichtlich der
Konsequenzen, die sich – in immer kürzeren Abständen – aus den Fortschritten
der Grundlagenforschung in der Biologie und in der Gentechnik ergeben. Wir
werden ethische Entscheidungen treffen und abwägen müssen zwischen der
Notwendigkeit, der Medizin zur Linderung menschlichen Leidens alle Möglichkeiten
zu eröffnen, und dem Gebot, die Grenzen abzustecken, innerhalb derer wir
Christdemokraten und europäische Demokraten dem Begriff vom Menschen als
Geschöpf Gottes höchste Bedeutung zumessen. Ein solches Abwägen kann nur
demokratisch erfolgen, sollte aber auch durchdrungen sein von der Weisheit geistlicher
Institutionen, mit denen sich die Menschen identifizieren. Die Charta der
Grundrechte, die Teil II des Vertrags über eine Verfassung für Europa bildet, muss
ergänzt werden, um unsere ethischen Werte auch in Anbetracht der Entwicklungen
in der Biotechnologie in den kommenden 15 Jahren berücksichtigen zu können.
Wissenschaft und Technik waren die Triebkräfte der Entwicklung der westlichen
Gesellschaften und ihrer wirtschaftlichen und strategischen Stärke im 19.
und 20. Jahrhundert. In den ersten Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts werden sich
die Errungenschaften der Forschung und der Informationstechnologie auch auf
anderen Kontinenten ausbreiten, vor allem im bevölkerungsreichen und pulsierenden
Asien. Europa kann sich dem Wettlauf um Produktivität, Kostensenkung und
Mehrung des Wohlstands nicht entziehen.
Unsere Vision von Europa im Jahr 2020 basiert auf einer zweifachen Forderung:
— einerseits weltweit dahingehend Einfluss zu nehmen, dass die Naturschätze,
die Umwelt und das ökologische Erbe der Erde – nach unserem Verständnis die
Schöpfung Gottes – nicht durch rücksichtslose Ausbeutung vernichtet werden.
Der steigende Verbrauch von Rohstoffen und Erdöl ist beunruhigend. Er kann
Kriege zur Folge haben, die zunächst über Preise und später vielleicht mit Waffen
ausgetragen werden. Auch die natürliche Knappheit der Ressource Wasser kann
sich durch den Klimawandel sowie den rasanten Anstieg der Bevölkerung zunehmend
verschärfen und wird die strategische Bedeutung des Wassers erhöhen, es
zum Mittelpunkt neuer inner- und zwischenstaatlicher Konflikte werden lassen.
Bei der Lösung dieser Probleme wird unsere Bereitschaft, Frieden zu stiften, in
besonderer Weise herausgefordert werden.
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UNSERE VISION VON EUROPA 2020
Das Überleben der Menschheit wird morgen vielleicht gleichbedeutend sein mit
unserem eigenen Überleben als sehr alte Völker dieses kleinen „Zipfels von
Eurasien“, den Europa darstellt. Wenn Europa in den bestehenden internationalen
Strukturen nicht mit einer Stimme spricht, wäre es dafür mitverantwortlich, falls die
Welt langsam in die Anarchie abdriftet oder erneut Machtkämpfe aufflammen.
Wenn nötig, muss Europa seine Macht dazu nutzen, auf internationaler Ebene das
Entstehen von Regierungsformen zu stärken und zu fördern, die den künftigen
Generationen eine optimale Bewirtschaftung der Ressourcen dieses Planeten
sichern. Diese Forderung zieht die Schaffung einer europäischen politischen
Autorität nach sich, die von den Menschen nachdrücklich legitimiert wird, in deren
Namen handelt und sich auf die Übereinstimmung der Europäer in ihren gemeinsamen
Werten stützt. Bis 2020 müssen wir das Amt eines Präsidenten der
Europäischen Union eingeführt haben, eines Präsidenten, der, ausgestattet mit der
Autorität und dem Mandat der Union, dem Präsidenten der Vereinigten Staaten
und dem Präsidenten Chinas auf gleicher Augenhöhe begegnet. Aufgrund unserer
im Wesentlichen gleichen Werte bleibt dabei das Bündnis zwischen Europa
und den USA im 21. Jahrhundert von großer Bedeutung.
— andererseits in Forschung und Wissenschaft die personellen und finanziellen
Ressourcen wesentlich zu steigern, die Europa bereitstellt, um im Rennen um
die globale Wettbewerbsfähigkeit weiterhin mithalten zu können. Der „Lissabonner
Prozess“, der im März 2000 vom Europäischen Rat eingeleitet wurde, hatte das
Ziel gesetzt, die Europäische Union bis 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und
dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem
Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und
besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen“.
Dieser durchaus berechtigte Ehrgeiz würde an Glaubwürdigkeit gewinnen und
die Öffentlichkeit mobilisieren, könnte er sich in jedem Mitgliedstaat auf entsprechende
nationale Maßnahmen stützen, an denen es aber die Regierungen oft noch
mangeln lassen. Unsere Fraktion fordert deshalb, für eine optimale Nutzung der
finanziellen Mittel der Union zu sorgen, damit Wissenschaft und Technik der
Europäer Fortschritte machen und ihre Wirtschaft im globalen Wettbewerb an
Dynamik gewinnt.
2020 sollte die Europäische Union über ein Forschungs- und Entwicklungspotenzial
im Bereich der neuen Technologien verfügen, das mindestens dem der
Vereinigten Staaten von Amerika entspricht. Dafür muss aus dem EU-Haushalt ein
stetig wachsender Anteil bereitgestellt werden, um eine „gegenseitige Befruchtung
der grauen Zellen“ zu gewährleisten und eine Bündelung der Ressourcen zu
ermöglichen.
IV
Unsere moderne Gesellschaft hat eine Phase erreicht, die vom „Prinzip der
Unsicherheit“ geprägt ist. Die Entscheidungsmöglichkeiten sind nahezu unbegrenzt,
die Rahmenbedingungen machen jede Planung ungewiss. Es wird für die
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HANS-GERT PÖTTERING
Politik immer schwieriger, alle Faktoren vorherzusehen, die die Politik eines
Kontinents bestimmen, der mehr und mehr von der Globalisierung beeinflusst
wird.
Nach Auffassung des griechischen Philosophen Epiktet besteht Weisheit darin,
unterscheiden zu können zwischen Dingen, die in unserer Macht stehen, und
denen, die nicht in unserer Macht stehen:
— Wir wollen unseren Einfluss als größte politische Kraft im Europäischen
Parlament zum Nutzen einer Europäischen Union einsetzen, die das institutionelle
System der Gemeinschaft bewahrt, welches mit den Gründungsverträgen geschaffen
wurde. Das Gleichgewicht und der Dialog zwischen einem demokratischen
Europäischen Parlament, einer starken Kommission, die ihre Aufgaben als Garant
der gemeinsamen Interessen der Europäer wahrnimmt, und einem Rat, der die
Staaten zur Festlegung und Anwendung des europäischen Rechts auf nationaler
Ebene verpflichtet, sind unverzichtbar. Dies ist für uns nicht verhandelbar. Die
Rückkehr zum Europa der Achsen und Koalitionen kann nur zu Konfrontation
und in die Sackgasse führen. Wir werden die Achtung des Rechts stets über die
Anwendung von Gewalt stellen, Mehrheitsentscheidungen über den Gebrauch
des Vetos und die Gleichheit zwischen den Staaten über die Neigung zur
Blockbildung. Unsere Union kann nicht überleben, wenn sie hinter die institutionellen
Prinzipien der Gemeinschaft zurückfällt. Eine Rückbildung der Union zu einer
einfachen Freihandelszone wäre die schleichende Rückkehr zu einem Europa des
Populismus und schließlich des Nationalismus, was wir entschieden ablehnen.
— Angesichts der Ungewissheit, aber auch der Chancen, die die Zukunft bietet,
muss Europa bereit sein, zuzuhören und sich in Bescheidenheit zu üben, und
zwar in zwei Richtungen:
– Einerseits innerhalb der Binnengrenzen, die über den Grad der anzustrebenden
Integration und Vergemeinschaftung entscheiden. Jede europäische Gesetzgebung
muss im Hinblick auf Subsidiarität, Kosten-Nutzen-Verhältnis und Zusatznutzen
für den Bürger sorgfältig begründet werden. Wir werden Schritt für Schritt dafür
sorgen, dass der Binnenmarkt optimal funktioniert – zum Vorteil der Verbraucher,
der Beschäftigung, des Wachstums und der nachhaltigen Entwicklung. Aber ist es
überhaupt möglich und wünschenswert, für die kommenden 15 Jahre die endgültige
Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen europäischer und nationaler
Ebene streng festzulegen? Wäre nicht eher Pragmatismus angebracht, wenn man
bedenkt, dass der Aufbau Europas von Anfang an vor allem ein realistischer Prozess
der Anpassung unserer Länder an eine sich unablässig wandelnde Welt gewesen
ist? Ich bin überzeugt, dass jeder Versuch, Europa anhand eines „Idealmodells“
aufzubauen, dass jede systematische Planung, die ohne Rücksicht auf die sich verändernde
Realität unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft durchgesetzt werden
soll, zum Scheitern verurteilt wäre und von der Öffentlichkeit abgelehnt würde.
Die Union des Jahres 2020 muss Qualität über Quantität stellen. Bürokratische
Auswüchse müssen sowohl auf der Ebene unserer Staaten und unserer Regionen
als auch in Brüssel bekämpft werden. Als Europäisches Parlament könnten wir
das geltende Gemeinschaftsrecht mit seinen Verordnungen und Richtlinien inner-
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UNSERE VISION VON EUROPA 2020
halb kürzester Zeit gemeinsam mit Kommission und Rat auf seine Zweckmäßigkeit
und Aktualität hin überprüfen.
– Bei Aussagen über die Funktionsfähigkeit einer bis 2020 auf 28 oder mehr
Mitglieder erweiterten Union stellt sich unwillkürlich die Frage der zukünftigen
Außengrenzen bzw. der Erweiterungsfähigkeit der Union. Ohne Ausweitung
der Mehrheitsentscheidungen im Rat und gleichberechtigter Mitentscheidung des
Europäischen Parlaments besteht die Gefahr einer zunehmenden Lähmung der
Organe der Union.
Die genannte Zahl von 28 Staaten würde neben den gegenwärtig 25 Mitgliedern
noch Bulgarien, Rumänien und Kroatien einschließen. Weitere Balkan-Staaten sollten
schrittweise an die europäischen Strukturen herangeführt werden, mit dem
langfristigen Ziel einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Andere (ost-)
europäische Staaten, darunter beispielsweise die Ukraine, müssen zunächst selbst
nach einer Antwort auf die Frage suchen, ob sie die Voraussetzungen für eine
Annäherung an die Europäische Union – oder gar eine Mitgliedschaft – schaffen
wollen. Mit Russland muss die Europäische Union stabile und geordnete
Sonderbeziehungen anstreben. Mitglied der Europäischen Union kann Russland
nicht werden; es würde mit seiner Größe die anderen Länder dominieren. Aber die
Stabilität und Sicherheit des europäischen Kontinents im 21. Jahrhundert wird auf
den beiden Säulen Europäische Union und Russland und den guten Beziehungen
zwischen ihnen beruhen.
Heute, da Europa an einem Scheideweg steht, stellt sich die Frage: Will man
nicht nur eine wirtschaftliche oder sich aus sicherheitspolitischen Erwägungen
erweiternde Union, sondern auch eine politische mit einer eigenen Europäischen
Verfassung? Dann müssen künftigen Beitrittsentscheidungen auch solche Überlegungen
zugrunde gelegt werden. Beispielsweise würde sich der Charakter der
Europäischen Union durch einen Beitritt der Türkei nicht nur entscheidend ändern,
sondern die Europäische Union würde in absehbarer Zeit dadurch auch in geographischer,
politischer, kultureller und finanzieller Hinsicht überfordert. Die
Grenzen der Gemeinschaft würden verlagert und Beitrittsforderungen anderer
Staaten folgen. Vor allem würde der Beitritt der Türkei die Gemeinschaft "überdehnen",
das heißt, die identitätsstiftende Kraft, das Gemeinsame, das die Europäer
Verbindende könnte verloren gehen.
Der Türkei und anderen – europäischen – Ländern könnte als Alternative zur
Mitgliedschaft in der Europäischen Union eine „privilegierte Partnerschaft“ angeboten
werden, um ihre demokratische Stabilität und ihre wirtschaftliche Entwicklung
zu fördern. Das setzt seitens der Union voraus, dass sie tatsächlich in der Lage ist,
finanzielle und technische Hilfe zu leisten, um die innere Sicherheit und die
Modernisierung des gesamten Kontinents zu gewährleisten. Beispielsweise müssen
wir in unser aller Interesse den Ausbau der kontinentalen Verkehrs- und
Energienetze fördern und gemeinsam den Kampf gegen Terrorismus, Kriminalität
und illegale Einwanderung führen.
Die beiden zuletzt genannten Aspekte – Terrorismus und Immigration – erfordern
von uns eine neue Perspektive für unsere Beziehungen mit dem Mittelmeer-
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HANS-GERT PÖTTERING
Raum, unserem wichtigen Nachbarn. Uns verbinden Geschichte, Handel und auch
Migration. Der Barcelona-Prozess als umfassendes Konzept der Zusammenarbeit
und der gleichberechtigten Teilhabe zwischen der Europäischen Union und den
südlichen und östlichen Mittelmeer-Anrainern wird an Bedeutung gewinnen mit
dem Ziel, Frieden, Stabilität und Wohlstand im Mittelmeer-Raum zu sichern – durch
Verringerung der Armut, Schaffung eines Raums gemeinsamen Wohlstands und
gemeinsamer Werte, stärkere wirtschaftliche Integration und verstärkte politische
und kulturelle Beziehungen mit den an die erweiterte Europäische Union angrenzenden
Nachbarregionen.
Der politische Dialog Europa-Mittelmeer soll helfen, eine Antwort auf die Frage
zu finden, wie wir den Terrorismus durch eine Politik der Verständigung der
Kulturen im Keim ersticken können und durch eine konstruktive Zusammenarbeit
dem Terror den Nährboden entziehen können. Dabei spielt der Dialog mit dem
Islam eine entscheidende Rolle. Der Islam prägt die Menschen und die Kultur des
Mittelmeer-Raumes. Wir müssen versuchen, durch eine Politik der Verständigung
einen "clash of civilizations " zu verhindern, und zwar auf beiden Seiten des
Mittelmeers: durch einen Beitrag zu mehr Wohlstand in ihrer Heimat müssen wir
jungen Menschen eine Perspektive auf Arbeitsplätze und einen Anreiz geben, in
Ihrer Heimat zu bleiben. Denen, die nach Europa gekommen sind und noch in einer
geordneten Entwicklung kommen werden, müssen wir eine Integration bei uns
ermöglichen.
Am Ende dieser Einleitung zu einem Buch, das dazu beitragen soll, den europäischen
Bürgern unsere politischen Ziele für Europa zu erläutern, steht mein
Wunsch, damit auch einen Beitrag zur Wiederherstellung des unverzichtbaren
Vertrauens zwischen der Öffentlichkeit, den Bürgern, den treibenden Kräften der
Gesellschaft und der Jugend einerseits sowie den Organen der Union und den
auf europäischer Ebene organisierten politischen Kräften wie der EVP-ED-Fraktion
andererseits zu leisten. Nur mit Vertrauen und der Wiederaufnahme dieses Dialogs
hat das historische Vorhaben der notwendigen Einigung unseres europäischen
Kontinents Aussicht auf Erfolg.
Es freut mich, dass alle von uns angesprochenen Persönlichkeiten einen Beitrag
zu diesem Werk beigesteuert haben. Die Liste der Verantwortungsträger, die in
diesem Buch zu Wort kommen, ihr Engagement und ihr Ideenreichtum erfüllen
unsere politische Familie mit Stolz. Ihnen gilt mein Dank und den Lesern der
Wunsch, dass diese Initiative unserer Parlamentsfraktion gut aufgenommen werden
möge als Beweis unserer Absicht, die öffentliche Diskussion über Europa zu
bereichern.
1 Jean MONNET, Memoiren eines Europäers, München, 1980.
November 2005
2 Hannah ARENDT, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, 1981.
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Roselyne BACHELOT-NARQUIN
Mitglied der französischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Dem europäischen Zukunftsgedanken treu bleiben
Plenarsaal des Europäischen Parlaments, 9. Mai 2020
Für die Einberufung der feierlichen Sitzung des Europäischen Konvents, auf
der die Rechtsgültigkeit der Änderung des Grundgesetzes der Union – des
Verfassungsvertrags für Europa – bestätigt werden sollte, hatte die Präsidentin
der Europäischen Union im Jahr 2020 das symbolträchtige Datum des 9. Mai
gewählt. Vom Präsidium aufgefordert, das Wort zu ergreifen, erläutert die
Präsidentin im Namen der Staats- und Regierungschefs die Gründe für diese
außerordentliche Sitzung: Es gehe darum, wie der neue, von der Union im
Rahmen der Weltorganisation für Handel und nachhaltige Entwicklung (WOHNE)
ausgehandelte internationale Vertrag berücksichtigt werden soll. Erstmalig tritt
ein Europäischer Konvent auf Initiative einer internationalen Bewegung und
nicht auf Ersuchen einer europäischen Staatengruppe oder einer europäischen
Petition mit den Unterschriften von einer Million Bürgern zusammen.
Danach spricht der Präsident der Europäischen Kommission zu den
Konventsmitgliedern – europäischen und nationalen Abgeordneten. Als Hüterin
der Verfassung und des allgemeinen gemeinschaftlichen Interesses befürwortet
die Kommission diesen bedeutenden innovativen Akt in der Verfassungsgeschichte
Europas. Der ehemalige konservative Ministerpräsident Norwegens, auf den das
Referendum zum EU-Beitritt seines Landes zurückgeht, beginnt aus gegebenem
Anlass seinen Beitrag mit einer Würdigung der „Gründerväter“, darunter Robert
Schuman, dessen inzwischen an allen Schulen des Kontinents immer wieder
zitierten Worte er in Erinnerung ruft: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden
ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen.
Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation
leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen [...]
Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine
einfache Zusammenfassung: Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die
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ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN
zunächst eine Solidarität der Tat schaffen“. Anschließend zeichnet der
Kommissionspräsident ein kompromissloses Bild der schwerwiegenden diplomatischen
Probleme in den Vereinten Nationen und in der WOHNE, denn die
Verschlechterung der Umweltsituation, die Verschmutzung des Weltraums und
die damit einhergehenden Schwierigkeiten beeinträchtigen den freien Verkehr
von Personen, Waren und Dienstleistungen. Das Verdienst Europas in Partnerschaft
mit Russland und der Türkei ist es, dass in einer gemeinsamen Erklärung der
Wille zur Unterzeichnung dieses neuen Vertrags bekräftigt wurde, mit dem neue
Umweltstandards eingeführt werden sollen. Europa möchte mit der Übernahme
dieses internationalen Rechts in sein Verfassungsrecht beispielgebend sein, nachdem
der heftige Konflikt, zu dem es in diesem Zusammenhang zwischen China
und den USA gekommen war, ausgeräumt werden konnte. Die im Umfeld von
Präsident Deng sehr einflussreichen chinesischen Neoimperialisten lehnen es ab,
sich diesen Regelungen unterzuordnen, indem sie einerseits geltend machen,
dass die Umweltverschmutzungen weitgehend vom Westen herrühren, und sich
andererseits weigern, ein internationales Gesetz anzuerkennen, das dem derzeit
für anderthalb Milliarden Einwohner der Bundesrepublik China geltenden Gesetz
übergeordnet sein soll. Präsident George Prescott Bush, der Neffe des ehemaligen
Präsidenten und erster Präsident spanischer Herkunft in der Geschichte der
USA, der vom gesamten, im Mercosur vereinten Lateinamerika unterstützt wird,
setzt sich aktiv für die Ratifizierung des Vertrags ein, muss jedoch mit der deutlichen
Feindseligkeit des mehrheitlich republikanischen Kongresses fertig werden.
Anschließend erhalten die einzelnen Fraktionsvorsitzenden des Konvents das
Wort, wobei jeder seine Meinung zum Ausdruck bringt und die ihm gebotene
Tribüne nutzt, um die Bilanz der Veränderungen zu ziehen, die sich in den 15 Jahre
nach der bedeutsamen Krise im Jahr 2005 vollzogen haben.
— Die griechische Vorsitzende der EVP-Fraktion (Europäische Volkspartei)
würdigt besonders Russland und die Türkei für den gemeinsamen Standpunkt,
den sie in Partnerschaft mit der EU zum Vertrag der WOHNE vertreten haben
und der es dem eurasischen Kontinent erlaubt, den Kompromiss mit einer gewichtigeren
Stimme zu vertreten. Die EVP-ED-Vorsitzende nimmt dies zum Anlass,
um das umfassende Bündnis zwischen den drei Zivilisationen und die friedliche
Regelung zu würdigen, die vom ehemaligen Ministerpräsidenten Erdogan und seinem
griechischen Amtskollegen Karamanlis anlässlich der bedeutsamen
Begegnung am Bosporus im Jahr 2009 konzipiert worden war. Dieser Kompromiss,
der ursprünglich aufgrund der unüberwindlichen technischen und politischen
Probleme des EU-Beitritts der Türkei als Erfolg versprechende und konstruktive
Alternative galt, der gleichwohl über eine einfache „privilegierte Partnerschaft“
hinausging, mit der keine ausreichend soliden institutionellen Bindungen zustande
kamen, ermöglichte es durch die Modernisierung der ehemaligen Institution
des Europarates, den in seiner damaligen Form bestehenden europäischen
Kontinent um das umfassende Bündnis der drei großen Zivilisationen des eurasischen
Kontinents zu bereichern. Zu lange hatte die politische Klasse Europas
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DEM EUROPÄISCHEN ZUKUNFTSGEDANKEN TREU BLEIBEN
versucht, die beiden Europa – das kontinentale, von Beziehungen auf
Regierungsebene geprägte Europa des Europarates und die Europäische Union
mit ihrer gemeinschaftlichen Ausrichtung – gegeneinander auszuspielen, ohne zu
begreifen, dass sie sich in Wirklichkeit ergänzten und zwei Seiten eines gleichen
Ziels, eines gleichen Projekts und einer gleichen Hoffnung waren, nämlich die
Menschen zu einen. Die Verhandlungen des Jahres 2009 brachten neben der
endgültigen Regelung der Zypernfrage auch die Antwort auf die Erwartungen
Russlands, das nach dem Niedergang des Sowjetregimes auf der Suche nach seinem
Platz war und ausgeglichene und konstruktive Beziehungen zu seinen
Nachbarn in der Europäischen Union und nicht selten sogar zu seinen Partnern
der GUS (Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten) anstrebte. Mit dem neuen
Vertrag des Europarates, einer modernisierten Fassung des Vertrags von 1949,
wurden übrigens die neuen Institutionen mit weiter reichenden Kompetenzen ausgestattet.
Über die Bekämpfung des Terrorismus, die Verbreitung von
Massenvernichtungswaffen und die Schwerkriminalität hinaus verfolgte das kontinentale
Europa energie- und umweltpolitische Ziele, wobei diese Bereiche aufgrund
der grenzüberschreitenden Wirkung von Umweltverschmutzungen miteinander
verknüpft sind.
In wesentlichen Punkten der Debatte kommen die Abgeordneten der EVP
überein, für den Vorschlag zu stimmen, mit Ausnahme einer Minderheit, die sich
gegen den Gedanken wehrt, nicht institutionelle, sondern materiell-rechtliche
Vorschriften zur Verfassungsnorm zu erheben. Schließlich hatten die
Europaabgeordneten nach langen Debatten im Pöttering-Saal ihrer Vorsitzenden
das klare Mandat zur Unterstützung der EU-Präsidentschaft erteilt. Der überaus
dynamische Vorsitzende der ebenfalls im Konvent vertretenen britischen konservativen
Partei hatte versprochen, im Rat der Republikanischen Partei der USA
mit allem Nachdruck aufzutreten, wo er demnächst als Abgeordneter sprechen
solle, um zu versuchen, den Kongress zu beeinflussen.
— Der britische Vorsitzende der PSDE-Fraktion (Partei der Europäischen
Sozialdemokraten) würdigt nachdrücklich den ehemaligen Premierminister Tony
Blair. Aufgrund des Vorrangs, der vor 15 Jahren unter seiner Führung der Energie,
Forschungs- und Weltraumpolitik eingeräumt wurde, sah sich nämlich die EU in
die günstige Lage versetzt, die Ziele der Minderung von Umweltverschmutzungen
zu erfüllen. Unabhängigkeit im Energiebereich ist im 21. Jahrhundert gleichbedeutend
mit der Unabhängigkeit im Agrarsektor im 20. Jahrhundert. Die europäische
Politik hatte durch eine drastische Reduzierung der Verwendung fossiler
Energiequellen, die Neubelebung der Atombranche auf der Grundlage der
Forschungsarbeiten mit dem ITER-Reaktor, durch die Modernisierung des bestehenden
Atomkraftwerksparks, den verstärkten Einsatz erneuerbarer und alternativer
Energien wie Biokraftstoffe sowie die Steuerung des Verbrauchs durch eine
wirksame Energieeffizienzpolitik Weitblick bewiesen. Die Europäische Union
erwarb Verdienste als Weltraum-Großmacht, indem sie sich für die
Vergemeinschaftung der entsprechenden nationalen Programme und die
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ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN
Entwicklung aktiver Partnerschaften mit Russland und der Türkei entschied. Der
Fraktionsvorsitzende beglückwünscht die europäischen Raumfahrer, die sich
neben einem Russen und einem Türken auf eine Mars-Mission vorbereiten.
Abschließend begrüßt er die Einheit des eurasischen Kontinents und den
Kompromiss, der zwischen den 35 Staats- und Regierungschefs in der
Europäischen Union erzielt wurde. Überdies bringt die PSDE-Fraktion die Überzeugung
zum Ausdruck, dass die neuen Grenzen der Europäischen Union, die
mit der letzten EU-Erweiterung um die bis dahin außerhalb der Union stehenden
Republiken des ehemaligen Jugoslawiens im Jahr 2018 auf symbolträchtige Weise
100 Jahre nach dem selbstmörderischen ersten Weltkrieg in Europa gezogen wurden,
endgültig sind und von einem ausgewogenen Verhältnis zeugen.
— Der Vorsitzende der Fraktion der Liberalen (ELDE) stellt die Menschenrechtsfrage
an den Anfang seiner Ansprache. Menschenrechte sind überaus wichtig
und die Suche nach einem Kompromiss mit China darf nicht als Alibi dienen,
um die in diesem Land beobachteten häufigen Angriffe auf die entstehende
Demokratie zu kaschieren. In diesem Zusammenhang wurde es durch die
Regelung der institutionellen Frage möglich, den Einfluss der EU auf der internationalen
Bühne zu verankern. Mit einem europäischen Sitz im UN-Sicherheitsrat
ist die europäische Außenpolitik heute wirklich integriert, wobei die ehemaligen
ständigen europäischen Mitglieder nach wie vor präsent sind. Der Vorsitzende
der liberalen Fraktion verweist darauf, dass seine Fraktion häufig zu den
Vordenkern gehört habe, wenn es darum ging, die Gründungsdokumente der
Europäischen Union auf den neuesten Stand zu bringen. Heute werde durch die
vorliegenden Dokumente die Rechtmäßigkeit Europas in zweifacher Hinsicht
bestätigt – als Union der Nationen und als Bürgerunion. In diesem Zusammenhang
habe die dringend erwartete Reform des institutionellen Dreiecks – Parlament, Rat
und Kommission – die Sanierung dieser Institutionen ermöglicht.
Das Europäische Parlament zählt 700 Europaabgeordnete, die nach einem
einheitlichen Gesetz gewählt werden.
Der Rat der EU und der Europarat haben sich vereinigt und bilden nunmehr
einen Rat der Staaten unter einheitlichem Vorsitz, wobei die Abstimmung mit
qualifizierter Mehrheit zur Regel geworden ist, während Verfassungsänderungen
bei gemeinsamen Politikbereichen einer noch darüber hinausgehenden Mehrheit
bedürfen.
Die Europäische Kommission umfasst 12 Mitglieder, die von assoziierten delegierten
Kommissionsmitgliedern unterstützt werden. Sie ist dem Europäischen
Parlament gegenüber verantwortlich.
Der Vorsitzende der Liberalen bringt den Wunsch zum Ausdruck, auf lange
Sicht bei der Einbindung bestimmter Politikbereiche noch weiter gehen zu können,
räumt jedoch ein, dass zweifellos eine Pause erforderlich ist, um Störungen
in der Art zu vermeiden, wie sie Europa vor 15 Jahren derart aus dem
Gleichgewicht gebracht haben.
— Die Co-Sprecherin der Fraktion der Grünen verweist auf den überaus gro-
20
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DEM EUROPÄISCHEN ZUKUNFTSGEDANKEN TREU BLEIBEN
ßen Rückstand, der in den vergangenen 20 Jahren trotz aller Appelle seitens der
Grünen im Bereich der Bekämpfung des Treibhausgaseffekts und der
Klimaänderungen zu verzeichnen ist. Ihr Angriff richtet sich direkt gegen die
sozialdemokratischen und konservativen europäischen Regierungsparteien, die
sie beschuldigt, die Probleme nicht richtig eingeschätzt und die Atomkraftwerksbranche
wiederbelebt zu haben. Im Jahr 2019 kam es erneut zu Naturkatastrophen
großen Ausmaßes mit Überschwemmungen, die Tausende Todesopfer forderten.
Die italienische Abgeordnete verweist darauf, dass diese Umweltanomalien
vor einem Hintergrund stattfinden, der durch Wassermangel und
Wasserverschmutzung und die Verdrängung traditioneller landwirtschaftlicher
Kulturen durch GVO-Pflanzen geprägt ist, die in der EU inzwischen auf mehreren
Millionen Hektar angebaut werden, die Verbrauchergesundheit bedrohen
und Gewinne generieren, die amerikanischen Investmentfonds zugute kommen,
während die europäischen Rentner zusehen müssen, wie ihre Einkommen
schrumpfen.
— Der slowakische Vorsitzende der UEN-Fraktion (Union für das Europa der
Nationen) kündigt an, dass seine Fraktion keine Abstimmungsanweisungen geben
wird. Die Vertreter der nationalen Rechten, die hinsichtlich der Stichhaltigkeit
der unterbreiteten Verfassungsänderungen geteilter Meinung sind, verfügen somit
über eine unbeschränkte Abstimmungsfreiheit und können ihrem Gewissen entsprechend
entscheiden. Dennoch identifiziert sich die Fraktion nicht mit der
Einführung eines Rechts, das auf dem Gedanken der internationalen Gemeinschaft
beruht und unmittelbar in das Recht der regionalen politischen Gemeinschaften
überführt werden kann. Die UEN setzt sich für eine Solidarität ein, die die multipolare
Welt reflektiert, so wie sie ist, und die auf der Zusammenarbeit und nicht
auf der Integration der verschiedenen Pole beruht. Der Fraktionsvorsitzende
spricht auch über seine Zweifel hinsichtlich des Inhalts der zur Verfassungsnorm
erhobenen Regeln, u.a. beim Vorsorgegrundsatz, und deren Auswirkungen auf die
Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Schließlich bringt der aus
Bratislava stammende Fraktionsvorsitzende seine ganz persönliche Meinung verbunden
mit dem Wunsch zum Ausdruck, Europa möge wieder an die Vision
einer Diplomatie anknüpfen, wie sie von Václav Havel erstmals in seiner historischen
Rede vor der französischen Nationalversammlung im Jahr 1999 konzipiert
worden war . Im Sinne dieses großen Dramatikers und ehemaligen
Präsidenten der Tschechoslowakischen und später der Tschechischen Republik
kann die „Vorstellung einer Verantwortung für die Welt“, die er den Europäern
wünscht, sich nicht zu einer Form eines europäischen Imperialismus entwickeln.
Diese Vorstellung beinhaltet sogar das ganze Gegenteil, denn ihr geht es darum,
ein Beispiel zu geben, in aller Demut den Weg zu weisen, „das Kreuz der Welt
auf seine Schulter zu laden“. Abschließend fordert der Europaabgeordnete den
alten Kontinent auf, vor allem gründlich über sein Gesellschaftsmodell nachzudenken,
damit es als Beispiel dienen kann, anstatt zu versuchen, neue weltweit
geltende rechtliche und materielle Zwänge mit höchst ungewissen Auswirkungen
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ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN
festzulegen. Die Europäer dürfen vor den wirklichen Gründen von Auseinandersetzungen
auf internationaler Ebene nicht davonlaufen, deren Quelle unsere kollektiven
Irrtümer und ein schrankenloser Individualismus sind. Daher schließt
der Fraktionsvorsitzende seine Ansprache mit der Verlesung eines Auszugs aus
der Rede von Václav Havel vor dem Europäischen Parlament am 16. Februar
2000, dessen Empfehlungen von damals immer noch weitgehend aktuell sind: „An
dieser Zeitenwende ist es meines Erachtens Aufgabe Europas, mutig über die
Ambivalenz seiner Rolle in der Welt nachzudenken, zu verstehen, dass wir die
Welt nicht nur die Menschenrecht gelehrt, sondern ihr auch den Holocaust
gebracht haben, dass wir sie nicht nur geistig in die industrielle Revolution und
die Informationsgesellschaft geführt, sondern auch dazu getrieben haben, im
Namen der Anhäufung materieller Reichtümer die Natur zu misshandeln, Raubbau
an ihren Ressourcen zu betreiben und die Luft zu verschmutzen... Bescheidenheit,
Entgegenkommen, Freundlichkeit, die Achtung vor dem, was wir nicht verstehen,
das tiefe Gefühl der Solidarität mit den Anderen, die Achtung alles Andersartigen,
die Bereitschaft, Opfer zu erbringen oder gute Taten zu vollbringen, die erst in
der Ewigkeit belohnt werden, in der uns allezeit ganz leise im Unterbewusstsein
begleitenden Ewigkeit: dies alles sind Werte, auf denen das europäischen
Einigungswerk beruhen könnte und sollte.“
— Im Namen der GUE (Vereinigte Europäische Linke) greift die französische
Fraktionsvorsitzende die EVP-Führung an, gegen die der Vorwurf der Hörigkeit
gegenüber dem Großkapital besteht, und verweist auf die Marx’sche Prophezeiung
der Selbstzerstörung. Ihr Beitrag wird von heftigen Pfiffen begleitet. Sie schließt
vorzeitig ab, denn sie wird ihrerseits von den Mitgliedern des Flügels der
Globalisierungsgegner ihrer eigenen Fraktion angegriffen, die sie überkommenen
Denkens und der Unfähigkeit bezichtigen, die verschiedenen Strömungen der
GUE zusammen zu bringen. Die französische Abgeordnete wiederum kontert
mit Anschuldigungen eines unverantwortlichen Revisionismus. Als das allgemeine
Durcheinander seinen Höhepunkt erreicht, flüchtet sich die Fraktion in die
Stimmenthaltung, bezüglich derer man berechtigte Zweifel haben kann, ob sie den
Sieg des Kapitalismus ins Wanken zu bringen vermag.
— Der Redner der Fraktion Unabhängigkeit und Demokratie widersetzt sich
leidenschaftlich der Abänderung der Europäischen Verfassung. Der isländische
Europaabgeordnete sieht in diesem Verweis auf die WOHNE eine Unterordnung
des europäischen Rechts unter das internationale Recht, das auf keinem politischen
Zugehörigkeitsgefühl, wie es zu einer Nation oder – in geringerem Maße – zur
Europäischen Union bestehen könnte, basiere. Mit dem Ergebnis der als undurchsichtig
und technokratisch qualifizierten Verhandlungen würden sich die Bürger
einer Gefahr aussetzen, wenn sie ein anderes als das europäische und das nationale
Recht anerkennen.
— Für die Fraktionslosen spricht ein unabhängiger bosnischer Abgeordneter.
Die Abgeordneten dieser Nationalität, die als Letzte zur EU hinzugekommen sind
und sich daher besonders beeindruckt und besonders aufmerksam zeigen, wer-
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DEM EUROPÄISCHEN ZUKUNFTSGEDANKEN TREU BLEIBEN
den stets mit grenzenlosem Respekt angehört. Der an die Spitze einer Liste von
Philosophen und Verantwortlichen von Vereinigungen für die Versöhnung gewählte
Abgeordnete hat Verständnis für das Anliegen seiner Kolleginnen und Kollegen,
sich an eine nicht weit zurückliegende Zeit zu erinnern, da die Union unter der
Last gescheiterter Referenden und der anschließenden erheblichen politischen
Meinungsverschiedenheiten zum Zeitpunkt des Ausbruchs des Krieges auf dem
Gebiet der heutigen Bundesrepublik Mesopotamien ins Wanken geriet. Der
Parlamentarier hat Verständnis dafür, ist aber unentschlossen. Angehöriger eines
gepeinigten Volkes, das zusätzlich darunter litt, dass es keine eigene Identität
besaß, ruft er unter dem Beifall der anderen Fraktionen dazu auf, den Blick auf
die Zukunft und die neuen Herausforderungen zu richten, anstatt ständig dem
Reflex der Heraufbeschwörung der Vergangenheit zu erliegen, als noch alles
Trennende zwischen den Europäern bestand. Der Abgeordnete, der muslimischen
Glaubens ist, findet weder in unserer Geschichte, noch in der Geschichte
Bosniens die Aufforderung zur Einheit vor. Nur die Zukunft und gemeinsame
Projekte könnten den europäischen Kontinent zusammenschweißen. Dann stellt
der europäische Abgeordnete die Frage, ob man sich immer noch auf die
Gründerväter berufen und mehr noch, ihren Empfehlungen folgen solle. Er gibt
auch gleich die Antwort, wobei er von Otto von Habsburg unterstützt wird, der
in den Mémoires d'Europe schrieb „Wer nicht weiß, woher er kommt, kann auch
nicht wissen, wohin er geht, weil er nicht weiß, wo er steht!“, und einige Zeilen
später weiter sinngemäß differenzierte „die Geschichte darf als Ratgeber dienen,
aber niemals Tyrann sein“.
Fünfzehn Jahre zuvor, im Jahr 2005, erlebte die Europäische Union eine
schwere politische Krise, die zu einer allmählichen Schwächung der Europäischen
Kommission und einer Lähmung ihrer Funktionsfähigkeit führte. Diese Krise
zeigte sich noch deutlicher nach dem Scheitern des französischen Referendums
über die Europäische Verfassung am 29. Mai. Es gab zahlreiche Politiker, die
nicht ohne Grund die Auflösung der europäischen Zukunftsvision zugunsten
einer einfachen Freihandelszone ohne wirkliche politische Ziele befürchteten.
Damit wäre nicht nur der Plan der Gründerväter zunichte gemacht worden, sondern
viel sicherer noch die Fähigkeit der europäischen Völker, ihre Interessen und
Werte sowie ihre Lebensweise in der Welt des Jahres 2020 zu vertreten. Aber die
schlimmsten Befürchtungen müssen nicht unbedingt wahr werden und das politische
Leben ist kein ruhig dahin fließender Fluss. Der Gang der Geschichte
bringt viele Herausforderungen mit sich und bietet den Verantwortungsträgern
Europas zahllose Gelegenheiten, wieder an die gemeinschaftlichen Ziele anzuknüpfen,
sodass die Zweifel und Bedenken des Jahres 2005 seinerzeit genutzt werden
konnten, um neu Atem zu holen und den Beweis anzutreten, dass Europa
im Herzen der Bürger verwurzelt ist. Was können die Abgeordneten der EVP-ED-
Fraktion und ihre führenden Persönlichkeiten tun, um dem europäischen
Zukunftsgedanken treu zu bleiben?
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ROSELYNE BACHELOT-NARQUIN
Stefan Zweig, derjenige unter unseren Schriftstellern des 20. Jahrhunderts,
der dem europäischen Gedanken am meisten verbunden war, gibt uns in seiner
Biografie des Erasmus die Antwort: „Immer werden jene vonnöten sein, die auf
das Bindende zwischen den Völkern jenseits des Trennenden hindeuten und im
Herzen der Menschheit den Gedanken eines kommenden Zeitalters höherer
Humanität gläubig erneuern“.
September 2005
1 „Pour une politique post-moderne“ (Für eine postmoderne Politik), Reden 1992-1999,
Übersetzung aus dem Tschechischen von Jan Rubes. Verlag L'Aube, „Monde en cours.
Intervention“.
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Jan Peter BALKENENDE
Ministerpräsident der Niederlande
Europa: Für eine sichere Zukunft
müssen wir zurück zu den Anfängen
Einleitung: globale Herausforderung
Ende vergangenen Jahres veröffentlichte das Goldman Sachs Global Research
Centre eine Studie mit dem schönen Titel The Path to 2050. Forscher sagen in dieser
Studie voraus, wie sich die Weltwirtschaft in den kommenden Jahrzehnten entwickeln
wird. Diese Prognose fällt spektakulär aus. Innerhalb der Weltwirtschaft
wird eine drastische Schwerpunktverlagerung stattfinden. Von den derzeitigen
sechs wirtschaftlichen Großmächten – USA, Japan, Deutschland, Frankreich,
Großbritannien und Italien – werden in einigen Jahrzehnten nur noch zwei zu
den ersten sechs gehören, und zwar die USA und Japan. Die europäischen Länder
werden ihren Rang an China, Indien, Brasilien und Russland abtreten müssen. In
zwölf Jahren wird China die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt besitzen und
bis voraussichtlich 2040 die USA als größte Wirtschaftsmacht eingeholt haben.
Nun sind Prognosen natürlich stets mit vielen Unwägbarkeiten behaftet. Die
Wirklichkeit sieht letzten Endes häufig anders aus. Die Forscher von Goldman
Sachs sind die Ersten, die dies einräumen. Sie weisen ausdrücklich auf die
Unsicherheiten in ihren Modellen hin. Beispielsweise setzen sie voraus, dass die
aufstrebenden Volkswirtschaften ihre Wachstumspolitik unvermindert fortsetzen
werden.
Wenn wir etwa China und Indien betrachten, wird diese Voraussetzung vorerst
mehr als erfüllt. 2050 scheint heute noch in weiter Ferne zu liegen. Der
Schein trügt jedoch.
2050 ist das Jahr, in dem sich unsere Kinder auf ihre Rente vorbereiten und
unsere Enkelkinder Familien gründen. Ist dieser Zeitpunkt noch weit entfernt?
Meiner Ansicht nach nicht.
Uns stehen gravierende Veränderungen bevor; in der Wirtschaftskraft der
Länder und der Regionen, in den Handels- und Investitionsströmen, im
Kapitalverkehr, in der Verbreitung von Wissen und Wohlstand in der Welt. Dabei
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JAN PETER BALKENENDE
spreche ich hier nur von den wirtschaftlichen Veränderungen. Unsere gesamte
politische und kulturelle Orientierung könnte einen Wandel erfahren. Daher geht
es um viel mehr als nur um ein Fließband, das von Rotterdam nach Shanghai verlagert
wird. Oder eine IT-Abteilung, die von Amsterdam nach Neu Delhi umzieht.
Dass die Welt sich ändert, wissen wir genau, wir wissen nur nicht genau, wie.
Wie stark wird Europa in einigen Jahrzehnten sein? Dabei geht es nicht in erster
Linie um unsere wirtschaftliche Machtposition. Es geht darum, ob die Menschen
in Europa sich künftig ein gutes Leben aufbauen können und ob es ein soziales
Netz für diejenigen geben wird, die darauf angewiesen sind. Wohlgemerkt: Dies
ist alles andere als selbstverständlich.
Wird Europa in einigen Jahrzehnten stark und flexibel genug sein, um sich
auf Veränderungen einzustellen? Um neue Chancen beim Schopf zu ergreifen
und Bedrohungen abzuwehren? Welche Rolle wird die Europäische Union dabei
spielen?
Das Wesen der Union liegt darin, dass sie sich grenzüberschreitenden
Problemen stellt. Hier stehen wir nun vor einem „grenzüberschreitenden Problem“
par excellence bzw., positiver formuliert, einer „grenzüberschreitenden
Herausforderung“. Nach meiner Überzeugung können die Länder Europas nur
gemeinsam eine hinreichende sozialökonomische Dynamik und Spannkraft hervorbringen,
um in der sich rasch verändernden Welt weiterhin den eigenen
Wohlstand und Solidarität garantieren zu können. Das geht sicherlich nicht von
allein. Daran wird hart gearbeitet werden müssen. Unser Wohlstand, unsere
sozialen Einrichtungen für diejenigen, die diese wirklich benötigen, unsere
Wehrhaftigkeit in einer im raschen Wandel befindlichen Welt – all dies sind Dinge,
die wir nur sicherstellen können, wenn wir europäische Lösungen für unsere
Probleme finden. Und wenn wir der EU wirklich die Chance geben, als
Wirtschaftsgemeinschaft aufzutreten – nach innen und nach außen.
Dazu müssen „Institutionen und Politik an die strukturellen Veränderungen
angepasst werden“. Die Einstellung „nach dem Konjunkturtief wird schon alles
von allein besser“ hilft daher nicht weiter. Es wird Zeit, dass Europa sich aus
dem Sessel der Bequemlichkeit erhebt.
Lissabon-Strategie muss ihre Unverbindlichkeit verlieren
Nun mangelt es bestimmt nicht an Plänen und Strategien. Wir alle sind mit der
Lissabon-Strategie vertraut. Woran es vorerst noch mangelt, ist der Wille, die festgelegten
Strategien auch tatsächlich umzusetzen.
Damit spielt Europa ein gefährliches Spiel. Die Union setzt auf diese Weise ihre
eigene Lebensfunktion – ihre spezifische Wertschöpfung – aufs Spiel. Gerade
bei den Dingen, die nur im europäischen Rahmen eine Chance auf Gelingen
haben, müssen wir den Mut haben, unser Wollen in die Tat umzusetzen, wie
schwierig die dafür erforderlichen Maßnahmen auch sein mögen. Dabei denke
ich nicht nur an die Flexibilisierung des Arbeitsmarkts, sondern auch an die
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EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU DEN ANFÄNGEN
Reform der Sozialversicherungssysteme und an den Aufbau einer soliden Basis
für die Alterssicherung. Hierbei stoßen wir auf ein verzwicktes Problem, betrifft
doch ein großer Teil der internationalen Lissabon-Agenda wirtschaftliche Reformen,
die von den Regierungen der Einzelstaaten durchgeführt werden müssen.
Wir in den Niederlanden arbeiten daran. Wir reformieren das Sozialversicherungs-
und das Gesundheitssystem, um sie für die Zukunft zu erhalten. Wir flexibilisieren
den Arbeitsmarkt. Nicht um Menschen einfacher entlassen zu können,
sondern um mehr Menschen Lohn und Brot zu bringen. Tatsache ist, dass die
Arbeitslosenquote der EU 9,1 % beträgt. Die USA, die einen flexibleren
Arbeitsmarkt haben, stehen mit 5,6 % weitaus besser da. Nicht umsonst ist die amerikanische
Wirtschaft erheblich schneller als die europäische in der Lage, sich
von einer wirtschaftlichen Rezession zu erholen.
Im Allgemeinen kommen Reformen in Europa – insbesondere in den „alten“
Mitgliedstaaten – nur mühsam in Gang. Den europäischen Bestrebungen und
Absprachen haftet eine gewisse Unverbindlichkeit an, die für die Zukunft der
450 Millionen europäische Bürgern fatale Folgen haben könnte.
Die Europäische Union ist keine Meisterin im Verändern bestehender Gefüge,
Strukturen und Systeme. Wir neigen bisweilen dazu, uns am Vorhandenen festzuklammern
wie ein Schwimmer an einer undichten Luftmatratze. Doch wohin
führt uns das, wenn die Strömung immer stärker wird?
Was gebraucht wird, ist politischer Schneid. An diesem politischen Schneid
mangelt es dem neuen Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso jedenfalls
nicht. In seinen Vorschlägen für die Reform der Lissabon-Strategie beweist er
Leidenschaft, aber auch Realitätssinn. Er spricht die Mitgliedstaaten auf ihre
Verantwortung an. Ihnen wird mehr Freiheit bei der Umsetzung ihrer
Reformagenda eingeräumt, jedoch auch mehr Nachdruck auf die Umsetzung
getroffener Vereinbarungen gelegt. Barroso ist überzeugt, dass Lissabon nur dann
einen glaubwürdigen Start haben kann, wenn wir eine Partnerschaft bilden. Eine
Partnerschaft aus den Mitgliedstaaten, den Sozialpartnern und der Kommission.
Die Kommission zeigt sich uneingeschränkt bereit, das ihre zu tun.
Barroso geht mit Fug und Recht davon aus, dass es zur Lissabon-Agenda
keine aussichtsreiche Alternative gibt, wenn wir in Europa nachhaltiges Wachstum
wollen.
Unsere Aufgabe ist es, den nationalen Politikern und der Bevölkerung unseres
Landes deutlich zu machen, was das bedeutet, nämlich Erneuerung unserer
alten vertrauten Gefüge und Systeme. Das ist nicht einfach, denn es umfasst
Maßnahmen, die für die Bürger kurzfristig wenig attraktiv sind.
Die Politiker müssen demnach – um mit Franz Walter zu sprechen - angeben,
„wohin die Reise gehen soll, wo sich das gelobte Land am Ende der Wüste aus
Sparsamkeit, Einschränkungen, Verzicht und Abbau befindet, wie es dort aussieht
oder auch nur: aussehen sollte“.
Um diese Frage direkt zu beantworten: zu einem starken, sicheren und soli-
27
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 28
JAN PETER BALKENENDE
darischen Europa für unsere Kinder und Enkelkinder und für uns selbst. Dorthin
geht die Reise. Wir müssen den Mut haben zuzugeben und deutlich zu machen,
dass die Entscheidung für das Kurzfristige auf die Entscheidung für eine
Verliererstrategie hinausläuft, die strukturelles Wachstum untergräbt und die
Bürger der Union schon bald verletzlich in einer sich rasch verändernden Welt
zurücklässt.
Was können wir tun, um dies zu verhindern?
Erstens: Die Regeln des Binnenmarkts und der Währungsunion fest in der
Hand halten. Sie bilden die Basis für unseren Wohlstand. Die Wahrung dieser
Regeln muss noch immer täglich erkämpft werden. Es ist von größter Wichtigkeit,
dass die Europäische Kommission als Hüterin des gemeinsamen, gemeinschaftlichen
Interesses hier standhaft bleibt.
Zweitens muss auch der Europäische Rat dem Wirtschaftswachstum erheblich
mehr Aufmerksamkeit schenken. Was mich betrifft, ist das wirtschaftliche
Wachstumsvermögen Europas bei jedem Halbjahres-Treffen ein wichtiger Punkt
für den Europäischen Rat, d.h. nicht nur beim Frühjahrs-, sondern auch beim
Herbstgipfel. Für die niederländische Präsidentschaft galt dies ebenfalls. Die
Stärkung unserer Volkswirtschaften ist eine Kernaufgabe Europas.
Drittens müssen wir uns vor Augen halten, dass wir ein Problem mit der
Rechenschaft über die Ausführung der gemeinsamen Politik haben. Wir gehen
zwar Verpflichtungen ein, brauchen jedoch nirgendwo Rechenschaft über die
Umsetzung dieser Versprechen abzulegen. Die Mitgliedstaaten untereinander
sind häufig nicht zu Peer-pressure bereit. Aber auch von den nationalen
Parlamenten geht zu wenig Druck aus. Möglicherweise ist dies ja der mangelnden
Transparenz des Prozesses geschuldet. Es gibt zu viele verschiedene
Berichterstattungsmechanismen. Die Schlussfolgerungen des Europäischen Rats
sind zum Teil sehr umfangreich. Verantwortlichkeiten sind auf mehrere Räte und
Minister verteilt. Die Vorschläge der neuen Kommission enthalten kreative und
kühne Anregungen, wie sich die Transparenz und die Rechenschaftspflicht innerhalb
der Lissabon-Strategie verbessern ließe. Es kommt eine Vereinheitlichung von
Leitlinien und Berichterstattungsmechanismen. Dies fördert gleichzeitig eine stärkere
Verknüpfung mit den politischen Gestaltungs- und Verantwortungsprozessen
auf nationaler Ebene.
Viertens müssen wir neue Wege suchen, wie die Kommission die
Mitgliedstaaten bei der Umsetzung wirtschaftlicher Reformen unterstützen kann.
Kampf gegen den Terrorismus: Zusammenarbeit ist bittere Notwendigkeit
Das Wesen der Union besteht darin, dass sie grenzüberschreitende Probleme
anpackt. Dies gilt nicht nur für die Beseitigung von Hindernissen für ein nachhaltiges
Wirtschaftswachstum. Es gilt auch für die Sicherheit. Sicherheit ist die
Kernaufgabe Nummer eins der Regierung. Die Bürger Europas erleben immer
mehr am eigenen Leibe, dass Kriminalität und Terrorismus grenzüberschreitend
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EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU DEN ANFÄNGEN
sind. Sie erwarten, dass die Europäische Union entschlossen und effizient darauf
reagiert. Ein Gefühl der Sicherheit ist für die Bürger in dieser Zeit der offenen
Grenzen dringlicher denn je. Die Menschen verstehen und akzeptieren es nicht,
wenn Verbrecher aufgrund fehlender Koordination in Europa davonkommen oder
wenn sie sich ihrer Bestrafung durch Flucht in ein anderes EU-Land entziehen.
In den kommenden Jahren müssen wir alles daransetzen, die Zusammenarbeit
zu verstärken und die Lücken im justiziellen Netz zu schließen. Ein freies, offenes
und sicheres Europa kann es nicht geben ohne ein hohes Maß an Übereinstimmung
darüber, was in unserer Rechtsgemeinschaft zulässig ist und was nicht,
und über das Vorgehen gegen Menschen, die diese Grenzen überschreiten. Es ist
daher unverzichtbar, unsere Strafrechtssysteme aufeinander abzustimmen. Die
langfristige Lebensfähigkeit der Union hängt zu einem erheblichen Teil von der
Frage ab, ob uns das gelingt.
Ich begreife sehr wohl, dass hier an ein heikles Thema gerührt wird. Die
Mitgliedstaaten sind bisweilen stark ihren nationalen Eigenheiten in den Bereichen
Justiz und Polizei verhaftet. Man nehme als Beispiel nur die niederländische
Drogenpolitik. Wir dürfen unsere Traditionen nicht einfach so in Frage stellen.
Lücken im Europäischen justiziellen Netz, die eine Gefahr für die Bürger der
Union darstellen, müssen jedoch geschlossen werden, insbesondere und an erster
Stelle die Lücken, die dem Terrorismus und dem organisierten Verbrechen
Vorschub leisten. So kann die Politik in Sachen Koffieshops zwar vielleicht noch
als eine Angelegenheit der Niederlande betrachtet werden, doch müssen wir
gegen den internationalen Drogenhandel wirklich gemeinsam vorgehen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass der Drogenhandel, ebenso wie der Menschenund
Waffenhandel, eine wichtige Finanzierungsquelle für den Terrorismus ist.
Um den internationalen Terrorismus wirksam bekämpfen zu können, ist es von
wesentlicher Bedeutung, einen Überblick zu haben, wer und was die
Außengrenzen der Union passiert. Eine stärkere Überwachung dieser
Außengrenzen – insbesondere der neuen Grenzen im Osten der Union – ist dringend
erforderlich. Dies muss auf kluge Weise geschehen, die Handelsströme
zwischen der EU und ihren Handelspartnern dürfen nämlich nicht behindert und
verzögert werden. Geschwindigkeit und Qualität müssen Hand in Hand gehen.
Die USA wenden 15 Milliarden Dollar für die Verstärkung ihrer Grenzkontrollen
auf und investieren stark in biometrische Techniken und automatisierte Systeme.
Im Vergleich dazu steht Europa kümmerlich da. Auch auf diesem Gebiet reagieren
wir nicht hinreichend adäquat auf die veränderte Welt um uns herum.
Zusammenhalt an den Grenzen: innen und außen
Außer im Sicherheitsbereich müssen wir auch auf dem Gebiet Asyl und
Migration unsere Zusammenarbeit deutlich intensivieren. Die Freizügigkeit von
EU-Bürgern ohne Kontrollen an den Binnengrenzen bedeutet nämlich auch
Freizügigkeit von Asylsuchenden und legalen wie illegalen Einwanderern.
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Ein Beispiel: Neuere Zahlen belegen, dass 7 % der Personen, die Asyl in
einem Mitgliedstaat beantragen, dies bereits zu einem früheren Zeitpunkt in
einem anderen EU-Land getan haben. Für Asylsuchende in den Niederlanden
liegt dieser Prozentsatz bei 13.
Fortwährende Politikkonkurrenz zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich
Asyl, Migration und Rückkehrpolitik ist kein gangbarer Weg. Das sind eben die
Probleme, bei denen die EU ihren Mehrwert unter Beweis stellen muss. Es wurden
bereits beachtliche Fortschritte erzielt. So haben wir in Europa Mindestnormen
für Asylverfahren vereinbart. Das reicht jedoch noch nicht aus. Vielleicht ist das
ein Blick weit voraus, doch wir müssen zu einem gemeinsamen Asylverfahren
kommen – mit Zulassungskriterien, die von allen EU-Ländern unterschrieben
und angewandt werden, und zu einer gemeinsamen Rückkehrpolitik.
Langfristig setzt dies unter anderem den Aufbau gemeinsamer
Auffangeinrichtungen für Flüchtlinge und die Registrierung von Asylsuchenden
auf EU-Ebene voraus. Es bedeutet auch eine europäische Finanzierung der
Asylpolitik und europäische Vereinbarungen über die Verteilung zugelassener
Flüchtlinge. Nur mit einer intensiven Grenzüberwachung in Kombination mit
einem europäischen Asyl- und Migrationskonzept können wir die illegale
Einwanderung in Europa bekämpfen.
Europa als Wertegemeinschaft
JAN PETER BALKENENDE
Die Union ist mehr als ein wirtschaftliches Projekt. Sechzig Jahre nach dem
D-Day ist sie noch immer ein Projekt von Respekt, Freiheit und Solidarität, das
weiter an Breite und Tiefe gewinnt.
Die inhaltliche Rückbesinnung auf die Werte, die uns Europäer verbinden,
ist meiner festen Überzeugung nach entscheidend für die Lebenskraft und die
Tatkraft der Europäischen Union. Sie ergibt sich aus der historischen Dimension
der europäischen Zusammenarbeit. Und sie ist erforderlich, wenn wir in die
Zukunft blicken.
Die Europäische Union ist eine Wertegemeinschaft. Unsere Gemeinschaft ist
das Produkt großer religiöser und philosophischer Traditionen. Die Ideen der
Klassiker, das Christentum, das Judentum, der Humanismus und die Aufklärung
haben uns zu dem gemacht, was wir heute sind. Auch der Dialog mit der islamischen
und arabischen Kultur hat zu unserer Identität beigetragen. Der Zweite
Weltkrieg hat uns die Bedeutung eines gemeinsamen Wertesystems nachhaltig vor
Augen geführt. Im zerrissenen und verarmten Europa sehnten sich die Menschen
nach Frieden, Freiheit, Stabilität und einer neuen Chance auf Wohlstand.
Die Begründer der europäischen Integration – Monnet, Schuman, Adenauer,
De Gasperi und andere – begriffen, dass diese Ideale nur durch eine Bündelung
und Verflechtung der praktischen Interessen der Länder Europas erreichbar sein
würden. Jean Monnet nannte dies in seinen Memoiren „la solidarité de fait“.
Damit wollte er sagen, dass eine Gemeinschaft nicht durch freundschaftliche
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EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU DEN ANFÄNGEN
Gefühle entsteht. Monnet drehte diesen Satz um: Gerade die gemeinschaftliche
Zusammenarbeit erzeugt die Freundschaft.
So errichteten die Gründerväter das empfindliche Haus des Friedens auf einem
Fundament von Kohle und Stahl.
In der Verfassung werden die Werte genannt, auf die sich die Union gründet:
Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit
und Wahrung der Menschenrechte. Dort heißt es: „Diese Werte sind allen
Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus,
Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und Nichtdiskriminierung auszeichnet“. Diese
gemeinsamen Werte sind der Zement zwischen den Steinen des immer größer werdenden
europäischen Gebäudes. Sie sind das Bindemittel zwischen Regierungen,
die begreifen müssen, dass es nicht vernünftig ist, nur an den eigenen Interessen
festzuhalten, wenn das gemeinsame Interesse gerade eine gemeinschaftliche
Strategie erfordert. Als Partner in der Europäischen Union sollten wir nämlich
nicht im Wettbewerb stehen, sondern uns gegenseitig ergänzen. Je größer das
Bewusstsein für gemeinsame Werte ist, desto größer kann die politische
Entschlusskraft der Europäischen Union sein.
Bauen an Europa nur möglich mit Menschen, die sich als Europäer fühlen
Mit der neuen Verfassung wird Europa unbestreitbar klarer, effizienter und
demokratischer.
Ist das jedoch ausreichend? Wie sorgen wir dafür, dass der europäische Bürger
den Nutzen Europas weiterhin vor erkennt und sich dem europäischen Gedanken
nicht entfremdet?
Entscheidend ist, dass wir jederzeit deutlich machen, welchem Zweck Europa
dient. Nämlich dem, für die Bürger notwendige Dinge zu tun, bei denen die einzelne
Länder aus eigener Kraft überfordert wären. Ich erwähnte bereits das strukturelle
Wirtschaftswachstum und die Sicherheit. Die einzelstaatlichen Politiker
müssen den Mut haben, sich hierzu klar zu äußern. Sie müssen den Wählern
deutlich machen, dass dabei nur ein europäischer Ansatz Erfolg verspricht und
dass die Übertragung bestimmter Befugnisse und Verantwortlichkeiten auf die
Union unverzichtbar ist.
„Aber Europa ist so kompliziert“, hört man dann oft. „Die Bürger verstehen
das nicht.“ Ist das wirklich so? Viele Dinge sind gerade dank Europa einfacher
geworden. Niemand wünscht sich die Zeit zurück, als wir noch 25 nationale
Zollverordnungen hatten. Wir erreichen auch sehr konkrete Dinge gemeinsam.
Derzeit sind gut 1,8 % des BIP der Europäischen Union dem Funktionieren des
Binnenmarkts zuzuschreiben. Damit einhergegangen ist die Schaffung von 2,5
Millionen Arbeitsplätzen. So gibt es noch weit mehr Beispiele für Ergebnisse, die
wir Europa zu verdanken haben und die den Menschen sehr gut zu erklären
sind.
31
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JAN PETER BALKENENDE
Gemeinsam nur das, was gemeinsam erfolgen muss
Um die grenzüberschreitenden Probleme, von denen die Bürger unmittelbar
betroffen sind, wirksam anpacken zu können, müssen wir uns für ein starkes
föderales Europa entscheiden, das mit einem starken gemeinschaftlichen Motor
ausgestattet ist.
Dazu gehört jedoch, dass die Union nicht zu hoch pokert, indem sie sich um
Dinge kümmert, die die Länder, Regionen, Gemeinden oder Bürger sehr gut
selbst entscheiden können. Wenn etwas Irritationen und Misstrauen bei den
Menschen hervorruft, dann dies. Wenn Europa sich zu sehr aufdrängt, wird bei
den Menschen Ablehnung wach, und die Unterstützung für die europäische
Zusammenarbeit – die von so entscheidender Bedeutung ist – bricht weg. Wir müssen
weg von der zwangsweisen Politikgestaltung in Brüssel in Bereichen, in
denen die Brüsseler Einmischung nicht angebracht ist.
Europa gründet sich auf das christdemokratische Prinzip, dass das, was nahe
an den Menschen geregelt werden kann, nicht aus der Ferne entschieden werden
darf (Subsidiarität). Bisher ist das Protokoll über die Anwendung der
Grundsätze der Subsidiarität im Vertrag von Amsterdam jedoch zu sehr toter
Buchstabe geblieben. Die neue Verfassung enthält konkrete Ansatzpunkte für
die Parlamente der Einzelstaaten, um diese Subsidiarität notfalls zu erzwingen. Es
ist wichtig, dass wir dies fest in der Hand behalten. Begrüßenswert wäre eine
Zulässigkeitsdebatte im Rat, bevor dieser sich mit dem Inhalt einer Gesetzesvorlage
der Kommission beschäftigt. In einer solchen Debatte müsste die Kernfrage lauten,
ob die Vorlage in Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsgrundsatz steht.
Die Frage dieses Buches ist: Wie funktioniert Europa in etwa zwanzig Jahren?
Präsentiert sich die Union dann als starker Herkules oder als Koloss auf tönernen
Füßen? Ist es mit so vielen Ländern und so vielen nationalen und regionalen
Interessen möglich, gemeinsam in Bewegung zu bleiben? Oder wird die
Union auseinander fallen?
Rasch fallen Begriffe aus dem Radrennsport wie „Spitzengruppe“, „Peloton“
oder „Nachzügler“. An ein solches Europa glaube ich nicht. Solange die
Mitgliedstaaten der Union untereinander Ballotage betreiben, ist das Projekt
Europa zum Untergang verurteilt. Um den Begriff „Spitzengruppe“ kreisen jedoch
auch viele Missverständnisse. Spitzengruppen abzulehnen bedeutet noch nicht,
dass Ländergruppen nicht gemeinsam Ansätze für Erneuerung geben können.
Sie bezeichne ich nicht als Spitzengruppe, sondern als Vorhut, die unbekanntes
Terrain für andere erkundet. Solange derartige Gruppen keine exklusiven
Gesellschaften bilden, können sie eine treibende Kraft in Europa sein. Also: Jeder,
der teilnehmen will, muss teilnehmen können.
Im kommenden Jahrzehnt wird diese Art von Zusammenarbeit – die von der
Verfassung auch ermöglicht wird – eine immer wichtigere Rolle spielen. Vor
allem vom Standpunkt der Dynamik aus ist das zu begrüßen. Es ist nämlich nicht
auszuschließen, dass man sonst mit 25, 28 oder mehr Ländern an Geschwindigkeit
32
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und Beweglichkeit verliert. Die europäische Integration kennt bereits gute Beispiele
für eine verstärkte Zusammenarbeit. Man denke nur an die Eurozone oder das
Schengen-Gebiet. Wir werden erleben, dass um Länder mit spezifischem
Sachverstand oder komparativen Vorteilen neue Gruppen entstehen werden.
Beispielhaft wäre hier die Zusammenarbeit auf verschiedenen Gebieten, wie
Entwicklungszusammenarbeit, Steuern, Umwelt oder Sicherheit, zu nennen.
Übrigens erwarte ich auch zahlreiche Erneuerungsimpulse von den neuen
Mitgliedstaaten. Wenn man sieht, wie viel Erfahrung die Länder in Mittel- und
Osteuropa mit der Reform ihrer wirtschaftlichen Struktur haben, kann man daraus
Hoffnung für die anderen Mitgliedstaaten schöpfen. In den neuen Mitgliedstaaten
steckt eine große wirtschaftliche „Zugkraft“.
Zusammenfassung
EUROPA: FÜR EINE SICHERE ZUKUNFT MÜSSEN WIR ZURÜCK ZU DEN ANFÄNGEN
Europa muss zurück zur Basis und stärker von dieser Basis aus operieren.
Warum haben wir mit der europäischen Integration begonnen? Um Frieden,
Freiheit und Sicherheit zu garantieren und um Wohlstand für die heutige wie
künftige Generationen zu erreichen. Das sind Dinge, die kein Land im Alleingang
realisieren kann.
Daher müssen wir die europäische Zusammenarbeit auf diesen Gebieten kräftig
vorantreiben.
Aus diesem Grunde gilt es das institutionelle Gleichgewicht in der Union zu
bewahren und darüber zu wachen. Wenn die großen Länder der Verlockung
nachgeben, das Spiel an sich zu ziehen, wird in Europa eine Desintegration einsetzen.
Also müssen wir in die Zukunft schauen und mit unseren langfristigen
Zielsetzungen Ernst machen. Übermäßige Einmischung im Verein mit mangelnder
Tatkraft auf Gebieten, wo ein gemeinsames Vorgehen dringend erforderlich
wäre, untergräbt nicht nur das Vertrauen der Bürger in Europa, sondern setzt
die unmittelbare Zukunft der europäischen Bürger aufs Spiel.
Wer Europa eine Zukunft geben will, muss zurück zu den Absichten und
Gedanken der Anfänge.
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März 2005
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José Manuel BARROSO
Präsident der Europäischen Kommission
Unsere Vision von Europa
Es bestehen wohl kaum Zweifel daran, dass die Errungenschaften der
Europäischen Union während der letzten 50 Jahre außerordentlich sind.
Möglicherweise wären selbst ihre visionärsten Gründungsväter, insbesondere diejenigen,
welche zu Beginn die Widerstände gegen den Prozess erlebten, erstaunt
über das Europa der Gegenwart. Die Flexibilität der Methode und der sektorspezifische
Ansatz, die zunächst nur als zweitbeste Strategie galten, haben sich als
Schlüssel zum Erfolg erwiesen. Wenn wir uns ansehen, was wir seither erreicht
haben, beeindruckt uns vor allem der schiere Umfang dessen, was in so relativ
kurzer Zeit geschehen ist. Die Überwindung der Ost-West-Teilung und die einheitliche
Währung sind nur zwei Beispiele aus jüngster Zeit für dieses viel umfassendere
Projekt, auf das wir alle stolz sind. Das Europa der Gegenwart lebt in Frieden,
genießt Wohlstand, weist eine kulturelle Vielfalt auf, leistet Hilfe und wird (hoffentlich)
bald über seine erste Verfassung verfügen. Die Verfassung stellt einen weiteren
großen Schritt voran dar. Sie wird für mehr Demokratie sorgen, indem sie
die Rolle der einzelstaatlichen Parlamente und des Europäischen Parlaments stärkt;
sie wird für mehr Transparenz, eine stärkere Mitwirkung der Bürger und einen
weiter gefassten Dialog mit der Zivilgesellschaft sorgen, und sie wird die Kohärenz
und Effizienz unseres auswärtigen Handelns stärken.
Dies mag außerordentlich sein, ist aber nach wie vor erst der Anfang. Es wäre
nicht nur naiv, sondern auch gefährlich für das gesamte Projekt, käme man zu dem
Schluss, dass sich diese Entwicklung automatisch fortsetzt und die erwarteten
Ergebnisse mit sich bringt. Die Erfahrungen der Vergangenheit und der Gegenwart
lehren uns doch, wie flüchtig und anfällig die Projekte des Menschen sind, und
diese Regel gilt auch für das Projekt „Europa“. Die Kommission ist weit davon entfernt
zu glauben, dass wir mit dieser Erweiterung und möglicherweise einer neuen
Verfassung unser Ziel erreicht oder anstehende Probleme gelöst haben. Vielmehr
hat sie sich einem längerfristigen, schwieriger zu erreichenden Ziel verschrieben,
nämlich die Unterstützung der Europäer zu gewinnen. Der Rückgang der Beteiligung
an den Europawahlen, die negativen Ergebnisse von Meinungsumfragen, das
35
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JOSÉ MANUEL BARROSO
Entstehen und Erstarken politischer Gruppierungen, die gegen Europa gerichtet
sind, sowie schlichte Gleichgültigkeit zeigen uns, dass die größte Herausforderung
der Gegenwart innerhalb der Grenzen der Union besteht und ihre eigentlichen
Akteure betrifft: ihre Bürger. Deren Mangel an Sympathie kommt nicht von ungefähr,
sondern ist das Ergebnis der sich täglich vor ihnen auftürmenden
Schwierigkeiten, einem Gefühl der Unsicherheit und fehlenden Perspektiven. Brüssel
ist immer noch weit weg, der Nutzen der Union wird zumeist nicht wahrgenommen,
und ihre Arbeit wird als Einmischung, wenn nicht gar als feindseliges Handeln
angesehen. Viele Bürger sind der Meinung, dass sich das Europa der Gegenwart nicht
in die richtige Richtung bewegt.
Wie können wir diese Entwicklung umkehren?
– Die Strategie, die wir unterstützen, besteht darin, die Ängste der Menschen zu zerstreuen.
– Das vorrangige Ziel, das wir anstreben, ist der langfristige Wohlstand.
– Die Grundlage für diesen Neubeginn besteht in unserem nicht ausgeschöpften
Potenzial.
Kürzer gesagt: Wir mögen dieses Europa, und wir müssen jetzt dafür sorgen, dass
es zeigt, was in ihm steckt. Ich habe dies die 'Europäische Erneuerung' genannt. Sie
ist von entscheidender Bedeutung für unsere Zukunft und erfordert einen umfassenden
Ansatz, der für die komplexen Herausforderungen einer im raschen Wandel
begriffenen Welt zweckdienlich ist. Am Anfang steht hierbei das von Überzeugung
getragene Engagement, unsere Volkswirtschaften zu unterstützen, effizienter zu
werden, und sie zu ermutigen, neue Arbeitsplätze zu schaffen. Mehr denn je müssen
wir uns jetzt mit dem Bestreben auseinandersetzen, das dynamische Wachstum
vor dem Hintergrund ungünstiger Konjunkturbedingungen wieder anzukurbeln.
Die Globalisierung rückt Europa in eine zunehmend wettbewerbsorientierte
Weltwirtschaft, während aufgrund der alternden Bevölkerung in naher Zukunft auf
zwei erwerbstätige Personen eine Person im Ruhestand entfallen wird. Diese
Variablen allein stellen den Kern unseres Wirtschaftsmodells in Frage und bedrohen
die Nachhaltigkeit unserer Wohlfahrtsprogramme. Es sind genau diese
Herausforderungen, die die Union aufgreifen muss, wenn sie das Vertrauen ihrer
Bürger (zurück-)gewinnen will.
Um das vordringlichste Problem unserer Zeit anzugehen, hat die Kommission
in erster Linie eine weit reichende Partnerschaft für Europa gefordert, in der sich die
Organe der EU, die Mitgliedstaaten und Sozialpartner gemeinsam für eine ehrgeizige
Strategie einsetzen. Dies gilt insbesondere für das Europäische Parlament und
dessen politische Fraktionen: Die Kommission hat sich verpflichtet, dem Parlament
monatlich einen vorläufigen Plan der vorgeschlagenen, in Vorbereitung befindlichen
Rechtsakte vorzulegen, und einen auf die bestmögliche Umsetzung des
Legislativprogramms ausgerichteten Dialog zu beginnen. Darüber hinaus – und
dies ist noch wichtiger – hat die Kommission die Initiative ergriffen und unabhängig
von methodischen Vorgaben ein Bündel von Prioritäten, die zu verfolgen sind,
und eine klare Strategie, die umzusetzen ist, benannt: Dies ist unsere Vision davon,
36
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UNSERE VISION VON EUROPA
wie die Union 2010 aussehen soll. Mit unserem kombinierten Ansatz wollen wir ein
stärkeres Wachstum fördern und neue Arbeitsplätze schaffen, aber die sozialen
Grundlagen des europäischen Wirtschaftsmodells erhalten. Daher baut dieser Ansatz
auf die zusammenhängenden und sich gegenseitig verstärkenden Ziele des
Wohlstands, der Solidarität und der Sicherheit auf.
Wohlstand: Bereits im Jahr 2000 griffen wir in der Lissabonner Strategie mit
großer Hoffnung und viel Ehrgeiz die Herausforderung auf, die das Thema
„Wohlstand“ mit sich bringt, und versprachen, die EU bis zum nächsten Jahrzehnt
zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum zu machen. Das Ergebnis dieser Initiative
sollte nicht unterschätzt werden: In den meisten Mitgliedstaaten sind Reformen in
die Wege geleitet worden, einige Märkte wurden weiter liberalisiert, während die
Erweiterung dazu beigetragen hat, neue Möglichkeiten für Investoren zu schaffen.
Diese Bemühungen haben sich jedoch nicht als Wendepunkt erwiesen. Ein neues
Konzept für Wachstum sollte auf einem gesunden makroökonomischen Umfeld, einer
stabilen Währung, mehr Unternehmertum und einer besseren Regulierung aufbauen.
Zu diesem Zweck benötigen wir für die Lissabonner Strategie einen unverbrauchten
Neustart sowie einen erheblichen Einsatz, um ihre überfrachtete Agenda
zu verkleinern und für eine sachgerechte Koordinierung zu sorgen. Erstens sollten
Ziele einer rigorosen Neuausrichtung von Prioritäten folgen, so dass der Weg für
neues Wachstum und neue Arbeitsplätze frei ist. Zweitens sollten die Mitgliedstaaten
die wichtigsten Befürworter dieser Strategie werden und sich bemühen, die breite
Öffentlichkeit über diese Herausforderungen zu informieren. Die Lissabon-Strategie
sollte zu einem wesentlichen Bestandteil der politischen Debatte auf einzelstaatlicher
Ebene werden. Drittens und letztens sollte ein vereinfachtes, klareres
Berichtswesen vorgesehen werden, um den Prozess verständlicher zu gestalten.
Wenn man diese weiter gefassten Ziele vor Augen hat, so können die Bedenken
wegen der angeblich Starrheit des Stabilitäts- und Wachstumspakts nicht isoliert
angegangen werden, sondern müssen in eine kohärente Strategie zur Erneuerung
der Lissabonner Strategie eingebettet sein. Es gibt zahlreiche, gut begründete
Forderungen nach Reformen, jedoch nur im Zusammenhang mit unseren langfristigen
Zielen kann ein dauerhaftes Engagement zugunsten bedeutender wirtschaftlicher
Reformen garantiert werden. In den Schlüsselsektoren sollten Forschung und
Innovation gefördert werden. Die Wirtschaft von Heute braucht kostspielige, langfristige
Investitionen, die Europa tätigen muss. Unsere Konzentration auf Arbeitsplätze
und Wachstum bliebe rein rhetorisch, würde sie nicht durch konkrete Bemühungen
um Investitionen in den Bereichen, die das Rad antreiben und die Grundlage hierfür
bilden, untermauert. Daher stehen Forschung und Entwicklung ganz oben auf
der Liste. Die Mitgliedstaaten sollten mehr Mittel für die Forschung vorsehen, da diese
für die Art einer gerechten und integrativen Gesellschaft, die wir schaffen möchten,
nach wie vor zu gering sind. Auch die Dienstleistungsmärkte können einen wertvollen
Beitrag zur Ankurbelung von Beschäftigung und Wachstum leisten: Sie sollten
zu einem wichtigeren Bestandteil unseres Binnenmarktes werden.
Seiner Geschichte folgend, darf sich das heutige Europa nicht von seiner Berufung
zurückziehen, die Kluft zwischen den armen und den reichen Teilen seines
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JOSÉ MANUEL BARROSO
Hoheitsgebietes zu verkleinern, und sollte daher seine Verpflichtung zur Erreichung
von Solidarität erneuern. Neue Maßnahmen zur Kohäsionspolitik dürften besser
geeignet sein, um das Wachstum zu fördern und gleichzeitig den benachteiligten
Gebieten und Gruppen zu helfen. Diese Bemühungen sollten auch darauf ausgerichtet
werden, eine neue Sozialagenda zu unterstützen, so dass die wirtschaftliche
durch die soziale Solidarität ergänzt wird, auch zwischen den Generationen. Auch
der Schutz der Umwelt, der sorgfältige Umgang mit unserem Reichtum an Ressourcen
und die Erforschung der Möglichkeiten für alternative Energien tragen zum Aufbau
von Solidarität mit den neuen Generationen bei. Wachstum und Solidarität schließen
sich nicht gegenseitig aus: Wir versuchen, ersteres anzukurbeln, um Mittel zur
Finanzierung von letzterem zu gewinnen. Dies ist der Kern unseres Wirtschaftsmodells,
und wir müssen uns bemühen, seine Nachhaltigkeit zu gewährleisten. Solidarität
sollte aber nicht auf das Gebiet innerhalb unserer Grenzen beschränkt sein: Im
Rahmen einer neuen Migrationspolitik sollten wir nach Wegen suchen, um die
Lebensbedingungen von Zuwanderern zu verbessern, und gleichzeitig deren jeweilige
Rechte und Pflichten umreißen.
Auch die beispiellosen Ereignisse der vergangenen fünf Jahre schließlich haben
dazu beigetragen, dass das Erfordernis, die Sicherheit der Bürger zu garantieren, in
der Agenda der Union einen höheren Stellenwert erhalten muss. Die Aufhebung der
nationalen Grenzen in einer erweiterten EU hat unvermittelt neue Möglichkeiten für
Freizügigkeit, Verkehr und Austausch geschaffen. Dies hat wiederum rigorose
Maßnahmen zur Verhinderung und Bekämpfung des organisierten Verbrechens
erforderlich gemacht, wodurch unsere bestehenden Vorstellungen von Sicherheit und
Bedrohung erheblich verändert oder gar durch neue abgelöst wurden. Nur in einem
vollständig integrierten Raum der Freiheit, des Rechts und der Sicherheit können wir
auf die Herausforderungen dieser neuen Belange reagieren. In weiterem Sinne
müssen wir jedoch die sonstigen Bedrohungen der Sicherheit (Naturkatastrophen,
Krisen im Gesundheitswesen oder Gefährdungen der Energieversorgung) auch auf
europäischer Ebene angehen, da sich die Union in einer besseren Position befindet,
um Anstrengungen zu koordinieren und rasch zu reagieren.
Wenn man von Sicherheit spricht, ist es inzwischen auch überaus wichtig, dass
die Union ihre Aufmerksamkeit nicht auf das eigene Hoheitsgebiet beschränkt, sondern
ihre Bemühungen auch aktiv und stetig auf die übrige Welt richtet. Die Grenzen
innerhalb der EU existieren nicht mehr, aber auch ihre Außengrenzen büßen nach
und nach den größten Teil ihres Zwecks ein: Willkürliche gewählte Beispiele für dieses
wesentlich umfassendere Phänomen sind die Internationalisierung der
Volkswirtschaften und das Entstehen von Cybergesellschaften. Unter diesen
Umständen müssen die herkömmlichen Instrumente zur Überwachung von
Hoheitsgebieten einfach versagen, und die Vorstellung einer sich selbst genügenden
Insel des Friedens ist nur ein Wunschtraum. Internationales Engagement im Rahmen
einer multilateralen Strategie und getreu dem Mandat der Vereinten Nationen – das
ist der richtige Weg für Europa, um seine Meinung und sein Gewicht geltend zu
machen. Ich habe mit Freude zur Kenntnis genommen, dass sich in unseren
Beziehungen zu den Vereinigten Staaten von Amerika seit Beginn des Jahres eine
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UNSERE VISION VON EUROPA
positivere Stimmung verbreitet: Die stärkere Orientierung an unseren gemeinsamen
Werten und die intensivere Zusammenarbeit bei der Verfolgung unserer jeweiligen
außenpolitischen Ziele sind notwendig, um das Beste aus unserer engen
Partnerschaft und gemeinsamen Vision zu machen. Es gibt keine Alternative: Für
uns beide bestehen die gleichen Gefahren, wir benötigen beide die Unterstützung
des anderen, wir erkennen beide den Nutzen unseres Bündnisses. Der Besuch des
amerikanischen Präsidenten George W. Bush symbolisiert einen Wendepunkt in
den transatlantischen Beziehungen.
Wegen unseres Ansehen und unserer Position in der Welt haben wir auch die
Aufgabe, unsere Sichtweise zu erweitern und aktiv zu werden, um unsere Vision
auch in anderen Gebieten dieses Planeten zu beschließen, darzulegen und umzusetzen.
Uns stehen multilaterale und bilaterale Kanäle zur Verfügung, um die nachhaltige
Entwicklung zu fördern, und wir sollten in unserem außenpolitischen Handeln
der Überzeugung folgen, dass nur aktives Engagement Sicherheit und Stabilität garantieren
kann. Afrika ist ein anschauliches Beispiel: Wie können wir seinen Niedergang
umkehren? Wie können wir unsere abgestimmten Bemühungen optimieren, um
seine Entwicklung voranzubringen? Und wie sieht es mit unserem langfristigen
Engagement für diesen Kontinent aus? Die gleichen Sorgen und Ziele gelten für eine
erfolgreiche Nachbarschaftspolitik: Nun, da die größte Erweiterung der Union
Wirklichkeit geworden ist, sollte das auswärtige Handeln Europas zum Ziel haben,
die Beziehungen zu unseren Nachbarn zu intensivieren und zu konsolidieren.
Darüber hinaus hat die kürzliche Tsunami-Katastrophe ganz deutlich die Vorteile
einer gemeinsamen Reaktion Europas gezeigt. Statt diesen Ansatz auf außergewöhnliche
Umstände und schwere Krisen zu beschränken, werden wir daran arbeiten,
diese Strategie zum Standardverfahren für alle internationalen Herausforderungen zu
machen, ob nun nie dagewesene Ereignisse oder alltägliches Geschehen. Abgesehen
vom Aspekt der Sicherheit ist es auch für den Handel von grundlegender Bedeutung,
wenn man Akteur auf der Weltbühne ist. Europa sollte erkennen, dass sein
Wettbewerbspotenzial die Nutzung der Gelegenheiten ermöglicht, die sich durch die
Globalisierung ergeben. Wir müssen unsere Vorzüge kennen und die internationale
Offenheit zu unseren Gunsten nutzen. Europas strategische Beziehungen zu den traditionellen
Handelspartnern sollten ausgebaut und bei neuen Partner entwickelt werden,
insbesondere auf dem asiatischen Markt.
Der Aufbau eines stärkeren und wohlhabenderen Europas geht jedoch über die
Notwendigkeit hinaus, sich in verschiedenen Bereichen mit mehr Entscheidungskraft
und größerer Abstimmung einzubringen. Er verlangt auch eine bessere Methodik.
Zwar hat man in den letzten zehn Jahren sehr viel unternommen, um eine bessere
Transparenz herzustellen, doch das reicht noch nicht aus, um den politischen
Prozess in jeder Hinsicht verständlich zu machen. Abgesehen von der zwingend erforderlichen
Vereinfachung, zu der die neue Verfassung erheblich beitragen wird, gibt
es nach wie vor zu viele Verfahren und Einrichtungen, was die Rechenschaftspflicht
und die Nachprüfbarkeit durch die Öffentlichkeit erschwert. Wenn diese
Grundvoraussetzungen nicht gegeben sind, kann sich das Interesse der Bürger
Europas daran, zu verstehen, mitzuwirken und letztendlich zu entscheiden, wohl
39
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JOSÉ MANUEL BARROSO
kaum einstellen. Besser wäre es, die Kommunikationsstrategie so zu gestalten, dass
Europa auf der nationalen Ebene vermehrt in Erscheinung tritt, um so eine echte,
vielleicht auch kritische Debatte über das Handeln der Union zu fördern. Dabei
kommt den politischen Parteien Europas sicher eine führende Rolle zu, und wir
begrüßen die Bemühungen, die diese während der letzten Europawahlen unternahmen,
um ihre jeweilige Vision der Wählerschaft nahe zu bringen. Dieses Engagement
sollte beibehalten und während der gesamten Wahlperiode gefestigt werden.
Europa sollte auch seine Grenzen erkennen. Entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip
sollte Europa handeln, wenn seine Bemühungen einen Mehrwert für eine
alternative Maßnahme einer nationalen oder subnationalen Behörde bedeuten. Ist
diese Voraussetzung erfüllt, dann ist unser Eingreifen gerechtfertigt und willkommen;
andernfalls ist unser Handeln unangebracht und sollte systematisch unbeachtet
bleiben.
Die neue Verfassung, wenn und falls sie ratifiziert wird, wird dann noch deutlicher
machen, dass die Legimitation der Union auf ihren Mitgliedsaaten und ihren
Völkern beruht. Die Union respektiert die jeweilige nationale Souveränität und
erweitert daher die Zuständigkeiten der einzelnen Mitgliedstaaten wie auch die
Rechte und Pflichten ihrer Bürger.
Die Europäische Union des 21. Jahrhunderts ist eine Realität, die vor 50 Jahren
vielleicht niemand voraussehen konnte: 25, demnächst 27 oder 28 Länder, die wirklich
vereint sind und zusammenarbeiten! Die erweiterte Union wird großer
Koordinierungs-bemühungen und eines großen politischen Gewichts bedürfen,
um erfolgreich eine echte europäische Politik zu betreiben. Hierüber dürfen wir
jedoch auf gar keinen Fall vergessen, dass die Mitgliedstaaten der Union souveräne
Nationen sind. Wir müssen daher Vision, Ausgewogenheit und Realitätssinn
kombinieren. Die Tatsache, dass die meisten Dinge nicht auf europäischer Ebene
erledigt werden können und sollten, mindert nicht die Stärke der Union, im Gegenteil!
Betrachten wir zum Beispiel das zentrale Projekt, dass diese Kommission sich zu
Eigen gemacht hat: die Lissabon-Strategie wieder mit Leben zu erfüllen und zum
Erfolg zu führen. Wir haben uns weitgehend für einen Bottom-up-Ansatz entschieden,
und zwar einfach deshalb, weil der Löwenanteil dessen, was getan werden
muss, in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt. Dies zu ignorieren oder zu versuchen,
von oben herab Entscheidungen aufzuzwingen, die möglicherweise von
Land zu Land variieren müssen, und dann denen die Schuld zu geben, die sich
nicht an die vorgegebene Linie halten, kann nur zu Scheitern führen.
Wenn man diese Warnungen beachtet, ist Europe in der Lage, zu führen: Wir verfügen
über solide Grundlagen, um weltweit wirtschaftlich zu konkurrieren, wir
genießen einen Ruf, der uns in der Weltpolitik Respekt verschafft, und wir haben
einen Fahrplan aufgestellt, der unseren ehrgeizigen Zielen gerecht wird. Alles, was
wir brauchen, ist eine gemeinsame Strategie, ein gemeinsames Engagement zur
Verfolgung unserer gemeinsamen Ziele, und die feste Entschlossenheit, nicht zu
zögern und zu zaudern.
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März 2005
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Jacques BARROT
Vizepräsident der Europäischen Kommission
Auf dem Weg ins Jahr 2020: Wiederbelebung Europas
Für die europäischen Bürger stellt das Jahr 2005 in vielerlei Hinsicht einen entscheidenden
Wendepunkt dar. Im Jahr 2004 erfuhr die Europäische Union eine
nie dagewesene Erweiterung, so dass die Spaltungen des 20. Jahrhunderts der
Vergangenheit angehören. Die neuen, mit dem Vertrag von Nizza eingesetzten
Institutionen, eine neue Kommission mit 25 Mitgliedern, ein neues Europäisches
Parlament erfüllen diese neue Union der 25 im Alltag mit Leben. Des Weiteren
stellt die Europäische Verfassung die Erfüllung eines politischen Traums und
einen einmaligen Fortschritt dar und wird diesem erweiterten Europa ein neues
Gesicht geben: Zum ersten Mal geben sich auf ein und demselben Kontinent
Staaten unter Beibehaltung ihrer Souveränität eine gemeinsame Verfassung, die
für alle gilt, sowie gemeinsame politische Entscheidungsmechanismen und von
allen vertretene Werte. Inmitten der Kampagne für die Ratifizierung dieses grundlegenden
Textes werden die Vision und die Zukunft, die wir Europa geben wollen,
zu einer wichtigen Herausforderung. Eine der immer wiederkehrenden
Fragen ist die nach den Grenzen Europas: über die physischen Grenzen hinaus
gilt es das wieder zu finden, was den europäischen Traum, die europäische
Identität und die Zukunft, die wir ihr geben wollen, ausmacht.
Die äußersten Grenzen Europas
Die Frage, wo die äußersten Grenzen Europas liegen, ist nicht nur von der
Geografie her und auch nicht ausschließlich von der Identität her zu beantworten.
Natürlich stellt sich die Frage, welche Länder berufen sind, Teil Europas zu werden,
und welche nicht. Darüber hinaus sind die Grenzen aber auch zeitlich bedingt:
Sie haben mit der Zeit zu tun, die einerseits die Europäische Union für die
Vollendung ihres politischen Aufbauwerks braucht, und andererseits mit der Frist,
die die Kandidatenländer benötigen, um sich zufrieden stellend zu integrieren.
Die Definition der Grenzen Europas ist wesentlich für die Auffassung von
41
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 42
JACQUES BARROT
der europäischen Identität. Manche heben häufig den Charakter einer nicht greifbaren
Evidenz einer europäischen Identität hervor, die es erst zu schaffen gelte.
Ich glaube im Gegenteil dazu, dass diese Identität existiert, dass sie bereits in
den Anfängen der Europäischen Union präsent war: Die Erklärung zur europäischen
Identität, die die Mitgliedstaaten am 14. Dezember 1973 verabschiedet haben, formuliert
dies ganz klar. Dort heißt es, dass diese Vielfalt der Kulturen im Rahmen
ein und derselben europäischen Zivilisation, diese Verbundenheit zu gemeinsamen
Werten und Prinzipien, diese Annäherung der Lebensauffassungen, dieses
Bewusstsein, gemeinsam spezifische Interessen zu haben, und diese
Entschlossenheit, am europäischen Aufbauwerk mitzuwirken, den eigenständigen
Charakter und die Eigendynamik der europäischen Identität begründen. Die
Eigenständigkeit und die Einzigartigkeit der Europäischen Union beruht vor allem
auf diesem freiwilligen Bekenntnis zu einem politischen Ideal und einer
Wertegemeinschaft über die nationalen Identitäten hinaus. Dieser europäische
Wille stützt sich natürlich auf gemeinsame historische Fundamente: die Beiträge der
griechisch-römischen Zivilisation, die jüdischen und arabischen Einflüsse, das mittelalterliche
Christentum haben ein und denselben europäischen Raum geprägt. Die
Renaissance und der Humanismus, die Aufklärung waren Höhepunkte, zu denen
die Europäer sich bewusst waren, dass sie dieselben Hoffnungen, dieselben
Auseinandersetzungen, dieselben Bezugspunkte teilten. Galileo Galilei, Sokrates,
Leonardo da Vinci oder auch Erasmus sind Teil eines europäischen Gedächtnisses,
und ihre Forschungen, ihre Werke fanden Widerhall weit über ihre nationalen
Grenzen hinaus. Nicht zufällig wollte die Europäische Union in so ambitionierten
Vorhaben wie dem europäischen Satellitensystem Galileo, der Entwicklung
einer europäischen Studentengemeinschaft (Programm Sokrates/Erasmus) oder
der europäischen Berufsbildung (Leonardo Da Vinci) auf diese Weise jene großen
europäischen Persönlichkeiten ehren. Der Glaube an die Vernunft, der Wille,
die Menschenwürde in den Mittelpunkt der Politik zu rücken, sind große gemeinsame
Ideen aller Europäer, die es ermöglicht haben, demokratische Institutionen
aufzubauen, die Grundrechte und die Sicherheit jedes Einzelnen zu wahren. Und
die Verfassung mit der einbezogenen europäischen Charta der Grundrechte, die
allen gleiche politische und soziale Rechte garantiert, sowie die Erweiterung der
Befugnisse von Eurojust zeugen von dieser humanistischen Vision als Herzstück
der europäischen Dynamik.
Die Frage der Grenzen ist in diesem Zusammenhang von besonderer Brisanz.
Wenngleich die Dynamik und der Wille, bestehende Grenzen zu überwinden,
Bestandteil des europäischen Geistes sind, muss man sich doch Grenzen setzen,
um diese Energie vor Zersplitterung zu bewahren. Über das von der Verfassung
bewirkte Zusammenrücken um die Werte der Union hinaus muss man sich über
die tatsächlichen Motivationen jedes Einzelnen vergewissern. Alle Erweiterungen
in der Vergangenheit beweisen dies: Der Beitritt zur Europäischen Union bedeutete
stets sehr viel mehr als den Beitritt zum Binnenmarkt und das Aufholen wirtschaftlicher
Rückstände. Die Verabschiedung einer gemeinsamen Verfassung kon-
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AUF DEM WEG INS JAHR 2020: WIEDERBELEBUNG EUROPA'S
kretisiert den Traum von einem wirklichen politischen Europa, das von Anbeginn
des europäischen Aufbauwerkes an präsent war, und dieser grundlegende Text
hat einen wesentlich tieferen historischen Sinn als die bloße Marktöffnung. Es ist
sehr viel leichter, eine Freihandelszone oder eine Zollunion zu schaffen, als sich
über die Existenz von europäischen Küstenwachen oder eine europäische polizeiliche
Zusammenarbeit zu verständigen. Um des Gelingens des europäischen
Projekts willen muss man heute bei jeder Prüfung eines neuen Beitritts noch
mehr als in der Vergangenheit den daraus resultierenden Nutzen für die Union
insgesamt, der über die bloßen nationalen Interessen der ihr angehörenden
Länder hinausgeht, im Auge haben.
Die geografische Auffassung von den Grenzen der Europäischen Union muss
diese neuen Gegebenheiten berücksichtigen, die den Sinn des Beitritts beeinflussen.
Die Europäische Union muss dabei auf pragmatische Weise vorgehen. Die
Osterweiterung Europas würdigte die Wiedervereinigung und die Rückkehr der
einst von kommunistischen Regimes unterdrückten Länder zur Demokratie: Ost
und West können nun wieder in die gleiche Richtung blicken. Für künftige
Erweiterungen müssen in erster Linie Kriterien festgelegt werden, die es den neu
beitretenden Ländern ermöglichen, zu ermessen, was der Beitritt zu einer politischen
Union bedeutet, und die sämtliche rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen
Errungenschaften der Europäischen Union bewahren. Von lebenswichtiger
Bedeutung ist dabei, sich davon zu überzeugen, dass die Vision und der
Sinn, den man Europa geben möchte, von allen geteilt wird, um ein
Auseinanderplatzen und ein Scheitern zu vermeiden. Angesichts der Vielfalt der
Situationen und der Bestrebungen eines Jeden, scheint es mir zunehmend erforderlich
zu sein, dass man eine Antwort findet, die weniger einschneidend ist als
der volle und uneingeschränkte Beitritt oder seine Ablehnung, und dabei hat
der Verkehrssektor eine Rolle zu spielen.
Als Vizepräsident der Europäischen Kommission, der für den Verkehrsbereich
zuständig ist, möchte ich unterstreichen, welch hervorragendes Instrument der
Verkehrssektor für den europäischen Zusammenhalt darstellt. Die
Transeuropäischen Verkehrsnetze tragen, indem sie beispielsweise Lyon mit
Budapest und Ljubljana verbinden, zu einer besseren Integration des europäischen
Raumes bei. Indem sie die Abstände verringern, helfen sie auch mit, die
„mentalen Barrieren“ zwischen den Europäern abzubauen. Die Errichtung dieser
Verkehrsnetze zur Anbindung der Nachbarländer erleichtert auch den Zugang
der Europäer zu diesen Märkten und lässt diese Länder von der
Anziehungswirkung der europäischen Wirtschaft profitieren. Gute Verkehrsverbindungen,
Handelsaustausch und eine entsprechende Nachbarschaftspolitik
können diesen benachbarten Ländern, die von den positiven Auswirkungen des
europäischen Aufbauwerks profitieren wollen, ohne sich auf das mit dem Beitritt
verbundene politische Projekt einlassen zu wollen, eine Perspektive bieten.
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Gegen ein altes Europa: Streben nach Wettbewerbsfähigkeit
Abgesehen von den Werten und der Ausrichtung, die wir Europa geben wollen,
kommt es darauf an, Europa zu einer Region der Innovation zu machen und
den künftigen Generationen die Mittel zu hinterlassen, um dies zu erreichen.
1. Die Strategie von Lissabon
JACQUES BARROT
Die Halbzeitüberprüfung der Strategie von Lissabon ist Teil dieses Konzepts. Im
März 2000 wurde mit der Strategie von Lissabon eine große Ambition verkündet:
Europa bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.
Fünf Jahre später sind die Ergebnisse nicht auf der Höhe dieses ehrgeizigen Ziels:
Im Jahr 2004 lag die Wachstumsrate des realen BIP in der EU-25 bei 2,3 %, gegenüber
4,4 % in den USA. Die Produktivität der Arbeitskräfte pro Arbeitsstunde ist in
Europa immer noch niedriger als in den USA: einem Indexwert von 100 in der EU-
15 steht ein Wert von 113,7 in den USA gegenüber. Zudem belaufen sich die europäischen
Ausgaben für Forschung und Entwicklung im Jahr 2003 für die EU-15 auf
kaum 2 % des BIP, gegenüber 2,7 % in den USA und 3 % in Japan.
Also machten sich eine bessere Abstufung der Prioritäten und eine rationellere
Gestaltung der Strategie von Lissabon erforderlich. Künftig kommt es darauf
an, ein vorrangiges Ziel festzulegen: mehr Wachstum und mehr qualifiziertere
Arbeitsplätze, um eine nachhaltigere Wettbewerbsfähigkeit unter Einbeziehung
der sozialen Dimension zu entwickeln. Die Wettbewerbsfähigkeit ist von einer
Fülle von Faktoren abhängig, deshalb sieht ein Aktionsplan etwa 200 konkrete
Aktionen in zehn Politikbereichen vor (Binnenmarkt, Öffnung der Märkte,
Rechtsvorschriften, Infrastruktur, Forschung, Industrie, Beschäftigung, berufliche
Bildung, allgemeine Bildung). Allerdings ist der Erfolg dieses für die europäische
Wirtschaft erforderlichen Programms aus meiner Sicht vor allem von drei Faktoren
abhängig.
Einer der wichtigsten Hebel sind Investitionen in Forschung und Entwicklung:
So hat sich die Union das Ziel gesetzt, den für diesen Bereich aufgewendeten
Anteil des BIP bis zum Jahr 2010 auf 3 % des europäischen BIP zu erhöhen.
Weitere Mittel zur Förderung der europäischen Forschung sind die Gründung
eines europäischen Instituts für Technologie und technologischer Plattformen
sowie die Bereitstellung von Kofinanzierungen der Union zur Entwicklung umweltfreundlicher
Technologien. Deshalb hat die Europäische Union weiterhin beschlossen,
eine Finanzierungsanstrengung im Rahmen des 6. Rahmenprogramms für
Forschung und Entwicklung (FTE-Rahmenprogramm) zu unternehmen, die sich auf
17,5 Mrd. Euro für den Zeitraum 2002-2006 beläuft. Schließlich hat die Kommission
im Rahmen der Finanziellen Vorausschau 2007-2013 ebenfalls 10 Milliarden jährlich
für Forschungszwecke beantragt.
Der Dienstleistungssektor, der 71 % der Bruttowertschöpfung und 69,2 % der
Beschäftigung der erweiterten Union ausmacht, ist der Sektor, der am meisten
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AUF DEM WEG INS JAHR 2020: WIEDERBELEBUNG EUROPA'S
Arbeitsplätze schafft und am besten geeignet ist, einen Beitrag gegen die
Arbeitslosigkeit zu leisten. Deshalb ist die Öffnung des Dienstleistungsmarktes
erforderlich: Sie wird es ermöglichen, dass der Dienstleistungsverkehr zunimmt, dass
die Verbreitung der Dienstleistungen erleichtert wird und dass Arbeitsplätze entstehen.
Allerdings verlangen einige Sektoren (Verkehr, audiovisueller Sektor,
Gesundheitsbereich) einen spezifischen Ansatz, und das Prinzip der Anwendung
des Rechts des Herkunftslandes darf nicht zu Sozialdumping und unlauterem
Wettbewerb führen. Schließlich gilt es, die Spezifik der Gemeinwohlverpflichtungen
zu berücksichtigen: Die Aufrechterhaltung eines Universaldienstes von hoher
Qualität und die Wahrung des sozialen und territorialen Zusammenhalts der erweiterten
Union sind wesentliche Ziele für ein Europa im Dienste der Bürger. Die
Strategie von Lissabon muss also eindeutig als die Herstellung eines Gleichgewichts
zwischen Marktöffnung und öffentlichen Dienstleistungen konzipiert werden.
Der Erfolg der Strategie von Lissabon und der damit verbundenen Maßnahmen
hängt nicht allein von den europäischen Institutionen ab, sondern von der
Mobilisierung aller. Einer der Gründe für das Ausbleiben des Erfolgs der Strategie
von Lissabon liegt in der unzureichenden Umsetzung der auf Gemeinschaftsebene
festgelegten Orientierung durch die nationalen Behörden. Erforderlich wären eine
echte Aneignung dieses Dokuments sowie eine Überwachung der Ergebnisse.
Von besonderem Nutzen wird ein Vergleich der Leistungen der Mitgliedstaaten
sein. Es geht nicht darum, abstrakte Ziele auf sehr unterschiedliche nationale
Situationen zu übertragen, sondern die Mitgliedstaaten in die Verantwortung zu nehmen,
indem sie aufgefordert werden, ihre Erfolge in einigen Schlüsselbereichen vorzustellen.
Dabei könnte es sich beispielsweise um die Schaffung von Arbeitsplätzen,
die FuE-Ausgaben oder die Investitionen in Infrastrukturen handeln. Voraussetzung
für die Aneignung durch die Mitgliedstaaten ist auch eine größere Einbeziehung
der nationalen Parlamente und der Gebietskörperschaften. Außerdem ist die
Einbeziehung der Zivilgesellschaft von Bedeutung. Unter diesem Blickwinkel stellt
die Jugend eine vorrangige Zielgruppe dar, vor allem die Frage des Eintritts in das
Erwerbsleben: Es sei daran erinnert, dass Ende 2004 in der EU-25 18,2 % der
Jugendlichen von Arbeitslosigkeit betroffen waren. Das von J. Figel’ vorgeschlagene
Instrument (eine Charta anstelle eines Pakts), bei dem alle Partner (Hochschulen,
Unternehmen usw.) in eine große europäische Initiative zugunsten der Jugend
eingebunden werden, wird die Eingliederung der Jugendlichen in den Arbeitsmarkt
fördern. Schließlich sollen die Unternehmen nicht nur die letztlich Begünstigten der
Strategie von Lissabon sein, sondern auch vollwertige Akteure. Es gilt, die Strategie
von Lissabon aus den Büros der Beamten herauszuholen und sie Sektor für Sektor
mit den Akteuren vor Ort zu konkretisieren. Das setzt voraus, dass regelmäßige
Treffen zwischen europäischen Institutionen, Mitgliedstaaten und Unternehmen
stattfinden, um Bilanz über den Fortgang der Projekte zu ziehen. Im Verkehrssektor
könnte ein solches Treffen die Form eines großen jährlichen Mobilitätsforums
haben.
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JACQUES BARROT
2. Der Verkehrssektor als wesentliches Element der Strategie von Lissabon
und der europäischen Wettbewerbsfähigkeit:
Während es immer dringlicher wird, die Union mit leistungsfähigen
Verkehrsinfrastrukturen auszustatten, um ihr Wachstumspotenzial zu entwickeln,
ist die Erfolgsbilanz des transeuropäischen Verkehrsnetzes in den letzten zehn
Jahren doch eher bescheiden. In zehn Jahren wurde nur ein Drittel der vorgesehenen
Investitionen realisiert. Das heißt, bei dem gegenwärtigen Tempo würde man
noch 20 Jahre brauchen, um diese Projekte abzuschließen. Die größten Rückstände
sind im Wesentlichen bei den grenzüberschreitenden Verbindungen zu verzeichnen,
was paradox ist, handelt es sich doch hierbei um die Streckenabschnitte mit
dem höchsten „europäischen Mehrwert“.
Diese Situation ist der Wettbewerbsfähigkeit der Union insgesamt sehr abträglich,
denn das Fortbestehen von Verkehrsengpässen und fehlenden
Verbindungsstücken auf den wichtigsten transeuropäischen Strecken bringt hohe
staubedingte Kosten mit sich, abgesehen von den Kosten infolge der
Umweltverschmutzung und der Unfälle als Begleiterscheinungen. Im Jahr 2020
werden die staubedingten Kosten sich auf ca. 1 % des Gemeinschafts-BIP belaufen.
Nach Studien der Kommission würde die Realisierung des Transeuropäischen
Verkehrsnetzes es ermöglichen einen Wachstumszuwachs von ca. 0,2 bis 0,3
Prozentpunkten des Bruttoinlandsprodukt zu erreichen, was einem Potenzial von
einer Million neu geschaffenen ständigen Arbeitsplätzen entspräche. Darüber
hinaus würde die Realisierung des TEN eine Verringerung der Treibhausgasemissionen
von etwa 4 % ermöglichen, womit die Union den Zielen des Kyoto-Protokolls
näher käme.
Vor nunmehr zehn Jahren haben wir die Barrieren für den freien Personen- und
Güterverkehr aus dem Wege geräumt. Durch unser fehlendes Engagement und den
fehlenden politischen Willen, unsere Union mit den unerlässlichen
Verkehrsinfrastrukturen auszustatten, schaffen wir nicht nur neue physische
Barrieren, sondern untergraben vor allem die Fundamente des Wachstums und
der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union, die wir aufzubauen versuchen.
Die Anstrengungen, die in anderen Bereichen unternommen werden, um den
Lissabon-Prozess wieder in Gang zu bringen, werden nur Sinn haben, wenn die
betroffenen Akteure sich mutig zu ihren Ambitionen bekennen und die Union
mit den für ihre Weiterentwicklung erforderlichen Infrastrukturen ausstatten.
Um mit den unendlichen Listen unausgeführter Projekte Schluss zu machen, sehe
ich konkret fünf Bedingungen, die es zu erfüllen gilt, wenn wir unsere Ambitionen
im Bereich der Verkehrsinfrastrukturen realisieren wollen. Erstens gilt es die
Mittelausstattung des TEN-Haushalts in Höhe von 20,3 Mrd. Euro für sieben Jahre
einzuhalten, die von der Kommission vorgeschlagen und durch das Europäische
Parlament unterstützt wurde. Es sei daran erinnert, dass aus diesem Haushalt ehrgeizige
Projekte finanziert werden, wie SESAM oder ERTMS, die es ermöglichen
werden, Engpässe im Luftraum und auf der Schiene zu bekämpfen und die damit
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AUF DEM WEG INS JAHR 2020: WIEDERBELEBUNG EUROPA'S
verbundenen Verluste an Wettbewerbsfähigkeit zu verringern. Ebenso wird Galileo
mit der Entwicklung eines unabhängigen europäischen Satellitennavigationssystems
Zeugnis von der Exzellenz der europäischen Forschung ablegen. Für dieses
Satellitenpositionierungssystem wird es verschiedene Anwendungen geben, die
allen zugute kommen: Galileo wird die Entwicklung des intelligenten
Straßenverkehrs deutlich beschleunigen und durch eine bessere Lokalisierung ein
effizienteres Verkehrsmanagement auch im Luft- und Eisenbahnverkehr ermöglichen.
Bei einer Verringerung der von der Kommission geforderten Haushaltsmittel
werden solche Entwicklungen unmöglich sein. Die zweite Bedingung ist, dass
rasch eine Einigung über die Überarbeitung der Richtlinie „Eurovignette“ erzielt wird.
So würde beispielsweise die Genehmigung einer Erhöhung der Mautgebühren
auf den Alpenautobahnen um mindestens 25 % zusätzliche Einnahmen ermöglichen,
um beispielsweise die Finanzierung der Tunnel am Mont Cenis und am
Brenner abzudecken. Die dritte Bedingung ist die Koordinierung der Durchführung
der vorrangigen Projekte. Folglich werde ich in Kürze der Kommission vorschlagen,
sechs „europäische Koordinatoren“ mit anerkanntem Gewicht und anerkannten
Kompetenzen für sechs grenzüberschreitende prioritäre Projekte zu
benennen. Die vierte Bedingung ist die Entwicklung von innovativen
Finanzierungsinstrumenten und Finanzkonstruktionen von der Art „Öffentlichprivate
Partnerschaft“: Die Kommission (mein Kollege Joaquín Almunia und ich
selbst haben intensiv daran gearbeitet) wird im Laufe des Monats März die Schaffung
eines Garantieinstruments vorschlagen, das aus Mitteln des europäischen TEN-
Haushalts für den Zeitraum 2007-2013 finanziert wird und dazu bestimmt ist, die
Risiken abzudecken, die in den ersten Jahren nach Inbetriebnahme der
Infrastrukturen bestehen. Schließlich gehört zum Verkehrssektor wie zu jeder anderen
Gemeinschaftspolitik, dass die Mitgliedstaaten ihre finanziellen Verpflichtungen
einhalten. Der europäische Haushalt ist nicht die einzige Quelle zur Finanzierung
des transeuropäischen Verkehrsnetzes und darf auf keinen Fall an die Stelle der
finanziellen Anstrengungen der betroffenen Mitgliedstaaten treten, die eine unerlässliche
Voraussetzung für die Freigabe der europäischen Mittel sind. Ich bin ein
strenger Finanzverwalter. Nur ausgereifte Projekte, für die die Mitgliedstaaten ihr
entschlossenes Engagement zur Realisierung der Infrastruktur bis 2020 beweisen,
können Mittelzuweisungen aus dem TEN-Haushalt erhalten.
3. Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts:
Die Erneuerung der Strategie von Lissabon und die Entwicklung des
Verkehrswesens schließt die Festlegung eines wachstumsfreundlicheren Rahmens für
die Haushaltsdisziplin ein, ohne die Währungsstabilität der Union in Frage zu stellen.
So geht es bei der Debatte über die Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts
nicht nur darum, sich arithmetischen Kriterien anzupassen, sondern einen Weg zu
finden, um die Früchte des Wachstums besser zur Vorbereitung der Zukunft zu nutzen,
um in Zeiten der Flaute über Handlungsspielräume zu verfügen und den künftigen
Generationen gesunde öffentliche Finanzen zu hinterlassen.
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Der derzeitige Zustand der europäischen öffentlichen Finanzen ist weit entfernt
von den Zielen, die bei der Annahme der einheitlichen Währung im Vertrag
von Maastricht festgelegt wurden: Die öffentliche Verschuldung lag im Jahr 2003
bei 63,3 % des BIP in der EU-25 und 64,3 % des BIP in der EU-15. In der Eurozone
war das Schuldenniveau mit 70,7 % noch besorgniserregender, obwohl es sich
doch dabei um die Länder handelt, die das größte Interesse daran haben, den
Stabilitäts- und Wachstumspakt als Garanten für die Stabilität ihrer Währung einzuhalten.
Die Lage verschlechtert sich aber weiter mit einem durchschnittlichen
Defizit von – 2,7 % in der Eurozone und – 2,8 % in der EU-25.
Die Änderung der Anwendungsmodalitäten des Pakts müsste also mehr
Flexibilität in Krisenzeiten ermöglichen und zugleich die Mitgliedstaaten dazu
anhalten, in Zeiten des Wachstums ihre Schulden abzubauen und ihre öffentlichen
Finanzen zu sanieren. Nur unter dieser Voraussetzung können wir den künftigen
Generationen mit Blick auf das Jahr 2010 die finanziellen Mittel hinterlassen,
die es ihnen erlauben, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und eine
langfristige Stabilität des Euro zu sichern.
Der Platz Europas in der Welt
JACQUES BARROT
Auf dem internen Markt wettbewerbsfähig zu sein, wird den europäischen
Bürgern mehr Wachstum und mehr Arbeitsplätze bringen, zugleich aber Europa
dabei helfen, sich auf internationaler Ebene zu behaupten.
Die europäischen Handelserfolge sind die erste Illustration der Vorteile Europas.
Als erste Handelsmacht in der Welt mit etwa 20 % des Welthandels und weltweit
wichtigster Exporteur von Dienstleistungen (mit 324 Mrd. Euro im Jahr 2002, das
sind 25,8 % der Exporte weltweit) konnte die Europäische Union den Nachweis
erbringen, dass die Methode, die darin bestand, sich zusammenzuschließen, um
eine gemeinsame Handelspolitik zu betreiben und die Märkte zu öffnen, sich
bewährt hat. Das Vorgehen der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten
innerhalb der Welthandelsorganisation und die bilateralen Abkommen zwischen
der Europäischen Union und anderen Ländern (USA, Kanada usw.) sowie regionalen
Zonen (Mittelmeerländer, Asien, Golfstaaten, AKP-Länder) kam den europäischen
Exporten in hohem Maße zugute. Bis 2010 besteht eine der Ambitionen
darin, es den Europäern zu ermöglichen, dass sie weiterhin von den Vorteilen der
Liberalisierung des Handels dank der Fortsetzung der multilateralen Verhandlungen
innerhalb der Welthandelsorganisation profitieren. Der Erfolg der bilateralen
Abkommen im Verkehrsbereich ist Teil dieser Entwicklung: Die Wiederbelebung
der „Open Sky “-Luftverkehrsabkommen mit den USA, China und Russland wird es
den europäischen Fluggesellschaften ermöglichen, Aktivitäten auf diesen Märkten
zu entwickeln und besser von den weltweiten Auswirkungen der Zunahme des
Handels zu profitieren.
Wenn auch die Marktöffnung positive Auswirkungen hat, so erfordern doch
bestimmte Sektoren, vor allem der Kultur- und der Gesundheitsbereich, einen
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AUF DEM WEG INS JAHR 2020: WIEDERBELEBUNG EUROPA'S
spezifischen Ansatz. Dies findet Berücksichtigung im Allgemeinen Übereinkommen
über den Handel mit Dienstleistungen (GATS), das auf der Ebene der
Welthandelsorganisation ausgehandelt wurde. Solidarität muss auch künftig
Bestandteil der Handelspolitik bleiben: Die Abkommen von Cotonou vom 23.
Juni 2000 und das Allgemeine Präferenzsystem symbolisieren diese gegenseitige
Hilfe gegenüber Ländern mit geringem Einkommen.
Die Europäische Union ist bereits heute ein wichtiger Akteur im Bereich der
Entwicklung. Im Jahr 2001/2002 machte die von den Mitgliedstaaten und der
Europäischen Kommission aufgebrachte öffentliche Entwicklungshilfe 19.143 Mio.
Dollar aus, davon stammten 5.213 Mio. Dollar von der Europäischen Kommission.
In 20 Ländern (darunter Afghanistan, Elfenbeinküste, Burundi, Ruanda, Osttimor)
macht die europäische Hilfe mehr als 50 % der insgesamt geleisteten Hilfe aus. Im
humanitären Bereich hat das europäische Amt für humanitäre Hilfe, ECHO, im
Jahr 2004 mehr als 570 Mio. Euro zur Verfügung gestellt, sei es als Hilfe für Länder
nach Konflikten, Flüchtlingshilfe oder Hilfe nach Naturkatastrophen. Diese
Antworten müssen noch vertieft werden, vor allem im Lichte der dramatischen
Ereignisse in Südostasien, um eine reaktionsschnellere Hilfe und eine bessere
Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten zu erreichen. Dieses Vorgehen muss
mit den bestehenden internationalen Institutionen (Vereinte Nationen, Institutionen
von Bretton Woods) koordiniert werden, innerhalb derer, wann immer möglich,
eine bessere Konzertierung zwischen den Mitgliedstaaten anzustreben ist.
Die Europäische Union könnte sich auch stärker in die Lösung bestimmter
Konflikte einbringen und nach außen das Friedensmodell propagieren, das zu
erreichen ihr im Innern gelungen ist. Operationen wie Artemis in der
Demokratischen Republik Kongo, EUFOR (Althea) in Bosnien und Herzegowina,
EUPOL-Kinshasa, Concordia in Mazedonien sind europäische Beiträge zur Erhaltung
des Friedens, die vertieft und auf andere Teile der Welt ausgeweitet werden sollten.
Solche Aktionen werden durch die Europäische Verfassung beträchtlich erleichtert
werden, die einen europäischen Außenminister einsetzen und die Fälle erweitern
wird, in denen die Europäische Union militärisch intervenieren kann, und
die mittelfristig die Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Verteidigung
vorsieht, sobald der Europäische Rat dies beschlossen hat.
Schließlich muss die Europäische Union sich bis zum Jahr 2010 um ausgewogenere
Beziehungen zu den USA auf dem Gebiet der Außenpolitik bemühen. Der
Europabesuch von Präsident George W. Bush kann aus dieser Sicht die erste
Etappe einer Annäherung und gemeinsamer Überlegungen zu bestimmten Fragen
darstellen. Die Wiederaufnahme der „Open Sky “-Verhandlungen wird ein erster
konkreter Ausdruck dieser neuen Beziehung im Bereich des Luftverkehrs sein.
Wenngleich die europäische Identität an die Grenzen gebunden ist, die Europa
sich geben wird, so hängt sie doch vor allem von dem Gesicht ab, das wir Europäer
dem Europa von morgen geben wollen: das Gesicht eines wettbewerbsfähigen
und ambitionierten Europas, das das Potenzial und die Kreativität der Jugend nutzbar
macht, und eines Europas, das seinen Platz nach außen stärker behauptet,
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JACQUES BARROT
nämlich den eines Kontinents, dem es nach Jahrhunderten von Bruderkriegen
gelungen ist, Frieden zu erlangen und ein in der Welt einzigartiges politisches
Projekt zu entwickeln.
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Februar 2005
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 51
Simon BUSUTTIL
Leiter der maltesischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Europas Zukunft gestalten
Von der Vergangenheit zu reden ist leicht, weil viel über sie bekannt ist. Sich
die Zukunft vorzustellen ist schwierig, hier ist alles unbekannt. Dennoch haben
Zukunftsvisionen in der Politik – und nicht zuletzt in der Geschichte der europäischen
Einheit – stets eine wichtige Rolle gespielt. Die Schuman-Erklärung war
eine solche Zukunftsvision: Ihre unmittelbaren Aufgaben waren leicht zu verstehen.
Ihr längerfristiges Ziel, die Erreichung einer Europäischen Föderation,
war nur in Umrissen in weiter Ferne auszumachen. Und doch sind mit ihrer Hilfe
Entwicklungen in Gang gesetzt und der Lauf der Dinge beeinflusst worden.
Da wir nichts Genaues über die Zukunft wissen, können wir uns ihr nur
anhand gegenwärtiger Trends nähern. Und doch ist Nachdenken über die Zukunft
kein utopisches Ausweichen vor drängenden Problemen der Gegenwart. Es ist
vielmehr die nützliche Kunst, zu versuchen, den Gang künftiger Entwicklungen
zu beeinflussen, soweit uns dies möglich ist, denn Überraschungen und ungeplante
Ereignisse wird es immer geben. Zugleich ist es eine Möglichkeit, gegenwärtigen
Schwierigkeiten Alternativen gegenüberzustellen. Letzten Endes ist es ein
kreativer Akt. Aber trotz der vielen Vorteile ist der Blick in die Zukunft nicht sehr
beliebt bei Politikern, die ihre Tätigkeit oft im Bismarckschen Sinne als „Kunst des
Möglichen“ verstehen. Diese Haltung verrät natürlich Anpassung an das Gegebene
und Scheu vor Veränderung. Ich möchte deshalb den Förderern dieses Buches
danken, die mir Gelegenheit geben, an diesem fantasievollen Projekt mitzuwirken,
das versucht, ein Bild von der Zukunft zu malen.
Die Diskussion „einer Vision für Europa 2020“ erfordert eine Definition von
Europa und seinen äußersten Grenzen. Bis zum Jahr 2020 wird die EU aller
Wahrscheinlichkeit nach bereits die Türkei und die Ukraine und vielleicht noch
weitere Staaten aufgenommen haben. Die Grenzen Europas zu diskutieren ist
weder leicht noch eindeutig. Wo man die europäische Grenze auch zieht, es
wird immer willkürlich sein und nie wird man es allen Recht machen können.
Wenn wir Europa jedoch anhand von Geografie, Kultur und seinen Grundwerten
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SIMON BUSUTTIL
definieren, gelingt es uns schon, eine bessere Vorstellung von Europa zu entwickeln,
wohl wissend, dass die „idealen“ Grenzen Europas stets unklar bleiben werden.
Ich stimme zu, dass die EU an einem gewissen Punkt zu wachsen aufhören
und sich festigen muss. Aufgrund seiner territorialen Ausdehnung und Vielfalt
besteht bereits jetzt die Gefahr, dass Probleme von „Gigantismus“ auftreten, nämlich
viele Bürger das Gefühl haben, sich weit weg vom Zentrum der Ereignisse
zu befinden, und bei der Anbindung der entlegensten Ecken an jene Orte, an
denen Entscheidungen getroffen werden, Kommunikationsprobleme auftreten. Von
daher würde ich die Vermutung wagen, falls und wenn es der EU gelungen sein
wird, die Türkei und die Ukraine sowie vielleicht einige kleinere Staaten einzugliedern,
wozu Länder wie die Moldau und Belarus im Osten, Island und
Norwegen im Norden gehören könnten, hätte sie ihre Möglichkeiten weitestgehend
ausgeschöpft. Alles darüber hinaus würde die Gefahr des Zerfalls in sich
bergen. Wichtig für die Stärkung des Zusammenhalts der Union sind nicht die physischen
Grenzen, sondern vielmehr die Grundwerte Demokratie, Menschenrechte
und Rechtsstaatlichkeit sowie eine gemeinsame Vision von der Rolle der EU in
der Welt, die als gemeinsames Band die unterschiedlichen Mitgliedstaaten zusammenhalten.
Ein solches Europa könnte der Kernpunkt eines „Großeuropa“ werden,
das Russland als Partner ebenso einschließt wie andere benachbarte Staaten.
Es wird auch Brennpunkt einer stärkeren Partnerschaft im Mittelmeerraum sein.
In fünfzehn Jahren wird sich die europäische Landschaft erheblich verändert
haben. Die EU wird aller Wahrscheinlichkeit nach gewachsen sein. Ich nehme an,
dass die „Wissensgesellschaft“ bis dahin konkrete Gestalt angenommen haben
wird. Das Rätsel der europäischen Wettbewerbsfähigkeit ist bis dahin zufrieden
stellend gelöst. In Verbindung mit einer sichereren Umwelt und entsprechenden
Verbesserungen im Gesundheitswesen würde dies die Voraussetzungen für eine
spürbar höhere Lebensqualität der Mehrheit der Bürger Europas schaffen.
Soziologisch betrachtet wird sich Europa ebenfalls verändert haben: Seine
Bevölkerung ist gealtert. Wenn wir die gegenwärtige Geschwindigkeit des technologischen
Wandels zugrunde legen, steht zu erwarten, dass sich auch die
Lebensweise drastisch verändert haben wird.
Es wäre jedoch falsch, Europas materiellen Fortschritt als vorherbestimmte
lineare Entwicklung zu betrachten. So liegen die Dinge nicht, und die Gefahr
eines Rückschlags ist immer gegeben. Politiken können misslingen, das passiert
sogar recht häufig, und wenn wir uns zu ehrgeizige Ziele setzen, riskieren wir,
diese nicht zu erreichen. Deshalb müssen sie ständig überprüft werden.
Europa expandiert und arbeitet daran, seinen inneren Zusammenhalt zu stärken;
daher besteht immer die Gefahr, dass es zu sehr mit sich selbst beschäftigt
ist und nur nach innen schaut. Um dieser Gefahr entgegenzusteuern, hat die EU
ihre Nachbarschaftspolitik ins Leben gerufen, die zwar noch ganz am Anfang
steht, aber trotzdem in den unmittelbaren Nachbarstaaten der Union auf großes
Interesse stößt.
In einer globalen Welt wie der unseren wäre es jedoch kurzsichtig, nicht über
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EUROPAS ZUKUNFT GESTALTEN
die unmittelbare Nachbarschaft hinauszublicken. Tatsächlich haben weitaus mehr
verhängnisvolle Risiken für die Stabilität der Union ihren Ursprung jenseits dieser
Nachbarstaaten. Die Union muss hierauf reagieren, vielleicht mit mehr
Nachdruck als bisher.
Die von jenseits unserer europäischen Nachbarn ausgehenden Herausforderungen
sind bedrohlich, weil technischer Fortschritt und die Revolution in der
Telekommunikation die Entfernungen verringert haben.
Zu den größten Herausforderungen gehören meiner Ansicht nach:
Erstens, die Ziele der Millenniumserklärung. Immer wieder wird beklagt, sie
würden nicht erreicht. Es wurden Schritte eingeleitet, das Problem der globalen
Erwärmung anzugehen, aber das Kyoto-Protokoll kratzt nur ein wenig an der
Oberfläche. Es wäre schlecht, wenn es Zufriedenheit statt erneuter Anstrengungen
nach sich zöge, der globalen Erwärmung Einhalt zu gebieten. Ich bin sicher,
dass die globale Erwärmung auch in fünfzehn Jahren noch ein Thema sein wird.
Dann ist da die Gefahr einer HIV-Pandemie: Die UNO möchte, dass in diesem
Jahr 10 Milliarden und im kommenden Jahr 15 Milliarden Dollar zur
Bekämpfung dieser Krankheit ausgegeben werden. Man schätzt jedoch, dass es
im laufenden Jahr nur etwa 4,7 Milliarden Dollar sein werden. Da sich Europa auf
weitere Erleichterungen bei Flugreisen einstellt und dies für die nächsten beiden
Jahrzehnte kennzeichnend sein wird, muss es sich selbst noch besser auf die
Abwehr der damit einhergehenden Gefahren wie einer eventuellen Zunahme
übertragbarer Krankheiten vorbereiten, wie der jüngste Ausbruch der asiatischen
Geflügelpest zeigte.
Wir können das Schuldenproblem nicht ignorieren: Die 38 am stärksten verschuldeten
Länder schulden ihre Rückzahlungen nicht anderen Staaten, sondern
multilateralen Organisationen wie der Weltbank und dem Internationalen
Währungsfonds. Dieses Jahr haben die G-7 einen Schuldenerlass zugesagt – wir
müssen dafür sorgen, dass dieser auch eintritt. Der Schuldenerlass ist nur Teil der
Gleichung, es müssen Entwicklungsressourcen mobilisiert werden, um diesen
Ländern zu Wachstum zu verhelfen. Auch die drängenden Fragen von Demokratie
und verantwortungsvoller Staatsführung sind für die Verbesserung der
Entwicklungsaussichten unverzichtbar. Das Analphabetentum in den
Entwicklungsländern muss bekämpft und die Anstrengungen zur Überwindung der
Zweiteilung der Welt hinsichtlich der Beherrschung der Informationstechnologien
müssen verdoppelt werden. Ebenso wichtig ist es, dafür zu sorgen, dass
Regierungen die Bodenschätze ihres Landes zum Wohle ihrer Bürger einsetzen –
hierbei denke ich insbesondere an Rohölprodukte in Afrika – und die so gewonnenen
Einnahmen nicht in dubiosen Projekten verschwenden, wenn nicht gar
durch blanke Korruption einbüßen. Die moderne Technik rückt all diese Aufgaben
in den Bereich des Möglichen.
Sie fragen sich vielleicht, warum die EU hier Verantwortung übernehmen soll.
Ich möchte betonen, dass all diese Probleme die hierfür zur Verfügung stehenden
Ressourcen der EU übersteigen. Die EU muss ferner alles vermeiden,
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SIMON BUSUTTIL
was den Anschein erweckt, sie verstünde sich als „Heilsbringerin“ oder wolle
versuchen, Dinge im Alleingang zu tun. In vielen Fällen ist ihr eigenes gutes
Beispiel, nämlich Friede, Wohlstand und Stabilität auf dem europäischen Kontinent,
wirksamer als alle diplomatischen Vertretungen und Demarchen. Ein Rückzug
von der Welt in Isolationismus, wenn er denn möglich wäre, kommt für die EU
nicht in Betracht.
Zum Glück denkt auch niemand daran.
Die EU erkennt, dass die Erweiterung ihr neue Fähigkeiten verliehen hat,
und damit einhergehend eine neue Rolle. Diese Rolle muss verantwortungsvoll
ausgefüllt werden. Ein kurzer Ausflug in die Welt der internationalen Beziehungen
in fünfzehn Jahren macht deutlich, was ich meine:
Die EU wird einer von vielleicht nicht mehr als sechs Akteuren sein, die weltweit
eine Rolle spielen können. Dazu werden die USA und Nordamerika, China,
Indien, Japan und eventuell eine Gemeinschaft lateinamerikanischer Staaten
gehören. Wenn sich die Zahl der Akteure, die tatsächlich Einfluss nehmen können,
so drastisch verringert, müsste es theoretisch leichter sein, weltweite Fragen
gemeinsam anzugehen. Doch es werden neue Konflikte und Gefahren auftauchen.
Es wird ein Wettlauf um Märkte und die immer knapper werdenden materiellen
Ressourcen und Energievorräte einsetzen, um schnelles Wirtschaftswachstum
voranzutreiben. Man muss nur einige der jüngsten Entwicklungen nehmen, um
nahe liegende Schlussfolgerungen ziehen zu können: Die erfreuliche dynamische
Entwicklung in Regionen außerhalb Europas und Nordamerikas, insbesondere
in Asien, hat auch eine Kehrseite, nämlich die gestiegene Nachfrage nach
Rohöl sowie Preiserhöhungen, was die Ökonomien destabilisiert. Außerdem hat
eine weltweite Verlagerung der Produktion nach Asien stattgefunden, was die
wirtschaftliche Situation anderer Regionen beeinträchtigt. Tatsächlich könnte der
Kampf um die knappen ökonomischen Ressourcen – mehr noch als der Kampf
der Kulturen – internationale Turbulenzen nach sich ziehen, weshalb multilaterale
Institutionen natürlich nach Wegen zur friedlichen Lösung solcher Konflikte
suchen.
Deshalb sind Überlegungen, wie in den nächsten fünfzehn Jahren in den
Entwicklungsländern verantwortungsvolle Staatsführung erreicht und die hierzu
erforderlichen Institutionen aufgebaut werden können, keinesfalls von weit hergeholt,
sondern dringend geboten. Auch auf die Gefahr hin, dass man mir vorwirft,
neuen Imperialismus zu schüren – die Schaffung von Institutionen für weltweite
verantwortungsvolle Staatsführung in so vielen Bereichen kommt praktisch
der Errichtung eines „globalen Staates“ gleich, was Fragen aufwirft und heftige
Gefühle auslöst. Natürlich stellt die Verwendung des Begriffs „Staat“ hier nur eine
Annäherung dar, weil es ein treffenderes Wort noch nicht gibt. Beim Aufbau weltweiter
Institutionen hat Europa anderen Staaten eine Menge zu bieten. Die EU
als Union von Staaten mit dynamischen und immer effektiveren Institutionen –
die unablässig nach Konsens streben – eignet sich gut als Vorbild für die Schaffung
ähnlicher Einrichtungen auf regionaler Ebene, die lokale Bedingungen und glo-
54
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EUROPAS ZUKUNFT GESTALTEN
bale Institutionen gleichermaßen berücksichtigen. Die nach dem Zweiten Weltkrieg
entstandenen internationalen Organisationen sind für die internationale
Gemeinschaft hilfreich gewesen, sie sind jedoch nicht in der Lage, den
Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Die Institutionen der EU, die
die Zusammenarbeit auf zwischenstaatlicher Ebene durch überstaatliche
Institutionen ergänzen, wozu ein Gerichtshof und ein direkt gewähltes Parlament
ebenso gehören wie gemeinsame Rechtsvorschriften aller Mitgliedstaaten, bieten
ein sowohl einzigartiges als auch solides Vorbild, das in abgeänderter Form
die Sache der verantwortungsvollen Staatsführung weltweit voranbringen könnte.
Eine Reform des Systems der Vereinten Nationen muss deshalb versuchen, über
die Entscheidung, welche Länder einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat haben
sollten, hinauszugehen und einen ganzheitlicheren Blick auf die vielen Agenturen
und Organisationen zu entwickeln, die eingerichtet wurden, um sich für ein
gemeinsames Ziel enger zusammenzuschließen.
Deshalb hilft die Aufgabe der Schaffung einer stärkeren und einheitlicheren
EU Europa bei seiner Vorbereitung auf eine Rolle in der Weltpolitik mit mehr
Durchsetzungsvermögen, wobei es den besten Beweis dafür liefert, dass freiwillige
Zusammenschlüsse von Staaten auf der Grundlage demokratischer Prinzipien
und gemeinsamer Ziele und Werte sowie von Rechtsstaatlichkeit die besten
Bedingungen für Frieden und Wohlstand schaffen. Die EU kann nur dann eine
entscheidende Rolle in internationalen Angelegenheiten spielen, wenn sie die
Herausforderungen und ihre Verantwortung erkennt, wenn es ihr gelingt, ihre
Einheit und ihren Zusammenhalt zu stärken und wenn sie entschlossen und
rechtzeitig handeln kann. Ich hoffe, die Ratifizierung des Entwurfs der Verfassung
für Europa wird den notwendigen Rahmen für rechtzeitige Entscheidungen schaffen.
Deshalb hat die kurzfristige Priorität der Gewährleistung ihrer Ratifizierung
für uns mehr als nur lokale Bedeutung. Sie wird die Art der Rolle Europas in
der Welt bestimmen. Jedoch ist es für die Union auch wichtig, besser vorbereitet
zu sein, um auf internationaler Ebene mutigere und kreativere Entscheidungen
zu treffen.
Europas größte Stärke beruht zunächst einmal auf seiner grundlegenden
Entscheidung, Gewalt nicht als wichtigstes politisches Mittel einzusetzen. Weder
nutzt Europa regionale Rivalitäten aus noch schürt es lokale Konflikte, um zu
teilen und zu herrschen. Eine Politik der Machtbalance wird nicht angestrebt.
Stattdessen setzt Europa auf Wirtschaftshilfe, Zugang zu seinen Märkten, die
Bereitstellung von Fachwissen und den ständigen Dialog mit all seinen Nachbarn.
Wenn gegenübergestellt wird, was „gefällt“ und was „nicht gefällt“, wird der
Erfolg der EU vielfach mit demselben Maßstab gemessen wie der von
Nationalstaaten. So wird Europas Unentschlossenheit im Handeln beklagt, die
Tatsache, dass niemand für die EU insgesamt spricht sowie die Tendenz der
Mitgliedstaaten, in wichtigen Fragen viele unterschiedliche Meinungen zu vertreten.
Der Spruch, die Union sei „wirtschaftlich ein Riese, politisch hingegen
ein Zwerg“ scheint so einleuchtend, dass sich eine Diskussion darüber erübrigt.
55
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SIMON BUSUTTIL
Die Europäische Verfassung wird hoffentlich viele dieser Unzulänglichkeiten
beseitigen. Allerdings ist die EU weder daran interessiert eine Supermacht im
herkömmlichen Sinne zu sein, noch strebt sie nach Hegemonie, vielmehr geht es
ihr darum, den weltweiten Konsens zu befördern.
Die Welt kennt zahllose Beispiele für die Sinnlosigkeit von Krieg oder dem
Einsatz militärischer Mittel zur Beseitigung von – realem oder empfundenem –
Unrecht. Deutlich wurde dies im Irak, in Tschetschenien, im Nahen Osten, auf
dem Balkan, in Sri Lanka, im Kongo, in Ruanda, Haiti und an zahllosen anderen
Orten. Gleichzeitig wird nichtmilitärischer Druck auf Schurkenstaaten nicht länger
vom Tisch gewischt. Jüngste Beispiele von Staaten, die „aus der Kälte kommend“
ihre schwierige Rehabilitation in der internationalen Gemeinschaft angehen,
sind ein gutes Zeichen dafür, dass friedliche Bemühungen ebenfalls
erfolgreich sind: Sie brauchen nur mehr Zeit, Beharrlichkeit und Geduld. Weitere
Anhaltspunkte aus dem Bereich der Nachbarschaftspolitik der EU zeigen auch:
Die Grenzen der Demokratie sind vorgerückt und schließen jetzt Länder wie
Georgien und die Ukraine ein; in der arabischen Welt gibt es eine wiedererwachende
Demokratie. Arabische Intellektuelle und die Medien fordern uneinsichtige
Regierungen heraus, die Reformen blockieren und Veränderungen unterdrücken.
Die Wahlen in Palästina, die Entschlossenheit, mit der die Wähler im Irak
dem Terror trotzten, um ihr Wahlrecht auszuüben, die Protestbewegung im
Libanon und die vor kurzem angekündigten Verfassungsänderungen in Ägypten
sind nur Symptome einer breiteren Bewegung, die unter der scheinbar verkrusteten,
starren Oberfläche von Europas Nachbargesellschaften brodelt.
Europa hat in den Beziehungen zu seinen Nachbarn stets auf Dialog gesetzt
und muss diesen verstärkt anbieten. Wenn ich fünfzehn Jahre in die Zukunft blicke,
sehe ich ein Europa, das mehr Ideen anbietet: Was kann in diesen Nachbarstaaten
getan werden, um den Wandel zu fördern? Europa kann auch ihren technologischen
Bedürfnissen nach Lösung von Problemen wie dem Vordringen der Wüste
und Wassermangel Rechnung tragen. Es kann ihnen helfen, ihre Landwirtschaften
zu revolutionieren und die Nahrungsmittelproduktion zu erhöhen. Es kann, wie
in der Vergangenheit bereits geschehen, diesen Staaten helfen, ihre Reformen
im Sinne verantwortungsvoller Staatsführung vergleichend zu bewerten. Es kann
seine Bemühungen verstärken, sie bei der Schaffung besserer Gesetze zu unterstützen,
um Bürokratie und Korruption abzuwehren und ein effizientes und
unabhängiges Gerichtswesen aufzubauen. Europa kann sie dabei unterstützen,
rentable Kommunikationsnetze einzurichten, die Menschen und Märkte besser
untereinander verbinden. Weiterhin kann die EU auch an der Mobilisierung von
Kapital für ihre Nachbarregion mitwirken. Sie hat ihnen in Fragen der Erzielung
nachhaltiger Entwicklung und Effizienz bei der Energienutzung und Erhaltung von
Ressourcen viel zu bieten.
Der Erfolg wird sich nicht von selbst einstellen, und Europas Nachbarn müssen
für das Projekt der Modernisierung gewonnen werden, indem man sie als
ebenbürtige Partner behandelt. Man muss sogar sagen, so wichtig es für die EU
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EUROPAS ZUKUNFT GESTALTEN
ist, nachdrücklicher auf der Umsetzung politischer und wirtschaftlicher Reformen
in ihren Nachbarstaaten zu beharren, noch wichtiger ist es, Länder, die sich dieser
Herausforderung stellen, zu belohnen, indem sie mehr und mehr als gleichgestellte
Partner behandelt werden.
Dies erfordert natürlich ein neues Herangehen an die Art und Weise, in der
die EU ihre Nachbarschaftspolitik gestaltet. Dieses Jahr ist für die Einleitung dieses
Prozesses ein günstiger Augenblick, da wir den 10. Jahrestag der Partnerschaft
Europa-Mittelmeer begehen. Die rohstoffreichen Länder des südlichen
Mittelmeerraumes, durch die praktisch undurchdringliche Sahara vom Rest Afrikas
abgeschnitten, schätzen ihre Bindungen zur EU ebenso, wie die EU die
Beziehungen zu ihnen. Wir müssen den Dialog zu gemeinsam interessierenden
Fragen und gemeinsamer Sicherheit für alle in der Region intensivieren. Ohne nach
wie vor bestehende Herausforderungen wie Terrorismus oder die Weitergabe
von Massenvernichtungswaffen, illegale Einwanderung und andere derartige
Fragen aus den Augen zu verlieren, muss an beiden Seiten der Küste begonnen
werden, aktiv über globale Partnerschaften wie auch neue gemeinsame Initiativen
nachzudenken.
Kurz und gut, die Reform der südlichen Länder ist schon deshalb ein erstrebenswertes
Ziel, weil sie das Wohlergehen der Bürger aller Länder verbessert, darüber
hinaus ist sie aber auch wichtig, weil sie die Möglichkeit zu konzertierterem
Vorgehen auf internationaler Ebene bietet.
Um all dies zu erreichen, ist ein entscheidender Aspekt zu beachten, den die
EU erkannt hat und an dem sie arbeitet, nämlich die Tatsache, dass sich ihre
Ausgangsposition in der globalen Wirtschaft verändert hat. Das Erstarken Chinas
zu einer Weltwirtschaftsmacht, die niedrigere Arbeitskosten mit einem höheren
Grad an technischer Innovation und Know-how verbinden kann, führt noch zu
einer Verschärfung des Problems. Wenn die EU ihre Position in der
Wertschöpfungskette behaupten will, muss sie von den Produkten, denen sie
einstmals ihre Stellung verdankte, wegkommen und sich stärker auf Erzeugnisse
und Dienstleistungen mit höherem Mehrwert konzentrieren. Sie muss also ihre
Forschung und Entwicklung wie auch ihre Innovationsfähigkeit stärken. Hierzu
gehören eine bessere Koordinierung und Vernetzung von Forschungseinrichtungen
ebenso wie höhere Investitionen in wissenschaftliche Forschung und Innovation.
Das bedeutet auch, dass wir unsere Bildungssysteme auf den Prüfstand stellen und
stärker auf Naturwissenschaften ausrichten müssen.
Natürlich werden sich die Erfolge dieser Umorientierung erst allmählich und
auf längere Sicht einstellen. Dabei muss auch berücksichtigt werden, dass eine
so gravierende Reorientierung auf Wissenschaft und Innovation in unseren
Gesellschaften zahlreiche ethische und moralische Fragen aufwirft. In der
Vergangenheit ging es bei solchen ethischen Fragen um Evolution, später um
Abtreibung und Sterbehilfe. Diese moralischen Fragen haben immer noch hohen
Stellenwert, der Übergang zur wissensbasierten, naturwissenschaftlich ausgerichteten
Gesellschaft wird jedoch zahlreiche weitere Fragen aufwerfen, weil die
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SIMON BUSUTTIL
Wissenschaft auf Fragen des „Seins“ keine wirklichen Antworten geben kann.
So berühren zum Beispiel die Fortschritte auf dem Gebiet der Genetik wichtige
ethische Fragen: Wie weit darf der Mensch gehen, wenn er in den natürlichen
Prozess der menschlichen Reproduktion eingreift, wo liegen die Grenzen?
Wenn also Europa seine Anstrengungen auf wissenschaftlichem Gebiet verdoppelt,
gehe ich davon aus, dass es auch Antworten geben oder zumindest
unser Wissen in ethischen Fragen zu Problemen der Innovation und wissenschaftlichen
Forschung vertiefen muss, da sonst die Gefahr einer Unterminierung
der humanistischen Werte unserer Gesellschaften droht.
Heute in fünfzehn Jahren wird sich Europa der äußeren Form, seiner
Produktion und dem Grad seiner Einheit nach verändert haben, nicht jedoch in
seiner Vielfalt. Es wird in einer veränderten Welt leben, in der die Kräfte der
Globalisierung und die Verbindungen zwischen Ländern und Völkern enorm
zugenommen haben.
Daraus werden neue Chancen erwachsen, aber auch neue Aufgaben.
Europas Rolle in der Welt wird weitgehend davon abhängen, wie es ihm
gelingt, sich den neuen Bedingungen anzupassen und zu erkennen, wo es sich
positionieren will. Sie wird auch davon abhängen, wie erfolgreich Europa nutzbringende
Bündnisse mit anderen Akteuren, insbesondere seinen Nachbarländern,
schmieden kann. An der Spitze einer solchen Koalition kann Europa dann als
Koordinator eine wichtige Rolle bei der Gestaltung der Globalisierung übernehmen.
Geschehen kann dies im Rahmen neuer globaler Institutionen, die wiederum
auf den Erfahrungen heute tätiger internationaler Organisationen sowie den
im Laufe der Zeit von der EU selbst erworbenen praktischen Erfahrungen mit
transnationaler Integration und Überstaatlichkeit aufbauen.
Bei alledem ist äußerst wichtig, dass die EU nicht das Image einer Supermacht
anstrebt, sondern vielmehr weiterhin auf sein bewährtes Konzept von Dialog
und Konsensbildung vertraut.
So sollte sich Europa den globalen Herausforderungen stellen.
58
Mai 2005
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Globalisierung
Panayiotis DEMETRIOU
Mitglied der zyprischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Quo vadis Europa?
Wir leben im Jahrhundert der Globalisierung. Jeder Staat und jede Gesellschaft,
in welcher Region der Erde auch immer, ist direkt oder indirekt von allen wichtigen
Ereignissen auf der Welt betroffen. In unserem, dem 21. Jahrhundert, ähnelt
die Welt mit ihren Staaten zunehmend einem System kommunizierender Röhren.
Der Bürger des einzelnen Staates wird immer mehr zum Weltbürger.
Probleme der Umweltverschmutzung und der Migrationsströme, die sich weiter
verschärfen, erlangen globale Dimensionen. Wissen, Informatik und
Automatisierung bestimmen zunehmend die Entwicklung und den Forschritt in
dieser neuen Welt. Der Dogmatismus weicht dem rationellen Denken. Ideologien
trennen die Menschen nicht länger unüberbrückbar voneinander, und die
Auffassungen über verschiedene politische, soziale und wirtschaftliche Fragen
sind zunehmend weniger durch Vorurteile geprägt. Der Anthropozentrismus
bestimmt alle Seiten des modernen politischen Lebens. Der Mensch rückt zunehmend
ins Zentrum des gesellschaftlichen Ganzen. Die durch den Tsunami angerichteten
Zerstörungen zeigen, dass auch die Sorge umeinander und die Solidarität
miteinander globale Ausmaße annehmen.
Im globalen Umfeld des 21. Jahrhunderts hat die Europäische Union die historische
Aufgabe, ihre entscheidende Rolle im Weltgeschehen zu bestimmen.
Die Europäische Union muss das Weltgeschehen entscheidend prägen und dabei
den Menschen und seine Werte, d. h. die Quintessenz der europäischen Idee, in
den Mittelpunkt stellen.
Historische Mission der EU
Um ihrer historischen Mission gerecht zu werden, muss die Europäische
Union in diesen ersten Jahren des neuen Jahrhundert ein festes Fundament für
59
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ihr Aufbauwerk errichten. Die Erweiterung der Europäischen Union ist begrüßenswert,
doch ohne Vertiefung wird es ihr an historischer Substanz fehlen. Und die
Vertiefung lässt sich wirksam und tiefgreifender durch die Ratifizierung der
Verfassung für Europa voranbringen. Dieser höchst bedeutsame politische Akt ist
der Prüfstein dafür, ob es gelingt, die Zukunft Europas zu sichern.
Die Europäische Union entstand als rein wirtschaftlicher Zusammenschluss und
entwickelte sich innerhalb eines halben Jahrhunderts zu einer politischen Union.
Diese Entwicklung hält bis heute an. Europa ist dazu bestimmt, sich aus einem
ausschließlich zwischenstaatlichen Bündnis in eine Union der Staaten und Bürger
zu entwickeln. Ob dies nun als Entwicklung zum Föderalismus bezeichnet wird
oder anders, ist nicht von Bedeutung. Wichtig ist, dass heute und auch in Zukunft
auf die europäische Integration hingearbeitet wird.
Die Vision der europäischen Bürger darf sich nicht an geografischen Kriterien
orientieren, sondern muss inhaltlich ausgerichtet sein und sich auf gemeinsame
Werte stützen. Wie weit Europa im geografischen Sinne reicht, muss jedoch
irgendwann festgelegt werden. Die Europäische Union hat sich bisher ohne
Vorurteile und ohne vorgefasste, starre Beschlüsse entwickelt. In den kommenden
zwei oder drei Jahren muss jedoch die Frage beantwortet werden, wie weit
die Grenzen der Europäischen Union reichen können und was für eine
Europäische Union wir anstreben. Eine privilegierte Beziehung kann in diesem
Zusammenhang eine Alternative zu einer ungewissen Erweiterung sein.
Die politische Kultur der Europäischen Union wirkt schon jetzt über ihre geografischen
Grenzen hinaus und beeinflusst die benachbarten Regionen und die
ganze Welt. Ist dies bereits eine weltweite qualitative Erweiterung ? Menschenrechte,
Demokratie und das Legalitätsprinzip, die die drei Eckpunkte für das Wirken der
Europäischen Union bilden, sind gleichzeitig Kompass und Maßstab für das korrekte
Funktionieren jedes modernen Staates.
Die politische Kultur der EU
PANAYIOTIS DEMETRIOU
Der multikulturelle und multinationale Charakter der Europäischen Union
gibt ihr die Möglichkeit, den Grundsatz der Toleranz, der Achtung der Unterschiede
und der Zusammenarbeit der Staaten, Nationen und Bürger zu entwickeln und
weiter zu festigen. Die Europäische Union muss ihre Katalysatorrolle bei der
Lösung von nationalistischen Auseinandersetzungen und Klassenkämpfen verstärken,
damit die friedliche Koexistenz sowohl auf nationaler als auch auf sozialer
und individueller Ebene zur Regel wird.
Toleranz, Konvergenz und Kompromissfähigkeit, die drei Hauptmerkmale
der Union, müssen als Regeln für das Wirken der Europäischen Union weiter
gestärkt werden. Der Ausgleich der nationalen, wirtschaftlichen und klassenbezogenen
Interessen bietet eine realistische Möglichkeit, wie diese hochkomplexe
Union funktionieren kann. Wenn sich die Europäische Union auf internationaler
Ebene und jeder einzelne Mitgliedstaat auf europäischer und innerstaatlicher
60
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Ebene für die europäischen Grundsätze und Werte einsetzt, dann wird die Zukunft
Europas auf eine sichere und solidere Grundlage gestellt.
Unsere Vorstellungen für die Zukunft der Europäischen Union und für die
Rolle, die sie auf internationaler Ebene spielen muss, dürfen nicht von Eigennutz
geprägt sein. Wir wollen die Union weder zu einer politischen Supermacht noch
zu einem Wirtschaftsgiganten machen, dem es nur um die Befriedigung der eigenen
Interessen geht. Die Union hat eine weltweite historische Mission. Die
Europäische Union ist keine Reinkarnation eines untergegangenen Imperiums, und
sie knüpft auch nicht an ein politisches oder wirtschaftliches Gebilde aus der
Vergangenheit der Weltgeschichte an. Unsere Vision der Europäischen Union ist
nicht einseitig, sie ist komplex und umfassend. Sie beinhaltet wirtschaftliche,
politische, kulturelle, soziale, ökologische und technische Aspekte und stellt
dabei stets den Menschen in den Mittelpunkt.
Die EU auf der internationalen Bühne
Die Beziehungen der Europäischen Union zu den Vereinigten Staaten von
Amerika müssen ausdrücklich und eindeutig auf die Prinzipien der
Gleichberechtigung und der fairen Zusammenarbeit gegründet sein. Die
Europäische Union will nicht in Konkurrenz, sondern in einen Wettbewerb
mit den USA treten. Im Bereich der Außenpolitik müssen die Europäische
Union und die USA einander ergänzen. Die Europäische Union strebt keine
Konflikte mit anderen Akteuren auf internationaler Ebene an. Sie will die ehrliche
Zusammenarbeit, auch mit Russland und den arabischen Ländern sowie
mit allen Ländern des Fernen Ostens, Asiens und Afrikas. Im Rahmen einer
ehrlichen Zusammenarbeit und der Verständigung mit allen Völkern kann und
muss die Europäische Union bei der wirksamen Prävention und Bekämpfung
des Terrorismus vorangehen und dabei vor allem die Ursachen dieses
Phänomens beseitigen.
Lebensqualität
QUO VADIS EUROPA?
Die Verbesserung der Lebensqualität der europäischen Bürger und die
Schaffung weltweiter Modelle für funktionierende Gesellschaften und Staaten
bilden den Rahmen unserer Bestrebungen für Europa. Die nachhaltige
Entwicklung, die wichtigste Priorität der erweiterten Europäischen Union, darf nicht
nur ein Schlagwort sein, sondern muss zu unserem zentralen strategischen Ziel
werden – zu einem Ziel, das sowohl auf gemeinschaftlicher wie auf nationaler
Ebene methodisch und planvoll umgesetzt wird. Der wirtschaftliche Zusammenhalt
im Rahmen des Ziels der nachhaltigen Entwicklung muss zu einem wesentlichen
Bestandteil der europäischen Politik werden. Ziel ist die kontinuierliche
Verbesserung des Lebensstandards und des Wohlergehens der europäischen
Bürger und die ständige Verbesserung ihrer Lebensqualität.
61
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 62
Wirtschaft
Wenn die Wirtschaft auf einem festen Fundament ruht, wird die Europäische
Union die erforderliche Dynamik entwickeln können, um im weltweiten
Wettbewerb eine Führungsrolle einzunehmen. Dazu ist es aber nötig, dass sich
die Europäische Union von veralteten und überkommenen Gewohnheiten und
anachronistischen Regeln im Hinblick auf die Struktur und das Wachstum der
Wirtschaft befreit. Inzwischen ist anerkannt, dass sich die Dynamik einer modernen
Wirtschaft aus Forschung, Bildung und Wissen speist, und auf diese Aspekte
müssen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten sowie alle Unternehmer
und die anderen Sozialpartner ihre Aufmerksamkeit richten. Die Union muss
dem erstickenden Druck in Wirtschaft und Handel entrinnen, der von konkurrierenden
Wirtschaften ausgeübt wird, und eine führende Rolle in der Entwicklung
der Technik und bei Entwicklung und der Neustrukturierung der großen wie
auch der mittleren und kleinen Unternehmen spielen.
Bildung
Früher herrschte die Auffassung, Investitionen in die Bildung hätten keinen
direkten Einfluss auf die Produktivität. Heute ist man dagegen völlig gegensätzlicher
Meinung. Zum Glück hat man in der Europäischen Union inzwischen
begriffen, dass die Bildung über die intellektuelle, psychische und ästhetische
Entwicklung des Menschen hinaus auch direkt zur wirtschaftlichen Entwicklung
einer organisierten Gesellschaft beiträgt. Die Mitgliedstaaten der Union dürfen
ihre Bildungsausgaben deshalb nicht länger kürzen, wie es in einigen europäischen
Staaten leider der Fall ist, sondern müssen vielmehr den Anteil des BIP, der
für Bildungszwecke aufgewandt wird, schrittweise erhöhen. Die Europäische
Union muss eine Gemeinschaftspolitik umsetzen, was den Mindestanteil der
Bildungsausgaben am BIP betrifft. Die Bildung ist der Eckpfeiler des Fortschritts,
und Ziel der Union muss es sein, sie zur obersten Priorität ihrer Politik zu machen.
Das lebenslange Lernen darf nicht länger nur ein wohlklingendes Schlagwort
sein, sondern muss lebendige Praxis werden. Die Europäische Union muss grundlegende
und tiefgreifende Reformen vornehmen und die Bildungsprogramme
auf gesamteuropäischer Ebene ständig modernisieren.
Soziale Gerechtigkeit
PANAYIOTIS DEMETRIOU
In der Europäischen Union kann nicht von sozialer Gerechtigkeit die Rede sein,
solange es in der Beschäftigung, im Sozialschutz und im Gesundheitswesen
Mängel und Unzulänglichkeiten gibt, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar
sind. Die sozialen Modelle, die sich in der Europäischen Union herausbilden
werden, müssen für den Bürger ein Mindestmaß an sozialem Schutz und an
sozialen Rechten gewährleisten und festgelegte Mindestleistungen und -ansprü-
62
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 63
che umfassen. Das damit zusammenhängende ernste soziale Problem der
Einwanderung und des politischen Asyls muss von der Union human und rational
gelöst werden. Vor allem jedoch muss die Union die Ursachen dieses Problems,
nämlich Armut und Arbeitslosigkeit, bekämpfen.
Zur Entwicklung der sozialen Solidarität und des Zusammenhalts in jedem
Mitgliedstaat der Europäischen Union müssen europäische Programme zur
Stärkung der sozialen Rolle der Mitgliedstaaten mit beschränkten wirtschaftlichen
Möglichkeiten aufgelegt und umgesetzt werden. Durch kontinuierliche und
intensive gemeinschaftliche Bemühungen kann ein Ausgleich des Pro-Kopf-
Einkommens zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten erzielt werden. Auf diese
Weise lässt sich vermeiden, dass Staaten mit verschiedenen Geschwindigkeiten
und europäische Bürger verschiedener Klassen, je nach Nationalität, existieren.
Es geht nicht nur darum, dass die europäische Integration überhaupt funktioniert,
sie muss auch so tiefgreifend sein, dass jeder europäische Bürger unabhängig
von seiner Nationalität davon profitiert.
Umwelt
Wenn wir wirklich meinen, dass Europa eine weltweite Mission hat und globale
Verantwortung trägt, dann darf auch der Umweltschutz nicht vergessen werden.
Der Schutz unserer natürlichen Umwelt und des Gleichgewichts des Ökosystems,
in dem der Mensch als einziges vernunftbegabtes Wesen auf unserem
Planeten lebt, ist eine weitere wichtige Priorität der Europäischen Union. Die
Europäische Union muss weltweiter Vorkämpfer für den Schutz der Umwelt sein.
Der Schaden, den die Umweltverschmutzung vor allem infolge der industriellen
Entwicklung auf unserem Planeten anrichtet, wird das Leben des Menschen auf
der Erde bedrohen und unsere Welt unbewohnbar machen, wenn wir dem nicht
Einhalt gebieten. Die Europäische Union muss sich weltweit an vorderster Stelle
für den Schutz der Umwelt einsetzen.
Europäische Verfassung
QUO VADIS EUROPA?
Die Werte und Ziele der Europäischen Union sowie die Politik, die die Union
in den einzelnen Fragen verfolgt, sind umfassend in der europäischen Verfassung
niedergelegt. Besonderes Gewicht weist der historische Verfassungstext jedoch der
Frage der Demokratie und der Menschenrechte zu. Die Errungenschaften Europas,
die bewahrt und noch ausgebaut werden müssen, sind darauf zurückzuführen,
dass die Staaten und die Bürger eine besondere Sensibilität für die demokratischen
Institutionen und die individuellen Rechte und Freiheiten entwickelt haben.
An diesen Punkten dürfen unter keinen Umständen Abstriche gemacht werden.
Weil sich Europa dem Legalitätsprinzip und den individuellen Rechten verpflichtet
fühlt, müssen wir möglicherweise höhere Kosten für die Bekämpfung des
Terrorismus und des organisierten Verbrechens tragen, doch darf Europa des-
63
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 64
halb diese ihm zugrunde liegenden Prinzipien nicht missachten. Die Europäische
Union muss noch deutlicher zum Leuchtturm werden, der in alle Gegenden
unserer Erde das Licht der ewigen menschlichen Werte und Ideale aussendet.
Europäische Integration
PANAYIOTIS DEMETRIOU
Die Integration Europas wird vollendet werden, wenn jeder europäische
Bürger über seine nationale Identität hinauswächst und auch als Bürger eines
vereinten Europa handelt. Die Europäische Union muss Programme entwickeln,
vor allem im Bereich der Bildung, und eine gesamteuropäische Politik umsetzen,
die das europäische Bewusstsein bei ihren Bürgern stärkt.
Unsere europäische Vision trägt globale Züge. Wir wollen eine starke und
glaubwürdige Europäische Union aufbauen, die auf internationaler Ebene ein
erstklassiger Partner ist. Die Europäische Union kann und muss zu einem Faktor
der Stabilität werden, Gerechtigkeit und Sicherheit gewährleisten und zum effizientesten
Bewahrer und Förderer des Friedens auf unserem Planeten werden.
Die europäischen Werte sind ihr Speer und ihr Schild. Sie sind die Grundlage
für die Existenz der Union. Sie sind der Kompass des Lebens.
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Januar 2005
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 65
Armando DIONISI
Leiter der italienischen UDC-SVP Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Christentum, Europa und Abendland
In seinen Betrachtungen aus dem Jahr 1946 erklärte der Katholik Romano
Guardini, einer der bedeutendsten Exponenten der europäischen Kultur des zwanzigsten
Jahrhunderts, in Anbetracht der Katastrophe, in die die totalitären Ideologien
den Kontinent gestürzt hatten: „Wenn Europa auch in Zukunft noch existieren soll,
wenn die Welt Europa weiter brauchen soll, muss es seine durch die Gestalt Christi
determinierte geschichtliche Einheit bewahren; muss es sich mit neuer Ernsthaftigkeit
zu dem entwickeln, was es von seinem wahren Charakter her ist. Wenn Europa
von dieser Grundlage abgeht, hat das, was dann noch davon übrig ist, keine große
Bedeutung mehr 1 .“ Diese christliche Einschätzung Europas wird auch von der einsichtigen
weltlichen Kultur anerkannt.
Sergio Romano, einst NATO-Botschafter und Lehrkraft an den Universitäten
Berkeley und Harvard und an der Bocconi-Univerität Mailand, hat kürzlich festgestellt:
„Europa und Christentum sind zwei voneinander untrennbare Begriffe mit
einer langen gemeinsamen Geschichte, und es ist unmöglich, die Geschichte des einen
ohne die des anderen zu erzählen... Schon Croce hat gesagt, dass die rationalistische
Strömung des Christentums den Boden bereitet habe für die Philosophie der
Aufklärung und in der Politik für die Demokratie mit deren Hang zu Gleichheit und
Ausgleich. Das Christentum hat im Leben des Abendlands den Begriff der Erwartung
eingeführt und der europäischen Zivilisation neben zusammengehörigen Begriffen
wie Dekadenz und Fortschritt auch den Begriff der Geschichte als kontinuierliche
menschliche Schöpfung gebracht 2 .“
Diese Einschätzung bringt so wie die vielen anderen, die sich hier zitieren ließen,
die Notwendigkeit zum Ausdruck, dass der Aufbau Europas über die engen Grenzen
eines allein auf das internationale Gleichgewicht ausgerichteten geopolitischen
Konzepts hinausgeht und die Inhalte einer politischen Vision annimmt, die sich auf
Freiheit und Demokratie nach christlichem Vorbild gründet.
Namentlich dieser Gedanke ermöglichte es in der Nachkriegszeit, die ersten entscheidenden
Schritte auf dem langen Weg zur europäischen Einigung zu gehen.
65
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 66
ARMANDO DIONISI
Der sicherlich schwere Anfang wurde nichtsdestotrotz geprägt durch die geistige
Stärke von Denkern und Politikern, die frei von jedem nationalistischen Beigeschmack,
ohne ideologisches Gepräge, jedoch in dem konkreten Wissen um die geschichtlichen
Wurzeln Europas ein sicheres und effizientes „Direktorium“ gebildet haben, das
in kürzester Zeit einen Weg zurücklegte, der mit dem Zustandekommen der
Europäischen Verteidigungsgemeinschaft bei einem politischen Ergebnis angelangt
wäre, von dem wir heute vielleicht noch weit entfernt sind.
Adenauer, de Gasperi und Schuman, alle drei Christdemokraten, entwickelten konkret
eine Perspektive der endgültigen Überwindung nationalistischer Hürden und
zogen einen Schlussstrich unter die ideologischen Konflikte, die in der Geschichte
der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts so große Bedeutung hatten.
Die Bestärkung dieser Perspektive erfordert eine nachdrückliche Konsolidierung
des Fundaments der europäischen Ideale, was ohne Verbindung mit den natürlichen
Grundwerten nicht möglich ist.
An erster Stelle stehen die Menschenwürde und die Menschenrechte, die die
Grundlage der Rechtsprechung bilden und die aus eigenem Recht heraus bestehen,
durch den Gesetzgebers stets zu respektieren sind und von ihm von vornherein als übergeordnete
Werte vorgegeben sind 3 .
Die Menschenwürde, die nach christlicher Auffassung als Garant wahrer Freiheit
auf unveränderlichen Werten beruht, wird heute durch Machenschaften der
Wissenschaft bedroht, die von starken neuen Kreisen aus Wirtschaft und Geschäftswelt
unterstützt werden.
Auf der Ebene der wesentlichen Aspekte des sozialen Lebens schließen sich Ehe
und Familie an, die Grundzelle des sozialen Aufbaus und der auf unserem Kontinent
verankerten Tradition, die im Christentum vom biblischen Glauben her geformt ist.
Ein Aufgeben dieser Werte hätte schwerwiegende Auswirkungen auf das
Menschenbild und das Schicksal des Menschen.
Und schließlich stellt auch die Frage der Religion und der Meinungsfreiheit –
als höchstes Gut und Grundlage jedes Elements der Toleranz und Freiheit im
Allgemeinen – einen Grundpfeiler der europäischen Gesellschaft dar.
Diese natürlichen Grundwerte sind nicht so vollständig und wahrheitsgetreu in
die Verfassung eingeflossen, wie es sich die Christliche Gemeinde Europas gewünscht
hätte. Dies gilt vor allem für den Hinweis auf die jüdisch-christlichen Wurzeln, auf
den auch der Heilige Vater besonderen Wert legte und zu dem er sogar ein wichtiges
Apostolisches Schreiben („Ecclesia in Europa“) herausgab.
Es versteht sich von selbst, dass dies nicht als Ausdruck des Pochens auf eine
Vorrangstellung verstanden werden sollte, sondern vielmehr als Erwiderung auf eine
sehr missverständliche Tendenz, in deren Rahmen der Multikulturalität der Vorrang
vor jedem Wert eingeräumt wird. Hierzu hat Kardinal Ratzinger, dem wir auch den
Hinweis auf die vorgenannten natürlichen Werte verdanken, festgestellt: „Die immer
wieder leidenschaftlich geforderte Multikulturalität ist manchmal vor allem Absage
an das Eigene, Flucht vor dem Eigenen 4 .“
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CHRISTENTUM, EUROPA UND ABENDLAND
Zu den Risiken und Gefahren der Multikulturalität und der notwendigen
Positionierung Europas im Rahmen der Konfrontation und Begegnung mit anderen
Zivilisationen und mit der Existenz immer größerer religiöser und kulturellen Gruppen
in der eigenen Gesellschaft als Folge massiver Zuwanderungswellen besonders eindrucksvoll
geäußert hat sich Edgar Morin: „Für uns geht es um die Übernahme von
Denkweisen, die sich von den europäischen, denen ,mit europäischer Seele‘, unterscheiden
und die von neuen Gesprächspartnern in den europäischen Kulturdialog
eingebracht werden. Die Begegnung mit einer starken fremden Kultur oder Zivilisation
stellt vor die Alternative, diese zu assimilieren oder selbst assimiliert zu werden. Der
Hang zur Assimilation anderer setzt eine kulturelle Vitalität voraus, die ihrerseits
bestimmte wirtschaftliche und soziale Voraussetzungen hat. Für diese Assimilation
unverzichtbar sind das Bewahren und die Rückkehr zu den Ursprüngen 5 .“ Nun
darf diese Notwendigkeit zur Integration der in Europa „einfallenden“, Kulturen
nicht auf eine Beseitigung der Unterschiede hinauslaufen, die im Gegenteil ungemein
wichtige Komponenten für eine solche Erneuerung der europäischen Kultur darstellen,
die geschichtlich betrachtet ein Charakteristikum des Kontinentallimes war.
Wie der bekannte Philosoph H. G. Gadamer einmal sinngemäß ausgeführt hat, dürfe
ein derart verwurzelter Pluralismus von Kulturen, Sprachen und historischen
Schicksalen nicht ausgelöscht werden. Vielmehr könne die Aufgabe darin bestehen,
im Innern einer zur Gleichschaltung tendierenden Gesellschaft eine
Schatzkammer der Regionen und einzelnen Gruppen und ihrer Lebensstile aufzubauen.
Das Fehlen der Vaterlandes, eine Gefahr der modernen Industriegesellschaft,
treibe den Menschen zur Suche nach einer „Heimat“. Zu welchen Konsequenzen
werde das führen? Man sollte sich davor hüten, das Nebeneinander von Unterschieden
in einen falschen Geist der Toleranz oder, besser gesagt, in ein falsches Konzept
der Toleranz umzusetzen. Es sei ein weit verbreiteter Fehler zu meinen, Toleranz bestehe
darin, auf die eigenen Eigenarten zu verzichten, bei der Betrachtung des Anderen
sich selbst auszulöschen 6 .
Dieses „Sich-selbst-Auslöschen“ in Anbetracht des Anderen kommt zustande
durch eine Sicht der Geschichte und der Werte, für die keine Notwendigkeit einer
Identität besteht. Giovanni Reale, Philosophiehistoriker mit dem Spezialgebiet Antike
Philosophie an der Universität Vita Salute S. Raffaele in Mailand, hat ganz richtig
festgestellt: „Hinter der Erklärung, alle Werte seien gleich, verbirgt sich die Aufhebung
der Werte. Die unterschiedlichen Kulturen wären alle gleich; [...] keine könnte mehr
Wert haben als eine andere, weil nämlich keine einen eigenen Wert hätte, oder es
wären, genauer gesagt, alle ohne Wert, weil die Werte ihre ontologische Realität
verloren hätten 7 .“
Dieses Herausreißen der Werte aus ihrer ontologischen Realität – oder eben die
Dechristianisierung der modernen Gesellschaft, wie sie in Europa vonstatten geht –
kann als Nihilismus definiert werden – er ist ein Übel, das an den Grundpfeilern
der europäischen Realität rüttelt.
Auf diese Weise würde sich die europäische Identität auf die Tatsache gründen,
dass es außer einem allgemeinen Kosmopolitismus keine ideellen Grundsätze gibt.
67
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ARMANDO DIONISI
Diese kulturelle und politische Richtung, der heute vor allem die linken Parteien
unseres Kontinents anhängen, führt dazu, dass sich Europa der Wirklichkeit, des
Hier und Heute weniger bewusst ist. Es hat eine Zukunftsvorstellung Verbreitung
gefunden, die von irgendjemandem der „europäische Traum“ genannt worden ist:
Im Rahmen dieser Vorstellung wird es für möglich gehalten, dass Europa sich in
seiner kontinentalen Hülle abschottet wie auf einer friedlichen Insel – und das alles
vor einem konfliktgeladenen Hintergrund, der nach dem 11. September durch den
Angriff des islamischen Terrors auf das Abendland an Dramatik gewonnen hat.
Europa, oder zumindest ein Teil davon, kultiviert die Illusion, von dieser
Herausforderung verschont bleiben zu können. Vielleicht hält man ja die Thesen
des Philosophen Fukujama für richtig, wonach das Ende der Geschichte angebrochen
sei, das wäre jedoch das Ende der Geschichte Europas.
Nun definieren sich die kulturellen und politischen Lager, die am stärksten auf
die These des Multikulturalismus pochen und dazu beigetragen haben, dass die
Erarbeitung einer im christlichen Sinne gehaltenen Definition der europäischen
Wurzeln abgelehnt wird, selbst als das „neue Europa“ im Gegensatz zum „alten
Europa“. Diese grundsätzliche Unterscheidung war außerdem bezeichnend für diejenigen,
die ein aktives Eingreifen für notwendig erachteten, was im schlimmsten Fall
auch das Konzept eines gerechten Krieges gegen den Terrorismus einschloss, aber
auch diejenigen, die gegen eine Intervention der USA im Irak zur Zerschlagung der
Saddam-Hussein-Diktatur waren und damit einem extremen Pazifismus das Wort
redeten.
In angemessenere politische Worte gefasst, scheint sich eine Unterscheidung
herauszubilden zwischen einem Europa, das sich aus Gründen seiner westlichen
Identität grundsätzlich an die USA gebunden fühlt, und einem Europa, das eine
Funktion des Zurückdrängens und der Abgrenzung von Amerika entwickelt oder,
kurz gesagt, ein Europa, das sich als Gegenpol zu der einpoligen Welt präsentiert,
in der die USA den Ton angeben.
Die Entscheidungen, die Europa in den nächsten Jahren zu treffen hat, sind ideeller
und politischer Natur. So oder so muss entschieden werden, ob Europa
Bestandteil des Abendlands bleibt – dies gilt sowohl für den Aufrechterhaltung seiner
christlichen Identität als auch hinsichtlich seiner Bereitschaft, die Herausforderung
durch den Terrorismus anzunehmen und zur Verteidigung und Bekräftigung der
Demokratie anzutreten, und darüber hinaus muss auch über den Fortbestand der
Allianz mit den USA und die Fortsetzung der gemeinsamen Entscheidungsfindung
mit ihnen entschieden werden.
Sollte sich die Europäische Union von dieser Perspektive abwenden, würde der
derzeit weltweit bestehende Konflikt zum Ende des Projekts Europa und zu immer
häufigeren unabhängigen Entscheidungen einzelner Staaten führen, das haben die
letzten Jahre gezeigt. Dennoch schließt auch Robert Kagan, einer der besorgtesten
US-amerikanischen Beobachter der politischen Beziehungen zwischen Amerika und
Europa, sein bekanntestes Werk Of Paradise and Power mit den Worten: „Es ist
schon wahr, dass die Vereinigten Staaten und Europa im Grunde eine Reihe west-
68
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CHRISTENTUM, EUROPA UND ABENDLAND
licher Werte gemeinsam haben. Sie verfolgen mehr oder weniger die gleichen humanitären
Ziele, auch wenn sie derzeit ein enormer Machtunterschied trennt.Vielleicht
ist der Glaube, dass ein klein wenig an gegenseitigem Verständnis noch viel ausrichten
könnte, nicht allzu naiv-optimistisch.“
Februar 2005
1 Romano GUARDINI, Europa, compito e destino, Brescia, 2004, p. 61.
2 Sergio ROMANO, Europa, storia di un’ idea, Milan, 2004, p. 63.
3 G. HIRISCH in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12 octobre 2000.
4 J. RATZINGER, Europa, Milan, 2004, p. 28.
5 E. MORIN, Penser l’Europe, Paris, 1987.
6 H.G. GADAMER, L'héritage de l'Europe, Paris, 1996, pp. 43-44.
7 G. REALE, Radici culturali e spirituali dell’Europa, Milan, 2003, p. 155.
8 R. KAGAN, Of Paradise and Power, New York, 2004, p. 117.
69
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Valdis DOMBROVSKIS
Leiter der lettischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Lettland und Europa für die zukünftigen Generationen –
Wie wird es aussehen?
Die Europäische Union im Jahr 2020. Lettland wird bereits über fünfzehn
Jahre Mitglied der Europäischen Union sein. Das ist eine ebenso lange Zeit, wie
sie für Lettland seit der Wiedererlangung seiner staatlichen Unabhängigkeit im
Jahre 1990 vergangen ist. Wie wird Lettland nach diesem weiteren Schritt in
Richtung eines demokratischen Staates und einer Wohlstandsgesellschaft aussehen?
Wie wird das Europa des Jahres 2020 aussehen?
Da sich die Entwicklung der Europäischen Union und Lettlands in den
nächsten Jahren immer stärker wechselseitig beeinflussen wird, suche ich die
Antworten auf diese beiden Fragen zusammen.
In der dynamischen Welt von heute ist es schwer und oft sogar unmöglich,
die Entwicklung auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technologie auch
nur für wenige Jahre vorauszusagen. Überraschungen halten auch die kulturellen
und geistigen Prozesse der Gesellschaft bereit, und Naturkatastrophen
sowie durch den Menschen verursachte Katastrophen lassen sich ebenso wenig
vorhersehen.
Dennoch zeichnen sich heute sowohl auf globaler als auch auf europäischer
Ebene Entwicklungstendenzen ab, die sich fortsetzen werden, und die
Herausforderungen, auf die die Europäische Union in den nächsten zehn Jahren
gewollt oder ungewollt reagieren muss, treten immer deutlicher zutage.
Wie schnell diese Reaktion kommt und wie sie aussieht, hängt von der
Fähigkeit der Europäischen Union ab, einen gemeinsamen Aktionsplan zu erarbeiten
und die Mitgliedstaaten zu dessen Umsetzung zu mobilisieren.
71
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VALDIS DOMBROVSKIS
1. Möglichkeiten der Erweiterung und Herausforderungen für die
Europäische Union
Auch wenn die konkrete Zahl der Mitgliedstaaten und Grenzen der EU des
Jahres 2020 heute noch nicht bekannt sind, lässt sich mit großer Sicherheit sagen,
dass die Europäische Union im Jahr 2020 anders aussehen wird als heute.
Außer für Bulgarien und Rumänien, die die Schwelle zur EU als erste im Jahr
2007 überschreiten werden, liegt dieser Schritt auch für Kroatien zum Greifen
nahe, während die anderen Balkanstaaten etwas weiter davon entfernt sind
und die Türkei schon lange darauf wartet. Die Ukraine und die Republik
Moldau schauen ebenfalls voller Hoffnung in Richtung EU. Würden z. B.
Norwegen und die Schweiz ihren Wunsch nach einem Beitritt kundtun, wäre
ihre Aufnahme keine Angelegenheit von Jahren.
Wenn wir uns anschauen, wie sich Lettland in Richtung Europäische Union
bewegt hat, so waren fünfzehn Jahre für das Land eine ausreichende Zeit, um
sich von einer Sowjetrepublik zu einem Mitgliedstaat der EU zu entwickeln.
Keiner der oben genannten Staaten muss theoretisch einen längeren Weg
zurücklegen, denn in allen herrscht mehr oder weniger schon das Prinzip der
Marktwirtschaft und der politischen Demokratie.
Die fortgesetzte Erweiterung der Europäischen Union ist eine der größten
Herausforderungen, der sich die Europäische Union stellen muss.
Einerseits ist es die historische Möglichkeit zur Erweiterung der Grenzen
der Europäischen Union, die heute eine günstige geopolitische Situation Europas
und damit den Wunsch fast aller europäischen Staaten nach einem Beitritt zur
Europäischen Union entstehen lässt. Andererseits ist es die Notwendigkeit, die
Europäische Union als ein Staatenbündnis zu erhalten, das sich auf einheitliche
Prinzipien stützt und operativ verwaltet werden kann.
Der künftige Erweiterungsprozess muss proportional zur Vertiefung der
Integration verlaufen, wobei die Handlungsfähigkeit der Institutionen der
Europäischen Union verstärkt werden muss.
Ist die fortgesetzte Erweiterung der Europäischen Union für Lettland vorteilhaft
und in welchem Umfang ?
Vom politischen Standpunkt ist die Erinnerung für uns als neuer Mitgliedstaat
noch sehr lebendig; wir verstehen den Wunsch der neuen Beitrittskandidaten
nach Aufnahme in die Europäische Union und sympathisieren mit ihnen.
Bedenkt man jedoch den möglichen wirtschaftlichen Erfolg und die Verluste
durch die fortgesetzte Erweiterung der Europäischen Union, so wird unsere
Position weitgehend davon abhängen, wie schnell Lettland ein entsprechend
hohes wirtschaftliches Entwicklungsniveau erreicht, dass wir mit den potenziellen
Mitgliedstaaten nicht mehr auf dem Markt billiger Arbeitskräfte, billiger
Waren und Dienstleistungen konkurrieren müssen.
72
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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN
Die Aussicht auf Neuankömmlinge in der Europäischen Union ist ein guter
Anreiz, der es Lettland nicht erlaubt, untätig zu bleiben, und es anspornt, sich
schneller zu entwickeln und so weit wie möglich in die Europäische Union
zu integrieren.
Auch wenn wir auf der Liste zahlreicher Wirtschaftsindikatoren wie
Bruttoinlandsprodukt und Gehälter am unteren Ende der EU-Mitgliedstaaten rangieren,
dicht gefolgt von den potenziellen neuen Mitgliedstaaten, so besteht
unser gegenwärtiger Vorteil doch in dem Mitgliedsstatus.
Die Antwort Lettlands auf die Herausforderung der EU-Erweiterung könnte
demzufolge lauten: politische Sympathien für die potenziellen neuen
Mitgliedstaaten bei gleichzeitiger Beibehaltung der gegenwärtigen wirtschaftlichen
Entwicklungsdynamik Lettlands sowie Nutzung der Möglichkeiten als
Mitgliedstaat, sich weiter in die Europäische Union zu integrieren.
2. Verschlechterung der demografischen Situation und deren Einfluss auf
Wirtschaft und Gesellschaft
Eine weitere wesentliche Herausforderung sowohl für Europa als auch für
Lettland ist die Verschlechterung der demografischen Situation. Hier ist die
Zukunft bereits in der derzeitigen Altersstruktur und den Entwicklungstendenzen
in diesem Bereich zu erkennen.
Die Gesellschaft Europas altert, die Zahl der Einwohner, die nicht mehr im
erwerbsfähigen Alter sind, nimmt zu, die Zahl der Kinder und Jugendlichen geht
zurück. Diese demografische Tendenz kann sich sehr negativ auf die Wirtschaft
Europas auswirken. Die Einwohnerzahl Lettlands schrumpft bereits seit Beginn
des letzten Jahrzehnts ständig.
Sinkt der Anteil der erwerbsfähigen Bevölkerung, gehen auch die Ersparnisse
und die Ressourcen für Investitionen zurück, was wiederum zur Verringerung
des Wachstumstempos des Bruttoinlandsprodukts führen kann. Schätzungen von
Experten des Internationalen Währungsfonds zufolge kann Europa in den
nächsten Jahrzehnten durch die Verschlechterung der demografischen Situation
jährlich bis zu 0,4 % des Bruttoinlandsprodukts einbüßen. Bedenkt man, welch
große Streitigkeiten über den EU-Haushalt allein der Rückgang des
Bruttoinlandsprodukts um ein Zehntel Prozent auslöst, so sind das beachtliche
Beträge, zurzeit mindestens 40 Milliarden Euro jährlich.
Durch die Alterung der Gesellschaft verringert sich auch die Einkommenssteuergrundlage,
während die Ausgaben im sozialen Bereich und der medizinischen
Versorgung beträchtlich steigen, wodurch sich das Problem des
Haushaltsdefizits verschärft, das in den letzten Jahren bereits im Zusammenhang
mit dem EU-Stabilitätspakt zutage getreten ist.
Die Europäische Union sucht schon heute nach Lösungen, um die negati-
73
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VALDIS DOMBROVSKIS
ven Auswirkungen der demografischen Situation abzuwenden. So werden
Maßnahmen im Rahmen der Lissabonner Strategie und anderer programmatischer
Dokumente umgesetzt: Heraufsetzen des Rentenalters, lebenslange
Bildung, Einbindung der Frauen in den Arbeitsmark sowie direkte Maßnahmen
zur Verbesserung der demografischen Situation wie Geburtenförderung. Auf
wirtschaftlichem Gebiet könnte der demografische Einfluss durch ein rascheres
Wachstum der Arbeitsproduktivität verringert werden.
Gleichzeitig sucht der europäische Arbeitsmarkt, ohne die Ergebnisse dieser
Politik abzuwarten, selbst nach Lösungen, die nicht immer den langfristigen
Entwicklungsinteressen entsprechen, wie zum Beispiel der Import von
Arbeitskräften, der das Defizit auf dem Arbeitsmarkt zwar kurzfristig deckt,
jedoch viele andere Probleme verschärft.
Können die „alten“ Mitgliedstaaten der Europäischen Union das Arbeitskräfteproblem
noch weitgehend durch den „Import“ von Arbeitskräften aus dem
neuen Mitgliedstaaten lösen, so wird sich die Situation auf diesem Gebiet in den
folgenden Jahrzehnten ändern.
Durch die Verringerung des Lohn- und Gehaltsgefälles werden die Arbeitskräfte
aus Osteuropa die Motivation zur Arbeit im Westen zumindest für solche Arbeiten
verlieren, wie sie sie gegenwärtig zum großen Teil ausführen. Das Arbeitskräftedefizit
wird auch in den Staaten, einschließlich Lettland, wachsen, die gegenwärtig
Arbeitskräfte zur Verfügung stellen, und so die Arbeitsmarktsituation und das
Immigrationsproblem in diesen Staaten verschärfen.
Wegen des hohen Durchschnittsverdienstes und des hohen Niveaus der
sozialen Garantien in der Europäischen Union wird dieser Arbeitsmarkt auch
in den kommenden Jahrzehnten für andere Regionen der Welt attraktiv bleiben.
Somit lässt sich vorhersehen, dass sich die demografische Entwicklung und
die Tendenzen auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten Jahrzehnten weiterhin
günstig auf den Arbeitskräfteimport auswirken, die Probleme des Nebeneinanders
verschiedener Nationalitäten und Religionen in der Europäischen Union
jedoch deutlicher zutage treten lassen, woraus sich die nächste große
Herausforderung ergibt.
3. Europäische Identität, gemeinsame Werte, Nebeneinanderbestehen verschiedener
Nationalitäten und Religionen
Schon heute gestalten sich die Beziehungen zwischen den verschiedenen
Nationen und Nationalitäten nicht immer reibungslos und friedlich. Sollten
sich diese Probleme bei einer Verschärfung der nationalen und religiösen
Konflikte weiter zuspitzen, können sie viele andere Fragen überschatten.
Diese Schwierigkeiten lassen sich weder allein durch die strikte Wahrung
der Rechte und Freiheiten des Einzelnen noch durch die Einschränkung die-
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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN
ser Rechte und Freiheiten lösen. Auch strengere Immigrationsbestimmungen verringern
sie nicht. Erforderlich ist ein starkes, attraktives europäisches
Identitätsmodell, das sich nicht nur auf die Wohlstandsideologie, d. h. auf eine
Art „amerikanischen Traum in europäischer Ausführung“ stützt, sondern auch
auf ein Gefühl gemeinsamer europäischer Werte. Je attraktiver und „moderner“
diese europäische Identität sein wird, desto stärker tritt die Kraft und
Bedeutung anderer Identitäten im europäischen Leben in den Hintergrund und
desto besser verläuft die Integration. Das ist nicht nur die Aufgabe der
Institutionen der Europäischen Union, sondern auch eine Frage der breiten
kulturellen und geistigen Initiative.
Selbstverständlich ist die europäische Identität keine abstrakte „innere
Identität aller EU-Mitgliedstaaten“, sondern eine Wechselwirkung und Synthese
sowohl der kulturellen und historischen Erfahrungen als auch der Religionen.
4. Wirtschaftliche Entwicklung, Steuern und Energiewirtschaft
Die zunehmende Integration auf wirtschaftlichem Gebiet bildete schon seit
den Anfängen der Europäischen Gemeinschaft die Grundlage für die europäische
Integration, und sie tut es auch heute noch. Diese Tendenz wird sich mit
der Vervollkommnung der institutionellen Grundlage des Binnenmarktes, der
schrittweisen Beseitigung der Barrieren für die Unternehmertätigkeit innerhalb
der Europäischen Union und der Unterstützung der weniger entwickelten
Regionen aus EU-Mitteln fortsetzen.
Die Europäische Union konnte das wirtschaftliche Entwicklungstempo im
Jahr 2004 zwar deutlich steigern und erreichte ein Wachstum von 2,6 %, die
Weltwirtschaft entwickelte sich im vergangenen Jahr jedoch fast doppelt so
schnell und erreichte ein Wachstum von 5 %. Kennzeichnend für die vergangenen
Jahre ist, dass nicht wie früher nur die USA oder Ostasien, sondern
Staaten in verschiedenen Regionen der Welt – in Südamerika, Russland, den übrigen
GUS-Staaten und sogar in Afrika – die treibende Kraft der internationalen
Entwicklung sind.
Deshalb muss Europa, das nach der Erweiterung seine Position als eines der
größten wirtschaftlichen Zentren der Welt gefestigt hat, auf dem Gebiet der
globalen Konkurrenz auf neue Herausforderungen reagieren, möglicherweise
auch auf Probleme der politischen Koordinierung im globalen Maßstab, was im
Rahmen des Modells der drei Wirtschaftszentren einfacher war.
Allerdings kann und muss die Europäische Union, was das Wachstum des
Bruttoinlandsprodukts anbelangt, zumindest in den kommenden Jahrzehnten
nicht mit den Entwicklungsländern konkurrieren.
Entscheidend ist für die Europäische Union, unter Wahrung des erreichten
Niveaus der Wirtschaftsentwicklung und des Wohlstands die ausgeglichene,
75
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VALDIS DOMBROVSKIS
harmonische wirtschaftliche Entwicklung fortzuführen und die hohen
Qualitätsanforderungen, das Niveau der sozialen Sicherheit sowie die
Umweltstandards beizubehalten.
Der Vorteil der Europäischen Union besteht in der hohen Lebensqualität, die
mit Hilfe eines institutionellen Systems, wenn nötig auch auf Kosten der kurzfristigen
wirtschaftlichen Effektivität, garantiert wird.
Es sind die derzeitigen und die zukünftigen neuen Mitgliedstaaten, die zur
dynamischen Entwicklung der Europäischen Union beitragen. Für Lettland,
dessen Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung zurzeit nur 42 % des
Durchschnitts der Europäischen Union beträgt, reicht eine langsame Entwicklung
nicht aus, für uns ist das Wachstumstempo sehr wichtig.
Durch Ausnutzung des Potenzials des gemeinsamen Marktes der
Europäischen Union und der EU-Fonds hat Lettland die Möglichkeit, das
Durchschnittsniveau der EU zu erreichen, was jedoch ernsthafte Anstrengungen
über mehrere Jahre erfordert. Selbst nach sehr optimistischen Prognosen wird
Lettland das Durchschnittsniveau der EU nicht eher als in 15 Jahren erreichen.
Lettland muss seine inneren Wachstumsressourcen aktivieren, indem es den
Anteil an Waren und Leistungen mit höherer Umsatzsteuer steigert, die innovativen
und wissenschaftlichen Ressourcen, die in unserem Land noch nicht
genügend in den wirtschaftlichen Kreislauf eingebunden sind, stärker einsetzt
und auch das Potenzial seiner Regionen nutzt. Das ist keine neue Erkenntnis,
sondern diese Entwicklungsrichtungen sind bereits Bestandteil mehrerer, in
Lettland erarbeiteter Strategien. Eine wesentliche Aufgabe wird für die kommenden
Jahre darin bestehen, nach der Aufnahme in die Europäische Union nicht
nachzulassen und alle staatlichen Institutionen, einschließlich der
Selbstverwaltungen, die die Wirtschaftspolitik umsetzen, sowie die
Unternehmerkreise und die Gesellschaft für die Erreichung dieses Ziels zu
mobilisieren.
Von den Bereichen, die in den nächsten 15 Jahren auf der wirtschaftlichen
Tagesordnung der Europäischen Union stehen werden, seien zwei hervorgehoben:
die Steuern und die Energiewirtschaft.
Steuern. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, da es für Lettland von entscheidender
Bedeutung ist, das rasche Wirtschaftswachstum fortzuführen und ein
dynamisches, investitionsfreundliches Wirtschaftsklima aufrechtzuerhalten,
kann sich das Land nicht für eine Harmonisierung der direkten Steuern in der
Europäischen Union einsetzen.
Mit gleich hohen Steuern können wir das Abwandern der Investitionen aus
den alten in die neuen Mitgliedstaaten nicht verhindern, durch eine
Verschlechterung des Investitionsklimas in den neuen Mitgliedstaaten würden
wir jedoch erreichen, dass die Investitionen außerhalb der Europäischen Union
76
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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN
in den USA, in Asien und anderen europäischen Staaten getätigt werden und
die EU als Ganzes ihre Wettbewerbsfähigkeit einbüßt. In diesem Fall wären
alle die Verlierer: sowohl die neuen Mitgliedstaaten, in denen sich das
Wachstumstempo verringern würde, als auch die alten Mitgliedstaaten, die
mehr Mittel investieren müssten, um einen wirtschaftlichen und sozialen
Ausgleich innerhalb der Europäischen Union zu erzielen.
Ein der Wirtschaftsentwicklung und Investitionsbereitschaft förderliches
System direkter Steuern in den neuen Mitgliedstaaten ist ein gemeinsamer
Gewinn für die Europäische Union, da es eine schnellere Angleichung des
wirtschaftlichen Entwicklungsniveaus sowie Investitionen nicht nur aus den
EU-Mitgliedstaaten sondern auch vom globalen Markt begünstigt.
Dennoch müssten die Staaten der Europäischen Union langfristig über eine
höhere Besteuerung von Verbrauchsressourcen, einschließlich Energieressourcen
und andere Naturressourcen, nachdenken, um durch eine solche Politik den
Anteil erneuerbarer Energieressourcen an der gemeinsamen Energiebilanz zu
erhöhen und eine nachhaltige umweltfreundliche Wirtschaftspolitik zu fördern.
Die Energiewirtschaft ist seit den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts
besonders in der an Energieressourcen armen Europäischen Union ein überaus
wichtiger Bereich und wird es auch weiterhin bleiben. Auch wenn die
Preissteigerungen für Erdöl Europa heute weit weniger Sorgen bereiten, ist
das Problem der Versorgungssicherheit und der Konkurrenz des Imports von
Energieressourcen vor allem in den neuen Mitgliedstaaten der EU weiterhin
aktuell.
Auf dem Elektrizitätsmarkt der baltischen Staaten vollzieht sich in diesem
Jahrzehnt die Liberalisierung des Marktes unter den Bedingungen einer drastischen
Verringerung der Produktionskapazitäten durch Abschalten des
Atomkraftwerks Ignalina und der alten Blocks des Wärmekraftwerks Narva in
Estland, in dem Brennschiefer als Energiequelle genutzt wird. Sollten die baltischen
Staaten keine neuen Kapazitäten für die Stromerzeugung erschließen
und ihre Elektrizitätsnetze nicht an die Netze der übrigen EU-Mitgliedstaaten
angeschlossen werden, wird die Abhängigkeit der baltischen Staaten von
Russland in diesem Sektor zunehmen.
Eine mögliche langfristige Lösung für eine höhere Versorgungssicherheit
der baltischen Staaten könnte der Bau eines neuen Atomkraftwerks nach den
Sicherheitsstandards der EU sein. Eine solche Politik würde auch den
Anforderungen des Kyoto-Protokolls über die Begrenzung des
Schadstoffausstoßes zur Reduzierung des Treibhauseffekts – das Problem der
gegenwärtigen Wärmekraftwerke – entsprechen.
Die Liberalisierung des Erdgasmarktes in Lettland ist angesichts der technischen
Abhängigkeit des Landes von den russischen Erdgasimporten, d. h. von
77
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VALDIS DOMBROVSKIS
der Gasprom als Monopolunternehmen, nur durch Umsetzung alternativer
Gasversorgungsprojekte möglich. Solche Projekte lassen sich nur mit vereinten
Kräften, mit der Hilfe der Europäischen Union realisieren, da die Frage der
Versorgungssicherheit und der Ausweitung des Energieimports auch für die
übrigen Staaten Osteuropas aktuell ist. Obwohl es im Moment kein konkretes
Projekt gibt, kann davon ausgegangen werden, dass die Tendenzen in der
Energiepreisentwicklung diese alternativen Gasversorgungsvarianten schrittweise
auch wirtschaftlich günstiger machen. Ein liberalisierter Energiemarkt
in Osteuropa ist nicht nur im Strom-, sondern auch im Gassektor ein Ziel, das
bis zum Jahr 2020 erreicht werden kann.
5. Entwicklung von Wissenschaft und Technologie
Die Entwicklung dieses Bereichs ist am wenigsten vorhersehbar, obwohl
er große Auswirkungen auf die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und anderen
Prozesse hat. Bis jetzt hat die Europäische Union, die diese Prozesse allgemein
und nicht unter dem Gesichtspunkt einzelner Wirtschaftszweige und
Bereiche bewertete, vorwiegend auf die globalen Herausforderungen auf dem
Gebiet von Wissenschaft und Technologie reagiert.
So stellte die Lissabonner Strategie zum großen Teil eine Antwort auf den
raschen Vorstoß der USA bei neuen Technologien zur Jahrtausendwende dar.
In den kommenden 15 Jahren reicht ein solches Herangehen nicht aus,
wenn die Europäische Union weltweit führend sein will. Es genügt nicht, die
fundamentalen Wissenschaften und das Bildungssystem zu vervollkommnen,
obwohl dies ohne Zweifel sehr wichtig ist. Die Europäische Union muss nicht
nur auf dem Gebiet von Wissenschaft und Technologie, sondern auch in anderen
Bereichen selbst Prioritäten setzen, indem sie diese Herausforderungen
gegenüber der Welt formuliert und sich somit Vorteile im globalen Maßstab
sichert.
Das verlangt auch eine verstärkte Koordinierung bei der Ausarbeitung der
Politik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten in den verschiedenen
Bereichen.
Geopolitik, Demografie, europäische Identität, Wirtschaft sowie Wissenschaft
und Technologie stehen im Hinblick auf unser Europa 2020 in einem wechselseitigen
Zusammenhang.
Langfristige Lösungen auf einem einzelnen Gebiet sind ohne Berücksichtigung
der Entwicklungsprozesse in anderen Bereichen nicht möglich. Nur
eine ausgeglichene und nachhaltige Entwicklung kann zur Lösung dieses
Problems beitragen.
Auf der Ebene der Mitgliedsländer und der Institutionen der Europäischen
Union muss das demokratische Umfeld für die Lösung von Problemen erhalten
bleiben, bildet es doch die Gewähr dafür, dass bei der Entwicklung Europas
78
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LETTLAND UND EUROPA FÜR DIE ZUKÜNFTIGEN GENERATIONEN
alle Gebiete berücksichtigt werden und nicht nur ein einzelnes Problem hervorgehoben
wird, während alle anderen außer Acht gelassen werden.
Der Diskussionsgeist, die gemeinsame Wertvorstellung, die Möglichkeit zur
Verwirklichung einer gemeinsamen Politik und Lettland als Mitglied der
Europäischen Union sind von ebenso großer Bedeutung wie die Chancen des
Marktes und die Finanzmittel, die uns durch diese Mitgliedschaft zur Verfügung
stehen.
79
März 2005
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80
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Avril DOYLE
Leiterin der irischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Gesundheit – Unsere Vision für Europa.
Steuerung durch Gesetze oder durch Gerichte?
Eine gute Gesundheitsversorgung gehört zum Kern unserer Zivilisation. Sie
ist ein so wesentlicher Bestandteil des europäischen Modells, dass sie als selbstverständlich
angesehen wird. Jedoch wurde bis vor kurzem, bis zur
Veröffentlichung der Mitteilung der Kommission über die gesundheitspolitische
Strategie der Europäischen Gemeinschaft im Jahr 2000 und den daran
anschließenden Reflexionsprozessen, das Gesundheitswesen auf europäischer
Ebene noch nicht systematisch in Angriff genommen. Obwohl ihr im Vertrag der
Auftrag übertragen wurde im Gesundheitsbereich eine Rolle zu spielen, hat
die Gemeinschaft die politischen Entscheidungen weitgehend allein den
Mitgliedstaaten und, als deren Vertreter, dem EuGH überlassen. Jetzt ist der
Zeitpunkt gekommen, das Thema direkt anzugehen und die Gesundheitsversorgung
so in das abgeleitete Gemeinschaftsrecht aufzunehmen, dass umfassend
gezeigt wird, welch zentrale Rolle die Gesundheit sowohl in wirtschaftlicher
und sozialer als auch kultureller Hinsicht im Leben unserer Bürger spielt. Es ist
an der Zeit, dass die Gesundheitspolitik durch Gesetze und nicht durch Gerichte
gesteuert wird.
Recht auf Gesundheitsversorgung ist im Vertrag verankert
Gemäß EG-Vertrag ist „bei der Festlegung und Durchführung aller
Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen […] ein hohes Gesundheitsschutzniveau“
sicherzustellen.
Darüber hinaus wurde das Gesundheitswesen als Bereich, in dem die Union
beschließen kann, eine Koordinierungs-, Ergänzungs -oder Unterstützungsmaßnahme
durchzuführen, in den neuen Verfassungsvertrag aufgenommen. Der Verfassungsvertrag
nennt ferner als eines der drei grundlegenden Ziele der Union, dass „das
Wohlergehen ihrer Völker“ gefördert wird.
Durch die Aufnahme der Charta der Grundrechte der Union in den
81
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 82
AVRIL DOYLE
Verfassungsvertrag wurden auch das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche
und geistige Unversehrtheit gestärkt.
Der Verfassungsvertrag liefert eine klare Beschreibung der Zuständigkeiten
der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten, sodass die Sorge, Brüssel könne die
nationalen Zuständigkeiten beschneiden, nicht länger als Gegenargument für
konzertierte Maßnahmen auf EU-Ebene angeführt werden kann. Wir benötigen
ein effektives und praktisches Gleichgewicht zwischen der Gemeinschaft und
den Mitgliedstaaten, das auf klaren und unmissverständlichen rechtlichen
Grundlagen aufbaut. Es ist an der Zeit, dass wir die Verantwortung unserer
Mitgliedstaaten für die Bereitstellung einer allgemein zugänglichen, nachhaltigen
und qualitativ hochwertigen Gesundheitsversorgung festlegen und den
„Mehrwert“ nutzen, den die Koordinierung auf EU-Ebene für den
Gesundheitsbereich darstellen kann.
Welche Rolle kann die EU in der Gesundheitspolitik spielen?
Die EU hat in erster Linie die Aufgabe, die Bürger zu schützen. Die
Gemeinschaft kann und sollte einen „Mehrwert“ erbringen, indem sie die
Forschung fördert, Informationen für die Bürger und die Akteure des
Gesundheitswesens bereitstellt; die bewährtesten Praktiken ermittelt; die
Koordinierung und den Dialog zwischen den Mitgliedstaaten erleichtert;
Partnerschaften mit Akteuren der Zivilgesellschaft begünstigt; Stärken und
Schwächen in den Gesundheitssystemen feststellt; Synergieeffekte fördert und
Hindernisse beim Zugang zu medizinischer Versorgung beseitigt. Die Gemeinschaft
hat gute Chancen, aus den Entwicklungen Nutzen zu ziehen, sich auf internationaler
Ebene Wissen und Fachkenntnisse zu erschließen und ihre externen und
internen Politikbereiche an die bewährtesten Praktiken der WHO anzupassen.
Die in der erweiterten Union bestehenden Diskrepanzen bei der Ausstattung
mit Kapazitäten erfordern eine Verstärkung der länderübergreifenden Verwaltung
von Gesundheit und Gesundheitsfürsorge durch die Gemeinschaft, insbesondere
im Zusammenhang mit grenzüberschreitenden Problemen.
Speziell für die Bekämpfung länderübergreifender Gesundheitsprobleme wie
der Begegnung der Gefahr, die von epidemischen Infektionskrankheiten und
mit der Nahrungskette verbundenen Vorfällen ausgeht, ist die Gemeinschaft sehr
gut platziert. Ausbrüche von BSE und Maul- und Klauenseuche und die von
SARS und Geflügelpest ausgehende Bedrohung haben allesamt, und diese
Erfahrung mussten wir erst machen, die dringende Notwendigkeit koordinierter
aktiver Präventivmaßnahmen im Gesundheitsbereich aufgezeigt.
Die Errichtung mehrerer EU-Agenturen in diesem Bereich, d. h. des
Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten
(ECDPC), der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) und der
Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), ist eine zu begrüßende und notwendige
Entwicklung, jedoch können diese Agenturen ohne eine klare
82
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GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA
Gemeinschaftspolitik und die nötigen zu ihrer Unterstützung bereitgestellten
Mittel nicht richtig funktionieren.
Durch die Integration des Gesundheitsaspekts in alle Gemeinschaftspolitiken,
die Durchführung von umfassenden Bewertungen der gesundheitlichen
Auswirkungen aller EU-Rechtsakte sowie durch die Förderung einer gesunden
Lebensweise kann die EU die notwendige Plattform für gemeinsames
Denken bieten.
Die allgemeinen verhaltensabhängigen, sozialen und ökologischen Faktoren,
die die Gesundheit beeinflussen, können auf Gemeinschaftsebene optimal behandelt
werden, indem ein solcher ganzheitlicher, der Zersplitterung entgegengesetzter
Ansatz gewählt wird. Die ganze Palette der unterschiedlichen Bereiche, die
von der REACH-Chemikalienpolitik über die Verkehrspolitik und die
Rechtsvorschriften über Arbeitsbedingungen bis hin zu den einzelstaatlichen
Umwelt- und Raumplanungspolitiken reichen, wirkt sich direkt oder indirekt auf
die Gesundheit aus.
Die EU darf nicht unsystematisch und engstirnig an das Thema Gesundheit
herangehen oder versuchen, die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der
Gesundheitsdienstleistungen in verschiedene Bereiche aufzuteilen oder sie voneinander
abzutrennen. Sämtliche Gesundheitssysteme in der Union weisen trotz
ihrer Unterschiede hinsichtlich Organisation, Struktur und Finanzierungsweise
die gemeinsamen Grundsätze Solidarität, Gerechtigkeit und allgemeine
Zugänglichkeit auf.
In der Gesundheitspolitik laufen eine Reihe von Kernwerten und -zielen der
EU zusammen: marktorientierter Wettbewerb und soziale Solidarität; unveräußerliche,
vom Staat garantierte Menschenrechte und die Freiheit, die
Wahlmöglichkeit und die Verantwortung der einzelnen Bürger... Die Geschichte
hat uns gezeigt, dass zu einfache und manichäische Unterscheidungen keine
Grundlage für gutes Regieren schaffen. Schwarz-Weiß-Denken ist nur insofern nützlich,
als es uns ermöglicht, die Fragen klar zu identifizieren. Wir dürfen diese
künstlichen Aufspaltungen nicht mit unvereinbaren politischen Optionen verwechseln
– bei ihnen handelt es sich lediglich um Instrumente zur
Entscheidungsfindung. Wir stehen vor der Herausforderung, einen kohärenten und
in die Praxis umsetzbaren europäischen Ansatz für Gesundheitsfragen zu entwickeln,
der den von Grund auf komplementären Charakter dieser Kernwerte und
-ziele zusammenfasst.
Auswirkungen der Überalterung Europas auf die Gesundheit
Der vielleicht dringendste Grund für eine strukturelle und förmliche
Koordinierung im Gesundheitssektor ist die Überalterung der europäischen
Bevölkerung – die so genannte „Vergreisung Europas“. Die Europäische Union
steht vor einem beispiellosen demografischen Wandel, der sich massiv auf die
gesamte Gesellschaft auswirken wird. Die Zahlen in dem von der Kommission
83
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 84
vorgelegten Grünbuch „Demografischer Wandel“ zeigen, dass im Jahr 2030 zwei
Erwerbstätige (zwischen 15 und 65 Jahren) für einen Nichterwerbstätigen (von
über 65 Jahren) aufkommen müssen. In der Union leben dann 18 Millionen
Kinder und Jugendliche weniger als heute.
Wenn die EU im Jahr 2050, wie Eurostat prognostiziert, statt der heutigen
14,8 Millionen, 38 Millionen Menschen über 80 Jahren zählen wird, ist ein bedeutender
Anstieg der Ausgaben im Gesundheitswesen – laut dieser Prognosen um
mindestens 2,7 % des BIP – unvermeidbar. Das Verhältnis von abhängigen jungen
und alten Menschen gegenüber Erwerbstätigen wird von 49 % im Jahr 2005
auf 66 % im Jahr 2030 zunehmen. Um den Verlust der Erwerbstätigen auszugleichen,
werden wir eine Beschäftigungsquote von über 79 % brauchen. Um dies
zu erreichen, werden jedoch mehr Frauen – die traditionellen Betreuer älterer
Menschen – erwerbstätig müssen, und ein größerer Anteil der Langzeitbetreuung
wird folglich dem Staat zufallen.
Wenn die niedrigen Geburtenraten in den 25 Mitgliedstaaten mit eingerechnet
werden, sieht der Abhängigenquotient langsam Besorgnis erregend aus. Im Jahr 2003
war die Geburtenrate in der EU auf 1,48 gesunken und lag somit unter der für die
Reproduktion der Bevölkerung erforderlichen Marke von 2,1 Kindern pro Frau.
Im Vergleich hierzu wird die US-Bevölkerung zwischen 2000 und 2025 um 25,6 %
wachsen. Diese Zahl stellt den EU-Durchschnitt der 25 Mitgliedstaaten dar, und
hinter ihr verbergen sich sehr unterschiedliche, z. T. beunruhigende Tendenzen
in einigen Ländern, insbesondere den neuen Mitgliedstaaten, wo die Geburtenraten
stark im Sinken begriffen sind. Lettland beispielsweise wies einen natürlichen
Bevölkerungsrückgang (die Differenz zwischen der Anzahl der Lebendgeburten
und der Anzahl der Sterbefälle innerhalb eines Jahres) von – 4,9 auf, während
Irland, ein Land mit vergleichbarer Bevölkerungszahl, eine natürliche Wachstumsrate
von 8,2 verzeichnete. Wenn wir die Herausforderungen berücksichtigen, denen
sich die neuen Mitgliedstaaten bereits stellen müssen, um ihre Gesundheitssysteme
zu reformieren und zu modernisieren, wird klar, dass die Lage kritisch ist. Wir
müssen nun für die Zukunft planen, indem wir auf Gemeinschaftsebene einen
kohärenten Rahmen für das Gesundheitswesen bereitstellen.
Beitrag der Gesundheit zur Wirtschaft
AVRIL DOYLE
Für die europäische Wirtschaft wird der Gesundheitsbereich immer wichtiger.
So wendet die EU einen ständig steigenden Anteil des BIP für die Gesundheit
auf: 8,6 % ist der derzeitige Durchschnitt der EU-15, wobei die neuen
Mitgliedstaaten im Durchschnitt 5,8 % ausgeben. Für die USA lautet die Ziffer: 14,6
% des BIP. Durch die Bevölkerungsalterung, die oft sehr kostspielige Entwicklung
von medizinischen Technologien und Behandlungsmethoden und die sich daraus
ergebenden steigenden Erwartungen wird diese Zahl wahrscheinlich bedeutend
ansteigen.
Die Frage ist nicht, wie viel wir ausgeben, sondern wie wir es am besten ein-
84
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GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA
setzen können. Die gemeinschaftliche Gesundheitspolitik kann viel dazu beitragen,
diese schwierigen Fragen, zu denen die Themen rund um die beste
Managementpraxis und das seit jeher bestehenden Spannungsfeld zwischen
Verwaltungskosten und der Erbringungen der Leistungen vor Ort gehören, zu
beantworten. Eine zunehmende finanzielle Unterstützung oder „Geld in das
Gesundheitssystem zu pumpen“ ist keine Lösung. Wieder einmal müssen wir
aufpassen, Mittel und Zweck nicht miteinander zu verschmelzen.
Es müssen Maßnahmen getroffen werden, um festzustellen, wie man diese
Mittel am besten einsetzt, um eine flexible, auf den Patienten ausgerichtete
Gesundheitsversorgung zu entwickeln, die dem Bedürfnis und Recht eines jeden
europäischen Bürgers, Zugang zu den besten medizinischen Behandlungsmethoden
zu haben, nachkommt. Die Zusammenstellung vergleichbarer Daten auf EU-
Ebene und die Förderung des Informationsaustauschs sind Grundvoraussetzungen
für eine verbesserte Bereitstellung medizinischer Leistungen.
Systeme zur objektiven Beurteilung der Qualität des Gesundheitswesens, wie
internationale Zulassungssysteme, müssen geprüft und genutzt werden, um den
Verbrauchern zu helfen, sich in den besten Einrichtungen behandeln zu lassen.
Dies wird die Entscheidungsmöglichkeiten der Verbraucher verbessern, einen
verantwortungsbewussten Wettbewerb zwischen den Gesundheitseinrichtungen
fördern und einen Wettstreit um die Spitzenposition auslösen. Die Mitgliedstaaten
müssen auf diese Weise unterstützt und ermutigt werden, voneinander zu lernen,
um, insbesondere vor dem Hintergrund eines sich wandelnden demografischen
Gleichgewichts, die Ausgaben im Gesundheitswesen so gut wie möglich
einzusetzen.
Wir müssen einen Paradigmenwechsel in unserer Sicht der Gesundheitspolitik
einleiten und die offenkundige Tatsache akzeptieren, dass die Gesundheit keineswegs
eine unberechenbare finanzielle Belastung darstellt, sondern ein Motor
für Wirtschaftswachstum und nachhaltige Entwicklung ist und als der Schlüssel
für das Erreichen der Lissabon-Ziele erkannt werden sollte, Europa bis 2010 zu
dem wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt zu machen.
Die WHO hat einen direkten Zusammenhang zwischen der Lebenserwartung
bei der Geburt und dem Wirtschaftswachstum festgestellt. Ihren Schätzungen
zufolge führt ein Anstieg der Lebenserwartung bei der Geburt um 10 % zu einem
Anstieg des Wirtschaftswachstums um 0,35 % pro Jahr.
Umgekehrt stellen Erkrankungen eine erhebliche Bremse für Produktivität
und Wettbewerbsfähigkeit dar. Schätzungen der Kosten, die von einigen größtenteils
vermeidbaren Krankheiten verursacht werden, sprechen für sich. Die jährliche
durch Atemwegserkrankungen verursachte volkswirtschaftliche Belastung
der EU beträgt beispielsweise über 100 Milliarden Euro, und für die Behandlung
von Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die Haupttodesursache in Europa, werden
sogar 135 Milliarden ausgegeben. Allein die Kosten für die seelische Gesundheit,
einschließlich der Bewältigung von Stress, Ängsten und Depressionen, werden
auf 3-4 % des BIP geschätzt. Die volkswirtschaftliche Belastung durch Krankheiten
85
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AVRIL DOYLE
schlägt sich in hohen volkswirtschaftlichen Kosten für Arbeitsunfähigkeit, Ersatz
am Arbeitsplatz und Produktivitätseinbußen bis hin zur Frühverrentung nieder.
Europa verliert mehr als 500 Millionen Arbeitstage pro Jahr durch mit der Arbeit
verbundene Gesundheitsprobleme.
Gesundheitsfaktoren und Lebensführung
Bei Investitionen muss mehr Wert auf die Verhütung von Krankheit gelegt
werden, statt allein auf die Behandlung ihrer Auswirkungen. In der EU gehen fast
10 % der behinderungsbereinigten Lebensjahre (DALY) durch Krankheiten verloren,
die mit der Lebensführung zusammenhängen und mit Fettleibigkeit, übermäßigem
Alkoholgenuss und Tabakkonsum verbunden sind. Schlechte Ernährung
(4,5 %), Fettleibigkeit (3,7 %) und Bewegungsmangel (1,4 %) sind verantwortlich
für eine erhebliche Minderung der Lebensqualität unserer Bürger und stellen
eine bedeutende Gefahr für die Produktivität dar. Unsere Investitionen werden
sowohl in wirtschaftlicher Hinsicht als auch was die Verbesserung der
Lebensqualität unserer Bürger angeht bedeutend mehr Früchte tragen, wenn wir
uns den Faktoren zuwenden, die für das Erkranken ausschlaggebend sind.
Natürlich muss der Einzelne das Recht behalten, über seine Lebensführung zu
bestimmen, und es ist nicht die Aufgabe der Europäischen Union, das Privatleben
ihrer Bürger zu steuern. Es gibt jedoch zahlreiche Bereiche, in denen der Einzelne
dazu ermutigt werden kann, sich für eine gesündere Lebensweise zu entscheiden.
Hierzu sind die Faktoren zu bestimmen und herauszustellen, die zum
Entstehen von Krankheiten beitragen.
Tabakkonsum ist ein offensichtlicher Fall für eine konzertierte Aktion. Den
Tabakkonsum zu reduzieren, sollte das Ziel jeder Gesundheitspolitik auf
Gemeinschaftsebene sein. Zusätzlich zur Verschlechterung der Gesundheit und
der Lebensqualität – Tabakkonsum ist verantwortlich für eine von drei
Krebserkrankungen – stellen Lungenkrankheiten eine volkswirtschaftliche
Belastung von über 100 Milliarden Euro pro Jahr dar. Initiativen der Mitgliedstaaten
zur Abschreckung vom Tabakkonsum in öffentlichen Räumen sollten sorgfältig
beobachtet werden, und Beispiele bester Vorgehensweisen sollten verbreitet werden,
sobald sich Erfolge, aber auch Gefahren auf dem Weg dahin, abzeichnen.
Die Europäer sind die größten Trinker weltweit. Alkohol ist in vielen Bereichen
sehr stark kulturell verankert, obwohl unverantwortliches Trinkverhalten eine
der Hauptursache für Gesundheitsprobleme und soziale Missstände ist. Die
Gesamtbelastung durch Krankheit, Verletzung und vorzeitigen Tod (vor dem 65.
Lebensjahr eintretender Tod), die auf Alkoholkonsum zurückzuführen sind,
beträgt zwischen 8 % und 10 %. Exzessiver Alkoholkonsum ist nicht nur ein in
der Jugend auftretendes Phänomen, sondern besonders bei jungen Erwachsenen
weit verbreitet. Unverantwortlicher Alkoholkonsum, mit allen daraus entstehenden
sozialen Problemen wie gewalttätiges und unsoziales Verhalten und Zerrüttung
von Familien, sollte in den Mitgliedstaaten durch Kampagnen thematisiert wer-
86
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GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA
den, die durch das auf Gemeinschaftsebene größer werdende Bewusstsein unterstützt
werden.
Ernährung ist eine wesentliche Gesundheitsdeterminante. Fettleibigkeit ist
ein Faktor, der zur Verschärfung der Symptome zahlreicher Krankheiten beiträgt.
Die Verbreitung von Typ-2-Diabetes, die heutzutage fast ein Zehntel der
Bevölkerung betrifft, steht, so wie auch zahlreiche Herz-Kreislauf-Erkrankungen,
in direkter Verbindung mit den Ernährungsgewohnheiten. Herzkrankheiten, die
für fast die Hälfte aller Todesfälle verantwortlich sind, bilden die Haupttodesursache
in Europa. Die EU muss sich darauf konzentrieren, den Bürgern die Informationen
zu geben, die sie benötigen, um die Risiken zu mindern, die sie durch ihre tägliche
Ernährung eingehen. Die besten Ergebnisse können erzielt werden, indem
man junge Menschen aufklärt, bevor sich lebenslange schlechte Gewohnheiten
herausgebildet haben. Auch hier müssen wir sorgfältig zwischen der Unterrichtung
der Bürger einerseits und der Bemutterung und Einmischung in die Wahlfreiheit
der Verbraucher andererseits unterscheiden. Jeder Mensch trifft letzten Endes die
Entscheidung und trägt die Verantwortung für seine eigene Lebensführung.
Es wird nie möglich sein, die menschliche Natur gesetzlich zu regeln, und
Bürger dazu ermutigen, ihre Lebensführung grundlegend und dauerhaft zu ändern
und ein gesunderes, aktiveres Leben zu führen, ist ein Unterfangen, für das mehr
Anreize als Strafen nötig sein werden.
Sektor der medizinischen Versorgungsleistungen
Immerhin 10 % der Erwerbstätigen in Europa arbeiten mittelbar oder unmittelbar
für die Erbringung medizinischer Leistungen. Von 1995 bis 2001 wurden
im Gesundheitsbereich über zwei Millionen Stellen geschaffen. Bei der Betrachtung
von Gesundheitsdienstleistungen dürfen wir unseren Blick nicht einengen, da
sie sich qualitativ von anderen Dienstleistungen unterscheiden und mehr als nur
finanziellen Gewinn erbringen.
Der beste Weg, das Wachstumspotenzial des Gesundheitssektors zu erhöhen,
ist eine Steigerung des Wettbewerbs, stets unter der Bedingung, dass die Sicherheit
des Patienten das Hauptanliegen bleibt. Die Frage der besseren Regulierung ist
im Gesundheitssektor von größter Wichtigkeit, wenn wir die Erleichterung der
Patientenmobilität, der beruflichen Mobilität, des grenzüberschreitenden Erwerbs
von Gesundheitsleistungen und der Bereitstellung von Dienstleistungen miteinander
in Einklang bringen möchten. Eine bessere Koordinierung der einzelstaatlichen
Gesundheitspolitiken ist eine unumgehbare Grundvoraussetzung für
ein stärkeres Zusammenwachsen des europäischen Sektors der medizinischen
Versorgungsleistungen. Angesichts des gemeinwirtschaftlichen Elements in diesem
Sektor und angesichts der Patientenrechte handelt es sich um einen
Wirtschaftsbereich, der klarer geregelt werden muss als andere. Das bedeutet, an
dem Grundprinzip festzuhalten, dass es Rechtsvorschriften geben muss, dass sie
einfach, unzweideutig, gründlich überprüft und mit einer Bewertung der Risiken
87
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 88
und Gesundheitsauswirkungen versehen sein müssen. Im Zuge der Überprüfung
unserer Rechtsvorschriften auf ihre Tauglichkeit für den Lissabon-Prozess werden
auch die Rechte der Patienten deutlicher herausgestellt und die Patienten
befähigt, von diesen Rechten Gebrauch zu machen. Gleichzeitig wird es immer
Einzelfälle geben, bei denen die Notwendigkeit besteht, einen Regressanspruch
für fehlgeschlagene Behandlungen geltend zu machen. Die verschiedenen
Krankenversicherungssysteme der Mitgliedstaaten, die Vielfalt der
Berufshaftpflichtversicherungssysteme, die unterschiedlichen Ansätze in Bezug auf
Haftung und ärztliche Kunstfehler, ganz zu schweigen von der Verantwortung für
die Nachsorge, die innerhalb der Union existieren, müssen alle neu bewertet
und „in Paketen gebündelt“ werden, um das Zusammenwirken der verschiedenen
Systeme im Interesse der Patienten zu gewährleisten. Eine allgemeine
Dienstleistungsrichtlinie ist meiner Meinung nach nicht das geeignete
Rechtsinstrument, um einen Binnenmarkt für Gesundheitsdienstleistungen zu
erzielen und sämtliche notwendigen Vorkehrungen für die Patientenmobilität
innerhalb der EU zu treffen.
Die wirtschaftlichen Aspekte der medizinischen Versorgung können nicht isoliert
betrachtet werden. Sie stehen im Mittelpunkt einer Verbindung von gleichermaßen
bedeutenden moralischen und ethischen Aspekten. Dieser alles umfassende
Charakter von Gesundheit muss in Rechtsinstrumenten zum Ausdruck
gebracht werden, um den Sektor der medizinischen Versorgungsleistungen effektiver
zu gestalten und vollständig in den Binnenmarkt zu integrieren. Dazu sind
eine allgemeinere Sichtweise und ein umfassenderer Ansatz als in der
Vergangenheit erforderlich. Damit die beiden Ziele, eine Überschneidung und
Verdoppelung von Rechtsvorschriften zu vermeiden und durch einen stabilen
Rechtsrahmen Rechtssicherheit zu schaffen, erreicht werden können, muss die
Hochrangige Gruppe für das Gesundheitswesen und die medizinische Versorgung
einen kohärenten Ansatz wählen. Wenn wir es nicht schaffen, unsere
Rechtsvorschriften, soweit sie die Gesundheit berühren, vollständig zu überprüfen,
könnte dies weit ernstere Auswirkungen als rein finanzielle Verluste haben.
Die Methodik für die Prüfung der gesundheitlichen Auswirkungen sollte vervollkommnet
und dann auf alle Rechtsvorschriften der Gemeinschaft angewandt
werden. Vielleicht ist es an der Zeit, dass die Kommission demnächst eine
Richtlinie über die Erbringung medizinischer Leistungen in Betracht zieht?
Gesundheit und Forschung
AVRIL DOYLE
Das europäische Modell der Wettbewerbsfähigkeit basiert auf einer
Wissensgrundlage. Der Schwerpunkt muss stärker auf medizinische Ausbildung,
berufliche Weiterbildung und angesichts des chronischen Mangels an medizinischem
Personal überall in der EU auf Investitionen in Humanressourcen gelegt werden.
Eine verbesserte berufliche Mobilität ist unverzichtbar, um die Verbreitung
der besten medizinischen Methoden und Verfahren zu garantieren. Die berufli-
88
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 89
che Mobilität sollte durch ein weit reichendes System für Informationsaustausch
und die EU-weite automatische Anerkennung medizinischer Fachrichtungen
durch die lang erwartete Richtlinie über die Anerkennung beruflicher
Befähigungsnachweise so transparent und einfach wie möglich gestaltet werden.
Als logische Konsequenz wird die berufliche Mobilität die Ausarbeitung
spezifischer Rechtsvorschriften für Gesundheitsdienstleistungen beschleunigen,
nicht zuletzt, um der Abwanderung hochqualifizierter Personen und dem Druck
auf das Gesundheitsbudget der Mitgliedstaaten entgegenzuwirken, der sich aus
der Abwanderung hoch qualifizierter Ärzte, Krankenschwestern und anderer
Mediziner aus ihrem Herkunftsland in Mitgliedstaaten mit besseren Arbeitsbedingungen
und Gehältern ergeben kann. Die Mitgliedstaaten haben ein berechtigtes
Interesse daran, eine koordinierte Aktion zu fördern, um sicherzustellen, dass
sich die Investitionen, die sie im Bereich der medizinischen Ausbildung getätigt
haben, für sie auszahlen. Die Zusammenarbeit zwischen nationalen Behörden und
Programmen für lebenslanges Lernen, die soweit wie möglich angeglichen wurden,
muss garantiert werden, um EU-weit höchste Standards aufrechtzuerhalten.
Forschungsinvestitionen im Gesundheitsbereich sollten sowohl auf einzelstaatlicher
als auch auf Gemeinschaftsebene gestärkt werden, um das Potenzial
für Wachstum und eine verbesserte Bereitstellung von dem neuesten Stand der
Technik entsprechenden Behandlungstechnologien zu erhöhen. Es sollten finanziell
gut ausgestattete „Referenzzentren“, insbesondere Fachkrankenhäuser und
Forschungsinstitute, die Vorreiter für medizinische Innovation sein werden, errichtet
werden. Eine verbesserte Patientenmobilität wird den Nutzen solcher medizinischer
Exzellenzzentren maximieren und für Größenvorteile sorgen.
Die Finanzierung des siebten Forschungsrahmenprogramms sollte bedeutend
angehoben und auf Haushaltslinien für Forschungsarbeiten im Gesundheitsbereich
großes Gewicht gelegt werden, um diesen Sektor in das in der Übereinkunft von
Barcelona festgelegte Ziel, 3 % des BIP für die Forschung aufzuwenden, aufzunehmen.
Wir sind noch weit davon entfernt, dieses Ziel zu erfüllen. Die
Mitgliedstaaten sowie private und gewerbliche Einrichtungen sollten sich ebenfalls
an der Forschung im Bereich Medizintechnik und ihrer Entwicklung beteiligen,
um Europa zu einer Hochburg der Innovation zu machen.
Schlussfolgerung
GESUNDHEIT – UNSERE VISION FÜR EUROPA
Gesundheitsdienstleistungen sind unentbehrliche Dienstleistungen und nicht
rein wirtschaftliche Tätigkeiten. Der Grundsatz des allgemeinen Zugangs zu hochwertigen,
aber finanziell tragbaren medizinischen Leistungen muss auf EU-Ebene
aufrechterhalten und in einem umfassenden und gut durchdachten Rechtsrahmen
verankert werden. Im Idealfall sollten diese Leistungen dem Patienten möglichst
wohnortnah bereitgestellt werden. Die Nutzung von Behandlungsmöglichkeiten
in einem anderen Land ist jedoch ein Recht, das die Patienten problemlos wahrnehmen
können müssen, ohne die Hilfe von Gerichten in Anspruch zu nehmen.
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Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 90
AVRIL DOYLE
Diese Mobilität, so begrenzt sie auch sein mag, müsste zu einer Erhöhung der
Versorgungsstandards im Herkunftsland des Patienten führen, denn das ist das
eigentliche Ziel. Die Schwerpunktverschiebung von der Behandlung zur Vorsorge,
indem an den für die Entstehung von Krankheiten verantwortlichen Faktoren
angesetzt wird, vermeidet unnötiges Leid und erspart der Staatskasse Ausgaben
für Behandlungen, die vermieden werden können. Die Beteiligung öffentlicher
und privater Akteure und öffentlich-privater Partnerschaften an Investitionen
wird die Wettbewerbsfähigkeit stärken und die Qualität der medizinischen
Versorgung verbessern. Diese Initiativen müssen im Rahmen des sozialen Pfeilers
der Lissabon-Agenda durch Unterstützung und Dialog auf Gemeinschaftsebene
gefördert werden. Ohne Wirtschaftswachstum werden wir das Niveau der
Investitionen im Gesundheitsbereich, das erforderlich sein wird, um die
Herausforderung einer alternden Gesellschaft zu bewältigen, nicht halten können.
Wirtschaftswachstum und soziale Solidarität schließen sich nicht gegenseitig aus,
sondern sind zwei Seiten derselben Münze.
90
März 2005
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 91
Camiel EURLINGS
Leiter der niederländischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Den europäischen Traum aufrechterhalten
Als Schuljunge erlebte ich den Fall der Berliner Mauer mit. Überall in
Mitteleuropa lebte die Zivilgesellschaft durch mutig und konkret handelnde
Bürger wieder auf, die sich nach Demokratie und Freiheit sehnten, von der
Samtenen Revolution in Prag bis hin zu den Unabhängigkeitsbestrebungen von
Letten und Esten. Was viele mutige Menschen in Polen ausgelöst hatten, erwies
sich als unaufhaltsam. Es wurde eine Bürgerbewegung, von unten, die imstande
war, nationale Grenzen und Sprachunterschiede zu überwinden. Eines war mir
und den Gefährten aus meiner Generation völlig klar geworden: das Europa vor
diesem Zeitpunkt, die Welt der 80er Jahre und früher, sie gehörte der Vergangenheit
an.
Was dafür an ihre Stelle treten würde, konnten wir Schüler und Studenten
von damals schwerlich erahnen. Nur vage Konturen und idealistische Perspektiven
konnte man damals noch wahrnehmen. Wer hätte zu diesem Zeitpunkt daran
denken können, dass der Traum Robert Schumans und Jean Monnets von
Versöhnung zwischen Staaten sich nicht nur in Westeuropa verwirklichen würde,
sondern auch einmal den Rest unseres Kontinents umfassen sollte? Dass schon
innerhalb eines Jahres die Wiedervereinigung Deutschlands eine Tatsache sein
würde, ohne dass ein Schuss entlang der so schwer bewachten Grenze fiel? Dass
die durch den Vertrag zwischen Hitler und Stalin einverleibten und geknechteten
baltischen Völker in einigen Jahren wieder frei sein würden? Dass ein dissidenter
Bühnenautor aus dem Gefängnis auf den Präsidentenstuhl in Prag kommen
würde? Dass Bürger mit orangenen Schals und Zelten auf dem großen Platz
endlich auch faire Wahlen in Kiew erzwingen würden?
Tiefgreifend veränderte Rahmenbedingungen
Der Schüler aus dem Limburgischen Valkenburg von 1989 schreibt nun dieses
Essay aus dem Europäischen Parlament, in dem Menschen aus 25 Nationen
zusammenarbeiten und versuchen, einem neuen Europa mit Höhen und Tiefen
91
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 92
CAMIEL EURLINGS
Gestalt zu verleihen. Das Europa „15 Jahre danach“ ist für jemand, der auf jene
Wochen des Mauerfalls zurückblickt, nicht mehr erkennbar. Nicht nur geographisch
und politisch, sondern auch nicht erkennbar in der Entwicklung, vor der dieses
Europa in den kommenden 15 Jahren, mit Blick auf das Jahr 2020, steht.
Der gesamte Rahmen in Bezug auf Europa, auf die durch die Zusammenarbeit
gebotenen Möglichkeiten sowie auf die weltweiten Bedingungen, innerhalb dessen
die EU funktionieren muss, hat sich grundlegend verändert. Damit ist es
zugleich ebenso unlogisch wie riskant geworden, die – sowohl mentalen als
auch politischen – Reaktionen und die Prämissen der Vergangenheit vor 1989
weiterhin der zukünftigen Entwicklung aufoktroyieren zu wollen und diese
dadurch zu verzerren. Es ist unser Auftrag als Christdemokraten – die die
Wegbereiter der Europäischen Zusammenarbeit waren - uns innerhalb der veränderten
Gesellschaft mit voller Kraft einzusetzen, um das Haus Europa, den
Traum Schumans, Monnets und De Gasperis weiter zu verwirklichen. Dies ist
vielleicht keine leichte, aber doch eine dankbare und inspirierende Aufgabe.
Betrachten wir einmal genauer einige dieser großen Umwälzungen und völlig
veränderten Bezugsrahmen:
Die Sowjetunion war die größte Militärmacht in Europa, das Gefängnis dutzender
Völker und Nationen, das stark koloniale Züge trug. Nicht nur sie ist verschwunden,
sondern die unterdrückten Völker im damaligen Imperium sind nunmehr
freie Demokratien geworden. Die „Kastanienrevolution“ in der Ukraine im
Herbst 2004 hat diese beispiellose historische Tatsache noch einmal unterstrichen.
Kein europäisches Volk lässt sich seines Existenzrechts und der Perspektive
auf einen pluralistischen Rechtsstaat, auf eine demokratische Zivilgesellschaft
sowie auf Religions- und Meinungsfreiheit berauben. Und kein einziges europäisches
Volk lässt geschehen, dass eine solche pluriforme Kultur durch
Gewaltandrohung und Intoleranz wieder zunichte gemacht wird. Imperialistische
und hegemonistische Tendenzen haben unter uns keinen Platz mehr. Darin liegt
der Kern des gemeinsamen Engagements, dem wir als Europäer verpflichtet sind
und das wir in der Zukunft aufrechterhalten müssen, nämlich: nicht Unterdrückung,
Intoleranz und Machtdenken, sondern gegenseitiger Respekt und Gleichheit zwischen
Staaten und Völkern als zentrales Element unserer Zusammenarbeit.
Eine weitere beispiellose Veränderung gegenüber den vergangenen 15 Jahre
ist Folgende:
Das EMS (Europäisches Währungssystem) war damals der Versuch, die verschiedenen
nationalen Geldsysteme und Münzeinheiten in der Europäischen
Gemeinschaft zu koordinieren. Das EMS verschwand nicht nur ziemlich ruhmlos
als eine Art Zwischenetappe der Wirtschafts- und Währungspolitik; das
Ersetzen dieses Systems durch den Euro und die Eurozone als neuen Fokus
der wirtschaftspolitischen Integration hat Europas Position auf den Weltmärkten
deutlich verstärkt. Darüber hinaus hat dieser weitere monetäre Integrationsprozess
der wirtschaftlichen Entwicklung der EU mehr Richtung verliehen. Mit ihm wird
ein präzises und konkretes Instrument geboten, das die Politiker mehr oder
weniger zu Abwägungen aus strategischer Sicht „zwingt“, die über die frühere
92
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 93
nationale Wirtschaftseinheit oder den früheren einzelstaatlichen Horizont für
die längerfristige Politik hinausgehen.
Er bildet gleichsam eine Art „interne Globalisierung“ innerhalb der EU,
wodurch alle Mitgliedstaaten der Union ihre eigene Wohlstandsentwicklung
unverbrüchlich auf die längerfristigen Entwicklungen der Gesamtheit sowie auf
die Fragen und Herausforderungen, die diese wiederum an jeden von ihnen
stellen, ausrichten. Die erste kohärente Formulierung dieser neuen Wirklichkeit
war die so genannte „Lissabon-Strategie“. Die neue Kommission unter José
Manuel Barroso hat dieses Konzept präzisiert, und ich hoffe, dass auf nationaler
Ebene die Politiker unter Druck gesetzt werden, für ihr jeweiliges Land die
maximalen Anstrengungen zu unternehmen, um die Lissabon-Strategie umzusetzen.
„Naming and shaming“ derjenigen, die untätig oder erfolglos bleiben,
kommt dann noch nachdrücklich auf die Tagesordnung. Die Staats- und
Regierungschefs, die diesen Aspekt aus dem kohärenten Ansatz dieser Strategie
verschwinden lassen wollen, haben sich damit hoffentlich selbst einen
Bumerangeffekt zum Geschenk gemacht.
Als dritte stark veränderte Rahmenbedingung ist die internationale Sicherheit
zu nennen.
Die Spaltung Europas in Ost und West machte unseren Teil der Welt zum
potenziellen Schlachtfeld von Weltmächten, gleichsam nach der Maxime aus
dem 18. Jahrhundert „Chez vous, sur vous, sans vous “, nach der über die Lage
meines eigenen Landes, der Niederlande, auf der Weltkarte von damals entschieden
wurde. Auf diese Weise wurde bis 1989 Weltpolitik in Europa und
auf dem Rücken der Europäer betrieben, vor allem derer im Osten.
Durch die frühere weltweite militärische Konfrontation bewirkte in einer
„bipolaren Machtstruktur“ jeder Schritt, jede Aktion oder Nachlässigkeit einer der
beiden Supermächte, wo auch immer auf der Welt, eine Gegenreaktion der
anderen vor Ort oder genau auf einem ganz anderen „global hotspot “ (globalen
Brennpunkt). Es war normal, dass zum Beispiel Spannungen im
Zusammenhang mit den Zugangswegen in der ehemaligen DDR zum damals freien
West-Berlin eine direkte Auswirkung auf die Situation betreffend Kuba oder
an der türkisch-russischen Grenze im Kaukasus hatten.
Mit dem Zerfall der Sowjetunion hat sich die Sicherheitspolitik nicht nur von
der bipolaren Struktur des Machtgleichgewichts zwischen den Supermächten
gelöst. Auch die internationale Sicherheitspolitik ist zu einer viel größeren
Herausforderung geworden. Neue Elemente wie Demographie und
Migrationsbewegungen werden in die Sicherheitsfragen miteinbezogen. Dies
gilt ebenso für die unheilvollen Verbindungen, die zwischen den weltweiten
kriminellen Organisationen mit ihren finanziellen Verzweigungen und dem
Terrorismus entstanden sind.
„Soft power“ als starke Kraft
DEN EUROPÄISCHEN TRAUM AUFRECHTERHALTEN
Die Risiken der „failed states“ und das Chaos beim Regieren ganzer Regionen
in verschiedenen Erdteilen sind darüber hinaus in den vergangenen Jahren immer
93
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 94
CAMIEL EURLINGS
deutlicher geworden. Ohne die Implosion Afghanistans unter den Taliban und das
maliziöse Regime im Sudan wäre der Aufbau von Bin Ladens Netzwerken nicht
möglich gewesen. Gleichzeitig muss man sich grundsätzlich darüber im Klaren
sein, dass mit dem Aufbau von Al-Qaida der Terror endgültig globalisiert worden
ist. Dies lässt sich schon allein daraus schließen, dass die Hamburger
Technikstudenten, die den Anschlag am 11. September 2001 planten und ausführten,
sowohl in Afghanistan, Pakistan, Spanien als auch in Florida Kontakte zu
Bin Laden herstellten und an allen diesen Stellen logistische Vorbereitungen für
ihre Tat trafen.
Die weltweiten sozioökonomischen, kulturellen und institutionellen
Entwicklungen dieser Regionen der „failed States “ bilden daher mit die Grundlage
für ein neues Konzept der Inhalte der internationalen Sicherheitspolitik und dessen,
was sie umfassen sollte. Sowohl zur Vermeidung von Konflikten und zur
Demokratisierung als auch zum Aufbau der Zivilgesellschaften in diesen Regionen
könnte sich die „soft power “ Europas als eine der weltweit stärksten Kräfte erweisen,
zumal uns dies jetzt wohlgemerkt von Außenministerin Rice vor Augen
gehalten wird, weil sie sich vielleicht besser als andere darüber informiert hat, wie
sehr ein ausgewogenes Verhältnis zwischen der Machtentfaltung der Amerikaner
und dem Beitrag Europas in der Welt genau zu dieser Art von sehr komplexen
Merkmalen der Sicherheitspolitik notwendig geworden ist. Reaktionen wie in
der Vergangenheit, auch die eines linksgerichteten Antiamerikanismus, sind daher
kaum sinnvoll und unproduktiv.
Am Schnittpunkt der europäischen Geschichte
Bei den gigantischen Entwicklungen, die Europa und die ganze Welt während
der letzten 15 Jahre durchgemacht haben, könnte sich der Gedanke aufdrängen,
dass die größten Veränderungen nun hinter uns liegen, dass die Erweiterung der
Europäischen Union nun weitestgehend abschlossen und dass der Traum
Schumans und Adenauers realisiert ist. Politiker, die diesem Gedanken nachhängen,
tun gut daran, ihrer Anhängerschaft zuzuhören. Zu ihrem Schrecken werden
sie feststellen, dass viele europäische Bürger ganz und gar nicht vom
Europäischen Projekt begeistert sind. Dass in den meisten Ländern bei jeder
Europawahl wieder weniger Menschen ihre Stimme abgeben. Dass zum Beispiel
bei Volksbefragungen über die Europäische Verfassung ein wesentlicher Teil der
Bevölkerung dagegen stimmt. Dass nationalistische Tendenzen wieder immer
häufiger aufkommen.
Für diesen paradoxen Gegenstrom gibt es viele Gründe. Die Errungenschaften
der EU werden von den Menschen schon ganz schnell für selbstverständlich
gehalten. Mein jüngster Bruder kann sich an Grenzkontrollen nicht mehr erinnern.
Mein jüngster Neffe musste beim Passieren der Grenze noch nie Geld tauschen.
Ein anderer Grund besteht darin, dass die EU-Erweiterung nicht mit einer ausreichenden
Vertiefung, einer Verstärkung der EU-Beschlussfassung einhergegangen
ist. Ein Gefühl der Entsagung, das Menschen bei einer immer größeren und somit
94
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 95
DEN EUROPÄISCHEN TRAUM AUFRECHTERHALTEN
nicht greifbaren Union haben können, wird auf diese Weise nicht ausreichend
durch ein immer energischeres und sichtbareres Handeln der EU kompensiert.
Ich bin überzeugt davon, dass die Europäische Union nur dann ein bleibender
Erfolg sein kann, wenn eine ausreichende Unterstützung und Begeisterung
aus der Bevölkerung vorhanden sind. Studie für Studie belegt deutlich das zwiespältige
Gefühl der Bürger im Jahr 2005: auf der einen Seite besteht der starke
Wille, zu Europa zu gehören; auf der anderen Seite betrachtet man die europäischen
Einrichtungen als zu unsichtbar, zu bürokratisch und zu weit entfernt.
Während der nächsten Jahre wird sich zeigen, welches Gefühl überwiegt.
Manche wie der ehemalige EU-Kommissar Bolkestein sehen ein negatives Szenario
voraus: Europa wird seiner Meinung nach nicht in der Lage sein, an Kraft zu
gewinnen, es wird sich vor allem auf eine weitere Erweiterung ausrichten und
wird infolgedessen zu einer Zusammenarbeit hauptsächlich auf wirtschaftlicher
Ebene verwässern.
Herausforderungen für die Christdemokraten in der Zukunft
Wir als Christdemokraten dürfen dieses negative Szenario in der Zukunft nicht
Wirklichkeit werden lassen. Dazu gilt es, dass wir eine Reihe von Maßnahmen
mit Elan angehen:
1. Wir müssen die Vorteile des beispiellosen Tempos, in dem der Integrationsprozess
in Europa in der alltäglichen Realität verläuft, viel deutlicher benennen.
Auf diese Weise werden falsche und zu Unrecht hemmende politische Wege und
bürokratische Mechanismen vermieden, die sowohl für Europa und den Wohlstand
als auch die Sicherheit in Europa mehr hinderlich als förderlich sind. Das ist auch
eine hilfreiche Maßnahme dagegen, dass Populisten auf der Grundlage falscher
Tatsachen eine Antistimmung erzeugen können.
Ein anschauliches Beispiel für den ersten Punkt habe ich neulich auf der
Wirtschaftsseite verschiedener Zeitungen gefunden. Während zahlreiche Anti-
Europäer in den Niederlanden den Eindruck entstehen lassen, dass die neuen
Mitgliedstaaten vor allem viel Geld kosten, erwies sich Folgendes: Seit der
Erweiterung der Union auf 25 Mitgliedstaaten hat sich mit keiner Region der Welt
der Export und Handel der Niederlande so stark entwickelt wie mit den neuen
Mitgliedstaaten. Die wirtschaftliche Erholung, die in unserem Land nach einer
Reihe sehr schwerer Jahren 2005 spürbar eingesetzt hat, scheint gerade auf solche
positiven Entwicklungen im Export und in den Handelsbeziehungen zurückzuführen
zu sein. Die neuen Chancen, die die erweiterte Union bietet, sind erkennbar.
Sie bieten Möglichkeiten für größeren Wohlstand, mehr Arbeit und eine
intensivere Zusammenarbeit, woraus die Mitgliedstaaten gemeinsam und jeder
für sich einen Nutzen ziehen. Hieraus geht wiederum hervor, wie wesentlich es
im nationalen Interesse der Niederlande und der einzelnen Mitgliedstaaten liegt,
dass wir den Prozess der Integration und der Zusammenarbeit, wo es möglich
ist, fördern. Der Wegfall von Schranken fördert den Handel und die Innovation in
der Wirtschaft und auch jetzt zeigt sich wieder, dass diese Entwicklung schnel-
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CAMIEL EURLINGS
ler erfolgt, als viele vorher dachten. Der rasch zunehmende Umfang der
Handelsbeziehungen mit den neuen Mitgliedstaaten verdeutlicht dies noch einmal.
Daher ist es richtig, dass wir weiterhin unnötige bürokratische Mechanismen
oder Vorschriften außer Kraft setzen, die oft eine Folge von Abstimmungen über
Details bei europäischen Vereinbarungen sind, und die Durchführung innerhalb
der Mitgliedstaaten regeln. Dies ist ein Beispiel für einen Kurs, den wir in Europa
gemeinsam einschlagen und durchsetzen müssen, weil es nicht effektiv ist, wenn
jeder auf eigene Faust handelt. Allzu oft stellt sich nämlich heraus, dass diese
Hindernisse und Bürokratie zugleich auf den verschiedenen Ebenen von
Durchführungsbestimmungen und Vorschriften wirksam sind, und daher ist es notwendig,
dass auf diesen verschiedenen Ebenen gleichzeitig vorgegangen wird.
2. Da die EU sich auf 25 Mitgliedstaaten erweitert hat, müssen wir den Mut
besitzen, unsere Union auch wirklich zu vertiefen. Europa wird besonders die
Probleme energischer angehen müssen, die durch unsere offenen Binnengrenzen
nicht mehr auf nationaler Ebene gelöst werden können. Zu denken ist beispielsweise
an die Bekämpfung der Bedrohung durch den Terrorismus, der grenzüberschreitenden
(Drogen)Kriminalität, aber auch des auftretenden
Menschenhandels zwischen den Mitgliedstaaten durch eine übereinstimmende
europäische Asylpolitik. Europa gewinnt auf diese Weise nicht nur an
Glaubwürdigkeit, weil für konkrete Probleme der Bürger eine wirksame europäische
Lösung gefunden wird. Es wird auch vermieden, dass eine so positive Sache
wie offene Grenzen beim durchschnittlichen Europäer einen negativen
Beigeschmack hervorruft, weil diese Grenzen zwar für die Bürger und somit
auch Kriminelle offen sind, aber nur unzureichend für Polizei und Justiz. Dadurch
haben die offenen Grenzen bis zu diesem Zeitpunkt nachweislich zu größerer
Unsicherheit in den Grenzgebieten geführt.
Die Ratifizierung der Europäischen Verfassung ist hierfür ein bedeutender
erster Schritt, aber nicht mehr als das. Nach Inkrafttreten der Verfassung müssen
wir bei der Verstärkung der Vorgehensweise auf europäischer Ebene weiter voranschreiten,
zum Beispiel auf dem Gebiet der Sicherheit und Terrorbekämpfung. Für
keinen Bürger gibt es eine verständliche Erklärung dafür, dass selbst nach den
Anschlägen in New York und Madrid Informationen über mögliche Anschläge
noch immer nicht automatisch zwischen den Sicherheitsdiensten der
Mitgliedstaaten ausgetauscht werden. Dies erfolgt nicht, obwohl sich bei beiden
Anschlägen herausgestellt hat, dass vorher relevante Informationen in anderen
Ländern vorlagen. Dies erfolgt nicht, obwohl nach beiden Anschlägen im Rat
Justiz und Inneres beschlossen wurde, dass der Informationsaustausch in Zukunft
automatisch und einwandfrei verlaufen soll. Solange Stolz und Machismus nationaler
Sicherheitsdienste einen höheren Stellenwert als der maximale Schutz der
Bürger haben, hat Europa als Einheit ein ernsthaftes Glaubwürdigkeitsproblem.
Die gleiche Herausforderung existiert beim Umgang mit Terrororganisationen.
Zwar gibt es eine europäische Liste mit Terrororganisationen. Es besteht aber
ein Himmel weiter Unterschied, wie Mitgliedstaaten die auf dieser Liste aufgeführten
Vereinigungen behandeln. Daher kann es vorkommen, dass eine Organisation
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DEN EUROPÄISCHEN TRAUM AUFRECHTERHALTEN
wie die ETA, die seit Jahrzehnten Tod und Verderben verbreitet, in manchen
Mitgliedstaaten verboten ist und mit aller Macht bekämpft wird, während sie in
anderen Mitgliedstaaten frei demonstrieren und sich manifestieren kann. Derartige
unterschiedlicher Umgangsweisen sind nicht nur ein Beweis für den Mangel an
Solidarität untereinander, sondern bringen in einer Union ohne Binnengrenzen
auch die Sicherheit des Einzelnen unnötig in Gefahr. Eine europäische Liste mit
Terrororganisationen kann nur dann Glaubwürdigkeit erlangen, wenn ein Eintrag
auf dieser Liste zu einem deutlichen Verbot und einer Verfolgung überall auf
dem Gebiet der Europäischen Union führt.
Schließlich ist es auch fraglich, ob die heutige durch einzelne Mitgliedstaaten
bestimmte Politik der Visavergabe weiter fortgeführt werden kann. Wie effektiv
ist es denn, dass die Europäische Union mit Russland über die zukünftige Visa-
Regelung verhandelt, obwohl einige Schengen-Mitgliedstaaten bilateral bereits
zu visumfreien Vereinbarungen übergegangen sind? Und wie sozial ist es, dass,
während man beispielsweise in den Niederlanden die notwendige, aber schwere
Entscheidung trifft, Wirtschaftsflüchtlinge in ihr Herkunftsland abzuschieben,
die spanische Regierung beschließt, mit einem Schlag etwa einer Million illegaler
Einwanderer einen spanischen und somit einen EU-Pass auszustellen? Und
wie förderlich ist es der Akzeptanz offener Binnengrenzen, dass ein Land wie
Portugal energisch versucht, die illegale Einwanderung zu bekämpfen, aber
anschließend Gefahr läuft, von einer Flutwelle illegaler Arbeiter beispielsweise
aus der Ukraine überschwemmt zu werden, weil die deutsche Regierung ihnen
auf unberechtigte Weise zu Touristenvisa verholfen hat?
3. Unsere Union muss schließlich auch durch ihr Auftreten in den übrigen
Teilen der Welt weitaus größere Kritik einstecken. Als Auslandssprecher im nationalen
Parlament habe ich hautnah erfahren, wie tief unsere Gesellschaft bei der
Frage über den Irakkrieg gespalten war. Was jedoch bei allen Diskussionen
gewiss gleichermaßen auffiel, war, dass sowohl Befürworter als auch Gegner in
einem Punkt einer Meinung waren: Durch die große Spaltung zwischen den
Mitgliedstaaten hatte Europa kaum einen Einfluss auf den Verlauf der Dinge.
Es ist höchste Zeit, dass die Europäische Union bei der Außenpolitik mit einer
Stimme spricht. Dies wirkt sich nicht nur positiv auf die Glaubwürdigkeit der
Union gegenüber ihren Bürgern aus, sondern bietet uns auch die Gelegenheit,
entscheidenden Einfluss auszuüben. Dieser letzte Punkt ist von noch größerer
Bedeutung, da wir als EU spezifische Qualitäten einzubringen haben. An dieser
Stelle sollte man ebenfalls an die von mir erwähnte „soft power “ unserer Union
denken. Besonders unsere Ausrichtung auf Kernpunkte wie Menschenrechte,
Demokratie und Zivilgesellschaft in unserer Außenpolitik kann ihren Mehrwert
beweisen.
Dieser Fokus ist nicht nur in der Politik, die auf weit entfernte Länder gerichtet
ist, wichtig. Namentlich auch die Einwohner von Nachbarländern der
Europäischen Union, die noch nicht in völliger Freiheit und Demokratie leben,
verdienen unsere Unterstützung. Immer wieder werden wir den Mut haben müssen,
die Regierungen dieser Länder auf ihre Pflicht gegenüber ihren Bürgern
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CAMIEL EURLINGS
anzusprechen und bereitwillige Politiker dort kräftig zu unterstützen. Und wir
werden dabei hauptsächlich aus gemeinsamen Motiven heraus handeln müssen.
Auf der Grundlage eines konstruktiven Dialogs, bei dem die Interessen beider
Seiten berücksichtigt werden, kann die Europäische Union nämlich einen Erfolg
bei der Verbesserung der Menschenrechte zum Beispiel in Russland erzielen.
Aber wenn im gleichen Augenblick einzelne EU-Mitgliedstaaten ihren eigenen Weg
gehen, wie Bundeskanzler Schröder, der den russischen Präsidenten Putin mit den
Worten empfängt „Ihr Land ist eine lupenreine Demokratie“, dann reichen die
Anstrengungen Europas längst nicht für den optimalen Erfolg aus.
Was für unsere Nachbarländer im Allgemeinen gilt, gilt mit noch größerem
Nachdruck für die Länder, die die Absicht haben, irgendwann Mitglied der Union
zu werden. Während die größte Herausforderung in der Zukunft in einer Vertiefung
unserer Werteunion liegen sollte, wäre es nicht nur für die Einwohner der Türkei,
sondern auch für die zukünftigen Kandidatenländer selbst schlecht, wenn sie
nicht den Mut besäßen, an den Kopenhagen-Kriterien als nicht verhandelbaren
Bedingungen für den Beitritt festzuhalten. Ferner könnte dadurch die
Verwirklichung einer stärkeren und solideren Union selbst zu einer unrealisierbaren
Utopie werden.
Weiter in Europa zu investieren, bedeutet in uns selbst zu investieren
Es ist unglaublich, was der Traum bedeutender Christdemokraten wie Schuman,
Monnet, Adenauer und De Gasperi bewirkt hat. Dafür gebührt Ihnen Dankbarkeit.
Gleichzeitig müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass Europa noch in weiter
Ferne liegt. Derselbe Mut, den die Gründerväter hatten, als sie die ersten
Schritte in Richtung einer Zusammenarbeit unternahmen, muss uns
Christdemokraten heute dazu veranlassen, die erweiterte Union weiter zu stärken:
sie stärker zu machen bei der Bewältigung grenzüberschreitender Herausforderungen;
sie eindeutiger darzustellen bei ihrer Positionierung gegenüber dem Rest
der Welt. Vor allem müssen wir mit diesen Taten gegenüber den Bürgern beweisen,
dass Bundeskanzler Kohl Recht hatte. Er hielt den Mitgliedstaaten der EU vor
Augen, dass Investitionen in Europa Investitionen in sie selbst und ihre eigenen
Einwohner sind.
Auf diese Weise können wir dafür sorgen, dass Europa nicht nur für die
Bürger existiert, die Zeiten des Krieges und einen Mangel an Demokratie in
Europa erlebt haben, sondern auch für die jüngeren Bürger, für die das Leben in
der EU selbstverständlich erscheint. Denn nur, wenn die Europäische Union in
den Herzen lebt, wird der Europäische Traum Wahrheit.
Ich halte es für ein Privileg, aus dem Europäischen Parlament ein Scherflein
dazu beizutragen. Ich bin stolz darauf, dies von einer Partei aus tun zu können,
die den Grundstein für das heutige Europa gelegt hat.
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September 2005
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Jonathan EVANS
Leiter der britischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament 2001-2004
Europa im Jahr 2020:
Die Wirtschaftliche Revolution ist vollendet
Vor zwanzig Jahren war Europa ein geteilter Kontinent, der in zwei hochgerüstete
gegnerische Blöcke gespalten war. Westeuropa war eine Gemeinschaft der
freien Völker mit pluralistischen Demokratien und freien Märkten, in der Wohlstand
herrschte. Osteuropa war eine vom kommunistischen Totalitarismus unterjochte
Region mit marxistischen Kommandowirtschaften, in der relative Armut herrschte.
Wie sehr hat sich die Welt doch in dieser verhältnismäßig kurzen geschichtlichen
Zeitspanne verändert. Mit wenigen bemerkenswerten Ausnahmen beruht
unser Kontinent heute weitgehend auf einer liberalen Demokratie, offenen
Marktwirtschaften und relativem Wohlstand. Wir sind noch dabei, uns auf den
Umfang und die Größenordnung des Wandels einzustellen. Die Wiedervereinigung
Europas ist eines der großen politischen Ereignisse unserer Zeit, und das
Wiederaufleben demokratischer Ideale in Mittel- und Osteuropa hat weltweit
Zeichen gesetzt.
Mit der Erweiterung der Europäischen Union um die ehemals kommunistischen
Staaten Mittel- und Osteuropas hat sich ein von meiner Partei lange gehegter
Wunsch erfüllt. In den kommenden Jahren werden wir die Frage erörtern und entscheiden,
welche weitere Ausdehnung sich die EU vornehmen kann. Einige würden
gern eine endgültige Grenze Europas unter Ausschluss der Türkei und anderen
Ländern festlegen. Andere hingegen setzen sich nachdrücklich dafür ein, die
EU-Außengrenzen auszudehnen, um Sicherheit und Stabilität zu stärken. Dies
wird für das kommende Jahrzehnt und darüber hinaus einer der Schlüsselfaktoren
für die Entwicklung der Union sein. Ich für meinen Teil sehe große Vorteile in
einer Aufnahme der Balkanstaaten, der Türkei und der Ukraine. Diese Länder sind
von maßgeblicher strategischer Bedeutung. Die Türkei strebt seit langem an,
Mitglied der Europäischen Union zu werden, und die Ukraine entwickelt sich
möglicherweise zu einem wichtigen Bindeglied in den Beziehungen zwischen der
Europäischen Union und Russland.
Die Festlegung der EU-Außengrenzen ist nur eine der großen Herausforderungen,
denen sich Gesetzgeber und Politiker in den nächsten zwanzig Jahren
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JONATHAN EVANS
stellen müssen. Eine weitere Bewährungsprobe wird darin bestehen, abzustecken,
wie die Europäische Union aussehen wird, der die Türkei und die Ukraine
möglicherweise beitreten werden. Wird sie sich weiterhin zu der politischen
Union entwickeln, auf die die Europäische Verfassung abzielt? Oder wird die
Verfassung als historisches Artefakt, als Vermächtnis hochfliegender föderalistischer
Ambitionen enden? Wenn diese Veröffentlichung in Druck geht, haben die
Menschen Europas ihre Entscheidung über dieses Unterfangen noch nicht getroffen.
Eines ist jedoch klar. Die Auseinandersetzung darüber, ob die EU zu einer
politischen Union werden oder im Wesentlichen eine Partnerschaft von
Nationalstaaten bleiben soll, wird nicht auf Großbritannien begrenzt bleiben. Ich
bin stets der Ansicht gewesen, dass in einer Union von dreißig oder mehr
Nationalstaaten dem Wunsch nach gemeinsamem Handeln als Ausgleich die
Beibehaltung wesentlicher Elemente staatlicher Souveränität der Nationalstaaten
entgegensetzt werden muss. Ob die Verfassung in ihrer heutigen Form der
Angelpunkt für die langfristige Zukunft Europas sein wird, bleibt zu bezweifeln.
Die Rolle der Europäischen Union auf der Weltbühne ist eine weitere wichtige
Herausforderung, der wir uns in Zukunft zu stellen haben werden. Es gibt
zwei Denkschulen, die – so befürchte ich – die Amtszeit von Präsident Bush
lange überdauern werden. Der ersten zufolge ist es dringend erforderlich, dass
Europa in zunehmendem Maße als Gegengewicht zu den Vereinigten Staaten
agiert. Der Oberlehrer dieser speziellen Schule ist Frankreich, während das
Vereinigte Königreich sowie einige der ost- und mitteleuropäischen Länder die
Opposition zu den französischen Ambitionen anführen. Die britische Denkschule
vertritt den Standpunkt, dass Europa nicht darauf hoffen kann, der Militärmacht
der USA ebenbürtig zu werden, und dass die transatlantische Partnerschaft zutiefst
im europäischen Interesse liegt. Ich bekenne mich schuldig, ein Absolvent der
britischen Schule zu sein, und zwar nicht, weil ich glaube, die USA hätten das
Recht, von Europa zu erwarten, dass es mit jedem Abenteuer, auf dass sie sich
einlassen, konform geht. Vielmehr behalte ich die langfristigen Perspektiven der
internationalen Beziehungen im Auge. In zwanzig Jahren werden sich in anderen
Teilen der Welt neue strategische Bündnisse herausgebildet haben. China z.
B. entwickelt sich nicht nur zu einem wirtschaftlichen Riesen, sondern auch zu
einer militärischen Supermacht. Die Europäer und die Amerikaner werden einander
brauchen, um die Stabilität auf ihren eigenen Kontinenten, aber auch in den
Teilen der Welt zu stärken, in denen neue Bedrohungen für unsere Sicherheit entstehen
werden.
All diese Herausforderungen sind miteinander verwoben. Sicherheit und
Stabilität auf dem europäischen Kontinent können nicht ohne ein politisches
System, das der demokratischen Kontrolle unterliegt und Akzeptanz genießt,
bzw. nicht ohne ein umfassenderes Bewusstsein dafür gefestigt werden, wie wir
uns am besten über unserer Grenzen hinaus gegen Bedrohungen verteidigen
können. Die Geschichte zeigt jedoch, dass der Schlüssel für die Art und Weise,
wie sich Gesellschaften entwickeln, im wirtschaftlichen Bereich liegt. Wohlstand
ist die Grundlage der Stabilität der Demokratie und der friedlichen Koexistenz zwi-
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EUROPA IM JAHR 2020: DIE WIRTSCHAFTLICHE REVOLUTION IST VOLLENDET
schen Staaten und Blöcken. Die Ursache für den Zusammenbruch der Sowjetunion
lag im Scheitern ihres Wirtschaftssystems. Auch der Fall der Berliner Mauer war
ein Zeugnis für ein korruptes und ineffizientes Wirtschaftssystem, das Millionen
Europäer zu relativer Armut verurteilte. Dagegen könnte der Vormarsch des chinesischen
Wirtschaftswunders sehr wohl zu einer noch nicht voraussagbaren Art
von politischer Reform führen. Es wird angenommen, dass der Zustand der
Wirtschaft bei Wahlen stets eine ausschlaggebende Rolle spielt. Im Verlauf der
Geschichte hat der wirtschaftliche Wandel oder die Forderung danach Revolutionen
und politische Reformen ausgelöst. Im Kontext der Europäischen Union, so wie
sie sich möglicherweise im Jahr 2020 darstellt, wird meines Erachtens die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit des Kontinents maßgeblichen Einfluss darauf haben,
in welcher Art von EU wir dann leben werden.
Eine wirtschaftliche Revolution
Für die britischen Konservativen liegt der große Nutzen des europäischen
Experiments in der Aussicht auf Freihandel und wachsenden Wohlstand. Mit dem
politischen Projekt tut sich unser nationales Bewusstsein jedoch schwerer.
Ungeachtet der Skepsis meines Landes gegenüber den Vorteilen einer größeren
politischen Union sind wir uns jedoch der Tatsache bewusst, dass Europa für das
Vereinigte Königreich einen enormen wirtschaftlichen Nutzen haben kann. Auf die
Probe gestellt wird dieses Bewusstsein in jüngster Zeit allerdings, wenn es in den
Diskussionen der Politiker und sonstigen politischen Akteure um das Ausmaß
des wirtschaftlichen Niedergangs Europas geht. Europa befindet sich in einer
Phase des tief greifenden wirtschaftlichen Wandels. In vielen Ländern der ehemaligen
EU-15 lässt sich die Herausforderung des wirtschaftlichen Wandels eher
als Gefahr in den Köpfen der Menschen beschreiben. Die Politiker der Rechten
und der Linken haben nach meinem Dafürhalten nach die „Sehprüfung“ nicht
bestanden. In zu vielen Staaten Europas geht es vor allem darum, die wirtschaftliche
und soziale Nachkriegsordnung im Sinne der kurzfristigen politischen
Zweckmäßigkeit zu schützen.
In den neuen Mitgliedstaaten hingegen wird das Tempo der Wirtschaftsreform,
obwohl diese oftmals eine schmerzliche Erfahrung darstellt, weitgehend als Chance,
ja als Notwendigkeit begriffen. Ihr Streben nach einer wettbewerbsfähigen
Steuerpolitik, flexiblen Arbeitsmärkten, einer soliden mikroökonomischen Reform
und offenen Märkten war eine Inspiration für diejenigen unter uns, die sich für die
im Großbritannien der 1980er Jahre von den Konservativen auf den Weg gebrachte
wirtschaftliche Revolution stark gemacht hatten. Die Lehre, die die westeuropäischen
Länder von ihren Nachbarn lernen können, besteht darin, dass Halbheiten
bei den Reformen lediglich den relativen Niedergang verlängern. Bekanntermaßen
ist es zwar leicht, über Reformen zu reden, aber schwierig, sie umzusetzen.
Viele von uns hatten gehofft, dass der Gipfel von Lissabon im Jahr 2000 einen
Wendepunkt in der wirtschaftlichen Ausrichtung der EU darstellen würde. Damals
war die Bühne dafür bereitet, ein neues Denken auf den Weg zu bringen und mit
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JONATHAN EVANS
althergebrachten Vorgehensweisen aufzuräumen. Das hatten wir zumindest
geglaubt. Nach der Hälfte der Laufzeit des „Lissabonner Prozesses“ im Jahr 2005
wurde schmerzlich klar, dass die wirtschaftliche Bilanz weit hinter den festgelegten
Zielen zurückblieb. Mit seinem unstillbaren Drang nach Innovation und
Flexibilität, der weit größer ist als auf dieser Seite des großen Teichs, konnte
Amerika seinen Vorsprung vor den europäischen Volkswirtschaften halten.
Unterdessen setzten China und Indien, die zusammen mehr als zwei Milliarden
Einwohner haben, ihren phänomenalen Wirtschaftsaufschwung fort. Der größte
Teil Europas verharrte in Stagnation und klammerte sich an die verzweifelte
Hoffnung, sich weiterhin auf das vermeintlich bewährte wirtschaftliche Rezept verlassen
zu können. Schließlich ging es uns ja nicht schlecht, oder?
Europa befindet sich gegenüber anderen Wirtschaftsblöcken in einer prekären
Lage. In der Nachkriegszeit wurde ein hohes und im Wesentlichen dauerhaftes
Wirtschaftswachstum in den meisten europäischen Ländern als gegeben hingenommen.
Der wachsende Wohlstand schien selbstverständlich zu sein. So
hielten es viele für logisch, die Arbeitszeit zu verkürzen, den immer höheren
Lebensstandard zu genießen, früh in Rente zu gehen, ohne sich über die Kosten
dieser Privilegien übermäßig Sorgen zu machen. Aber die Dinge haben sich
geändert, und die angenehmen Tage sind lange vorbei.
Was hat sich geändert? Erstens haben die Länder von Asien bis Südamerika
Reformen durchgeführt, die ihnen einen Konjunkturaufschwung ermöglichten, der
vor nur 20 Jahren unvorstellbar gewesen wäre. Wie bereits erwähnt, liegen China
und Indien in Führung und treiben Wirtschaftsreformen in einer für den Zuschauer
atemberaubenden Größenordnung voran. Sie sind zielstrebig bei ihren
Innovationsbemühungen und rigoros beim Abbau von Bürokratismus, der die
unternehmerische Initiative beeinträchtigt. Das Ergebnis ist ein Boom der
Binneninvestitionen in einem nie dagewesenen Ausmaß. Unterdessen hat Europa
gegenüber anderen Industrieländern an Wettbewerbsfähigkeit eingebüßt.
Amerikanische und australische Unternehmen sind in Ländern mit flexibleren
Arbeitsmärkten und einem unternehmerfreundlicheren Umfeld tätig als ihre europäischen
Mitbewerber. Ich habe den Eindruck, dass die moderne Europäische
Union von einer im Wesentlichen sozialdemokratischen Philosophie geprägt ist,
die nach wie vor selbst in den Ansichten von politischen Parteien der rechten Mitte,
nicht nur der Linken, fortbesteht. Kernstück dieser Philosophie ist die selbstgefällige
Auffassung, dass das sozialdemokratische Europa ein „zivilisierterer“ Ort
ist als der „Wilde Westen“ des amerikanischen Kapitalismus.
Zweitens hat Europa zwar innovative Weltklasseunternehmen wie Nokia und
Glaxo SmithKline aufzuweisen, aber allzu oft haben wir es nicht fertig gebracht,
uns die technologischen Revolutionen voll und ganz zunutze zu machen. Es ist
augenfällig, dass Europa Silicon Valley nichts Gleichwertiges entgegenzusetzen
hat, und dass die amerikanischen Universitäten bei allen Bewertungen
Spitzenpositionen einnehmen. Indien hat die Gelegenheiten, die sich im Zuge der
Revolution der elektronischen Kommunikation boten, mit einem Eifer ergriffen,
den kaum jemand vorausgesagt hätte. Wir müssen unseren Einsatz jedoch nicht
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EUROPA IM JAHR 2020: DIE WIRTSCHAFTLICHE REVOLUTION IST VOLLENDET
nur in den neuen Branchen erhöhen: Im Bereich der Automobilherstellung z. B.
erzielt Japan hervorragende Ergebnisse, und während Volkswagen und Fiat mit
ihren Problemen zu kämpfen haben, steht Toyota bereit, General Motors als
weltweit führendes Unternehmen zu überholen.
Drittens hat sich die Überalterung beschleunigt. Dass wir länger leben, ist
eine wunderbare Sache, aber wir sind jetzt schon soweit, dass wir genauso lange
wirtschaftlich abhängig sind – während der Kindheit, der Ausbildung bzw. des
Ruhestands – wie wir wirtschaftlich produktiv sind. Der moderne europäische
Wohlfahrtsstaat wurde zu einer Zeit entworfen, in der man davon ausging, dass
wir unser Rentnerdasein etwa zehn Jahre lang genießen. Jetzt aber dauert die
Vollzeitausbildung länger, wir gehen früher in Rente – oftmals bereits im fünften
Lebensjahrzehnt – und leben länger. Außerdem haben wir immer höhere
Erwartungen an das Gesundheitssystem. Ohne Renten- und Gesundheitsreform
müssen unsere Kinder für all dies aufkommen, aber leider bekommen wir ja
nicht genug Kinder. Um die Reproduktion der Bevölkerung zu gewährleisten,
müsste jede Familie im Durchschnitt 2,1 Kinder haben, aber in vielen europäischen
Ländern ist dies nicht der Fall: So liegt die Geburtenrate in Spanien und in Italien
eher zwischen 1,2 und 1,3 und beträgt im EU-Durchschnitt 1,4 bis 1,5.
Was also zu tun? Erstens muss Europa die Wirtschaftreform mit dem Eifer des
Bekehrten vorantreiben. Wenn eine realistische Aussicht dafür bestehen soll,
dass das „Europa 2020“ die Wirtschaftsmacht ist, die es gern sein möchte, muss
ein tiefgreifender und anhaltender Wandel im politischen Denken erfolgen. Die
Debatte darüber, wie in diesem Bereich Fortschritte erzielt werden können, ist
glücklicherweise bereits im Gange. Statt die Sache aber als spannende
Herausforderung anzunehmen, wird sie nach wie vor eher als unangenehme
Aufgabe betrachtet. In gewisser Weise erinnert die große Debatte über die
Wirtschaftsreform, die europaweit stattfindet, an die Diskussionen im Vereinigten
Königreich in den 1970er und 1980er Jahren, als der vermeintlich endgültige
Niedergang Großbritanniens von einer visionären konservativen Regierung abgewendet
wurde, die sich selbst das scheinbar unmögliche Ziel setzte, das Vereinigte
Königreich wieder in die Reihe der weltweit führenden Wirtschaftsmächte aufrücken
zu lassen. Heute jedoch, zwanzig Jahre nach dem Beginn der britischen
Revolution, weist unsere Volkswirtschaft ein beständiges Wachstum auf, dessen
Tempo über dem EU-Durchschnitt liegt. Die Erfahrungen Großbritanniens sowie
Spaniens und der neuen Mitgliedstaaten sind übertragbar. Es gibt keinen
Zauberstab, den man schwingen könnte, und keine unsichtbare Hand des Staates,
die man zum Einsatz bringen könnte. Es erfordert politischen Mut, um nach dem
Motto der Amerikaner „walk the walk, not just talk the talk“ zu handeln, statt nur
zu reden.
Zweitens müssen wir die Gelegenheiten der technologischen Innovation
ergreifen, wenn sie sich bieten. Forschung und Entwicklung sind zu Recht das
Kernstück der Lissabonner Agenda, und der hohe Bildungsstand unserer Bürger
ist ein Vorzug, den wir entschlossener nutzen können und müssen. Es gilt unsere
Forschungs- und Entwicklungsausgaben von derzeit zwei Prozent des BIP auf
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JONATHAN EVANS
etwa drei Prozent anzuheben und uns vor allem auf die Förderung kleiner innovativer
Unternehmen zu konzentrieren, die der Motor für Wachstum und
Beschäftigung in der Zukunft sein werden. Umgekehrt müssen wir das Bestreben
aufgeben, Branchen zu schützen, in denen wir aufgrund der geringeren
Arbeitskosten in den Entwicklungsländern niemals konkurrenzfähig sein werden,
und wir müssen der Versuchung widerstehen, nicht lebensfähige
Unternehmen mit staatlichen Beihilfen retten zu wollen.
Schließlich gilt es unsere Wohlfahrtsstaaten zu reformieren. Dies wird eine
gewaltige Aufgabe sein, wobei kein einzelnes Land ein Wissensmonopol darüber
innehat, wie dieses Ziel am besten zu erreichen ist. Wenn wir nichts gegen
die ausufernden Kosten unserer nicht reformierten Wohlfahrtssysteme unternehmen,
so wird dies unvermeidlich zu einem wirtschaftlichen Desaster führen. Wir
können die Auseinandersetzung mit diesem Problem nicht der nächsten
Generation überlassen. Es sind nicht die Kosten des Wandels, nach denen wir fragen
müssen, sondern die Kosten, die ohne einen solchen Wandel auf uns zukommen
werden. Im letztgenannten Fall wird es unweigerlich zu einer wirtschaftlichen
Kernschmelze kommen. Ganz oben auf der Liste der Prioritäten für die
Regierungen der Mitgliedstaaten wird die Rentenreform stehen, insbesondere
diejenigen Änderungen, die der Notwendigkeit Rechnung tragen, sich weniger
auf den Staat und mehr auf private Rentensysteme zu verlassen. Darüber hinaus
müssen wir auch erkennen, dass wir nur dann Wirtschaftswachstum erzielen
und für unsere Renten, Gesundheits- und Sozialdienste aufkommen können,
wenn wir entweder mehr Kinder bekommen oder bereit sind, mehr gut ausgebildete
Wirtschaftsmigranten aufzunehmen.
Manch einem mag das Bild, das ich von Europa 2006 zeichne, allzu niederschmetternd,
düster und beängstigend erscheinen. Meine These basiert jedoch
nicht auf irgendeiner wissenschaftlichen Abhandlung, sondern auf dem, was
heute in Westeuropa weitgehend Realität ist. Um die Stimmung etwas aufzuhellen,
möchte ich meine Darstellung mit einer optimistischen Einschätzung dessen
ergänzen, was wir gut machen. Es gibt insbesondere drei Bereiche, in denen
wir der Zukunft hoffnungsvoll entgegensehen können.
Mitte des 19. Jahrhunderts forderte der große amerikanische Zeitungsherausgeber
und Politiker Horace Greeley einen Mitbürger auf: „Go west, young man,
and grow up with the country “. Wenn ich die Zukunft Europas betrachte, dann
schaue ich in zunehmendem Maße auf die neuesten EU-Mitgliedstaaten und
darauf, was sie zu bieten haben. Heute würde Greeley wahrscheinlich sagen:
„Go east.“
Der Teil der Europäischen Union, der das höchste Wachstumstempo aufweist,
ist Mitteleuropa, und wenn dies auch zum Teil zwangsläufig darauf zurückzuführen
ist, dass es den neuen Mitgliedstaaten schlechter geht und dass sie einiges aufzuholen
haben, müssen wir ihnen ihr innovatives wirtschaftliches Denken und
ihre Kühnheit bei der Annahme neuer Strategien hoch anrechten. Und sie sind
in keinem Bereich so kühn wie in der Steuerpolitik.
Zu lange schon hemmen einige europäische Länder die Wirtschaftstätigkeit
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EUROPA IM JAHR 2020: DIE WIRTSCHAFTLICHE REVOLUTION IST VOLLENDET
durch hohe Einkommens- und Körperschaftsteuern. Statt aus den von Reagan
und Thatcher durchgeführten Reformen zu lernen, klagen viele darüber, dass die
niedrigen Steuern in vielen der neuen Mitgliedstaaten auf einen unlauteren
Wettbewerb hinauslaufen und zu so genanntem „Sozialdumping“ führen würden.
Das beste und mutigste Beispiel bietet die Slowakei, die ein außerordentlich
einfaches Steuersystem einführte: Der Körperschaftsteuer-, Einkommensteuerund
Mehrwertsteuersatz beträgt 19 Prozent, und es gibt ab dem Zeitpunkt seiner
Einführung keinerlei Ausnahmen. Die Slowakei wurde durch ein hohes Niveau
der Binneninvestitionen und – allen gegenteiligen Vorhersagen zum Trotz – höhere
Steuereinnahmen belohnt. Andere mitteleuropäische Staaten folgen ihrem
Beispiel, und ich freue mich sagen zu können, dass einige der etablierteren
Mitgliedstaaten es zu Kenntnis nehmen. Österreich hat unter der Führung von
Wolfgang Schüssel mit der Absenkung seines Körperschaftsteuersatzes von 34 %
auf 25 % reagiert, um mit dem Nachbarland konkurrieren zu können. Ich vertrete
nicht unbedingt die Ansicht, dass Pauschalsteuern für alle Volkswirtschaften
Europas die richtige Antwort sind. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass die
neuen Mitgliedstaaten die Europäische Union dazu bringen werden, ihre Steuern
zu senken und einfachere Steuersysteme einzuführen, die wir brauchen, um
weltweit konkurrenzfähig zu sein.
Der zweite Grund zum Optimismus ist für mich der Binnenmarkt. Dieser ist
keinesfalls vollendet, war aber bis jetzt ein außerordentlicher Erfolg. Als
Großbritannien 1973 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitrat, wurde
streng kontrolliert, wie viel Geld jemand ins Ausland mitnehmen durfte, und
welche Lufttransportgesellschaft eine bestimmte Strecke bedienen durfte. Jetzt
können sich Kapital und Waren frei zwischen den Mitgliedstaaten bewegen, und
bei den Billigfluggesellschaften ist ein erstaunliches Wachstum zu verzeichnen.
Der Binnenmarkt wird sich – auch im Bereich des Warenverkehrs – weiterentwickeln,
ist aber für die europäischen Unternehmen und Verbraucher schon
jetzt von enormem Wert. Nunmehr besteht unsere Aufgabe darin, für seine
Ausweitung, insbesondere auf den Dienstleistungssektor, zur sorgen, auf den
etwa zwei Drittel der Wirtschaftstätigkeit der EU entfallen. Es wird trotz des
Erfolgs des Binnenmarktes sehr schwer sein, diese zweite Phase umzusetzen, ist
aber unbedingt erforderlich, wenn wir wettbewerbsfähig bleiben wollen.
Schließlich ist auch mein Glaube daran, dass die jetzige Kommission die
reformfreudigste ist, die wir je hatten, ein Grund zum Optimismus. Bei der
Darlegung ihrer strategischen Ziele für 2005-2009 erklärte sie, dass es ihr vorrangiges
Anliegen sei, Europa wieder auf den Weg des Wohlstands zu bringen,
und stellte fest, dass Wachstum und Arbeitsplätze an erster Stelle stehen. Dem stimme
ich von ganzem Herzen zu, und ich bin besonders erfreut darüber, dass José
Manuel Barroso in den wichtigsten Bereichen wie Wettbewerb, Binnenmarkt
und Landwirtschaft reformorientierte Personen in die Kommission berufen hat.
Sie verdienen unsere uneingeschränkte Unterstützung, wenn wir bis 2020 ein
Europa mit einer wettbewerbsfähigen, nachhaltigen und dynamischen Wirtschaft
aufbauen wollen.
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Fazit
JONATHAN EVANS
Es gibt viele Themen, auf die ich in diesem Artikel hätte eingehen können.
So zum Beispiel die Frage, ob es 2020 überhaupt noch eine Europäische Union
geben wird, und wenn ja, ob sie der britischen Vision einer Partnerschaft von
Nationalstaaten oder einem mächtigen föderalen Koloss entsprechen wird, der die
Macht der USA herausfordert. Ich hätte die geografische Reichweite der
Europäischen Union und ihre Fähigkeit erörtern können, sich die Vielfalt in
Gestalt der Türkei, Nordafrikas oder der Länder des östlichen Mittemeerraums zu
eigen zu machen. Es wäre auch interessant gewesen, Überlegungen über die
Frage anzustellen, ob die EU eine neue strategische, politische und wirtschaftliche
Beziehung zu Russland aufbauen wird, oder über die Aussichten eines
Europas, das Amerika als Weltpolizist herausfordert. Es gibt unendlich viele wichtige
Themen, die ich im Zusammenhang mit meinen Überlegungen über die
Zukunft unseres Kontinents hätte untersuchen können.
Im Kontext dieser Veröffentlichung habe ich mich jedoch dafür entschieden,
Gedanken über die wirtschaftliche Zukunft der Länder und Völker Europas
zusammenzutragen. Viele wird es nicht überraschen, dass sich die Briten lieber
mit der Praxis als mit der Theorie, lieber mit scheinbar nüchternen Aspekten als
mit großartigen Programmen befassen. Ich entschuldige mich nicht für mein
Thema oder dafür, dass ich meinen Standpunkt so vehement vertrete. Mir scheint,
dass es unabhängig davon, ob jemand ein europäischer Idealist ist, der der
Zukunft und der Aussicht auf ein Vereinigtes Europa sehnsüchtig entgegenblickt,
oder jemand wie ich, der einfach nur möchte, dass die EU als Partnerschaft von
Nationalstaaten Erfolg hat, ein Konsens darüber bestehen sollte, dass die nächste
Generation von Europäern in Wohlstand leben muss. Allzu oft schauen wir in
unserem politischen Diskurs nicht bis zum Horizont, sondern sehen alles durch
das Prisma der nächsten allgemeinen Wahlen. Ich bin im Herzen, was Europa
betrifft, ein Optimist, aber mein Optimismus ist durch die Besorgnis getrübt, dass
wir zu oft von einer Verfassungserneuerung und -reform abgelenkt werden.
Wenn wir uns nicht dafür einsetzen, eine Wirtschaftsreform, wie ich sie beschrieben
habe, umzusetzen, wird Europa nicht in der Weise prosperieren, wie wir
dies alle möchten. Mögen die Früchte dieser Revolution das wahre Vermächtnis
sein, das wir den kommenden Generationen von Europäern hinterlassen.
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März 2005
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Europa – ein Erfolg
Benita FERRERO-WALDNER
Mitglied der Europäischen Kommission
Europa als globaler Partner
Eine klare Vision, nämlich die friedliche Einigung Europas, stand an der Basis
unseres erfolgreichen Integrationsprojektes. Auf den Trümmern zweier kontinentaler
Bürgerkriege entwickelten die Gründerväter unserer Union ein revolutionäres
Modell: Das Friedensprojekt der Integration, das durch die Erweiterung
von 2004 auf fast ganz Europa ausgedehnt wurde.
Wer Visionen für das Europa im Jahre 2020 entwickeln will, tut gut daran,
diese Fundamente des gemeinsamen europäischen Hauses zu betrachten. Die
Europäische Union ist und bleibt das feste Rückgrat, aus dem Europa seine
politische Stärke bezieht. Sie ist mehr als die bloße Summe ihrer Teile. Die
Union hilft uns, gemeinsame grenzüberschreitende Probleme zu lösen. Sie hat
Europas Wohlstand massiv gestärkt. Die Schaffung der politischen Union, die
Vervollkommnung des Binnenmarktes, die wirtschaftliche Stabilität durch den
Euro und nicht zuletzt die jüngste Erweiterung, all dies formt eine eindrucksvolle
Bilanz.
Die EU ist als politisches Projekt somit unverändert relevant. Europa hat seinen
Traum in nur wenigen Jahrzehnten verwirklicht. Um Europa aber für die
Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu wappnen, seine internationale
Strahlkraft zu erhöhen und um zu verhindern, dass die Integration an der
Selbstverständlichkeit des Erreichten kränkelt, müssen wir den „Mythos Europa“
revitalisieren. Europavisionen für 2020 sind unser einigender Traum, ja die Basis
unserer politischen Identität. Solche Visionen zu skizzieren, ist daher kein politischer
Luxus, sondern absolut notwendig.
Gemeinsam stärker – nach innen und außen
Europa muss sich vor allem drei miteinander zusammenhängenden
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Grundfragen widmen: Erstens müssen, nicht zuletzt mit Hilfe der neuen EU-
Verfassung, die Demokratie und Legitimität des Integrationsprozesses gestärkt
werden. Wir müssen das Paradoxon überwinden, dass das „grenzenlose Europa“
einerseits historische Erfolge feiert, andererseits aber viele Bürger das Gefühl
haben, dass Europa nicht auf dem richtigen Weg sei.
Zweitens müssen Europas Wirtschaft und seine Sozialsysteme durch massive
Strukturreformen fit für das 21. Jahrhundert gemacht werden. Europas Wohlstand
kann nur Bestand haben, wenn wir sein enormes Potential besser nützen, dauerhaftes
Wachstum schaffen und die kreativen und intellektuellen Ressourcen
Europas effizienter zum Ausbau einer Wissensgesellschaft verwenden.
Drittens muss Europas internationale Rolle stark ausgebaut werden, um unserer
globalen Verantwortung noch besser gerecht zu werden und unsere Interessen
international einzubringen. Dies hängt auch mit den beiden obigen
Herausforderungen, Demokratie und Wirtschaftsreformen, zusammen. Eine starke
europäische Außenpolitik ist in einer zunehmend vernetzten Welt, in der die
Bedeutung von Grenzen stetig abnimmt, unabdingbar, um Wohlstand und Sicherheit
für zukünftige Generationen zu sichern und dadurch Europas Legitimität zu stärken.
Innen- und Außenpolitik hängen eng zusammen. Europa muss sich als globaler
Spieler verstehen und die Globalisierung noch aktiver als bisher mitgestalten.
Das ist nicht nur Teil unserer internationalen Verantwortung, sondern folgt auch
aus aufgeklärtem Eigeninteresse: Wir müssen Stabilität exportieren, um nicht selbst
auf Dauer Instabilität zu importieren. Sich abzuschotten wäre fatal. Meine Vision
ist die eines Europas, das auch weiterhin als starker und verantwortungsvoller
Akteur die internationalen Beziehungen maßgeblich mitbestimmt.
Europa – ein globaler Akteur
BENITA FERRERO-WALDNER
Die Union der 25 ist bereits ein globaler Faktor. Wir sind mit dem größten
Bruttonationalprodukt und einer gemeinsamen Währung der größte
Wirtschaftsblock der Welt. Wir tragen mit unseren weltweiten Netzwerken zu
Sicherheit und Reformen bei. Wir sind der weitaus größte Geber von Wirtschaftsund
Entwicklungshilfe. Wir engagieren uns einer Vielzahl von Krisenmanagementoperationen.
Vor allem haben Europa und die Ideen, auf denen es fußt, allen
voran Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und soziale Marktwirtschaft, eine enorme
globale Anziehungskraft. Das geeinte Europa ist daher eindeutig ein gestaltendes
Subjekt der internationalen Politik.
Die Stärkung und Weiterentwicklung dieser internationalen Rolle ist meine
Hauptaufgabe als EU-Kommissarin für Außenbeziehungen und Europäische
Nachbarschaftspolitik. Wir müssen unser breites Instrumentarium noch rascher
und effizienter einsetzen. Europa muss sein Potential nützen. Im Lichte neuer
Herausforderungen besteht ein klarer politischer Imperativ für europäisches
Handeln. Dies ist kein Plädoyer für den Aufbau einer europäischen „Supermacht“.
Europa will kein globales „Imperium“ schaffen. Das Gewicht Europas ermög-
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EUROPA ALS GLOBALER PARTNER
licht uns aber, einen wichtigen Beitrag zur internationalen Kooperation zu
leisten.
Mehrere Grundphänomene werden die außenpolitische Landschaft bis 2020
wesentlich beeinflussen. Erstens sehen wir international vermehrt den Zerfall
staatlicher Strukturen, d.h. ein „Scheitern“ von Staaten, die dann als Inkubatoren
regionale Unsicherheit erzeugen. Diese Instabilität wirkt sich auch auf Europa
aus – politisch, wirtschaftlich, humanitär und ökologisch. Es ist daher essentiell,
schwache und rechtlose Gebiete durch aktives „State Building“ zu reformieren.
Der beste langfristige Schutz unserer Sicherheit sind die Demokratisierung von
Krisenregionen und die Schaffung wirtschaftlicher Entwicklungsmöglichkeiten.
Gerade hier kann die EU entscheidenden Mehrwert liefern. Es ist eine realistische
Vision, dass Europa in Zukunft noch effizienter als bisher als „Exporteur von
Stabilität“ fungiert, in seiner unmittelbaren Nachbarschaft und weltweit.
Eine zweite spezifische Herausforderung ist der neue Terrorismus, der sich
auch gegen Europas offene Gesellschaften und universelle Grundwerte richtet.
Der Terrorismus ist in seiner Substanz eine radikale Gegenbewegung zu einer
beschleunigten gesellschaftlichen Modernisierung. Wir brauchen deshalb eine
intelligente Verbindung von entschlossenem Handeln und sanftem Einfluss, von
„hard power “ und „soft power “, um die Wurzeln dieser Gefahr anzupacken.
Gleichzeitig dürfen wir uns nicht die Logik eines „Kampfes der Kulturen“ aufzwingen
lassen – gerade das ist ja ein Ziel des Terrorismus. Wir müssen dem
Terror die Grundwerte der Demokratie, der Menschenrechte und der Toleranz
entgegensetzen. Europa kann hier mit seinen Instrumenten und seiner außenpolitischen
Strahlkraft wichtigen Einfluss ausüben. Unsere Grundfreiheiten werden
auch in der Epoche bis 2020 und weit darüber hinaus ein weltweites Signal der
Hoffnung bleiben.
Zuletzt müssen wir noch stärker als bisher die Globalisierung gestalten und
uns vor allem den Problemen an der „dunklen Seite der Globalisierung“ widmen.
Wirtschaftliche Krisen, strukturelle Armut in einzelnen Regionen, die
Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, Auseinandersetzungen um
Rohstoffreserven, das internationale organisierte Verbrechen, massive Migration,
Krankheiten und Epidemien, all das sind Faktoren, die sowohl schreckliche
humanitäre Folgen in den betroffenen Regionen als auch einen längerfristigen
Einfluss auf Europas Sicherheit und Wohlstand haben. Sich diesen Problemen
aktiv zu stellen, ist daher nicht nur eine Frage internationaler Solidarität, sondern
auch ein politischer Imperativ für Europa.
Europa hantiert deshalb einen weiten Sicherheitsbegriff, der die menschliche
Sicherheit ins Zentrum rückt und der seit langem ein Leitmotiv meiner politischen
Vision und konkreten Arbeit ist. Wir müssen vor allem die Risiken in den
Griff bekommen, die aus Verletzungen der Freiheit und Würde des Individuums
entstehen. Ich meine hier vor allem die Zerstörung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher
Strukturen und das daraus folgende Aufflammen regionaler Konflikte, die
Rolle von Kindersoldaten, die organisierte Kriminalität und insbesondere das
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schreckliche Phänomen des Menschenhandels. All diese Probleme zeigen, dass
Sicherheitspolitik oft im Kleinen ansetzen muss, um langfristig zu wirken.
Multilateralismus und Partnerschaft
BENITA FERRERO-WALDNER
Die Antwort auf die neue internationale Komplexität kann keine Serie von
Alleingängen sein – wir brauchen langfristige Kooperation. Wir müssen all diesen
Fragen eine umfassende internationale Ordnung entgegenstellen. Europa
vertritt daher ein bestimmtes Modell der internationalen Beziehungen, nämlich
einen effektiven Multilateralismus. Das ist unsere konkrete Vision für das
Grundgerüst der internationalen Politik. Europa arbeitet an einer Ordnung, die
auf geteilten Prinzipien und Kooperation beruht und allen Staaten, die ihre
Grundsätze akzeptieren, eine Teilhabe am globalen System gibt. Die Chance der
Globalisierung besteht daher nicht in völliger Regellosigkeit, sondern gerade
darin, die Rahmenordnung der globalen Freiheit zu gestalten. Dafür brauchen wir
eine Reform der multilateralen Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen.
Nur multilaterale Zusammenarbeit kann jenes Maß an politischer Legitimität vermitteln,
das für effizientes Handeln nötig ist. In diesem Zusammenhang muss
man angesichts ihrer wachsenden außenpolitischen Bedeutung auch über einen
speziellen Sitz der EU im Sicherheitsrat nachdenken.
Diese außenpolitische Haltung ist auch das Produkt unserer eigenen europäischen
Erfahrung. Die EU beweist täglich, dass sich intensive Kooperation lohnt.
Souveränität, Zusammenarbeit und Integration sind kein Gegensatzpaar. Wer
seine Interessen umsetzen will, der muss gemeinsam handeln.
Effektiver Multilateralismus kann nur dann wirklich funktionieren, wenn er auf
einer starken transatlantischen Partnerschaft beruht. Die Beziehungen Europas
zu den Vereinigten Staaten sind eine zentrale Achse der neuen Weltordnung. Es
ist klar, dass die globalen Probleme nur dann wirksam gelöst werden können wenn
die USA und Europa an einem Strang ziehen. Man darf nicht vergessen, dass
diese Beziehung die weltweit stärkste, umfassendste und strategisch wichtigste
Allianz ist. Sie beruht auf einem geteilten Wertefundament und gemeinsamen
Interessen. Die Diskussionen der letzten Jahre haben daher die Bedeutung dieser
Partnerschaft nicht dauerhaft angetastet. Europa und die USA stehen eindeutig
für Sicherheit, Stabilität und Demokratie. Eine außenpolitische Vision für das
nächste Jahrzehnt muss auf dieser strategischen Achse aufbauen.
Die transatlantische Partnerschaft kann aber nur effizient funktionieren, wenn
sie auf zwei stabilen Pfeilern ruht. Wir brauchen auch in diesem Zusammenhang
nicht „weniger“, sondern „mehr Europa“. Kritik an den USA, egal wie berechtigt
sie sein mag, ist an sich kein Ersatz für eine Stärkung der europäischen
Außenpolitik. Daher haben wir in den letzten Monaten unsere Allianz weiter
gestärkt und mit der neuen amerikanischen Regierung eine detaillierte
Zukunftsagenda formuliert, die es nun umzusetzen gilt.
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EUROPA ALS GLOBALER PARTNER
Eine verstärkte Zusammenarbeit mit den USA ist vor allem im Mittleren Osten
essentiell. Diese Region wird in den Jahren bis 2020 eine globale strategische
Bedeutung besitzen. Hilfe zu ihrer strukturellen Modernisierung zu leisten, ist
daher absolut entscheidend. Die EU fördert seit Jahren mit Hilfe wirtschaftlicher
Anreize und regionaler Integration Stabilität und Reformen. Wir tragen damit zur
Umsetzung der Vision einer stabilen und prosperierenden Region bei. Ganz konkret
gilt es, die neue Dynamik im Nahost-Friedensprozess nützen. Wir müssen auf
der neuen Dynamik im Friedensprozess aufbauen und Fortschritte entlang der
„Road Map“ machen. Im Irak gilt es, auf dem positiven Ablauf der Wahlen und
der Bestellung der Regierung aufzubauen. Ein stabiler, demokratischer Irak ist ganz
klar in unserem Interesse, weshalb die EU auch großzügige Demokratisierungsund
Wirtschaftshilfe leistet.
Generell bieten Europas breit gefächerten Instrumente eine effiziente Antwort
auf die sich verändernden Parameter internationaler Politik. Es gibt wenige
Akteure, die über ein so breites Arsenal verfügen. So sind der globalisierte Handel,
die Versorgungssicherheit im Energiebereich, die Bekämpfung grenzüberschreitender
Kriminalität oder die Problematik des Klimawechsels allesamt Fragen mit
einer außenpolitischen Dimension. Die EU ist in all diesen Feldern präsent und
spricht weitgehend mit einer Stimme. Dadurch gelingt es uns, unsere internen
Stärken nach außen zu projizieren. Die Europäische Kommission leistet hier mit
ihrer langen Erfahrung einen wichtigen Beitrag.
Wie erfolgreich diese Strategie der sektoriellen Außenpolitik ist, zeigt etwa die
Rolle der EU im Welthandel oder bei der Umsetzung des Kyoto-Protokolls. Der
intelligente Einsatz dieser Politiken ist daher mitentscheidend für den Erfolg der
EU-Außenbeziehungen. Ihre externe Dimension zu akzentuieren und diese
Instrumente noch besser zu koordinieren ist ein wichtiges Anliegen für mich als
EU-Außenkommissarin. Ich werde Europas Diplomatie mit diesen neuen
Dimensionen anreichern, was für die Lösung interdependenter internationaler
Fragen äußerst relevant ist.
Der wohl erfolgreichste Einsatz dieses breiten Instrumentariums war und ist
der EU-Erweiterungsprozess. Die EU hat mit der Erweiterung einen historischen
Erfolg gefeiert. Die Gravitationskraft der EU hat eine umfassende Modernisierung
der neuen Mitgliedsstaaten möglich gemacht und so Europas Ordnung dauerhaft
verändert. Die Erweiterung katapultiert die EU in eine neue Dimension, vor
allem in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. In diesem Sinne führt sie auch
keineswegs zum Entstehen neuer interner Bruchlinien zwischen einem „alten“ und
einem „neuen“ Europa. Es gibt nur ein neues, starkes Europa.
Die Ausdehnung der europäischen Friedenszone und die Projektion von
Stabilität, Demokratie und Wohlstand zu unseren neuen Nachbarn betreiben wir
im Rahmen der Europäischen Nachbarschaftspolitik. Unser strategisches Ziel ist
es, einen „Ring von Freunden“ rund um die Europäische Union zu schaffen, von
Osteuropa durch den Kaukasus und den Nahen Osten quer durch den
Mittelmeerraum. Wir bieten unseren Partnern in diesen Regionen eine ehrgeizi-
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ge und maßgeschneiderte Perspektive, die im Rahmen von Aktionsplänen umgesetzt
wird. Diese reichen von einem verstärkten politischen Dialog über die
Zusammenarbeit in Justiz-, Energie- und Umweltfragen bis hin zur der graduellen
Integration der betroffenen Länder in den EU-Binnenmarkt. Kurzum, es geht
hier um ein substantielles Angebot, mit dem unsere Beziehungen stark vertieft werden
können.
Der erfolgreiche Aufbau einer “post-modernen” Friedensordnung in Europa
selbst soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass Europa im konkreten
Krisenmanagement eindeutigen Aufholbedarf hat. Die Kommission hat daher
Lehren aus der tragischen Flutkatastrophe in Südasien gezogen und Maßnahmen
zur Stärkung des europäischen Krisenmanagements vorgeschlagen, darunter den
Ausbau des gemeinsamen Zivilschutzes durch ein flexibles, rasch abrufbares
„Baukastensystem“ von Beiträgen unserer Mitgliedsstaaten. Dazu kommt natürlich
der Ausbau des militärischen Krisenmanagements im Rahmen der
Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Das ist ein wichtiger Teil
unseres politischen Instrumentariums. Gleichzeitig ist aber klar, dass militärische
Instrumente allein den heutigen komplexen Krisen bei weitem nicht gerecht
werden können.
Der neue EU-Verfassungsvertrag wird der internationalen Rolle der Union
einen weiteren Schub verleihen. Die darin festgelegte wechselseitige
Beistandspflicht ist ein klares Bekenntnis zur politischen Solidarität und zum
geeinten Auftreten Europas. Der Aufbau eines gemeinsamen auswärtigen Dienstes
der EU, der auch auf der Expertise der Kommission aufbaut, wird die Effizienz
und Sichtbarkeit der Union weiter erhöhen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten
sind weltweit präsent. Jetzt gilt es, unsere Positionen noch klarer zu vertreten
und Synergien zu nützen.
Diese institutionellen Verbesserungen sind wichtig. Sie alleine sind aber nicht
ausreichend. Europa muss den politischen Willen zu raschem und geeintem
Handeln aufbringen. Europa muss das klare Selbstverständnis eines globalen
Akteurs entwickeln, um weiterhin erfolgreich zu sein. Wir brauchen mehr Mut zur
internationalen Verantwortungu
Europa – unser gemeinsamer Auftrag
BENITA FERRERO-WALDNER
Das Projekt Europa bleibt somit im 21. Jahrhundert essentiell. Europa kann nur
Bestand haben, wenn es sich den Herausforderungen eines zusehends grenzenlosen
Zeitalters mutig stellt. Eine gemeinsame Außenpolitik ist dafür unabdingbar.
Sie bezieht eine besondere Stärke aus der Vielfalt und Offenheit Europas. Wir
wären schlecht beraten, uns über unsere „Grenzen“ gegenüber anderen zu definieren.
Dieses Fundament gemeinsamer politischer Prinzipien und Überzeugungen,
allen voran der Toleranz, müssen wir weiter akzentuieren, um die
Identitätsbasis Europas zu stärken.
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EUROPA ALS GLOBALER PARTNER
Meine Vision ist die eines friedlichen, in Vielfalt geeinten Europas, das seine
inneren Stärken nach außen projiziert. Europa ist eine globale Zivilmacht mit
einer beinahe magnetischen Anziehungskraft. Um den Politologen Jeremy Rifkin
zu zitieren: „Die Welt blickt auf dieses großartige transnationale Regierungsexperiment
der EU und hofft, von dort Orientierungshilfen für die Menschheit in einer
globalisierten Welt zu finden. Der europäische Traum gewinnt für eine Generation,
die global vernetzt und zugleich lokal eingebunden ist, zunehmend an
Attraktivität.“
Ich bin daher zuversichtlich, dass Europa noch stärker als bisher die neue
Weltordnung aktiv und partnerschaftlich mitgestalten wird. Wir haben das politische
Gewicht und die geeigneten Instrumente dazu. Europa kann einen entscheidenden
Beitrag leisten, indem es Frieden, Demokratie und Wohlstand nach außen
projiziert und mit der nötigen Entschlossenheit gegen die Gefahren unserer Zeit
auftritt. Es ist jetzt an uns, den klaren politischen Willen dafür aufzubringen. Das
21. Jahrhundert kann ein europäisches sein, wenn wir es nur wollen. Das ist
unsere Herausforderung – und unsere politische Aufgabe.
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Ján FIGEL’
Mitglied der Europäischen Kommission
Europa – Raum der Hoffnung
Jeder von uns braucht und sucht Hoffnung in seinem Leben. Ein Leben ohne
Hoffnung verliert seinen Sinn und wird unerträglich. Was wir brauchen, ist eine
wahrhafte, nicht von Illusionen geprägte Hoffnung.
Ohne den maßgebenden und unersetzlichen Beitrag des Christentums wäre
Europa nicht das, was es heute ist. Als Quelle des Glaubens, aber auch der
Bildung und Kultur stellt das Christentum eines der innersten und grundlegendsten
Fundamente der europäischen Zivilisation dar. Das Erbe des alten Griechenland
und des alten Rom reichte nicht aus, um die Ordnung und den Fortschritt der
Völker Europas aufrecht zu erhalten. Vielmehr war es die Achtung der Würde
jedes Menschen, die auf dem Wege der von Christentum und Humanismus inspirierten
und kultivierten Freiheit, Gleichheit und Solidarität den Idealen der
Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit Sinn und Richtung verlieh.
Die Weigerung Europas in der Vergangenheit, sich von dieser Inspiration leiten
zu lassen, führte zu Weltkriegen, totalitären Ideologien und Diktaturen. Von
Europa aus verbreiteten sich diese über die ganze Welt. Gulags, Konzentrationslager,
Gaskammern – all das sind europäische „Erfindungen“. Sie machen den
schändlichen Teil der Geschichte der Menschheit aus.
Da sich Europa jedoch auf sein geistiges Erbe besann, ist es gelungen, nicht
nur eine Aussöhnung, sondern auch eine Verknüpfung der strategischen Interessen
seiner Staaten in einer Friedensgemeinschaft herbeizuführen. Trotz aller Mängel
und berechtigter Kritik gab und gibt diese Gemeinschaft Europa und der ganzen
Welt neue Hoffnung.
Eine Einigung lässt sich nicht auf Geld, Märkte und Geografie aufbauen. Sie
kann nur aus gemeinsamen Werten erwachsen. Daher ist Europa mehr ein politisch-kulturelles
als ein wirtschaftlich-geografisches Phänomen. Es ist eine historische
Tatsache, das die einigenden Werte der europäischen Völker zuallererst
durch die jüdisch-christliche Tradition geprägt wurden. Nicht abgeschieden, nicht
isoliert, sondern offen und im Zusammenwirken mit anderen Quellen der europäischen
Kultur.
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JÁN FIGEL’
Die wesentliche Frucht der Einheit von Menschen und Nationen sind Humanität
und Solidarität. Immer wenn wir bei uns einen Verfall von Humanität und Solidarität
beobachten, handelt es sich um ein Anzeichen dafür, dass die Einheit oder ihre
Fundamente bröckeln. Wahre Einheit ist also nicht nur die Hoffnung Europas,
sondern der ganzen Welt. Anders als in der Vergangenheit stellt die europäische
Einheit einen Raum zum Wohle aller, einen von Recht und Gesetz und nicht von
Gewalt bestimmten Kontinent dar. Die Europäische Union als institutioneller
Ausdruck der Staatengemeinschaft kann direkt oder indirekt einen wesentlich
größeren Einfluss auf Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit in internationalen
Beziehungen ausüben. Sie kann sich und der ganzen Welt neue Hoffnung
bringen: die Hoffnung auf besser gestaltete und gerechtere Bedingungen. Ist sie
in einigen Fragen nicht erfolgreich, liegt der Fehler nicht in der Idee, sondern in
der Unreife von Politikern, im Eigennutz der Mitgliedstaaten oder in der ungenügenden
Vorbereitung der Institutionen.
Der Stand der Europäischen Integration
Der Stand der Europäischen Integration lässt sich, so scheint es, am Verhältnis
zwischen der Hoffnung einerseits und den Sorgen bzw. Befürchtungen andererseits
bestimmen.
Die ursprüngliche Sechsergemeinschaft ist nunmehr auf 25 Mitgliedstaaten,
also die Mehrheit des Kontinents, angewachsen und umfasst mehr als 450 Millionen
Bewohner. Werfen wir einmal einen genaueren Blick auf den Zustand unserer
Gemeinschaft:
— Die EU ist der größte solvente Markt der Welt, aber nicht ihr produktivster
Markt.
— Von allen globalen Akteuren ist die EU der größte Geber von
Entwicklungshilfe für arme Länder, doch mit dem umfassenden System zum
Schutz des Agrarmarktes wird ein großer Teil dieser Hilfe zunichte gemacht.
— Die EU-Mitgliedstaaten verfügen über große militärische Kapazitäten, aber
nur über eine begrenzte militärische Einsatzfähigkeit. Bei militärischen
Krisensituationen in ihrer Nähe (Balkan, Naher Osten, Afrika) war und blieb die
Europäische Union mehr unbeteiligter Zuschauer als Agent der Entwicklung oder
notwendiger Friedensbringer.
— Das einzige direkt gewählte internationale Parlament – das Europäische
Parlament – besteht seit 25 Jahren, doch die Wahlbeteiligung der Bürger ist im
gesamten Zeitraum ständig zurückgegangen. Und die Erweiterung der
Mitgliedstaaten und des Umfangs der Union haben die Kluft zwischen ihren
Institutionen und Bürgern noch weiter vertieft. Es scheint, als ob die „Eurosklerose“
der achtziger Jahre allmählich von einer „Euroapathie“ abgelöst worden ist.
Prüfstein für dieses Verhältnis ist jetzt der Ratifizierungsprozess für den EU-
Verfassungsvertrag.
— Die Europäische Union insgesamt floriert, doch liegt die Arbeitslosigkeit bei
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über 9 %. Das Wirtschaftswachstum der EU über einen Zeitraum von zehn Jahren
ist spürbar geringer als das ihrer wichtigsten Wettbewerber.
— Die Union beschränkt einerseits den großen Migrantenstrom aus EU-
Drittstaaten, andererseits besteht das Problem der Abwanderung von hoch qualifizierten
Fachkräften aus Europa.
— Solidarität ist in den verschiedensten Bereichen immer seltener anzutreffen.
Dennoch gelingt es derzeit vielen Menschen in Europa einzeln und gemeinsam,
im Gefolge der Naturkatastrophe in Südostasien vom Dezember 2004 eine
Solidarität an den Tag zu legen, die die anderer Teile der Welt weit in den Schatten
stellt.
— Und es gibt ein weiteres sehr ernstes Langzeitproblem: Europa wird eindeutig
immer älter; die Anzahl der Europäer geht zurück, und selbst der Anteil
Europas an der Weltbevölkerung nimmt rapide ab.
Trotz alledem ist die Attraktivität der Europäischen Union unverkennbar. Viele
Nachbarländer sind an einem Beitritt oder an einer engeren Zusammenarbeit interessiert.
Die Präsidenten und Regierungen der USA, Kanadas, Russlands,
Lateinamerikas, Chinas, Indiens, Japans und anderer Länder konferieren mit der EU
auf höchster Ebene. Dem Beispiel Europas folgend, will eine Reihe von Ländern
eine Afrikanische Union bilden. Die gemeinsame Währung – der Euro – wird in
der ganzen Welt zu einem weit verbreiteten und geachteten Zahlungsmittel.
Kann man aber ungeachtet der Mängel und Misserfolge die Europäische
Integration als gescheitert bezeichnen? Haben wir eine bessere Alternative? Ich
bin davon überzeugt, dass es sich mit der Europäischen Integration wie mit der
Demokratie verhält. Die Demokratie ist nicht das Ideale, uns fällt jedoch nichts
besseres ein. Demokratie ist die Regelung nationaler, regionaler oder lokaler
Angelegenheiten durch das Volk und für das Volk; Integration ist die demokratische
Regelung europäischer Angelegenheiten, die von ähnlichen Eigenschaften
geprägt sein kann und muss.
Die Frage „Quo vadis, Europa? “ („Wohin, Europa?“) ist somit für die Europäer
und für die gesamte Welt von entscheidender Bedeutung.
Die Zukunft Europas
EUROPA – RAUM DER HOFFNUNG
Die ausschlaggebenden Faktoren für die Zukunft eines geeinten Europas sind
(1) das Bewusstsein um die Zusammengehörigkeit seiner Bürger und Nationen
und (2) das Bewusstsein um seine gemeinsame Verantwortung für die Entwicklung
auf dem europäischen Kontinent und in der Welt.
Den Grundstein der Integration bilden die gemeinsamen Werte, die universell
sind und vom Wesen des Menschen und der Menschheit herrühren. Eckpfeiler dieser
Grundlagen ist die Würde des Lebens eines jeden Menschen und die allgemeine
Brüderlichkeit unter den Menschen, wie sie so klar und überzeugend in der
Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen gefordert
werden. Unsere persönliche Chance und gemeinsame Aufgabe besteht darin,
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JÁN FIGEL’
diese Grundwerte, auf deren Basis eine solche Einheit möglich und notwendig ist,
mit Leben zu erfüllen und zu hegen.
In den verschiedensten Bereichen – Wirtschaft, Sicherheit, Politik und Umwelt –
ist zudem eine immer stärkere wechselseitige Abhängigkeit der Staaten zu verzeichnen.
Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind durch ein immer breiteres
Spektrum gemeinsamer Interessen aneinander gebunden. Es hilft nichts und
niemandem, wenn man diese Tatsache unterschätzt oder wider alle Vernunft verleugnet.
Meines Erachtens hängt die Zukunft Europas in erster Linie von Bildung und
Kultur ab. Im Dezember 2004 erklärte der Präsident der Europäischen Kommission,
José Manuel Barroso, völlig zu Recht: „In der Wertehierarchie rangiert die Kultur
vor der Wirtschaft. Die Wirtschaft ist lebensnotwendig, doch erst die Kultur macht
das Leben lebenswert.“ Diese Ansicht teile ich voll und ganz. Bei der wahren
Kultur geht es um die „Seele für Europa“, wie sie ein Vorgänger von Herrn Barroso,
Jacques Delors, forderte. Denn was wäre ein Mensch ohne Seele?
Ziel und Inhalt von Kultur ist die Würde des Menschen. Kultur entspringt den
Anschauungen der Menschen. Sie sucht, erfasst und zeigt all das auf, was die
Menschen als wichtig, schön und gut betrachten. Und daher findet die Kultur
ihren grundlegenden Ausdruck in der Art und Weise, wie Menschen zusammenleben
– als Individuen in der Familie, in der Gesellschaft und in der Welt. Staaten,
die ihre Bildung und Kultur hegen und pflegen, blühen auf. Staaten, die ihre
Bücher verbrannt und Universitäten geschlossen haben, waren auf dem Weg in
finstere Zeiten.
Francis Fukuyamas Szenario vom „Ende der Geschichte“ ist nach 1989 nicht
eingetreten, obwohl sich die Welt radikal verändert hat. Es gibt mehr Freiheit; 22
neue Staaten sind in Europa gegründet worden. Aber es gab auch neue
Massengräber, Völkermord, Grausamkeiten. Viele fürchten einen „Krieg der
Kulturen“.
Ich bin überzeugt, dass ein derartiger Zusammenprall der Kulturen verhindert
werden kann und muss. Hier kann Europa seine historische Rolle spielen. Wir
müssen daher Kraft schöpfen aus unserem Erbe und reif sein für die Verantwortung,
Entwicklungen in der Welt zu beeinflussen. Angefangen mit unseren Nachbarn bis
hin zu den Beziehungen im breiteren internationalen Maßstab zu den USA, zur
Russischen Föderation, zu Japan, China und anderen Ländern verfügt die EU
über alle Voraussetzungen, um im 21. Jahrhundert eine bedeutende positive Rolle
zu spielen. Das wird weder einfach noch leicht sein. Aber welche gewichtige,
langfristige Frage in der Geschichte der Menschheit war schon jemals einfach
oder leicht?
Ich muss an dieser Stelle an die am häufigsten zitierte Zielsetzung der EU
erinnern: „die Union bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten
Wirtschaftsraum der Welt zu machen“. Dabei handelt es sich nicht
nur um ein ehrgeiziges, sondern auch um ein notwendiges Ziel. Allerdings ist es
derzeit offenkundig, dass wir dieses Ziel keinesfalls erreichen werden, wenn wir
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EUROPA – RAUM DER HOFFNUNG
unsere Reformbemühungen nicht erheblich verstärken und beschleunigen. Von
politischem Wert ist es bereits, wenn wir uns unsere Schwächen vor Augen führen
und uns ernsthaft bemühen, sie abzustellen. Eine der wichtigsten
Voraussetzungen für das Erreichen dieses Zieles besteht darin, mehr und effektiver
in Wissen zu investieren, und zwar
1. in die Schaffung von Wissen – durch Wissenschaft, Forschung und
Entwicklung;
2. in die Verbreitung von Wissen – durch allgemeine und berufliche Ausbildung;
3. in die Anwendung von Wissen – durch Innovation und neue Technologien.
Europa sollte sich mehr auf ein hohes als auf ein durchschnittliches Niveau orientieren.
Wir müssen die Qualität von Studium, Aufbaustudium und
Lehrerausbildung verbessern. Wir müssen einen europäischen Raum der
Ausbildung zur Mobilität schaffen, indem wir die Bildungssysteme kompatibel
gestalten und ein System der Anerkennung von Bildungsabschlüssen aufbauen.
Das strategische Ziel für die kommenden Jahre besteht darin, talentierte Leute
für ein Studium in Europa zu gewinnen und ein Europa des Wissens zu errichten.
Auf diese Weise können wir die Wettbewerbsfähigkeit und die soziale und
umweltpolitische Verantwortlichkeit, die wir brauchen, am besten erreichen.
Europa hat schon zahlreiche und folgenschwere Experimente hinter sich. Es
muss daher seine eigene Geschichte aufmerksam und konsequent studieren. Die
Ablehnung universeller Werte, der Verlust des geistigen Gedächtnisses und ethischer
Relativismus haben stets der Menschenwürde geschadet und hatten Gewalt
und Krieg zur Folge.
Wie immer in der Geschichte des Menschen und der menschlichen
Beziehungen befinden wir uns auch heute inmitten eines Kampfes um die Werte,
auf deren Grundlage Europa und die Welt funktionieren können. Wir sind Zeuge
widersprüchlicher Tendenzen auf unserem Kontinent, der nach Hoffnung strebt,
dessen Bevölkerung allerdings schwindet. So können wir einerseits eine starke
Zunahme der Erscheinungsformen und Instrumente einer Kultur der Gewalt und
des Todes, des religiösen Nihilismus, des moralischen und rechtlichen Relativismus
beobachten. Andererseits gibt es ein sichtbares und bewundernswertes Streben
nach einer Kultur des Lebens, einer Kultur der Solidarität mit der Menschheit und
der Welt, einer Kultur der Verantwortung.
Die alten und die neuen EU-Mitgliedstaaten tragen zu gleichen Teilen
Verantwortung für die Zukunft Europas. Bei der Erweiterung handelt es sich
eigentlich um die Europaisierung der Union. Die Vereinigung Berlins und
Deutschlands war notwendig und richtig, und das gilt auf jeden Fall ebenso für
das einstmals geteilte Europa. Politische und wirtschaftliche Verbindungen wachsen
relativ schnell. Sehr schwierig ist es jedoch, geistige und kulturelle Mauern einzureißen.
So wie die deutsche Einigung war auch die Vereinigung Europas durch
die Niederlage und die Ablehnung des Kommunismus möglich geworden.
Bedauerlicherweise haben wir in Europa keinen ausreichenden politischen und
moralischen Konsens darüber erzielt, diese Periode ebenso einhellig zu verur-
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teilen wie den Faschismus bzw. Nazismus. Es wäre falsch, wenn die Staaten des
ehemaligen Sowjetblocks Kommunismus durch Konsumdenken ersetzen. Ebenso
bedauerlich wäre es, wenn sie vom Zwangskollektivismus zu ungezügeltem
Individualismus übergingen. Wir können nicht ohne ernste Konsequenzen den verwerflichen
Utopismus von der „Gerechtigkeit ohne Freiheit“ durch „Freiheit ohne
Gerechtigkeit“ auswechseln.
Die Erweiterung der Union im Jahr 2004 war großen Ausmaßes, historisch
und auf einmalige Weise kompliziert. Sie ist jedoch Teil eines Prozesses, der noch
nicht an seinem Ende angelangt ist. Trotz aller Schwierigkeiten war das europäische
Aufbauwerk offen und muss auch offen bleiben. Bulgarien und Rumänien
sind bereits auf dem Weg, und Kroatien sowie die Türkei warten auf die Aufnahme
von Verhandlungen. Auch andere Länder klopfen an unsere Tür. Sie alle suchen
bessere Bedingungen für ihre Entwicklung, für eine bessere Zukunft. Doch alle
müssen sich auch an die Verbrechen und das Unrecht der Vergangenheit erinnern,
wenn sie durch wirkliche Versöhnung zu der Erkenntnis gelangen wollen, (1)
dass die Europäische Integration zu Hause beginnt, im eigenen Umfeld, mit der
unmissverständlichen Anerkennung der Grundsätze und Werte, auf denen ein
vereintes Europa aufbaut, (2) dass die Europäische Integration durch freundschaftliche
Beziehungen der Zusammenarbeit mit den Nachbarn erwächst und (3)
dass es bei der Europäischen Integration um die Fähigkeit geht, einen Beitrag
zur Gemeinschaft zu leisten, indem man die Interessen, Ziele und
Verantwortlichkeiten für die Entwicklung im In- und Ausland teilt.
Die Menschheit kann ohne Hoffnung nicht leben. Wer die Hoffnung in sich
am Leben hält, steht in seiner Gesellschaft und Zeit für den Aufbruch einer
Generation und nicht für deren Ende.
Das geeinte Europa ist zum Ausdruck der Hoffnung geworden, zu einem
Raum der Hoffnung, durch die Anstrengungen der Generationen, die Träger dieser
Hoffnung sind. Jedes Jahr im Mai begehen wir den Schuman-Tag – den
Europa-Tag. Warum verehren die Nationen noch Jahrzehnte später ihre
Gründungsväter? Weil die Früchte ihrer Arbeit für ihre „Kinder“, für die kommenden
Generationen gesund und nahrhaft sind. Wir brauchen solche Vorbilder in der
Politik. Wir brauchen Menschen, die väterlich, generationsorientiert denken, nicht
populistisch oder überpragmatisch, nicht kurzsichtig, nicht ohne klare, langfristige
Visionen, nicht ohne Blick für das Gemeinwohl. Ein Kind zeigt Achtung
gegenüber seinen Eltern am besten, indem es ihrem Beispiel, ihren Anregungen
folgt. Tradition heißt nicht, die Asche bewahren, sondern das Feuer schüren und
weitertragen, das Quelle von Licht und Wärme ist. Wir alle, ungeachtet unserer
Berufung, können und müssen unsere lebendige Hoffnung dafür verwenden,
Ideen anzubieten, Solidarität zu zeigen und die Lebenskraft des geeinten Europa
zu stärken.
120
März 2005
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 121
Vasco GRAÇA MOURA
Mitglied der portugiesischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Die neue Dynamik Europas
Als die junge und schöne Europa von dem als Stier verkleideten Zeus entführt
worden war, sandte ihr Vater Agenor, wie die Mythologie zu berichten
weiß, seinen Sohn Kadmos in Begleitung seiner Brüder aus, sie zu suchen.
An einem Wendepunkt seines Weges tötete Kadmos in Theben einen
Drachen und säte auf Anraten Athenes dessen Zähne in den Boden aus. Diese
wurden zu Menschen, die sich grausam gegenseitig umbrachten.
Daher vergleicht Luís de Camões in Die Lusiaden, in denen er die chronische
Zwietracht der Christenheit geißelt, die europäischen „armen Christen
mit den einst von Kadmos gesäten Drachenzähnen“.
Überträgt man dieses Bild aus dem Reich der Mythen in die Wirklichkeit,
so entstand daraus im Laufe der Jahrtausende der „ständige Bürgerkrieg“, auf
den sich Fustel de Coulanges in seiner Charakterisierung Europas bezog.
In der Tat scheint erst vor etwa fünfzig Jahren eine friedliche und gedeihliche
Lösung gefunden worden zu sein, die die europäischen Völker endgültig
von der Geißel des Krieges und seiner Schrecken befreien sollte.
Dem Grundsatz des Konflikts folgte mithin der Grundsatz der Eintracht.
Auch in der Mythologie heiratete schließlich Kadmos, der die Zähne der
Zwietracht ausgesät hatte, die Göttin Harmonie...
In den ersten vier der fünf Jahrzehnte seit der Grundsteinlegung für das
Fundament der Gemeinschaft war Europa jedoch noch durch den Eisernen
Vorhang geteilt. Auf westlicher Seite standen die modernen repräsentativen
und pluralistischen Demokratien, während sich auf der anderen, der östlichen
Seite der Trennlinie eine beträchtliche Anzahl von Ländern befand, die durch
sowjetischen Druck ihrer Freiheit beraubt waren.
121
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VASCO GRAÇA MOURA
Außerdem musste man in der ersten Hälfte dieser Zeitspanne bis 1974-1975
auf das Ende der autoritären Regimes in Portugal, Griechenland und Spanien
warten.
Das Europa, das wir heute die Europäische Union nennen, hat demnach für
seine Entwicklung und die allmähliche Übereinstimmung seiner politischen
mit der zivilisatorischen Gestalt lange gebraucht.
Im Laufe der verschiedenen Etappen dieses langen Prozesses wurde es
nach der Vorstellung von einem Westeuropa gestaltet, das noch heute Norwegen
und die Schweiz nicht einbezieht und aus dem auch die gerade vor wenigen
Tagen beigetretenen Länder und viele weitere, die auf eine Beitrittschance
warten, ausgeschlossen waren.
Die Erweiterung ist für die europäische Zivilisation und Kultur enorm wichtig.
Der Fall des Eisernen Vorhangs beendete die Trennung, schuf aber nicht per
se die Einheit.
Er öffnete ihr den Weg.
Er machte es möglich, dass viele von anderen beherrschte Völker, deren
nationale Identität in der Vergangenheit unterdrückt wurde, erste Schritte unternehmen,
um den benachbarten Raum der Freiheit, Entwicklung und des
Wohlergehens zu betreten.
Nun beruht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit die Einheit
der europäischen Völker nicht auf einem hegemonialen Zwang „von oben
nach unten”, wie es bei verschiedenen Spielarten des Imperialismus traurigen
Andenkens der Fall war, sondern geschieht „von unten nach oben”, aus dem
freiem, bewusstem und demokratischem Willen dieser Völker heraus.
Die von dem neuen Europa ausgehende Dynamik wird eine unvorhersehbare
Ausstrahlung haben.
Noch stellt die Antwort auf die Frage nach ihren künftigen Grenzen eine
Unbekannte dar.
Man denke nur an Kandidaturen wie die der Türkei oder auch – wer weiß? –
Marokkos und anderer Länder am Südrand des Mittelmeers.
Die griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Wurzeln Europas werden
sich in unterschiedlicher Weise mit anderen, beispielsweise muslimischen
Wurzeln verbinden.
Die Entwicklung der ethnischen Struktur nationaler Gesellschaften in der
Europäischen Union selbst und auch die geostrategischen Bedingungen und
Widersprüche werden in einer globalisierten, ständig in Veränderung begriffenen
Welt ein entscheidendes Wort mitzureden haben.
Doch wie Fernando Gil und Paulo Tunhas kürzlich in einem höchst wichtigen
Aufsatz scharfsinnig schrieben, „sind es weder spezielle Merkmale des
Westens noch die Religion und ihre Haltung gegenüber dem Leben [...], noch
die Philosophie, noch das Recht, noch die Wissenschaft, noch die Technik.
Jedoch scheint die Dynamik der die Formen des Geistes und des Lebens
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DIE NEUE DYNAMIK EUROPAS
begünstigenden Intervention typisch westlich zu sein. Und damit auch das
Reflektieren über sich selbst, das seit dem Zeitalter der Entdeckungen zugenommen
hat. Intervention und Reflexionen sind die bestimmenden Prinzipien des
Handelns. Außerdem ist der Westen auch ein im Komplex Rechte, Gerechtigkeit,
Demokratie, Liberalismus verdichteter Zweck bzw. eine Berufung”.
Europa als ein noch immer in ständigem geopolitischem Aufbau befindlicher
Kontinent wurde so zu einem spannenden Gegenstand des Dialogs, der
Entdeckung und der Intervention.
Darüber hinaus war es, wie Denis de Rougemont sagte, seiner
Globalisierungsfunktion wegen ein „entscheidendes Abenteuer für die gesamte
Menschheit”.
Diese Aspekte können nicht genug hervorgehoben werden; sie dienen für
einige der Erbauung und lösen für andere verschiedene bedrückende
Befürchtungen aus.
Aus den von den Europäern getroffenen Entscheidungen werden sich höchst
wichtige Konsequenzen für die Bürger, den Frieden, die Freiheit, die nachhaltige
Entwicklung, die Lebensqualität, kurz, für die Einbindung ihrer künftigen
politischen Gestalt in die Welt ergeben.
Zu den größten Fragen, die sich am Horizont abzeichnen und ganz klassisch
mit dem Rechtsstaat, der Achtung der Menschenrechte, der Entwicklung, mit
sozialer Gerechtigkeit, der Vielfalt der Kulturen und Sprachen, dem Pluralismus
und demokratischer Toleranz zu tun haben in einem Modell, das wir – et pour
cause ! – repräsentativ und westlich-europäisch nennen, kommen die Frage
nach der Verteilung der Macht und der Befugnisse in einem so breit gefächerten
Gesamtgefüge aus Nationalstaaten, die Frage nach der Eindämmung von
Streitigkeiten und die Frage nach der Bekämpfung der internationalen Krise
hinzu, die in der Arbeitslosigkeit eine ihrer negativsten und unmenschlichsten
Ausdrucksformen gefunden hat. Und zuletzt kamen noch sehr dringliche
Sicherheits- und Verteidigungsfragen dazu, insbesondere im Zusammenhang mit
der Verteidigung gegen fundamentalistischen Terrorismus.
Diese Frage steht zunehmend an erster Stelle und wird auch auf die
Beantwortung aller anderen Auswirkungen haben.
Doch überlassen wir es den politisch Verantwortlichen auf höchster Ebene
und den Spezialisten auf diesem Gebiet, Lösungsvorschläge zu unterbreiten und
die strategisch und operativ notwendigen speziellen Instrumente zu finden.
Zur Zivilisation und Kultur lässt sich sagen, dass die Stärke Europas paradoxerweise
seine Hauptschwäche ist und dass es diese Schwäche zu seiner
Hauptstärke machen muss.
Demokratie mit ihren Attributen wie Freiheit, Pluralismus, Toleranz und
Achtung der Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten bedeutet zweifellos
auch, dass demokratische Gesellschaften größeren Gefahren vonseiten
ihrer Feinde ausgesetzt sind.
123
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VASCO GRAÇA MOURA
So wie der Leninismus, der Stalinismus, der Trotzkismus und der Nazismus
geht auch der islamische Fundamentalismus von Positionen tiefsten Hasses
gegen die westliche Demokratie aus, die auf deren Zerstörung durch den
Einsatz der ihm eigenen Instrumente und Kräfte setzen.
Mehr noch als philosophische und weltanschauliche Standpunkte sind das
zynische pragmatische instrumentalisierte Positionen, für die der Zweck die
Mittel heiligt.
Sie scharen Legionen fanatischer Anhänger um sich und bilden sie aus.
Sie verteilen sie auf einsatzbereite Zellen in einem Untergrundnetz neuen
Typs.
Sie zielen auf die Eroberung der totalen Macht über gewalttätige Aktionen
im Namen einer Ethik und Ästhetik des Todes, vor allem aber durch die massenhafte
wahllose Ermordung unschuldiger Opfer aus der Zivilbevölkerung.
Es geschieht nicht selten, dass in westlichen Gesellschaften jemand versucht,
diese Tatsache mit verzerrten Darstellungen und intellektuellen
Kunstgriffen zwar nicht insgesamt, aber doch im Prinzip zu rechtfertigen.
Lang und beeindruckend ist das deprimierende Register dieser Fälle.
Das ist jedoch ein demokratisches Verhängnis: Einige Henkersknechte in
der Geschichte des 20. Jahrhunderts haben im Laufe der Zeit Sympathien
geweckt, es gab intellektuelle Episteln zur Rechtfertigung und eine mehr oder
weniger ostentative Propaganda unter dem Deckmantel der freien
Meinungsäußerung, der Versammlungsfreiheit und des freien Rechts auf politisches
Engagement, die in den von ihnen verteidigten totalitären Regimes niemals
zugelassen würden.
Wenn wir uns an das Ende des Zweiten Weltkrieges erinnern, müssen wir
an die Beziehung Europas zu den Vereinigten Staaten denken, an die wichtige
Wertschätzung der transatlantischen Dimension und der Zugehörigkeit zur
NATO, und nun auch an die eindeutige Haltung der zehn Erweiterungsländer
dazu, denn diese Aspekte stellen die Union, ohne normale kritische Positionen
aus Gründen der eigenen Sichtweise eines jeden Mitgliedslandes zu verhindern,
vor eine doppelte und wesentliche Herausforderung: die Herausbildung
einer geostrategischen Komplementarität mit Nordamerika unter Bewahrung der
gemeinsamen demokratischen Werte und die Entwicklung der
Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA zur Behauptung des europäischen
Kontinents in der Welt.
Auf dieser Grundlage muss die Demokratie, auch wenn anderer, möglichst
wirksamer Verteidigungsmechanismen nicht enthoben ist – und wie
sehr braucht sie diese! – ihre strukturierende Kraft aus ihrer „Schwäche” entstehen
lassen, die sie totalitären Gefahren und der Gefahr der Vernichtung aussetzt.
Sie kann nicht verleugnen, was sie ist.
Weil Demokratie so ist.
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DIE NEUE DYNAMIK EUROPAS
Weil sie ein höherer Ausdruck der menschlichen Vernunft und Existenz ist,
die gegen rohe Gewalt, Unvernunft und Ungleichheit aufsteht.
Weil sie einer langen Entwicklung der Menschheitsgeschichte entspringt,
einem schwierigen Verlauf von Fortschritten beim Erringen der Freiheit im
Allgemeinen und konkreter Freiheiten im Besonderen, und am besten kann sie
über die Vertiefung dieser Merkmale verteidigt werden.
Je humanistischer, offener, freier, pluralistischer und toleranter die westliche
Welt als solche ist, umso besser kann sie die vor ihr stehenden
Herausforderungen meistern und sich gegen Totalitarismus und fundamentalistischen
Fanatismus behaupten.
Aufgrund seiner geografischen Lage und Geschichte, durch dynastische
und militärische Bündnisse, durch Sprache und Religion, die universitäre
Tradition und seine Vorreiterrolle bei den Entdeckungen, bei denen sich europäische
und mediterrane Kenntnisse miteinander verwoben, durch seine kulturelle,
literarische und künstlerische Tradition, durch die Gesamtheit der
zutiefst von ihm geprägten Bezugspunkte und internationalen Beziehungen
war Portugal stets ein europäisches Land.
Die Stabilität seiner Grenzen macht Portugal zum ältesten Land Europas.
Gleichzeitig schöpft es aus seiner historischen Tradition das unschätzbare
Kapital, das wahrscheinlich weltoffenste Land in Europa zu sein.
Es bleibt ein europäisches Land durch alles, was es seit seinem Beitritt zur
Europäischen Gemeinschaft geleistet hat, durch sein Engagement in den
Institutionen und seinen Beitrag für die Zukunft der Union.
Es ist auch ein europäisches Land durch sein Ziel und seinen Willen, einen
hervorragenden Platz unter den Ländern einzunehmen, die sich am meisten für
den Aufbau Europas einsetzen, die am wichtigsten in den neuralgischen
Entscheidungszentren und am fortgeschrittensten in der Gemeinschaft sind.
Und noch etwas: Es ist ein Land, dem immer stärker bewusst wird, dass
die Lösung seiner Probleme nicht auf ein mehr oder weniger autarkes vages
Modell eines im westlichsten Teil der Iberischen Halbinsel gelegenen Gebietes
beschränkt bleiben kann.
Sie ist nur möglich durch die entsprechende Lösung der großen europäischen
Probleme unter deutlicher nationaler Beteiligung, ohne das nationale Interesse
aus den Augen zu verlieren.
Diese aktive wechselseitige Abhängigkeit, die zunehmend alle Bereiche
unseres Lebens erfasst und ohne die es keine nachhaltige Entwicklung, keine
Lebensqualität, keine soziale Gerechtigkeit, keine Solidarität, keine lebendige
Kultur, kein eigenes Gepräge, keine Demokratie gibt, muss uns immer gegenwärtig
sein.
Heute Portugiese zu sein heißt, zur Besinnung auf diese Begriffe fähig zu sein.
Das demokratische Europa muss für uns eine Berufung des Glaubens und
eine Anleitung zum Handeln sein.
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VASCO GRAÇA MOURA
Heute Europäer zu sein ist eine Frage von Kultur, Freiheit und Würde.
Es sei daran erinnert, dass Kadmos schließlich Harmonie heiratete.
An diesem Ort werden wir weiter über Europa sprechen.
126
April 2005
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 127
Mathieu GROSCH
Leiter der belgischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Die Europäische Integration
vor dem Hintergrund der Globalisierung
Dem mit der doppelten Herausforderung seiner Integration und seiner
Erweiterung konfrontierten Europa scheint es schwer zu fallen, effiziente und
zielgerichtete Strukturen zu entwickeln. Neben den unterschiedlichen Auffassungen
von Integration und Erweiterung ist diese europäische Entwicklung tief gehend
geprägt durch drei wesentliche Elemente: Frieden, Wettbewerbsfähigkeit und
Solidarität.
Dieses Entwicklungsmodell Europas ist auch das einzige, das die Schocks
der Globalisierung abfedern und ihre Verspechen nutzen kann, denn diese
Globalisierung erfordert eine Reaktion auf effizientem Niveau und stellt eine
grundsätzliche Herausforderung für das europäische Entwicklungsmodell als solches
dar.
Die Globalisierung ist durch drei Triebkräfte gekennzeichnet:
— Die technologische Entwicklung ist gleichzeitig Triebkraft und Ergebnis der
Globalisierung. Die globalisierten Märkte machen Skalenerträge sowie die
Amortisierung der Forschungs- und Entwicklungskosten für neue Produkte
möglich. Die Informationstechnologien, die effizienten Verkehrsmittel und die
Finanzmärkte stellen den Blutkreislauf der globalisierten Firmen dar, die weltweite
Verbreitung von Bildern und Ideen sind die Grundlage ihres Kommuniationsund
Absatzförderungsnetzes.
— Die politischen Grundsatzentscheidungen seit den Achtzigerjahren. Unsere
„alten Staaten“ werden wegen ihrer Praktiken angeklagt, deren Langsamkeit und
Ineffizienz bemängelt wird. Nach den verschiedenen Krisen wie der Erdölkrise
fehlt es dem Wohlfahrtsstaat an Geld, was zur Entstehung der neoliberalen Thesen
geführt hat. Auf die schrittweise Liberalisierung des Handels, die Stabilität der
Wechselkurse und eine keynesianistische Politik folgen beschleunigte Entwicklung,
Privatisierungen, Deregulierung sowie die Liberalisierung der Finanzmärkte.
— Der Marktkapitalismus – wie ihn u. a. Alan Greenspan (der Präsident der
US-Notenbank) bezeichnet – ist mit seinen globalisierten Firmen und seinen
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vereinheitlichten Märkten ein wirklich strukturbestimmender Faktor der
Globalisierung. Er ist gleichzeitig Ursache und Ergebnis einer „neuen globalen
Wirtschaft“ und somit eine markt- und strukturbestimmende Kraft der
Globalisierung.
Die Herausforderungen der Globalisierung
Die Bilanz der Globalisierung ist durch Vorteile und negative Auswirkungen
gekennzeichnet.
— Zur Aktivseite gehören eine ungeheure technische Innovation, ein globalisiertes
Informationssystem, das durch verbessertes Wissen die Demokratie fördert,
und Biotechnologien, mit denen der Problematik des demografischen Wachstums
und der Begrenztheit der natürlichen Ressourcen begegnet werden kann.
— Die erfolgreiche Entwicklung bestimmter südostasiatischer Länder, die
wesentlich auf internationale Investitionen und den Zugang zu den europäischen
und amerikanischen Märkten zurückzuführen ist.
— Eine immer stärkere Ausprägung des Selbstverständnisses der Menschen
als Weltbürger und „globale“ Verbraucher und damit ihres Verantwortungsbewusstseins
im Zusammenhang mit den grundlegenden Menschenrechten wie
auch im Umgang mit den genutzten natürlichen Ressourcen.
— Auf der Negativseite ist das Anwachsen der internen Ungleichheiten zu
verzeichnen, das viele Ursachen hat wie den Individualismus, den Wandel der
sozialen Strukturen sowie die Unfähigkeit der Staaten zur Korrektur der übermäßigen
Ungleichheiten als Folge der entstehenden Konkurrenz zwischen den
Sozialsystemen.
— Trotz fünf Jahrzehnten weltweiten Wachstums ist das Nord-Süd-
Ungleichgewicht auf unserem Planeten, das darauf hinausläuft, dass 20 % der
Bevölkerung 80 % der Ressourcen verbrauchen, unverändert geblieben. Auch
wenn die Zahl selbst stagniert, bedeutet dies eine dramatische Verschlechterung,
da heute in der dritten Welt nicht mehr 1,5 Milliarden, sondern 4,5 Milliarden
Menschen leben.
— Trotz der technologischen Entwicklungen, die im Interesse der natürlichen
Ressourcen liegen, überschreitet das Gesamtvolumen der Verbrauchssteigerung
diese „Zuwächse“ und werden die Gefahren für die Umwelt immer größer.
Und obwohl die Technologie eine Bewältigung dieser Problematik
ermöglichen würde, stehen dem das Fehlen von Finanzmitteln sowie die mangelnde
Internalisierung der Umweltkosten im Wege.
Die Rolle Europas
MATHIEU GROSCH
Bereits 1963 formulierte Papst Johannes XXIII. in seiner Enzyklika Pacem in
Terris das Problem in folgender Weise.
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DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION VOR DEM HINTERGRUND DER GLOBALISIERUNG
„Da aber heute das allgemeine Wohl der Völker Fragen aufwirft, die alle
Nationen der Welt betreffen, und da diese Fragen nur durch eine politische Gewalt
geklärt werden können, deren Macht und Organisation und deren Mittel einen
dementsprechenden Umfang haben müssen, deren Wirksamkeit sich somit über
den ganzen Erdkreis erstrecken...“
Es liegt daher auf der Hand, dass kein Staat – auch nicht aus Angst vor dem
Verlust der Wettbewerbsfähigkeit – im Alleingang eine geeignete Politik zur
Bewältigung der Globalisierung betreiben kann. Ein Staat allein, und sei es der
mächtigste der Welt, ist nicht in der Lage, die globalisierte Wirtschaft zu kontrollieren
und ihre Auswirkungen zu regulieren.
Daraus folgert, dass kein Staat, auch nicht die USA, eine derart illusorische
Absicht hegen und seine wirtschaftlichen und finanzpolitischen Regeln, seine
sozialen und umweltpolitischen Kriterien allgemein durchsetzen kann. Und
obwohl die Europäische Union weiterhin mit ihrer Integration und dem Ausbau
ihrer Strukturen beschäftigt ist, muss sie die Grundlagen schaffen, die für ihr
Auftreten als globaler Akteur erforderlich sind, was umso mehr gilt, da diese auch
für die Bewältigung ihrer internen Herausforderungen hilfreich sind.
— Ein starkes einigendes Prinzip: die Vorstellung von einer gerechten internationalen
Wirtschaftsordnung, getragen von einer Wertegemeinschaft, anstatt
der bloßen Summe der Interessen ihrer Komponenten, d. h. der Mitgliedstaaten.
— Institutionelle Äußerung in den tragenden Organisationen des
Wirtschaftssystems wie der WTO, dem IWF usw. mit einer einzigen Stimme
und auf der Grundlage einer nach dem Mehrheitsprinzip getroffenen
Entscheidung.
— Eine erhöhte Autonomie innerhalb der NATO, denn die Verteidigung
stellt einen wesentlichen Faktor einer unabhängigen Wirtschaftspolitik dar.
Das internationale Wirtschaftssystem wird u. a. durch die USA dominiert,
denn sie können die vorgenannten Kriterien vorweisen, die internen
Zusammenhalt und eine globale Dimension miteinander verbinden. Fest steht,
dass die USA für Europa ein strategischer Verbündeter sind, doch Europa muss
sich mit den notwendigen Mitteln ausstatten, um zu verhindern, dass ihm fremde
Entscheidungen und insbesondere ein abweichendes Sozialmodell aufgezwungen
werden. Europa muss einer größeren Toleranz gegenüber Ungleichheit
und Gewalt entgegentreten und es ablehnen, sich Umwelt- oder Gesundheitsrisiken
auszusetzen oder sich der Selbstregulierung des Marktes zu unterwerfen.
Europa genießt wirkliches internationales Ansehen, doch muss dies gestärkt
werden durch eine aktive Rolle im Rahmen interner Anstrengungen zum Abbau
seines technologischen Rückstandes, zur Reduzierung der strukturellen
Arbeitslosigkeit und zur Aufrechterhaltung der Solidarität insbesondere durch
Bewältigung seiner Bevölkerungsalterung und durch Annahme einer wirklichen
Asyl- und Einwanderungspolitik.
129
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Seine Rolle in einer aktiven externen Politik muss u. a. darauf gerichtet sein,
den einzelnen Säulen des internationalen Wirtschaftssystems Impulse zu verleihen
und die Kohärenz zwischen ihnen zu erhöhen.
1. Die Welthandelsorganisation
MATHIEU GROSCH
Europa ist ein wichtiger Akteur innerhalb der WTO. Doch die Europäische
Union leidet unter zwei Nachteilen: Einstimmigkeit und fehlende finanzielle
Solidarität, um die Gewinne und Verluste der Liberalisierung ausgewogen zu
verteilen.
Dies führt zu sehr umfangreichen Verhandlungsagenden, um ein ausgewogenes
Verhältnis zwischen den „Gewinnen und Verlusten“ der Liberalisierung zwischen
den einzelnen Ländern herzustellen.
Dies macht darüber hinaus „differenzierte“ Politiken unmöglich, bei denen
beispielsweise bevorzugte und zeitlich begrenzte Marktzugänge als Gegenleistung
für Anstrengungen in den Bereichen Soziales, Umwelt, Gesundheit usw. gewährt
würden.
Solche Fortschritte würden es Europa ermöglichen, der Wirtschaft seinen
Stempel aufzudrücken.
2. Die Organe der Vereinten Nationen
Ein vorrangiges Ziel muss darin bestehen, Europa zu einem gleichwertigen
Akteur der Vereinten Nationen im wirtschaftlichen und sozialen Bereich zu
machen.
Ausschlaggebend ist darüber hinaus, diesen Strukturen Befugnisse zur
Konfliktregelung zu übertragen.
Die wachsende Rolle und Bedeutung dieser Gremien werden oft unterschätzt.
Ob Internationale Arbeitsorganisation, Weltorganisation für geistiges
Eigentum oder Internationale Seefahrtsorganisation, um nur einige zu nennen,
diese Gremien haben die Aufgabe, durch Konsens die Regeln festzulegen, die
die internationale Wirtschaft zur Sicherung der gemeinschaftlichen Präferenzen
der Staaten, zur Steuerung des Wettbewerbs, zur Bewahrung der Umwelt und
der sozialen Rechte u. ä. braucht.
Die Europäische Union nimmt an der Erarbeitung dieser Regeln teil, doch sie
hat Beobachterstatus, denn sie spricht nur mit einer Stimme, wenn Konsens
unter allen ihren Mitgliedern herrscht. Anstatt eine führende Rolle zu spielen,
vertritt sie allzu oft den größten gemeinsamen Nenner aller ihrer Mitgliedstaaten,
und damit ist ihr Auftreten nur selten von hoher Überzeugungskraft und wirklich
europäischem Charakter getragen. Da diese Entscheidungen zudem der
Ratifikation durch alle Unterzeichnerstaaten unterliegen, wird ihre Umsetzung
allzu oft durch nationalen Druck oder Lobbygruppen gefährdet oder beeinflusst.
130
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DIE EUROPÄISCHE INTEGRATION VOR DEM HINTERGRUND DER GLOBALISIERUNG
3. Internationaler Währungsfonds und Weltbank
Ihre Aufgaben – einerseits Förderung gesamt- und strukturpolitischer
Maßnahmen, andererseits Verhinderung von Finanzkrisen und entsprechendes
Reagieren auf sie – unterstreichen die Bedeutung und die Komplementarität dieser
Säule.
Die schrittweise Ausrichtung auf eine nachhaltige Entwicklungspolitik und
die Wichtigkeit von Investitionen in den Entwicklungsländern verleihen diesen
Finanzeinrichtungen eine Handlungsfähigkeit, in deren Rahmen Europa stärker
zur Geltung kommen muss. Die EU, auf die nach Kapitalanteilen über 30 % der
Stimmen (im Vergleich: USA 17 %) entfallen, müsste zumindest im Sinne der
Währungsunion gegen das Verbot der Stimmenbündelung auftreten. Die
Dringlichkeit dieser Forderung ergibt sich u. a. daraus, dass bestimme Regionen,
in denen Finanzkrisen aufgetreten sind, sich dem Einfluss des FMI entziehen
wollen. Hinzu kommt noch, dass die Europäische Union der weltweit größte
Geber von Entwicklungshilfe ist.
Externe Politik und Integration – ein und dieselbe Herausforderung
Um als politische Macht im Außenbereich handeln zu können, muss Europa
über ein einigendes Prinzip verfügen, das eine ausgedehnte Gemeinschaft mit ihren
kulturellen Unterschieden zu integrieren vermag. Dieses Prinzip und diese
Ambition machen deutlich, dass die Europäische Integration und das Wirken der
EU im Weltmaßstab keine unterschiedlichen oder divergierenden Herausforderungen
darstellen, sondern ein und dieselbe Herausforderung, denn ohne europäische
Integration können weder die Europäische Union noch irgendeiner ihrer
Mitgliedstaaten die Herausforderung der Globalisierung bewältigen, ohne die
gemeinsamen Werte aufzugeben, die die Länder zum Beitritt zur Europäischen
Union veranlasst haben: die grundsätzliche Achtung der Menschenrechte, eine wirtschaftliche
Entwicklung, deren Ergebnisse allen zugute kommen, sowie der
Schutz der natürlichen Ressourcen im Rahmen einer nachhaltigen Entwicklung.
Diese europäische Souveränität wird kein neuer Nationalismus sein und noch
weniger die Summe der einzelnen Nationalismen, sondern Ausdruck einer europäischen
Bürgerschaftlichkeit, die die Unterschiede im Innern wie im Außenbereich
achtet und sich das Ziel gesteckt hat, einer weltoffenen humanistischen und fortschrittlichen
Zivilisation anzugehören.
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März 2005
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Gunnar HÖKMARK
Leiter der schwedischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Europas Erfolge basieren auf dem Mut,
über die Grenzen von heute hinaus zu sehen
Am Sonntag, dem 13. Januar 1991 verließ der Vorsitzende des außenpolitischen
Ausschusses des litauischen Parlaments, Emanuelis Zingeris, seine Wohnung in
Vilnius und fuhr zum Flughafen, von wo aus er nach Stockholm fliegen wollte.
Er gehörte zu den ersten, die in frühem Protest gegen die sowjetische Diktatur
demokratisch in den Obersten Sowjet Litauens gewählt worden waren und vertrat
ein Parlament, das die Selbstständigkeit Litauens nach jahrzehntelanger sowjetischer
Okkupation forderte.
Auf dem Weg zum Flughafen bemerkte er, dass zahlreiche sowjetische
Militärfahrzeuge auf dem Weg nach Vilnius waren. Als er am Nachmittag dann in
Stockholm landete, wohin er von der Moderaten Sammlungspartei Schwedens eingeladen
worden war, erfuhr er, was geschehen war: Sowjetische Spezialeinheiten
hatten die Stadt eingenommen, die Radio- und Fernsehsender besetzt und das
Innenministerium sowie das Parlament umstellt. Ziel dieser Aktion war es, die
Freiheitsbewegung zu ersticken, die seit einigen Jahren eine gewisse
Selbstständigkeit innerhalb des sowjetischen Systems aufgebaut hatte, die die
Führung und Autorität Moskaus untergrub.
Eines der Hauptziele der sowjetischen Truppen war das litauische
Parlamentsgebäude. Die demokratisch gewählten Abgeordneten, die sich als
Vertreter des litauischen Volkes verstanden, sollten zum Aufgeben gezwungen werden.
In dem Gebäude befand sich der Parlamentspräsident, Vytautas Landsbergis,
umstellt und belagert von sowjetischen Truppen mit Panzern und einem übermächtigen
Waffenarsenal. Zur Verteidigung gegen sie waren Freiwillige angetreten,
nur mit alten Jagdgewehren und Handtüchern anstelle von Schutzmasken ausgerüstet.
Im Falle einer Erstürmung des Gebäudes hätten sie keine Chance gegen
die gut bewaffneten sowjetischen Elitesoldaten gehabt.
Außerhalb des Parlamentsgebäudes, zwischen den Belagerungstruppen und
den Abgeordneten drinnen, standen die Bürger von Vilnius. Sie bauten Barrikaden
aus LKWs, Traktoren und allem Möglichen, das die sowjetischen Soldaten aufhal-
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GUNNAR HÖKMARK
ten könnte, falls sie – wie schon so viele Male in der Nachkriegszeit, so in Berlin,
Budapest, Prag, Warschau – den Befehl zur Niederschlagung der Demokratie
erhalten sollten.
Am Nachmittag hielten wir in Stockholm vor Vertretern der Weltpresse eine
Pressekonferenz mit Emanuelis Zingeris und mit Vytautas Landsbergis ab.
Emanuelis war der einzige führende Volksvertreter, der sich außerhalb der Grenzen
des Landes, und damit außerhalb der Reichweite des KGB und der Truppen des
sowjetischen Innenministeriums, befand. Vytautas Landsbergis – heute
Abgeordneter des Europäischen Parlaments – kommunizierte über ein viereckiges
Lautsprechertelefon mit uns.
Trotz des Ernstes der Situation konnte ich nicht umhin, über den etwas bizarren
Anblick zu lächeln, den die Journalisten aus den USA und Europa boten,
die still auf den grauen Telefonlautsprecher der schwedischen Telecom starrten
und andächtig dem litauischen Parlamentspräsidenten lauschten, der – verbunden
über eine der damals für Gespräche zwischen Schweden und Litauen existierenden
zwei Telefonleitungen – um die Hilfe der internationalen
Staatengemeinschaft bat.
Die Welt reagierte mit großem Interesse und Engagement. Lange Zeit hatten
die drei baltischen Staaten friedlich für ihre Selbstständigkeit gekämpft. Nur knapp
zwei Jahre zuvor hatte Europa den Fall moskautreuer Diktaturen und den Abriss
der Mauer zwischen Ost und West in Berlin erlebt. Es war an der Zeit für eine
neue Ära.
Die friedliche Grundlage für das heutige Europa war nie eine
Selbstverständlichkeit
Aber es war alles andere als selbstverständlich, dass die sowjetische Zentralmacht
das aufgeben würde, was sie als sowjetisches Territorium ansah. Es war noch
nicht einmal selbstverständlich, dass die demokratisch gewählten Politiker
Westeuropas den Balten ihre Unterstützung geben würden. Die sozialdemokratischen
Parteien, die in den 80er Jahren für eine einseitige Abrüstung in den demokratischen
Ländern Europas eingetreten waren, standen einer Zersplitterung der
Sowjetunion ebenso skeptisch gegenüber wie der deutschen Wiedervereinigung.
In Schweden hatte die sozialdemokratische Regierung stets jede Behauptung
zurückgewiesen, die Balten seien okkupiert und wollten ihre nationale Freiheit.
Ihr Streben nach Selbstständigkeit sei nichts weiter, so hieß es, als ein Kampf um
ihre kulturelle Identität. Es gäbe keinen Grund, Moskau mit einer allzu schnellen
und brutalen Demokratisierung zu beunruhigen, die die Machthaber dort nur zu
sehr belasten würde. Sie hätten es ja schon schwer genug, meinte man. Die politischen
Kräfte Westeuropas, die freie Wahlen im Osten forderten und sich für eine
Unterstützung der Balten durch die Demokratien Europas aussprachen, wurden
als Kreuzritter des Kalten Krieges und rechtsextremistische Verrückte bezeichnet.
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EUROPAS ERFOLGE BASIEREN AUF DEM MUT, ÜBER DIE GRENZEN VON HEUTE HINAUS ZU SEHEN
Am Abend des 13. Januars war Emanuelis Zingeris zu Hause bei mir und
meiner Familie zum Abendessen eingeladen. Jemanden, dessen Land okkupiert
worden war, konnte man nicht allein lassen. An diesem Abend hatte Emanuelis
Zingeris telefonischen Kontakt mit verschiedenen westeuropäischen Botschaften
in Stockholm, um diese über die Vorgänge in seinem Land zu informieren und
im Namen der litauischen Regierung um Unterstützung zu ersuchen. Außerdem
standen wir in ständigem Kontakt mit Personen im litauischen Parlament. Gegen
23 Uhr sprach Emanuelis Zingeris mit Vytautas Landsbergis und brach plötzlich
in Tränen aus. Landsbergis hatte ihm berichtet, dass die Motoren der Panzer vor
dem Parlamentsgebäude angelassen worden waren.
Damit nähert sich die mögliche Erstürmung des Gebäudes. Sie würde eine brutale
Abrechnung mit alle jenen werden, die sich davor verbarrikadiert und mit
jenen, die drinnen Verteidigungsstellung bezogen hatten. Am selben Abend noch
ermorden die Truppen des sowjetischen Innenministeriums 13 junge Litauer, die
sich ihnen in den Weg gestellt hatten, als sie sich auf den Fernsehturm zu bewegten.
Es gibt keinen Zweifel, dies ist blutiger Ernst. Das weiß Vytautas Landsbergis,
das wissen auch alle, die sich im Parlamentsgebäude befinden, und das wissen
auch wir am anderen Ende der Telefonleitung in Stockholm ebenso wie alle diejenigen,
die ihre Leben vor dem Gebäude aufs Spiel setzen.
Zehn Minuten später wird auch im privaten schwedischen Fernsehen über
die Ereignisse berichtet. Der Reporter stellt fest, dass die Motoren der Panzer
angelassen worden sind. Aber irgendwie entstehen wohl Zweifel wegen des
Drucks der internationalen Öffentlichkeit und der Medien, die diese Vorbereitungen
für das Töten unschuldiger Menschen intensiv beobachten. Eine halbe Stunde später
werden die Motoren wieder abgestellt, um später noch einige Male wieder anund
abgestellt zu werden.
In Lettland und Riga geschieht am Tag darauf das Gleiche. Die sowjetischen
Truppen ziehen in die Stadt ein und belagern Fernsehstationen, das
Innenministerium und das Parlament. Die Bürger verbarrikadieren sich vor dem
Parlament und harren einige eiskalte Nächte lang aus. In Riga wird der Dom in
ein Feldlazarett mit freiwilligen Ärzten und anderem Krankenhauspersonal verwandelt.
Mit einigen Tagen Verzögerung wiederholt sich dann alles in Estland und
Tallinn. Hier stellen die Bewacher des Parlaments unterhalb des Domberges ein
Verkehrsschild mit einem durchgestrichenen Panzer auf – Panzer verboten! –
und bereiten sich darauf vor, die Einwohner zusammenzurufen, falls die sowjetischen
Truppen in Tallinn einmarschieren sollten. Gleichzeitig rollen sie große
Steine auf die Straße, um die Panzer daran zu hindern, den Weg zum Parlament
hinauf zu fahren. Leute wie Tunne Kelam, jetzt ebenfalls Abgeordneter des
Europäischen Parlaments, und Mart Laar, der später erster Ministerpräsident des
freien Estlands und einer der ersten Europaabgeordneten Estlands wird, sind vor
Ort, um für Demokratie und Selbstständigkeit zu kämpfen.
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Am darauf folgenden Montag findet in Stockholm eine von vielen
Montagsdemonstrationen zur Unterstützung der Balten statt. Diese wöchentlichen
Veranstaltungen, die sich an die Montagsdemonstrationen von Leipzig anlehnen,
gibt es schon seit fast einem Jahr. Der gesamte Norrmalmstorg ist gefüllt
mit Bürgern aus allen Schichten der schwedischen Gesellschaft. Neben führenden
schwedischen Politikern sprechen auch Emanuelis Zingeris, Brunius
Kucmickas, der litauische Vizepräsident, der nun über Finnland in den Westen
gekommen ist, sowie Vertreter der Esten und Letten.
Am Montag Nachmittag erteilt Vytautas Landsbergis über ein Telefon auf dem
Schreibtisch meines Büros Zingeris und Kucmickas das Mandat zur Bildung einer
Exilregierung mit Sitz in Stockholm. Er ist sich im Klaren darüber, dass das, was
in der ersten Nacht nicht geschehen ist, durchaus während der kommenden Tage
und Nächte passieren kann.
Heute, 15 Jahre später, ist alles anders. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr.
Estland, Lettland und Litauen sind nicht nur Mitglieder der EU, sondern auch der
NATO geworden. Zwei von denen, die im wahrsten Sinne des Wortes ganz oben
auf den Barrikaden gestanden haben, Tunne Kelam und Vytautas Landsbergis, sind
Mitglieder des Europäischen Parlaments und der EVP-ED-Fraktion.
Im Nachhinein mag alles, was im Laufe der Zeit geschehen ist, logisch und
selbstverständlich erscheinen, aber für diejenigen, die dabei waren, die das
Motorengeräusch der Panzer gehört und die Vereidigung der Exilregierung miterlebt
haben, ist es durchaus nicht selbstverständlich. Es ist das Ergebnis eines politischen
Willens, der auf Straßen und Plätzen zum Ausdruck kam sowie in dem
Mut Einzelner, sich für Demokratie und Freiheit einzusetzen. Es basierte auf der
Vision, dass Europa in der Praxis die Verteidigung von Freiheit und Demokratie
bedeuten muss, da es sonst keinen Frieden und keinen Weg zu Würde und
Wohlstand geben kann.
Es war auch nie selbstverständlich, dass dieser politische Wille zum Tragen
kommen würde. Im Osten gab es viele Mitläufer, die ihren Unterdrückern dienten
und die eigenen Leute hintergingen, ebenso wie es Leute gab, die sich nicht
erheben wollten oder es nicht wagten. Im Westen gab es Leute, die die herrschende
Ordnung nicht Frage stellen wollten und die im Grunde gern über
Demokratie redeten, sich aber am liebsten weit entfernt von den politischen
Konflikten unseres eigenen Kontinents, meist in Form von Reden auf den
Parteitagen in Einparteienstaaten, dafür einsetzten. Nie haben die Sozialdemokraten
Schwedens und Europas die Demokratie stärker gewürdigt als dort, weit weg
von der Unterdrückung auf unserem Erdteil.
Die friedliche Bewegung in den baltischen Ländern hat die Grundlage dafür
gelegt, dass das heutige Europa sich ohne Gewalt und Konflikte entfalten konnte.
Es war die Hoffnung auf ein neues Europa, die die Menschen motivierte, und
die eine weit stärkere Triebkraft war als das, was die Verteidiger des alten Systems
antrieb.
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Diejenigen, die in vorderster Front für eine neue Zeit wirken wollten, die mit
friedlichen Mitteln die Diktatur herausfordern und besiegen wollten und die der
Ansicht waren, dass die Zeit für die Vereinigung Europas gekommen war, behielten
Recht. Diejenigen hingegen, die nichts tun wollten, die es Moskau überlassen
wollten, den Weg zu bestimmen und die der Vereinigung und der neuen
freien Wirtschaft skeptisch gegenüber standen, mussten sich vom Gegenteil überzeugen
lassen. So haben wir gewonnen und die anderen verloren.
Aber wir dürfen deshalb nicht dem Glauben verfallen, dass mit diesem Sieg
Europa bereits vollendet sei.
Die weitere Zukunft Europas stand während dieser kalten Tage im Januar
1991 an einem Scheideweg. Dies war Teil einer Entwicklung, die 1989 begonnen
hatte, die unsere moderne Geschichte bestimmen sollte und die eigentlich erst
im Mai 2004 ihren Abschluss fand. Es war nie eine Selbstverständlichkeit, dass sich
die Wende von der Diktatur zur Demokratie, von der Unterdrückung zum
Rechtsstaat und von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft so schnell und schmerzfrei
vollziehen würde, wie das der Fall war.
Auf die gleiche Weise wird unsere Zukunft auch heutzutage von unserer
Fähigkeit geformt, über die Grenzen der Gegenwart hinaus zu sehen. Das gilt nicht
nur in geografischer Hinsicht, sondern auch in Bezug auf unsere Einstellungen
zu alten Gegnerschaften, nationalen Interessen, zu alten gesellschaftlichen Modellen
sowie zu den politischen Traditionen und zu unserer eigenen Geografie.
Die Herausforderungen einer neuen Zeit
In den kommenden 15 Jahren wird ebenso viel passieren wie in den vergangenen
15 Jahren. Das einzige, was wir über das zukünftige Europa wissen, ist,
dass es nicht so aussehen wird wie heute, aber auch nicht so, wie wir es uns heute
vorstellen.
Aus diesem Grunde muss unsere Fähigkeit, die Entwicklung Europas auf der
Basis solch grundlegender Werte wie Freiheit, Demokratie, einer offenen Wirtschaft
sowie einer immer engeren Zusammenarbeit über alte Grenzen hinweg zu befördern,
wichtiger sein als die Anpassung an die im Augenblick am pragmatischsten
oder realistischsten erscheinende Vorgehensweise. Denn diese verändert sich
jeden Tag.
Unsere Herausforderungen sind heute andere als zum Zeitpunkt des Mauerfalls,
sind aber in ihrer Veränderungskraft ähnlich groß. Die Erweiterung muss gelingen,
damit Europa nicht nur dem Namen nach, sondern auch in der Praxis vereinigt
wird.
Die Wirtschaft Europas verliert an Boden gegenüber der US-amerikanischen
und der asiatischen. Zudem verlassen gegenwärtig zahlreiche Träger der von
uns dringend benötigten Forschungs- und Innovationskraft Europa, die hervorragendsten
europäischen Forscher und Studenten zieht es nicht zu den europäischen
Universitäten.
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Die formale Erweiterung erfolgte nach einem langen Verhandlungsprozess,
während die reale Erweiterung erst jetzt beginnt, da die Wirtschaften und
Gesellschaften schrittweise verschmelzen sollen, da Ost und West nun in gemeinsamen
Strukturen, auch über Grenzen hinweg, in einer vereinten Wirtschaft und
auch auf zwischenmenschlicher Ebene zusammenwachsen sollen.
Wenn wir die Dynamik der neuen Mitgliedstaaten nicht nutzen und aus dem
Wissen und der Tradition der alten Mitglieder keine Dynamik entwickeln können,
besteht die Gefahr dass wir die alten Gräben in anderer Form als der Mauer und
dem eisernen Vorhang beibehalten.
Europas Sicherheit wird heutzutage nicht mehr von einem Konflikt entlang
einer geographischen Grenze zwischen Ost und West in der Mitte Europas
bedroht, sondern von Ereignissen um uns herum, die unabhängig von geographischen
Grenzen und Entfernungen eine Bedrohung für die zivilisierte
Gesellschaft darstellen. Die Entwicklung in Ländern wie Iran und Irak ist, ebenso
wie der Konflikt zwischen Israel und Palästina, von unmittelbarer Bedeutung
für unsere eigene Sicherheit und die Zukunft unserer Kinder. Im Moment ist eine
Tendenz zum Erstarken der Demokratie im Nahen Osten zu beobachten, was
unsere Verantwortung zur Unterstützung der demokratischen Entwicklung besonders
augenfällig macht. Dort steht die Geschichte an einer Wegscheide und kann
in Richtung auf mehr Demokratie und Stabilität gehen oder auch in Richtung
auf Zerfall und totalitärere Strömungen.
Im Kaukasusgebiet gibt es eine neue Welt von Ländern, die die meisten
Europäer kaum auf der Karte finden, denen aber eines gemeinsam ist, nämlich
dass ihre Stabilität die Grundlage für die zukünftige Sicherheit auf unseren Straßen
und Plätzen bildet.
Vor nur wenigen Monaten stand eines der größten Länder Europas vor einem
politischen Konflikt, der zu einem Bürgerkrieg mit direkter Einmischung Russlands
hätte führen können. Dies geschah nicht, doch es fällt uns schwer einzuschätzen,
inwieweit der Einfluss der europäischen Gemeinschaft dazu beigetragen hat, die
Entwicklung in friedliche und demokratische Bahnen zu lenken. Damit verdrängen
wir die Bedeutung der Tatsache, dass so viele Menschen in der Ukraine von
der Hoffnung angetrieben wurden, dass auch für sie eine neue Ära anbrechen
würde, in der die Perspektive Europa Teil der Zukunftsvision ist.
Wir erleben zurzeit ein schnelles Erstarken der europäischen Wirtschaft und
des Wettbewerbs als Folge der Erweiterung und des Binnenmarktes. Diese
Entwicklung von Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in Europa hat mehr mit
der Erweiterung und dem Binnenmarkt zu tun als mit dem Lissabon-Prozess und
der Politik, die Europa zur wettbewerbsfähigsten Wissensgesellschaft der Welt
machen soll. Der tatsächliche Integrationsprozess zwischen den Ländern und
Völkern Europas findet tagtäglich statt, in Form von verstärktem Handel, Reisen
und Austausch. Eine visionäre Europapolitik muss diese Entwicklung sowie die
damit verbundenen Veränderungen bejahen und stimulieren.
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Europa verändert sich, wenn das Projekt EU glückt
Wenn wir uns den Herausforderungen stellen, denen Europa gegenübersteht,
verändert sich auch die EU.
— Gelingt es der EU, zu einer friedlichen und demokratischen Entwicklung
in der Ukraine beizutragen, verändern sich sowohl die Ukraine als auch Europa
und damit die an die EU gestellten Anforderungen.
— Mit der Entwicklung des Wettbewerbs und des Binnenmarktes wird die
gesamte Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents gestärkt, während sich gleichzeitig
immer mehr Unternehmen einer neuen Konkurrenz gegenüber sehen und
manchmal den neuen Unternehmen unterlegen sein werden. Gelingt der Wandel
in den neuen Mitgliedstaaten, wird sich nicht nur die Kluft zwischen ihrem
Wohlstand und dem der alten Mitgliedstaaten verringern, sondern auch ihre wirtschaftliche
und politische Kraft verstärken.
— Wenn die EU ihre Aufgaben erfüllen und ihre Ziele erreichen kann, führt
dieser Erfolg dazu, dass ihr noch mehr Länder beitreten wollen. Dann müssen wir
uns den Herausforderungen stellen können, die diese neue Zusammenarbeit mit
sich bringt.
— Mit der Zunahme der wirtschaftlichen und politischen Bedeutung der EU
wächst auch ihre Verantwortung gegenüber anderen Teilen der Welt und der
internationalen Staatengemeinschaft, was erhöhte Anforderungen an die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik stellt.
Integration und Erfolg schaffen ihre eigenen Bedingungen und Möglichkeiten,
die eher mit der veränderten Realität zusammenhängen als mit politischen Zielen.
Wenn wir nicht stillstehen wollen, so als ob nichts geschehen wäre, brauchen wir
eine politische Führung mit dem Willen, über die heutigen Grenzen hinaus zu blicken.
Nichts wäre einfacher gewesen, als sich Ende der 80er Jahre mit der
Entwicklung der europäischen Zusammenarbeit unter den damaligen Mitliedstaaten
oder den westeuropäischen Länder zu begnügen. Aber die Vision eines größeren
Europas, das über seine damaligen Grenzen hinaus reichte, war stärker als
die eingeschränkte Perspektive, an der so viele festhalten wollten. Als die EU
sich den Herausforderungen der damaligen Zeit stellte, führte der Erfolg dazu, dass
sich Europa so veränderte, dass sich letztendlich auch die EU verändert hat.
Über die gegebenen Grenzen hinaus blicken
Es war genau diese Fähigkeit, über die gegebenen Grenzen hinaus zu blicken,
die nach dem Zweiten Weltkrieg die Grundlage für die europäische
Zusammenarbeit legte, die heute in die Europäische Union mündete. Es war
kein selbstverständlicher Gedanke, den Winston Churchill am 19. September
1946 in Zürich äußerte, als er sich für „eine Art Vereinigte Staaten von Europa ”
aussprach, die auf den wesentlichsten Werten basieren sollten, für die im Zweiten
Weltkrieg gekämpft worden war. „Lasst Gerechtigkeit, Gnade und Freiheit herr-
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schen! Die Völker müssen es nur wollen, und der Herzenswunsch aller wird in
Erfüllung gehen.”
Es ging um ein neues vereinigtes Europa, um einen Einigungsprozess, von dem
keine Nation ausgeschlossen werden sollte, eine große Friedensordnung für
Europa, die im Unterschied zu früheren Versuchen die Lebensbedingungen der
Menschen und die Bedeutung der Grenzen konkret verändern sollte.
In einem durch Unterdrückung oder Armut geteilten Europa wäre der Frieden
nie sicher. Daher machte Churchill in einer Zeit, in der die Kluft zwischen den
großen Nationen Europas vielleicht größer war als je zuvor, einen wichtigen
Vorschlag: der „Sie erstaunen wird. Der erste Schritt zu einer Neuschöpfung der
europäischen Völkerfamilie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und
Deutschland sein. Nur so kann Frankreich seine moralische und kulturelle
Führerrolle in Europa wiedererlangen. Es gibt kein Wiederaufleben Europas ohne
ein geistig grosses Frankreich und ein geistig großes Deutschland.”
Nach dem Elend und den Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs waren die
zu überbrückenden Abgründe nicht gerade klein, sondern wesentlich größer als
zwischen den Ländern, mit denen wir heute über eine Zusammenarbeit diskutieren.
Dies war ein erster Schritt, bei dem es nicht nur um das Überbrücken
von Gräben ging, die die Geschichte aufgerissen hatte, sondern auch darum, die
Grundlage für den Umgang mit den neu geschaffenen Gräben zu legen.
Außerdem hatte er erkannt, dass Europas einzige Möglichkeit, die Kräfte des
Bösen ein für alle Mal zu überwinden, darin bestand, die Werte von Freiheit und
Demokratie durch eine grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu sichern. In die
gleiche Richtung arbeiteten Robert Schuman und Konrad Adenauer.
Als Europa nach dem Ende des Kalten Krieges neue Schritte in Richtung auf
eine Zusammenarbeit unternahm, geschah dies durch die Fähigkeit der Politiker
jener Zeit, über die damaligen Grenzen hinaus zu blicken. Das brauchen wir
auch heute.
Die Erweiterung des Binnenmarktes
GUNNAR HÖKMARK
Wir tragen die Verantwortung dafür, dass sich der Binnenmarkt ohne die
Hindernisse und Beschränkungen entwickelt, die aus kurzsichtigen nationalen
Interessen erwachsen. Wenn wir in den kommenden 10 Jahren keinen Wettbewerb
und keine Innovation im Dienstleistungssektor sowie in den zentralen
Kernbereichen der Wissensgesellschaft wie Bildung, Forschung und
Gesundheitswesen erreichen, wird es die wettbewerbsfähigsten Entwicklungen
auf diesen Gebieten nicht in Europa, sondern in anderen Regionen der Welt
geben.
Wenn wir in diesen Bereichen nicht erfolgreich sind, behindern wir nicht nur
die weitere europäische Integration, sondern auch unsere Möglichkeiten zu einem
kraftvollen Agieren auf der internationalen Bühne. Damit werden die aus der
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neuen Wissensgesellschaft erwachsenden Unternehmen nicht in Europa, sondern
in anderen Teilen der Welt gegründet werden, obwohl wir den größten
Markt der Welt haben.
Exzellenzzentren durch Wettbewerb
Wir können in Europa leicht Exzellenzzentren errichten, wenn wir uns für
Unternehmertum, Innovationsvielfalt sowie für eine ständige Prüfung dessen,
was noch besser werden kann, öffnen.
Lassen wir Europas Länder im Bereich des Gesundheitswesens zusammenarbeiten,
indem die Patienten wählen können, wo sie im Rahmen der Finanzierung
durch die einzelnen nationalen Systeme ihre Behandlung erhalten wollen. Wenn
etwa, um nur zwei Beispiele zu nennen, ein Schwede aus den verschiedenen
Behandlungsangeboten der besten Spezialisten für Hüftgelenks- und
Herzoperationen wählen kann, die nur einige Stunden Flugreise entfernt zur
Verfügung stehen, wird das zu einem verstärkten Wettbewerb, einem verbesserten
Gesundheitswesen und der Entwicklung von Spezialistenzentren an verschiedenen
Orten in einer Reihe von Bereichen in ganz Europa führen. Das treibt die
Wissensentwicklung voran, stärkt aber auch das akademische Forschungspotential,
was wiederum der europäischen Medizinindustrie neue Möglichkeiten eröffnet.
Wenn darüber hinaus die Gesundheitsunternehmen der verschiedenen Staaten
sowohl in ihren eigenen als auch in anderen Ländern ein besseres
Gesundheitsmanagement und bessere Dienstleistungen anbieten, werden wir
eine Gesundheitsversorgung erhalten, die immer besser wird und sich gleichzeitig
entsprechend den Bedürfnissen der Menschen und der Forderung nach
Nähe entwickelt.
Die Grenzen des Binnenmarkts müssen nicht für alle Zeit festgelegt sein. Er
kann auch im Rahmen der jetzigen EU erweitert werden.
Forschung kann Grenzen überbrücken
Wir sollten einen Teil der Forschungsressourcen der EU dorthin umlenken, wo
die Studenten und Wissenschaftlern hingehen, die Lehr- und Forschungsanstalten
jenseits der alten Nationalstaatsgrenzen wählen. Das kann so erfolgen, dass die
Kosten für die Studien finanziert werden und die Institutionen, die andere EU-
Bürger anzuziehen vermögen, zusätzliche Forschungsmittel erhalten. Auf diese
Weise werden mehr Regierungen alte Versprechen einlösen wollen, und die
Mittel für diejenigen Hochschulen und Universitäten erhöhen, die die besten
Voraussetzungen für eine weltweit führende Stellung aufweisen. So können wir
gleichzeitig den Wettbewerb ankurbeln und die Forschungsmittel erhöhen, ohne
das Recht der Mitgliedstaaten auf eine selbstbestimmte Bildungs- und
Forschungspolitik auszuhöhlen.
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GUNNAR HÖKMARK
Der gegenwärtig in Europa am deutlichsten zu erkennende Integrationsprozess
ist das Ergebnis von Binnenmarkt, Wettbewerb und Arbeitnehmerfreizügigkeit. So
wie es gegenwärtig aussieht, haben wir in Europa zu wenig Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Es gibt außerdem zu wenig Druck zur Schaffung neuer qualifizierterer
und gut bezahlter Arbeitsplätze, um die des alten Arbeitsmarktes zu ersetzen.
Wenn wir eine immer engere europäische Zusammenarbeit erreichen wollen,
müssen wir uns für eine Freizügigkeit auf dem Arbeitsmarkt und einen Handel
mit Dienstleistungen einsetzen, der so frei wie möglich ist. Diese Zusammenarbeit
kann innerhalb der jetzigen Grenzen erfolgen.
Eine Erweiterung, die größere Sicherheit bringt
Ein weiterer Integrationsprozess vollzieht sich in den Ländern um die jetzige
Union herum, die sich anpassen und ihre gesellschaftliche Entwicklung auf den
Werten der Union gründen. Das ist ein Gewinn für unsere Sicherheit und ein
Ausdruck für die Fähigkeit der Union, zu Frieden und Stabilität im Rahmen von
Freiheit und Demokratie beizutragen. Diese Entwicklung müssen wir im Rahmen
der Forderungen, die wir an die europäischen Länder stellen, bejahen. Die
Entwicklung in der Ukraine ist zu einem Erfolg für die EU geworden. Nun liegt
es in unserer Verantwortung, dafür zu sorgen, dass diese Entwicklung zu einem
Erfolg für ganz Europa wird.
Der Wandel, den die Verhandlungen in der Türkei und auf dem Balkan herbeiführen,
trägt zu einer EU bei, die in ihrer Verteidigung von Frieden und
Stabilität gestärkt wird. Das ist von besonderer Bedeutung in einer Welt, die
Gefahr läuft, dass die Trennlinien zwischen verschiedenen Religionen zu verstärktem
Fundamentalismus führen anstatt zu einer Übernahme von Grundwerten
wie Toleranz für die Rechte und Freiheiten des Einzelnen.
Die Verteidigung unserer Werte in der internationalen Politik
Zur Verteidigung der Werte, auf denen unsere eigene Zusammenarbeit basiert,
müssen wir klare Forderungen an die Diktaturen im Nahen Osten stellen. Wir dürfen
Diktatur und Unfreiheit nicht akzeptieren, nur weil sie sich hinter einem religiösen
gesellschaftlichen System verstecken.
Europa ist heute besser denn je. Keine frühere Generation hatte so gute
Gründe für die Hoffnung auf Frieden und Wohlstand. Wenn sich diese Hoffnungen
erfüllen sollen, muss die EU ihren eigenen Werten besser entsprechen und über
die Grenzen der Gegenwart hinaus sehen.
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März 2005
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Piia-Noora KAUPPI
Leiterin der finnischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Vision für Europa 2020
Einen Ausblick auf die Zukunft unseres Kontinents zu geben, ist nicht leicht.
Wenn wir auf die vergangenen fünfzehn Jahre der EU zurückblicken, so hat sich
vieles getan, und ich glaube kaum, dass jemand 1990 dies alles hätte voraussagen
können. Damals bestand die Sowjetunion noch, die samtene Revolution
steckte in den Kinderschuhen, selbst die Europäische Union mit den drei Pfeilern,
wie wir sie heute kennen, gab es noch nicht. Es ist im Grunde genommen erstaunlich,
wie erfolgreich das „Projekt Europa“ in den zurückliegenden Jahrzehnten
gewesen ist.
Die Ergebnisse waren nicht immer einfach zu erzielen. Wie Helmut Kohl,
Ehrenbürger der Europäischen Union, oft an die junge Generation gerichtet sagte,
Europas Zukunft erfordert nicht nur eine starke Vision und mutige politische
Führung, sondern auch viel mehr unermüdliche tägliche Arbeit, als wir zuweilen
glauben.
In diesem Artikel soll die Rolle der EVP bei der Gestaltung der Zukunft der
Union untersucht werden. Welches sind die größten Probleme, für die die Mitterechts
stehenden Christdemokraten und Konservativen Antworten finden müssen,
und welche Art Aktivitäten sollten wir unterstützen?
Die Institutionen der Europäischen Union
Manchmal konzentrieren sich jene, die mit EU-Angelegenheiten befasst sind, zu
sehr auf institutionelle Fragen. Ich halte es jedoch für außerordentlich wichtig, dass
Mitte-Rechts die Entwicklung institutioneller Reformen vorantreibt. Die Richtung muss
klar sein, selbst wenn wir wissen, dass diese Dinge in der Praxis Zeit brauchen und
besser mit allen wichtigen Akteuren – nicht zuletzt den Bürgern – abzustimmen sind.
Die Verfassung wird derzeit in den Mitgliedstaaten ratifiziert und bietet eine
gute Grundlage für die Entwicklung der institutionellen Zukunft der Europäischen
Union. Ihre Annahme wird die Funktionsweise der EU merklich verbessern. Sie
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PIIA-NOORA KAUPPI
wird das institutionelle Gefüge der Union stärken und sie besser rüsten, sich den
großen Aufgaben besserer und transparenterer Rechtsetzung zu stellen. Viele
ihrer Änderungen sind neuartig, aber vor allem geht es um die Festigung und den
Ausbau von Entscheidungsverfahren, die sich in der Vergangenheit für die EU als
erfolgreich erwiesen haben.
Trotzdem ist die Verfassung nicht der Schlußpunkt der politischen und institutionellen
Architektur Europas. Wir können es uns nicht leisten, nicht mehr
über weitere Verbesserungen nachzudenken. Dieses Nachdenken sind die
Europäer sich selbst schuldig, denn die europäische politische Entwicklung verlangt
vor allem, immer wieder über das Vorhersehbare hinauszudenken und
nach weiterer Vervollkommnung zu streben.
Die europäische Psyche lässt den in den Vereinigten Staaten oft zu beobachtenden
konstitutionellen Konservatismus nicht zu. Und heute ist die EU stark
genug, gewisse destruktive Erscheinungen, zu denen dies in der Vergangenheit
führte, abzumildern.
Die verschiedenen „Flexibilitäts-“ und „Übergangsklauseln“ der neuen
Verfassung sind willkommene Mechanismen zur Einführung notwendiger
Veränderungen zu dem Moment, da sie erforderlich sind. Aber langfristig gesehen
wird die Zukunft der EU nicht durch institutionelle Mechanismen, das Tüfteln
an Gesetzen oder die Vereinfachung von Umstellungen bei Beschlussfassungen
bestimmt sein. Was wir brauchen, ist ein Leitgedanke. Und dieser wird auf jeden
Fall stark vom Föderalismus geprägt sein müssen.
Die EU muss die Vereinfachung ihrer Beschlussfassungsverfahren und die
Ausgestaltung ihres institutionellen Gleichgewichts fortsetzen. Der Leitgedanke hierbei
kann nur föderalistisch sein. So stellt die Schaffung des Amtes eines ständigen
Präsidenten des Europäischen Rates eine willkommene Entwicklung für
Europas Stimme in der Welt dar, aber der Charakter des Amtes muss klargestellt
und in die anderen institutionellen Neuerungen eingepasst werden, damit es
Wirksamkeit und Beständigkeit erlangt.
Aus Sicht der Gesprächspartner und Bürger Europas ist die doppelte
Präsidentschaftsstruktur der EU langfristig nicht glaubwürdig. Zwei Präsidenten,
einer für die Kommission und einer für den Rat, mit einem zwischen beiden
pendelnden Außenminister, lösen nicht die Frage, wer für Europa spricht, und
daraus ergibt sich eine unvermeidliche Schlussfolgerung.
Im Laufe der Zeit ist die Gestaltung des Amtes eines einzigen EU-Präsidenten
erforderlich. Zunächst wäre es sinnvoll, den Präsidenten vom Europäischen
Parlament wählen zu lassen. Nach und nach, wenn sich das Amt weiterentwickelt
und an Geltung und Legitimität gewinnt, müssten direkte Wahlen durch das Volk
vorgesehen werden. Allerdings ist dies für 2020 noch keine realistische Vision.
Was das Gleichgewicht zwischen den Organen anbetrifft, so scheint ein weiteres
föderalistisches Resultat naheliegend. Ohne normale Art der Gesetzgebung
mit zwei Kammern, bei der der Ministerrat nach dem Beispiel des Europäischen
Rates das Prinzip „ein Land – eine Stimme“ übernimmt, werden Beschlüsse wei-
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terhin durch Absprachen in Hinterzimmern getroffen, und die Rechenschaftspflicht
ist schwierig nachzuvollziehen.
Grenzen der Europäischen Union
VISION FÜR EUROPA 2020
Es lohnt sich nicht, lange über zukunftsfähige institutionelle Strukturen nachzudenken,
wenn man meint, die Regeln würden nur für eine EU mit fünfundzwanzig
Mitgliedstaaten geschaffen. Diese Debatte muss mit unseren Überlegungen hinsichtlich
der nächsten Schritte bei der Öffnung der EU für neue Mitglieder
übereinstimmen.
Für Mitte-Rechts muss die EU vor allem eine konstitutionelle Union sein, die
auf gemeinsamen Werten beruht. Folglich sind die Grenzen dieser Union nicht
von Natur aus geografischer, wirtschaftlicher oder politischer Art, sondern die
Mitgliedschaft in der EU setzt vielmehr die Übernahme einer gemeinsamen
Verfassung voraus, die die in eben dieser Verfassung niedergelegten Grundrechte
und -pflichten und gemeinsamen Werte befördert.
In dieser Hinsicht sollten wir den Weg der Gründerväter der Union fortsetzen.
Robert Schuman schrieb bereits 1949, er hätte keinesfalls die Absicht, eine geografische
Demarkationslinie zwischen Europa und „Nicht-Europa“ zu ziehen. Es
gäbe eine andere Möglichkeit, Grenzen zu setzen: Die Unterscheidung in jene,
die den europäischen Geist haben, und jene, die ihn nicht haben.
Wir sollten aufgeschlossen sein und den europäischen Geist in unserer unmittelbaren
Nachbarschaft wirken und wachsen lassen. Wenn diese Nationen bereit,
entschlossen und in der Lage sind, als neue Mitglieder der Union beizutreten, und
wenn sie sich zur Verfassung und zu den gemeinsamen Werten bekennen, sollten
wir sie beitreten lassen. Ich ziehe auch die Bezeichnung „Öffnung der Union“
vor, da „Erweiterung“ ein sehr EU-zentristischer Begriff ist. Wir schaffen keine
Festung Europa, sondern einen Kontinent, auf dem die Grundprinzipien Frieden,
Freiheit, Stabilität und Wohlstand von vielen geteilt werden, nicht nur von wenigen
Glücklichen.
Ein solches Denken eröffnet uns die Chance, tatsächlich ein gemeinsames
Europa zu bauen, dem schließlich rund vierzig demokratische Mitgliedstaaten
angehören können. Natürlich müssen wir, damit dies Wirklichkeit werden kann,
davon ausgehen, dass es vor allem auf dem Balkan und in den sich rasch verändernden
Gebieten der ehemaligen Sowjetunion zu grundlegenden
Veränderungen und auf Dauer angelegten Entwicklungen kommt. Wir sollten
uns auch keine unnötigen Fristen setzen; die Entwicklung von einer diktatorischen,
weitgehend undemokratischen Vergangenheit hin zu wahrer europäischer
Demokratie erfordert Zeit und Geduld.
Auf lange Sicht befördert die Mitgliedschaft der Türkei in der EU die
Entwicklung von Demokratie und Menschenrechten in einem Gebiet, das weltpolitisch
gesehen von äußerster strategischer Bedeutung ist. Die türkische
Mitgliedschaft hilft der EU bei der Gestaltung friedlicher Zusammenarbeit mit
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der islamischen Welt und stärkt unsere Fähigkeit, eine auf Dauerhaftigkeit ausgerichtete
Lösung für den Nahen Osten zu finden. Auch für die wirtschaftliche
Entwicklung der EU ist die Türkei wichtig, da das Land über große
Arbeitskräfteressourcen verfügt, die alle gegenwärtigen EU-Mitgliedstaaten dringend
benötigen werden. Allerdings erfüllt die Türkei zur Zeit wegen ihrer schlechten
Menschenrechtsbilanz die Kriterien für eine Aufnahme nicht. Auch muss eine
Lösung für die Situation Zyperns gefunden werden, ehe die Türkei der EU beitreten
kann. In den kommenden Jahren und bei den türkischen
Beitrittsverhandlungen ist besonderer Nachdruck auf den Dialog mit den europäischen
Bürgern zu legen.
Die Mitgliedschaft Bulgariens und Rumäniens kann auf kürzere Sicht erfolgen,
ihr Beitritt zur EU wird für 2007-2008 erwartet. Obwohl die Vorbereitungen auf
zahlreichen Gebieten vorangeschritten sind, müssen noch entschlossen Reformen
verabschiedet und Probleme angepackt werden, ehe ihnen die Vollmitgliedschaft
zuerkannt werden kann. Die Reform des Justizsystems und wahrhaft unabhängige
Gerichte sind von entscheidender Bedeutung. Eine Mitgliedschaft in der EU
ohne voll funktionierendes und transparentes Rechtssystem wird es nicht geben.
Die Situation von Minderheiten wie den Roma muss ebenfalls nachhaltig verbessert
werden. Deshalb muss vor allem Rumänien große Anstrengungen unternehmen,
damit es innerhalb des vorgesehenen Zeitrahmens in die EU aufgenommen
werden kann. Die Europäische Union ist und bleibt ein Raum der
Freiheit und Gerechtigkeit, das gilt auch für alle neuen Mitgliedstaaten.
Kroatien ist nach Sloweniens unlängst erfolgtem Beitritt zur Union der erste
Staat des ehemaligen Jugoslawiens, der nach einer Periode schwieriger
Bürgerkriege Aussicht auf Aufnahme in die EU hat. Kroatiens Mitgliedschaft kann
als Öffnung gegenüber den Balkanstaaten verstanden werden, ist aber auch ein
Beispiel dafür, wie wichtig die Erfüllung der internationalen Verpflichtungen für
alle Länder ist, die die EU-Mitgliedschaft anstreben. Kroatien wird nicht Mitglied
werden können, solange es die vollständige Zusammenarbeit bei der Übergabe
der Kriegsverbrecher an die internationale Justiz verweigert.
Europäischer Heimatmarkt – bis 2020 erreichbares Ziel?
Der europäische Binnenmarkt gehört zu den wichtigsten Leistungen der EU.
Doch Märkte sind kein Selbstzweck, sie sind Mittel zum Erreichen bedeutender
Ziele wie Frieden, Wirtschaftswachstum und Beschäftigung. Die Kommission hat
festgestellt, dass die schrittweise Liberalisierung und Konsolidierung des
Binnenmarktes seit 1993 zur Schaffung von 2,5 Millionen neuen Arbeitsplätzen
und mehr als 800 Milliarden Euro zusätzlicher Wirtschaftskraft geführt hat. Neue
Technologien und die Öffnung der nationalen Märkte für den Wettbewerb haben
die Preise für Telefongespräche seit 1998 um 50 % sinken lassen, während die
Preise für Flugreisen zwischen 1992 und 2000 um 41 % zurückgegangen sind.
Durch den Abbau bürokratischer Hürden können mehr als 15 Millionen EU-
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Bürger in einem anderen EU-Staat arbeiten bzw. ihren Lebensabend dort verbringen.
Diese konkreten Marktvorteile und andere Verbesserungen im Alltag wie die
gemeinsame Währung und der visafreie Reiseverkehr rechtfertigen allein schon
die gesamte EU. Die Organe der EU haben Hunderte Richtlinien vorgelegt, die
den freien Waren- und Personenverkehr zum Ziel haben. Die Mitgliedstaaten
müssen ihre Anstrengungen zu deren Umsetzung verstärken, während die EU
keine allzu detaillierten und umständlichen Regelungen verabschieden darf. Eine
der Hauptaufgaben des Europäischen Parlaments ist es, dafür zu sorgen, dass
bei der Gestaltung des Binnenmarktes und der gemeinsamen EU-Politik die
Stimme der Menschen gehört wird.
Können wir nun, da der Binnenmarkt – zumindest auf dem Papier – verwirklicht
ist, sagen, unsere Arbeit wäre getan? Ganz im Gegenteil. Für Unternehmen
wie Verbraucher ist Europa noch immer kein wirklicher Heimatmarkt.
Erst wenn die Voraussetzungen für vollständig integrierte Märkte erfüllt sind,
wird Europa für Unternehmen einem Heimatmarkt gleichen. Welche Elemente fehlen
dazu noch?
Die größten Anstrengungen erfordert der Bereich Steuern, insbesondere die
Harmonisierung der Bemessungsgrundlage für die Körperschaftsteuer. Diese sollte
unter Beibehaltung des positiven Elements eines gesunden Steuerwettbewerbs
zwischen den Legislativorganen erfolgen.
Damit der Binnenmarkt diesen Namen wirklich verdient, müssen alle noch vorhandenen
Hindernisse und Beschränkungen ausgeräumt werden. Kurzfristig
kommt hier dem Binnenmarkt für Dienstleistungen die größte Bedeutung zu.
Die Dienstleistungsrichtlinie wird dringend benötigt und muss ohne weitere
Verzögerung mit allen ihren Schlüsselprinzipien verabschiedet werden, wobei
das Herkunftslandprinzip hier an erster Stelle zu nennen ist.
Darüber hinaus sind weitere Verbesserungen in Angriff zu nehmen, das Streben
nach wirtschaftlicher und sozialer Kohäsion der gesamten EU und in ihrer unmittelbaren
Nachbarschaft eingeschlossen. Die Konsolidierung des Binnenmarktes
ist besonders für kleine Mitgliedstaaten von Belang, da sie von den neuen und
erweiterten Möglichkeiten des Marktes verhältnismäßig stärker abhängig sind.
Wettbewerbsfähiges Europa
VISION FÜR EUROPA 2020
Die europäischen Mitte-Rechts-Kräfte müssen sich darauf konzentrieren, die
europäische Wirtschaft eindeutig auf den Weg von Wachstum und
Wettbewerbsfähigkeit zu bringen. Hierbei müssen wir die Hauptverantwortung
übernehmen, da die Erfahrung zeigt, dass unsere sozialdemokratischen Kollegen
unfähig sind, die notwendigen Reformen durchzuführen. Wir müssen der Barroso-
Kommission und allen folgenden Kommissionen unsere Unterstützung zusichern,
werden sie doch bei der praktischen Umsetzung der europäischen Reformagenda
eine zentrale Rolle spielen.
147
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PIIA-NOORA KAUPPI
Das europäische Sozialmodell ist ohne solide wirtschaftliche Grundlage nicht
aufrechtzuerhalten. Um Reichtum verteilen zu können, muss dieser zunächst
geschaffen werden. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Inkompetenz und
Untätigkeit linksorientierter Konservativer die Hoffnungen auf ein sozialeres
Europa zunichte machen.
Auf den Fluren der EU in Brüssel kennt jeder den Begriff „Bürokratismus“. Er
steht für bürokratische und regulatorische Bürden, die die Wettbewerbsfähigkeit
der Union belasten und strukturelle Reformen behindern.
Wird die EU in dem einen oder anderen Politikbereich zum Handeln aufgefordert,
reagiert sie nur zu oft mit dem Entwurf eines neuen Gesetzes oder der
Schaffung eines neuen Postens, nicht selten mit beidem. Europas größtes Problem
ist aber nicht ein Mangel an Vorschriften, sondern vielmehr deren einfallslose
Umsetzung. Es wurden gemeinsame Regeln aufgestellt, aber niemand ist gerüstet,
deren Einhaltung zu überwachen. Die Situation ist selbst in Bezug auf den EU-
Kernbereich Binnenmarkt unbefriedigend. Es gibt nur noch wenige Sektoren, in
denen Märkte durch neue Rechtsvorschriften geöffnet werden könnten. Zwar
gehören hierzu der Energiesektor, die Postdienstleistungen und der Verkehr, aber
zum größten Teil lassen sich Hindernisse im Binnenmarkt durch bessere
Umsetzung vorhandener Vorschriften ausräumen.
Um ihre Wettbewerbsfähigkeit rasch zu erhöhen, sollte sich die EU deshalb
auf Umsetzung und Durchsetzung konzentrieren. Sind Beschlüsse auf Ebene der
EU gefasst worden, müssen die Mitgliedstaaten diese umsetzen und sollten sich
nicht widersetzen, bis die Kommission sie dazu auffordert oder der Gerichtshof
sie dazu zwingt. Die EU-Mitgliedstaaten müssen ihre diesbezügliche Einstellung
ändern und beginnen, im allgemeinen europäischen Interesse zu denken anstatt
nur aus einzelstaatlicher Sicht. Diese Aufgabe ist nicht leicht, aber umso notwendiger.
Die Kommission kann den Mitgliedstaaten natürlich helfen, über den eigenen
Gesichtskreis hinauszublicken. Bei der Überwachung der Umsetzung muss sie
Überreste protektionistischen Verhaltens radikal bekämpfen. Jetzt, da die Anzahl
der Kommissare im Zuge der EU-Erweiterung um ein Viertel gestiegen ist, sollte
sie ihre neuen fachlichen Ressourcen nutzen, um Effizienz bei der Umsetzung
zu fordern und rasch gegen jene vorzugehen, die die Dinge schleifen lassen.
Die EU braucht angemessene Ressourcen, um zu funktionieren
Damit die EU zum Wohle ihrer Mitglieder besser funktionieren kann, muss sie
mit entsprechenden Ressourcen ausgestattet sein. Angesichts der strengen
Haushaltsdisziplin der EU ist es unrealistisch zu erwarten, dass die Mitgliedstaaten
ihren im Verhältnis zum BIP festgelegten Anteil am Haushalt erhöhen wollen.
Selbst die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Niveaus ist nicht sicher. Deshalb
lassen sich die Ressourcen der EU am besten dadurch erhöhen, dass das BIP in
den Mitgliedstaaten bei weiterhin niedriger Inflation steigt.
148
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VISION FÜR EUROPA 2020
Vorläufig bedeutet das, den sehr beschränkten EU-Haushalt von nur etwas
mehr als 1 % des BIP der gesamten EU effizienter für Wirtschaftswachstum und
Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit einzusetzen. Damit es tatsächlich dazu
kommt, muss die Struktur der Haushaltsausgaben gemäß den Vorschlägen der
Kommission erhöht werden. Obwohl die Landwirtschaft und die Strukturfonds
für den Binnenmarkt zweifellos wichtig sind, lässt sich ihr gegenwärtiger Anteil
am Haushalt nicht für alle Zeit aufrechterhalten.
Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung sind für Europas
Wettbewerbsfähigkeit unverzichtbar. Der gegenwärtige EU-Haushaltsplan für
Forschung und Entwicklung ist mit rund 5 Milliarden Euro im Jahr nur unwesentlich
größer als der von Nokia, das jährlich etwa 4 Milliarden Euro für Forschung
und Entwicklung ausgibt. Die Union ermöglicht die Schaffung größerer und
bedeutenderer Einheiten als dies einzelnen Mitgliedstaaten möglich wäre, was die
EU in die Lage versetzt, zusäztliche Nutzeffekte zu erzielen.
Künftige Außenbeziehungen – Die Rolle Europas in Zeiten der Globalisierung
Der neue Vertrag über eine Verfassung für Europa schafft die Grundlage für
eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die Außenpolitik ist auch jener
Politikbereich, der mit dem neuen Verfassungsvertrag am meisten Fortschritte
macht. Es scheint ein neuer Wille für die erste gemeinsame außenpolitische
Strategie vorhanden zu sein, nachdem sich die Krisenbefürchtungen zerstreut
haben. Auch für außenpolitische Fragen werden neue Strukturen eingerichtet
werden.
Dem vorgesehenen Europäischen Auswärtigen Dienst kommt dabei eine zentrale
Rolle zu, gestaltet er doch mit seinem Handeln die gemeinsame Außenpolitik.
Es ist von äußerster Wichtigkeit, diesen Dienst bei der Kommission der
Europäischen Union anzusiedeln. Wir müssen wachsam gegenüber allen
Versuchen sein, dem neuen Dienst ein unklares Profil zu verleihen. Auf keinen
Fall darf er aber eine unkontrollierbare zwischenstaatliche Behörde sein, die sich
verselbständigt.
Wie sollte die EU-Außenpolitik gestaltet werden? Die Europäische Union ist
eine konstitutionelle Wertegemeinschaft. An diesen gemeinsamen Werten sollten
die Aktivitäten der Europäischen Union in der Weltpolitik ausgerichtet sein.
Wir haben jetzt die erste gemeinsame Strategie, die eine gute Grundlage für die
Entwicklung realer gemeinsamer Außenpolitik darstellt. Im Brennpunkt dieser
Außenpolitik sollten geografisch nahe Gebiete, Bewerberstaaten sowie gegenwärtige
und künftige Nachbarn der Union stehen.
Neben der Union und ihren unmittelbaren Nachbarn sollte das stärkste Bündnis
der Welt – die EU und die USA – bei der Gestaltung der Welt eine maßgebliche
Rolle spielen. Die transatlantischen Beziehungen sind durch die gemeinsamen
Werte Demokratie und Freiheit gekennzeichnet, was wir alle anerkennen sollten.
Nicht durch Spaltung, sondern durch Zusammenführung unserer Kräfte können
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PIIA-NOORA KAUPPI
wir die Welt zu einem Ort machen, an dem es sich lohnt zu leben. Die
Bekämpfung der Armut, die Verteidigung der Demokratie und das Eintreten für
Menschenrechte sind Fragen, in denen wir auf der Basis unserer gemeinsamen
Werte zusammenarbeiten können und müssen. Nur unter freien demokratischen
Bedingungen gelangt die Wirtschaft zu voller Blüte und mehrt sich der Wohlstand
der Bürger.
Die rasante Entwicklung asiatischer Giganten wie China und Indien stellt die
Europäische Union ebenfalls vor neue Herausforderungen. Ihr Einfluss im globalen
Kontext ist keineswegs zu vernachlässigen, ganz zu schweigen von ihrer
rasch zunehmenden wirtschaftlichen Bedeutung. Durch aktive Beteiligung an
der ökonomischen Entwicklung dieser Gebiete kann Europa seine Position in
der Welt sichern. Jedoch werden in China noch die Menschenrechte verletzt,
wozu die häufige Verhängung der Todesstrafe und das herrschende
Einparteiensystem gehören, das gewaltlose politische Gegner unterdrückt. Das
Problem der Todesstrafe gibt es auch in Indien.
In China sind Glaubens- und Religionsbekundungen noch immer nicht erlaubt.
Wir sollten dies um keinen Preis dulden, sondern uns mutig für die Freiheit der
Menschen einsetzen.
Was die EU anbetrifft, so müssen wir jedoch zur Kenntnis nehmen, dass ein
wirtschaftlicher Riese nur bei entsprechender militärischer Glaubwürdigkeit auch
ein politischer Riese ist. Die Welt hat sich verändert. Kein Staat kann mehr allein
seine Sicherheit garantieren. Noch nicht einmal die USA, der einzige Superstaat
der Welt. Neuen Gefahren, die die Sicherheit bedrohen – wie organisierte
Kriminalität, zusammenbrechende Staaten und Terrorismus – kann man nur durch
enge Zusammenarbeit zwischen Staaten begegnen. Ein Europa der Sicherheit
und Zusammenarbeit liegt im Interesse aller.
150
März 2005
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Vytautas LANDSBERGIS
Leiter der litauischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Visionen und Handlungsmöglichkeiten
Ideal wäre es, wenn man eine einzige, klare und beständige Vision hätte.
Doch, pardon, ich habe mindestens zwei Visionen, eine sehr positive und eine
zweite, auf die das bedauerlicherweise nicht zutrifft. Aber zuerst die guten
Nachrichten.
Europa hat sein besonderes Problem bereits gelöst (2020) und die
Ambivalenzen im Zusammenhang mit der Umstrukturierung zu dem, was es
nunmehr ist, überwunden. Eine der Gestaltungsmöglichkeiten Europas wird
manchmal als „Europa plus“ bezeichnet. Das eigentliche Europa – Europa
Propria – entstand im 21. Jahrhundert, um 2020, als Gebilde mit föderalen
Zügen, das auf der unverbrüchlichen Solidarität der ihm angehörenden
Nationalstaaten beruht.
Europa als alte westliche Zivilisation der „Alten Welt“ hat keine – emotionalen
oder wirtschaftlichen – Probleme mehr im Umgang mit den Amerikas. Diese
sind vor allem Kinder Europas. Wenn sich also beide Teile der Familie wieder
lieben, wird die aufrichtige Achtung gegenüber der alternden Mutter und ihrer
multinationalen, multikulturellen Weisheit allen helfen, mit sich selbst und mit
den Nachbarn, Afrika und Asien, in Frieden zu leben.
Mutter Europa hat sich sehr verändert, in erster Linie im Sinne eines multireligiösen
Multikulturismus. Sie wirkt daher wieder jünger, vielleicht wie eine
europäische Kreolin. Seit jenen Umbruchzeiten, da der Nahe Osten sich endlich
für den Frieden entschieden hat, der Iran Vernunft annahm, Russland seine
Dateien und sonstigen Erkenntnisse über internationale Terrororganisationen
offen legte und dazu beitrug, letzteren Einhalt zu gebieten und den Planeten vor
dem Sturz in den Abgrund zu bewahren, fühlt sich Europa fast schon zu sicher.
Irgendwie ist das zu dieser Zeit auch gut, es werden Bilder in hellen, optimistischen
Farben gemalt. Die europäische Musik hat etwas von ihrer früheren
Weltuntergangshysterie verloren. Krankheiten wurden besiegt (wobei für das
151
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VYTAUTAS LANDSBERGIS
nicht mehr ganz so arme Afrika noch einige Krankheiten übrig geblieben sind),
und die Meere, die eine höhere Temperatur aufweisen als früher, werden sich
entsprechend anpassen. Nach den Katastrophen von 2010 nehmen die Wale
wieder Abstand von Massenselbstmorden an verschmutzten Küsten. Die Strände
sind jetzt sauber, sodass die Kinder gern dort spielen. Sie spielen (schon seit 2015)
nicht mehr nicht mehr Krieg, Räuber und Banditen. Nach der Annahme des
Weltgesetzes über das menschliche Leben im Jahr 2013 werden nicht mehr in
großer Zahl menschliche Klone in Labors hergestellt. Die Wälder auf allen
Kontinenten unterliegen der weltweiten Kontrolle und Verantwortlichkeit, und
das postchristliche Europa kehrt nach einer kurzen Phase des spirituellen und
physischen Kannibalismus zu der postpostpostmodernen uralten Verehrung der
Natur zurück. Das bedeutet nicht, wie vorausgesagt, die Entchristianisierung
und den Triumph des Laizismus. Im Gegenteil, der göttliche Ursprung des
menschlichen Lebens wird in einer wesentlich anspruchsvolleren Generalisierung
anerkannt. Die Natur, die uns das Leben schenkt, ist vom Wesen her gut. Der
gute Gott handelt durch die Natur. Daher wird die Natur als die Hand Gottes
anerkannt, die behutsam oder strafend sein kann. Nach schweren Bestrafungen
ist die Menschheit, besonders in Europa, nun sehr viel klüger. Daher spielt
Europa jetzt eine führende Rolle bei allen - pragmatischen und spirituellen -
Aspekten des globalen Umweltschutzes. Nachdem Christen, Juden und Muslime
endlich die gemeinsamen Wurzeln ihres Glaubens anerkannt haben, übersteigt
ihre Zahl insgesamt die rückläufige Zahl der materialistisch eingestellten, konsumorientierten
und egoistischen Nichtgläubigen. Die Philosophen reden mehr
und laufen mehr; sie sitzen nicht nur herum und schreiben, und eine solche
Entwicklung der Kultur hat wiederum einen positiven Einfluss auf die
Herausbildung einer generellen natürlicheren Denkweise der Menschheit.
Die Menschheit hat wieder das Gefühl, dass ihr die Chance gegeben wird,
noch einige Jahrhunderte zu überleben.
Die schlechten Nachrichten lauten natürlich anders.
Die Vereinigung Europas ist auch 2020 noch nicht erreicht und weiterhin
umstritten. Bis zur Annahme der europäischen Verfassung dauerte es fünf Jahre,
und es war ein erheblicher Zusatzaufwand erforderlich. So wurde der ursprünglich
beabsichtigte „föderalistische“ Ansatz verworfen, und es setzte sich das
Konzept souveräner Staaten durch, die durch zuvor in Europäischen Konvents
und in den nationalen Verfassungen zum Ausdruck gebrachte Grundsätze geeint
sind. Die Einheit beruht nunmehr ausschließlich auf der Zusammenarbeit in
den Bereichen Handel und Verteidigung (gegen militärische und ökologische
Bedrohungen). Zugleich kommt es zu einer zunehmenden Spaltung in Bezug
auf die Außenbeziehungen zu den USA, Russland und Afrika sowie in Bezug auf
die unterschiedliche Einschätzung darüber, wie rasch und aus welchen Gründen
die Identität Europas verloren geht. Vor allem die jüngsten Ereignisse in
Osteuropa haben neue Herausforderungen mit sich gebracht, aber auch dazu
152
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 153
VISIONEN UND HANDLUNGSMÖGLICHKEITEN
geführt, dass die Solidarität wieder zugenommen hat. Nach dem dritten
Zusammenbruch Russlands, der mit der Hinwendung der asiatischen Teile des
Landes (Transural) zu China einherging, ersuchte das europäische Russland
(Moskau) dringend um Aufnahme in die EU und versprach, die Demokratie
einzuführen. In Anbetracht des von Russland geäußerten Wunsches nahm die
EU Verhandlungen mit China darüber auf, das Uralgebiet als Trennlinie zwischen
den zwei Interessengebieten festzulegen.
Die Mischung zwischen postchristlichen Nichtgläubigen und muslimischen
Gläubigen im eigentlichen Europa brachte keine wirkliche Konsolidierung mit
sich. Im Gegenteil, Rassen- bzw. Religionskonflikte treten offen zutage. Jeden
Tag kann es zu Massenauseinandersetzungen in ganz Europa kommen. Da
diese Zehntausende oder Hunderttausende Menschenleben kosten und somit
einen demografischen Ausgleich erfordern, verlagert man die künstliche
Herstellung von Menschen von den Genlabors in die aufstrebende, staatlich
unterstützte Industrie. Als sehr wichtiger Aspekt bei dieser wissenschaftlichen
Entwicklung erwies sich die Fähigkeit, den „neuen Menschen“ genetisch gegen
früher vorherrschende Gefühle, Träume und emotionale Liebe zu wappnen;
letztere wird auf eine reine Sexualpartnerschaft reduziert. Die Institution der
Familie gilt als überholt (bei den Postchristen, nicht jedoch bei den Muslimen),
und da die Reproduktion des Homo sapiens (oder der denkenden Primaten)
mehr und mehr industriell erfolgt, d. h. durch weit verbreitetes Klonen usw., sinkt
die Nachfrage nach Personen männlichen Geschlechts. Für Frauen in den ärmeren
Ländern scheint die Produktion von Eizellen und Embryonen der neueste
aussichtsreiche Beruf zu sein.
Da die Warnungen vor der Erderwärmung trotz der Protokolle und Übereinkommen
praktisch außer Acht gelassen wurden, kam es zu einem Anstieg der
Meere. Deshalb planen europäische Länder mit großen Hafenstädten – in einigen
Fällen liegt sogar die Hauptstadt an der Küste – mitunter überstürzt den Bau
riesiger Dämme zum Schutz ihrer auf die Städte konzentrierten Zivilisation.
Unter der Geißel von Krankheiten, die ein Massensterben verursachen (und
von denen einige absichtlich eingeschleust wurden, um eine Bevölkerungsexplosion
und ein Aufbegehren der armen Kontinente z. B. gegen Europa zu
verhindern) und der Grausamkeit globaler terroristischer Strukturen, die sich
beinahe schon zu einer allumfassenden internationalen Diktatur entwickelt
haben, floriert der verzweifelte populistische Glaube an kosmische Retter oder
die vermeintliche Chance, diesem verrückt gewordenen Planeten durch
Auswanderung ins Weltall (in den Kosmos) entfliehen zu können, und es entsteht
eine Vielzahl gewaltiger neuer Sekten. Aufgrund ihrer Uneinigkeit sind
sie hilflos gegenüber den bevorstehenden Erlassen der Zentralen Weltbehörde,
die von der Union des Weltterrorismus ausgerufen werden. So waren viele
Europäer offenbar dazu bereit, aus pragmatischen Gründen zu kapitulieren und
die eigensinnigen USA ihrem Schicksal zu überlassen.
153
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 154
VYTAUTAS LANDSBERGIS
Schließlich weiß in diesem terroristischen Szenario irgendjemand, was zu
tun ist, die pessimistische Stimmung wird von neuer Hoffnung durchbrochen und
weicht unverzüglich einer optimistischen Stimmung.
Deshalb gibt es heute keinen Grund zum Pessimismus, was Europa um das
Jahr 2020 betrifft.
154
März 2005
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 155
Wilfried MARTENS
Vorsitzender der Europäischen Volkspartei
Die Zukunft der Lissabon-Strategie:
Europa auf den Wachstumspfad bringen
„Um Reichtum gerecht aufteilen zu können,
muss er zuerst einmal geschaffen werden.“
ADAM SMITH
In den vergangenen 50 Jahren hat die Einigung Europas nicht nur zu einer
Periode des Friedens und der friedlichen Lösung von Konflikten auf unserem
Kontinent geführt, wie sie bis dahin unbekannt war, sondern durch Freizügigkeit
und offene Märkte auch ein hervorragendes Beispiel für die Schaffung von
Wohlstand gegeben. Die Erfolgsgeschichte der europäischen Integration hat es
möglich gemacht, dass Europa durch wirtschaftliche Macht und Wohlstand für alle
zu einer der mächtigsten Regionen in der Welt geworden ist.
Im Zuge der Globalisierung sind allerdings auch andere Regionen der Welt im
Verlauf der letzten Jahrzehnte zu bedeutenden Akteuren im Weltmaßstab geworden;
viele von ihnen haben sich vor allem in dem zu Ende gegangenen Jahrzehnt
schneller als die Europäische Union entwickelt. Das hat Europa vor neue
Herausforderungen gestellt.
So muss beispielsweise das europäische Sozialmodell gründlich reformiert
werden. Die Werte dieses Modells (Leistung und soziale Gerechtigkeit, Wettbewerb
und Solidarität, persönliche Verantwortung und soziale Sicherheit) spielen im
Zusammenhang mit globalisierten Märkten und schnellen Veränderungen im
Wirtschaftsleben auch weiterhin eine große Rolle. Die Herausforderung besteht
darin, neue starke Marktkräfte mit Menschlichkeit, wirtschaftliche Dynamik mit
sozialer Verantwortung zu verknüpfen. Wohlstand lässt sich jedoch nicht verteilen,
und soziale Gerechtigkeit kann nicht geübt werden, wenn unsere
Gesellschaften nicht in eine dynamische Wirtschaft eingebettet und in der Lage
sind, sich an einen immer stärker durch Wettbewerb geprägten globalen Markt
anzupassen.
Parallel dazu machen das Altern unserer Gesellschaften und die demografi-
155
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WILFRIED MARTENS
sche Entwicklung insgesamt deutlich, dass ein familienfreundlicheres Umfeld
geschaffen werden und Männern und Frauen vor allem die Möglichkeit gegeben
werden muss, Beruf und Kinder in Einklang zu bringen.
Die im Jahr 2000 angenommene Lissabon-Agenda enthält gute Ansatzpunkte
für Reformen, um mehr Arbeitsplätze in Europa zu schaffen und unseren
Wohlstand zu sichern. Allerdings besteht in mehreren Mitgliedstaaten beträchtlicher
Widerwillen gegen viele Reformen des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes.
Es hat sich deutlich gezeigt, dass sich die Länder, die frühzeitig Reformen in
Angriff genommen haben, in einer wesentlich besseren Position befinden als die
reformunwilligen.
Heute gehört die Lissabon-Agenda zu den grundlegenden Prioritäten der
neuen Kommission unter dem Vorsitz von José Manuel Barroso. Präsident Barroso
verkündete vor kurzem die „Wachstums- und Beschäftigungsstrategie “, und es
überrascht nicht, dass sie dem Geist der seit langem vorliegenden EVP-Vorschläge
für die Belebung der Lissabon-Strategie entspricht. Diese neue Strategie nehmen
wir vor allem deshalb mit Erleichterung auf, weil sie die Kernfragen, das heißt
Wachstum und Arbeitsplätze, in den Vordergrund stellt, denn dies sind die notwendigen
Instrumente, um die europäischen Ziele zu erreichen. Auch
Premierminister Juncker, der luxemburgische Ratsvorsitzende, hat die Lissabon-
Strategie in seine Prioritätenliste aufgenommen.
Wenn wir unsere gemeinsamen Ziele erreichen und die Herausforderung
annehmen wollen, die Wohlstand und das reibungslose Funktionieren eines
modernen europäischen Sozialmodells bedeuten, müssen sich die EU und die
Mitgliedstaaten gemeinsam in diesen Prozess einbringen. Nur die Regierungen,
die wirklich mutige Maßnahmen und Reformen einleiten, bringen mit großem
Erfolg den Europäern Wohlstand, Wachstum und Beschäftigung. Um voranzukommen
ist daher eine Reformagenda vonnöten.
Leider befinden sich die europäischen Volkswirtschaften bei Wachstum und
Beschäftigung derzeit auf einem enttäuschend niedrigen Leistungsniveau. In vielen
Regionen der Welt geht die Entwicklung schneller voran als in Europa, vor
allem in den USA, in Asien und in vielen anderen OECD-Ländern. Wir brauchen
flexiblere Arbeitsmärkte und lebensbegleitendes Lernen; wir müssen die Mobilität
der Arbeitnehmer verbessern und die Kosten des Faktors Arbeit senken. Es gilt,
die Verwaltungsbürokratie zu verringern, um Unternehmergeist zu befördern
und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Die Kluft zwischen uns und anderen führenden
Wettbewerbern auf technischem Gebiet wird nicht kleiner – im Gegenteil, sie
wächst weiter.
Die Europäische Volkspartei setzt alles daran, die in Lissabon vereinbarten
Maßnahmen möglichst umfassend auf europäischer sowie auf einzelstaatlicher
Ebene umzusetzen. Als stärkste politische Kraft in Europa werden wir in den
kommenden Monaten und Jahren all unsere Energie und Aufmerksamkeit diesem
Thema widmen. Wir fühlen uns verpflichtet, Europa fit für die Zukunft zu machen.
Wachstum schafft Beschäftigung und Wohlstand. Europas Rolle in der Welt kann
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DIE ZUKUNFT DER LISSABON-STRATEGIE
nur durch kühne Reformen gesichert und gestärkt werden – und damit Wohlstand
und effiziente und bezahlbare Systeme der sozialen Sicherheit für alle geschaffen
werden.
Europa hat in der Vergangenheit unter Beweis gestellt, dass es in der Lage ist,
umfassende Reformen und neue Ideen zu verwirklichen. Jetzt ist es höchste Zeit,
unsere Anstrengungen auf Reformen für die Schaffung von mehr Wachstum und
Beschäftigung zu konzentrieren. Nur starke und reformierte Gesellschaften werden
sichere Einkommen für alle in Europa gewährleisten.
Es steht außer Zweifel, dass Wachstum in Europa mehr politische
Entschlossenheit, Führungskraft und Ergebnisse erfordert, um die Zielvorgaben
von Lissabon zu erreichen. Allerdings wurde den auf der Lissabonner Ratstagung
festgelegten Zielen auf europäischer und einzelstaatlicher Ebene nicht immer
Vorrang eingeräumt.
Es ist zwar richtig, dass die Lissabon-Strategie zum Teil auf falschen Annahmen
in Bezug auf das zukünftige Wirtschaftswachstum beruht, doch meist wird geringes
Wirtschaftswachstum lediglich als Entschuldigung angeführt. Die EU-Staaten
stehen nicht voll und ganz hinter dem Lissabon-Prozess und haben das ursprünglich
Vereinbarte nicht umgesetzt. Eine deutliche Ausnahme bildet hier das erfolgreiche
Reformmodell der sozialen Marktwirtschaft, das in der zweimaligen Amtszeit
von José María Aznar in Spanien umgesetzt wurde.
Die Europäische Volkspartei arbeitet seit langem intensiv an der
Wiederaufnahme der Lissabon-Agenda und stellt Überlegungen zur Verbesserung
des Lissabon-Prozesses an. Diese Arbeit wurde lange vor der Veröffentlichung
des Berichts der von der Kommission eingesetzten Hochrangigen Sachverständigengruppe
unter Leitung von Wim Kok vorgelegt, um einen Beitrag zu dieser Debatte
sowie zu der bevorstehenden Halbzeitbewertung der Lissabon-Strategie zu leisten.
Viele der im Bericht Kok enthaltenen Vorschläge entsprachen in etwa denen
der EVP. Die Hochrangige Sachverständigengruppe der Kommission nahm zwar
die richtige Analyse vor, doch viele der erforderlichen grundlegenden
Empfehlungen wurden nur ungenügend dargestellt.
Ausgangspunkt der EVP-Empfehlung ist die Wettbewerbsfähigkeit, d. h. die
Schaffung einer soliden Basis für Unternehmertum und Innovation. Die
Wettbewerbsfähigkeit muss zum alles beherrschenden Grundsatz der gesamten
Wirtschaftspolitik werden.
Ein weiteres Kernelement der EVP-Empfehlungen ist die Beschäftigung, wobei
die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, eine Sozialpartnerschaft für Arbeitnehmer,
ihr allgemeiner und beruflicher Bildungsstand, ihr Vertrauen in ein hohes Niveau
der sozialen Sicherheit im Mittelpunkt stehen.
Noch vor dem Bericht Kok forderte die EVP, dass EU-Rat und -Kommission
konkrete Ziele für die Mitgliedstaaten bekannt geben und analysieren. Das ist
wichtig, um die individuelle Verantwortung jedes einzelnen EU-Mitgliedstaates besser
hervorheben zu können.
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WILFRIED MARTENS
Die Maßnahmen müssen konkret, nicht oberflächlich sein. Nur wenn wir uns
auf die Kernfragen der Lissabon-Agenda konzentrieren, das heißt auf die Schaffung
neuer und besserer Arbeitsplätze durch Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und
die Modernisierung unserer Gesellschaften, können wir wirklich erfolgreich sein.
Die EVP hat die Pflicht, offen zu erklären, dass sich die Europäische Union und
ihre Mitgliedstaaten nicht an den Plan von Lissabon gehalten haben. Das bedeutet
jedoch keineswegs, dass wir dem Lissabon-Prozess eine Absage erteilen. Wir
müssen unsere Anstrengungen jetzt mehr denn je zuvor erhöhen. Es geht um
eine bessere Zukunft für unsere Menschen und um das europäische Modell.
Ferner müssen wir uns weiter strikt an die Regeln des Stabilitäts- und
Wachstumspakts halten. Es steht außer Zweifel, dass der Pakt für die Erhaltung einer
gesunden wirtschaftlichen Perspektive unabdingbar ist. Der Versuch, für die
Nichteinhaltung des Stabilitäts- und Wachstumspakts die für das Erreichen der
Ziele der Lissabon-Strategie erforderlichen Anstrengungen verantwortlich zu
machen, kann nicht hingenommen werden.
Es versteht sich von selbst, dass die EVP auch weiterhin ihren Beitrag zum
Lissabon-Prozess leisten und die Bemühungen der neuen Kommission unter
Leitung von Präsident Barroso um die erfolgreiche Umsetzung der Lissabon-
Strategie unterstützen wird.
Unsere Vorschläge, die weiterhin gültig sind, beruhen auf Folgendem:
1. Motivation des erweiterten Europas in Richtung Beschleunigung der
Wirtschaftsreformen und Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit.
2. Bestätigung und Neuausrichtung der Lissabon-Strategie, um das Engagement
der EU-Mitgliedstaaten zu erneuern. Konzentration auf die Hauptelemente der
Lissabon-Agenda.
3. Folgende Aspekte müssen im Mittelpunkt stehen:
– Wettbewerbsfähigkeit muss zum alles beherrschenden Grundsatz der gesamten
Wirtschaftspolitik werden,
– Beschäftigung, bei besonderer Betonung einer größeren Flexibilität der
Arbeitsmärkte.
– Sozialpartnerschaft, Motivation der Arbeitnehmer, der allgemeine und berufliche
Bildungsstand der Arbeitnehmer, ihr Vertrauen in ein hohes Niveau der
sozialen Sicherheit und das Gefühl, Teil des Unternehmens zu sein, um so einen
Ansporn für die Erhöhung der Produktivität und die Schaffung von Arbeitsplätzen
zu geben.
4. Beschleunigung aller notwendigen Strukturreformen als Kernaktivität der
EU, um ein Höchstmaß an Wettbewerbsfähigkeit zu erzielen und Wachstum und
Beschäftigung zu fördern.
5. Festlegung der einzelnen Mitgliedstaaten auf die gemeinsam vereinbarten
Reformziele.
6. Strikte Einhaltung der sich aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt ergebenden
Verpflichtungen und Verbesserung seiner künftigen Umsetzung durch
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DIE ZUKUNFT DER LISSABON-STRATEGIE
Übertragung größerer Befugnisse an die Kommission im Rahmen des Überwachungs-
und Entscheidungsmechanismus des Paktes.
7. Freisetzung des Potenzials von KMU und neu gegründeten Firmen bei der
Schaffung von Arbeitsplätzen durch Nutzung der von der EU-Kommission vorgeschlagenen
Instrumente, insbesondere durch:
– den Abbau von Verwaltungsbürokratie auf einzelstaatlicher und EU-Ebene,
– die Reform der Systeme der Personen- und Körperschaftsteuern auf einzelstaatlicher
Ebene durch Nutzung der mit KMU und Neugründungen andernorts
gesammelten Erfahrungen,
– die Reform der Besteuerung, so dass auch KMU in die Lage versetzt werden,
langfristige Spareinlagen vorzunehmen.
8. Ergänzung der Beschäftigungsstrategie, indem:
– Maßnahmen schnellstens abgeschafft werden, die Menschen, insbesondere
Frauen, von einer Beschäftigung abhalten,
– verstärkt in Kinderbetreuungseinrichtungen investiert wird, um es einem
breiteren Personenkreis, insbesondere Frauen, zu ermöglichen, in den Arbeitsmarkt
einzusteigen,
– ein „familienfreundliches“ Umfeld geschaffen wird, das es jungen Familien
gestattet, ihren Beruf mit dem Kinderwunsch in Einklang zu bringen,
– eine bessere Einwanderungspolitik verfolgt wird, die den Arbeitsmarktbedürfnissen
gerecht wird und die Integration der Einwanderer verbessert.
9. Reform des Europäischen Sozialmodells, um Beschäftigung und Wachstum zu
fördern:
– Reformen müssen in sozial vertretbarer Weise laufend fortgeführt werden,
um die Systeme der sozialen Sicherheit langfristig finanziell abzusichern.
– Generell müssen bei der Reform der Systeme des Sozialschutzes und der
sozialen Sicherheit alle Merkmale Berücksichtigung finden, die sich aus den
neuen Beschäftigungsverhältnissen ergeben.
10. Verbesserung der Rahmenbedingungen für Ausgaben der öffentlichen Hand
und der Privatwirtschaft für Forschung und Entwicklung.
11. Verbesserung der Finanzierung des Hochschulwesens und Stärkung des Bereichs
postgradualer Studien.
12. Uneingeschränkte Unterstützung der Kommission bei ihren Bemühungen,
durch Sensibilisierungskampagnen zur Förderung des Unternehmertums ein
unternehmerfreundlicheres Umfeld zu schaffen, Unterstützung schnell wachsender
Unternehmen, Förderung von Unternehmertum in sozialen Bereichen,
Unterstützung von Mikrounternehmen bei Personaleinstellungen durch
Vorschriftenvereinfachung und Erleichterung des Zugangs von KMU zu öffentlichen
Aufträgen, Reduzierung von Kosten und Aufwand bei Neugründungen,
Stärkung der Unternehmenskultur in Europa und Erleichterung des Zugangs neu
gegründeter Unternehmen zu Kapital.
13. Berücksichtigung der Erfordernisse der wissensbasierten Wirtschaft durch
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WILFRIED MARTENS
Reformierung der Systeme der allgemeinen und beruflichen Bildung, einschließlich
der Vermittlung unternehmerischen Wissens an Jugendliche.
14. Verfolgung einer nachhaltigen Entwicklungsstrategie, in die der Beitrag der
Forschungstätigkeit im Bereich neue Technologien zur Verbesserung der
Energieeffizienz und des Umweltzustands einbezogen wird, und besondere
Betonung der Bedeutung der Wettbewerbsfähigkeit.
Nur wenn der Lissabon-Prozess von den europäischen Gesellschaften angenommen
wird, kann er zu einem wirklichen Erfolg werden. Alle an diesem
Prozess Beteiligten haben die Pflicht, den Europäern die Bedeutung von Lissabon
sowie die sich für jeden daraus ergebende beachtliche wirtschaftliche und soziale
„Dividende“ in geeigneter Weise nahe zu bringen. Der Erfolg des Lissabon-
Prozesses muss für alle Europäer das gemeinsame Ziel sein, damit auch ein
Europa für alle gesichert ist.
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Februar 2005
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Jaime MAYOR OREJA
Stellvertretender Vorsitzender der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Leiter der spanischen Delegation
Europa: Eine Geschichte der Freiheit
Eine gute Definition für Europa abzugeben ist schwieriger als eine Stecknadel
im Heuhaufen zu finden. Europa steht im Grunde für die Geschichte eines allgemeinen
Konflikts, in dem irgendwann einmal alle Länder miteinander im
Krieg lagen. Von daher versteht sich, dass der oberste Leitgedanke der Union
das Streben nach dauerhaftem Frieden ist, nach einem Gleichgewicht der Kräfte,
nach Überwindung ausschließlich nationalen Denkens und nach einem gemeinsamen
Konzept, das eine verantwortungsbewusste Regierungsführung und das
sozio-ökonomische Wohlergehen seiner Völker und Bürger zum Ziel hat.
Europa hat zwei Sehnsüchte, zwei große Träume: Harmonie und Fortschritt. Die
Architekten dieses Projekts wissen seit langem, dass es die eng gefasste
Vorstellung von Europa als lediglich gemeinsamer Markt zu überwinden gilt,
wenn weitere Fortschritte in der richtigen Richtung erzielt werden sollen. Die
Union will sehr viel mehr als nur das. Daher haben wir in jüngster Zeit vor allem
auf die Definition einer Reihe gemeinsamer Werte hingearbeitet, mit denen
dem geografischen, kulturellen und geschichtlichen Raum, auf dem, Gott sei
Dank, keine sichtbaren Mauern mehr stehen, die uns in Gute und Böse trennen,
eine eigene moralische Identität gegeben werden kann. So wie im politischen
Bereich muss auch hier der Gedanke des vorwiegend Nationalen durch
den des Supranationalen abgelöst werden. Es ist höchste Zeit, dass im Bereich
der Werte Menschenwürde und Menschenrechte vor dem Recht der Staaten
rangieren.
Der Erfolg des europäischen Integrationsprozesses wird künftig gemessen
werden an dem Einsatz der Union für die Achtung der Menschenwürde, Freiheit,
Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der
Menschenrechte einschließlich der Rechte von Minderheiten. Diese Werte sind
allen Mitgliedstaaten gemeinsam in einer Gesellschaft, die sich durch Pluralismus,
Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichstellung
von Frauen und Männern auszeichnet (Artikel I-2 der Europäischen Verfassung).
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Diese Werte definieren die europäische Identität, sind Bestandteil dieser Identität.
Bei der Union handelt es sich nicht mehr nur um eine herkömmliche internationale
Organisation mit wirtschaftlichen Zielen, sondern vor allem um eine
Wertegemeinschaft. Nach Jahrhunderten Kriegen auf dem Kontinent schöpft
sie ihre Daseinsberechtigung daraus, „den Frieden, ihre Werte und das
Wohlergehen ihrer Völker zu fördern. Die Union bietet ihren Bürgerinnen und
Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne
Binnengrenzen“ (Artikel I-3 der Europäischen Verfassung). Wenn es Europa
nicht gelingt, in den nächsten Jahren eine Antwort zu finden auf die vielfältigen
Instabilitäts- und Unsicherheitsfaktoren, die die Hoffnung von Millionen
Europäern auf ein Leben in Frieden und Freiheit bedrohen, werden wir scheitern
mit unserem gemeinsamen Konzept, unserem gemeinsamen Bestreben,
für die heutige wie künftige Generationen eine Zukunft in Wohlstand zu sichern.
Denn Wohlstand ist nicht allein das Ergebnis wirtschaftlicher Konzepte. Wir
dürfen nicht zulassen, dass der Fortschrittsgedanke ausschließlich auf seine
rein materielle und technische Dimension reduziert wird, die, von anderen
Schwachstellen abgesehen, den Wertesystemen anderer Zivilisationen Tür und
Tor öffnet. Nicht wenige Stimmen warnen, die Renaissance des Islam werde zum
Teil von der Vorstellung genährt, dieser biete ein solides geistiges Fundament
an, das geeignet sei, die Lücke zu schließen, die sich auf diesem Gebiet in
Europa auftue.
Über viele Jahre hinweg stand der demokratische Sozialismus der katholischen
Soziallehre nahe. Das war die Partei der deutschen und englischen
Katholiken. Doch mit der Zeit machte ihre Interkonfessionalität der Versuchung
Platz, den Laizismus zur Religion zu erheben, die sich schließlich durchsetzte
und das Idol Technik auf den höchsten Altar der allgemeinen Verehrung erhob.
Nach dem Glaubensbekenntnis dieser Religion garantieren funktionierende
materielle Bedingungen Glück für alle. Als moralisch gilt all das, was sich diesem
Ziel unterordnet, und allen unabhängigen Werten, die das Ziel in Frage stellen
könnten, wird mit Verdacht begegnet. Das Individuum hat sich den
Notwendigkeiten des Systems unterzuordnen und wird genötigt, sein
Erstgeburtsrecht für einen Teller voll materiellen Fortschritts herzugeben, für eine
Portion dieser wissenschaftlich perfektionierten Zukunft, die zur einzigen
Gottheit unserer Zeit erhoben wird.
Es ist ein Trugschluss zu meinen, religiöse Gedanken, ethische Werte und
geistige Prinzipien gehörten allein in den Bereich der Gefühle und nicht in
den der Vernunft. Die Diskussion darüber muss ins Bewusstsein der Öffentlichkeit
gerückt werden. Andernfalls geraten wir schließlich in die widersinnige
Situation, dass wir mit ansehen müssen, wie die europäischen Werte, die
Europas Identität gestiftet haben, unterzugehen und wie Treibgut nach einem
Schiffbruch abzudriften drohen.
In seiner vollen Bedeutung ersteht vor diesem Hintergrund der Gedanke,
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EUROPA: EINE GESCHICHTE DER FREIHEIT
Frieden, internationale Sicherheit und Stabilität zu Grundzielen der Europäischen
Union zu machen, damit wir Bürger Europas der Welt nicht nur ein Beispiel für
den Erfolg eines wirtschaftlichen Projekts liefern, sondern ihr zugleich als
Akteure und Nutznießer des gemeinsamen Raums der Freiheit, der Sicherheit
und des Rechts gegenübertreten. In dem künftigen Europa aus 30 Staaten, zu
denen immer mehr „kleine“ Länder gehören werden, werden die großen
Entscheidungsgewalt abtreten müssen. Der Kampf gegen die Gefahren, die
unsere gemeinsamen Interessen bedrohen, muss daher über die politische
Willensbildung aller geführt werden.
Jede Etappe auf dem Weg nach Europa hat neue Erwartungen hervorgebracht,
die über einen höheren Grad an Integration erfüllt wurden. Die europäische
Integration war von Anfang an der Freiheit und der Verteidigung der
Menschenrechte verpflichtet, sie ging mit dem Aufbau demokratischer
Institutionen und mit striktester Wahrung der Rechtsstaatlichkeit einher. Das
zukünftige Inkrafttreten der Europäischen Verfassung, die im Rahmen der dritten
Säule im Bereich Justiz und Polizei die Vergemeinschaftung der
Zusammenarbeit in Strafsachen vorsieht, bietet außerordentlich gute Gelegenheit
für eine effiziente europäische Antwort auf die neuen Probleme der
Gemeinschaft.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und vom 11. März 2004
erübrigt es sich zu sagen, dass der islamische Terrorismus die neue große
Gefahr ist, die Europa und die westliche Welt bedroht. Nie zuvor war das koordinierte
Miteinander aller demokratischen Staaten zur Gewährleistung der
Sicherheit innerhalb und außerhalb der eigenen Grenzen so notwendig wie
heute. Die Komplexität dieser Aufgabe kann keiner übersehen. Einer starken,
abgestimmten Antiterrorpolitik muss der Vorrang eingeräumt werden. Nur
wenn wir geschlossen unsere gemeinsamen Interessen verfechten und diese
unbeirrbar verteidigen, erlangt das gemeinsame Projekt im Dienste des Friedens –
die Wiedervereinigung Europas – Glaubwürdigkeit und Ausstrahlung.
Der Kampf gegen den Terrorismus erfordert besondere Maßnahmen zur
Vernichtung der verschiedenen Gruppierungen, die ihn tragen. Auch wenn sie
alle der Wille eint, die Grundrechte der Menschen zu beseitigen, zeichnen sie
sich doch durch jeweils eigene Motive, Handlungsweisen und Strategien aus.
Die Freizügigkeit von Personen, das Recht auf Sicherheit, Gedanken-,
Meinungs- und Informationsfreiheit, das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz
und die Verpflichtung der europäischen Institutionen, dem Einzelnen zugefügte
Schäden zu lindern, sind nur einige der mit dem Recht auf Freiheit
untrennbar verbundenen Aspekte. Doch sei zugleich in Erinnerung gerufen, dass
es keine Rechte ohne Schranken gibt. Das Recht auf Freiheit gilt es dort zu
verteidigen, wo schrankenlose Freiheit dafür herhalten soll, die Freiheit im
Interesse freiheitsfeindlicher Ideologien zu vernichten. Die Medien berichten
ausführlich über Terroranschläge, und oftmals ruft die vermeintliche Straffreiheit
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derer, die solcher Gräueltaten verdächtigt werden, bei den Bürgern, die voller
Schrecken und Abscheu die verheerenden Auswirkungen sehen, ein gewisses
Ohnmachtsgefühl hervor. Daher kommt es darauf an, im Rahmen der
Terrorismusbekämpfung das Problembewusstsein zu schärfen und eine effiziente
Informationspolitik zu fördern, mit der den Bürgern Europas die
Gewissheit gegeben wird, dass Europa über ein politisches Konzept für den
Kampf gegen diese massive und permanente Verletzung der Menschenrechte
verfügt.
Im Rahmen der Informations- und Kommunikationsstrategie der europäischen
Institutionen ist den grundlegenden Maßnahmen der Union im Kampf
gegen den Terrorismus besondere Beachtung zu schenken. So wurde beim
europäischen Haftbefehl und in der Auslieferungsfrage vorgegangen, und so
sollte es auch bei den entsprechenden Initiativen gehandhabt werden, mit
denen den destruktiven Kräften ein Ende bereitet werden soll, die heute
Millionen Menschen auf der ganzen Welt in Angst und Schrecken versetzen. Das
ist ein grundlegender Aspekt der Kommunikation. Eine doppelte Krise, ausgelöst
sowohl durch die menschliche Tragödie als auch durch den Verlust des
Vertrauens in die demokratischen Institutionen, lässt sich bei einem
Terroranschlag nur dann vermeiden, wenn vorbeugende Maßnahmen erfolgt
sind und die Gesellschaft diese auch wahrgenommen hat. Lösungen dürfen
nicht erst im Anschluss an Anschläge folgen. Information, Prävention und politisches
Konzept müssen das Ergebnis vorausgegangener Debatten sein, von
denen alle Bürger Europas Kenntnis haben müssen.
Darüber hinaus muss uns die Tatsache, dass die Europäische Union eine
klare humanistische Ausrichtung hat, veranlassen, dafür Sorge zu tragen, dass
den Terrorismusopfern die entsprechende Zuwendung zuteil wird. Nach
Auffassung der Europäischen Volkspartei sind hierzu die folgenden Maßnahmen
umzusetzen:
— Einrichtung eines europäischen Büros zur Unterstützung von Terrorismusopfern
bei der Europäischen Kommission.
— Errichtung einer europäischen Stiftung für Terrorismusopfer unter
Schirmherrschaft des Präsidenten der Europäischen Kommission, des Präsidenten
des Europäischen Parlaments und des Ratspräsidenten.
— Einstufung des Terrorismus als Straftatbestand der Kategorie Verbrechen
gegen die Menschlichkeit und dessen Unterwerfung unter die Zuständigkeit
des Internationalen Strafgerichtshofs.
Illegale Zuwanderung und Menschenhandel sind Erscheinungen, die eng mit
dem Terrorismus und der organisierten Kriminalität verbunden sind. Sie gefährden
in nicht hinzunehmender Weise die Sicherheit und Stabilität unserer
Gesellschaften. Wenn wir den Bürgern eine sicherere Gesellschaft bieten wollen,
ist es unsere Pflicht, diesen Gefahren entschlossen die Stirn zu bieten. Im
Sicherheitsbereich kann die Europäische Union eindeutig mehr bewirken als
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EUROPA: EINE GESCHICHTE DER FREIHEIT
Einzelaktionen ihrer Mitgliedstaaten. Daher muss sich die Europäische
Volkspartei dafür einsetzen, dass die auf den Ratstagungen von Sevilla und
Saloniki erarbeitete gemeinsame Zuwanderungspolitik, die Umsetzung des
Artikels III-267 des Vertrags über eine Verfassung für Europa und das „Haager
Programm“ Wirklichkeit werden. Der gemeinschaftlichen Abstimmung bedarf
das Ausnahmeverfahren zur Regelung des Rechtsstatus illegaler Zuwanderer.
Einseitige Initiativen ohne Zustimmung der EU-Institutionen, wie sie jüngst in
einigen Ländern der Union zu verzeichnen waren, dürfen nicht hingenommen
werden.
Im Grünbuch der Europäischen Kommission über ein EU-Konzept zur
Verwaltung der Wirtschaftsmigration wird eingeräumt: „Beschließt ein
Mitgliedstaat, solche Drittstaatsangehörigen zuzulassen, hat dies allerdings
Auswirkungen auf die anderen Mitgliedstaaten (Reisefreiheit im Schengen-
Raum, Dienstleistungsfreiheit in anderen Mitgliedstaaten, das Recht, nach
Erlangen der Daueraufenthaltsgenehmigung seinen Wohnsitz in andere
Mitgliedstaaten zu verlegen, Auswirkungen auf den EU-Arbeitsmarkt); außerdem
hat die EU internationale Verpflichtungen gegenüber einigen Gruppen
von Wirtschaftsmigranten. Es spricht daher viel für die Vereinbarung transparenter
und auf EU-Ebene stärker vereinheitlichter gemeinsamer Regeln und
Kriterien für die Zulassung von Wirtschaftsmigranten.“
Es geht keinesfalls darum, irgendeiner Kultur den Rücken zuzukehren. Wir
sollten uns allen öffnen, ohne jedoch den Kern unserer eigenen Identität aus
dem Blick zu verlieren. Der Multikulturismus, der von manchen so leidenschaftlich
propagiert wird, hat sich bedauerlicherweise in einen Verzicht auf das
Eigene verkehrt. Wer seine Verfechter reden hört, gewinnt den Eindruck, als sei
die Öffnung für fremde Werte vom positiven Bemühen um Verständnis und
Bereicherung in eine Flucht vor jeder Regel umgeschlagen, bzw., wenn man
so will, in die typische Selbstzerstörung von jemandem, der sich selbst nicht
mehr mag. Hierzu kann ich einen unwiderlegbaren Beweis nennen: In unserer
heutigen Gesellschaft wird bestraft, wer Juden in ihrem Glauben beleidigt
oder den Koran kriminalisiert; wer sich jedoch über Jesus Christus lustig macht,
erfährt Ehrungen, und dazu wird von den Intellektuellen mit Pauken und
Trompeten die Hymne der Meinungsfreiheit aufgespielt.
Unsere Geschichte, eine Geschichte von Kompromissen mit dem Ziel, unseren
Kontinent in Frieden, Freiheit und Wohlstand aufzubauen, einen Kontinent,
der die Menschenrechte achtet und im Innern wie auch nach außen hin geeint
und solidarisch auftritt, ist uns politisch und moralisch Ansporn, den neuen
Bedrohungen entgegenzutreten und vor allem eine wirksame Lösung zu finden,
die als Grundlage für das Vorgehen des Rechtsstaats, der Sicherheitskräfte
und der Justiz dient. Dabei dürfen wir nicht aus dem Blickfeld verlieren, dass
das Wesen der europäischen Identität auf dem Spiel steht. Die Öffnung für
andere Kulturen darf nicht dafür herhalten, dass totalitäre Prinzipien geduldet
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werden, die unter dem Deckmantel der religiösen Grundsätze anderer unsere
eigene Toleranz abzuschaffen drohen. Die Antwort auf diese Herausforderung
hat nur dann Wirkung, wenn sie sich auf ernsthafte Zusammenarbeit auf europäischer
und internationaler Ebene und natürlich auf echte Verbundenheit und
Solidarität mit den Opfern des Terrorismus stützt. Der tief empfundene Wunsch
von Millionen Menschen, mit dem terroristischen Totalitarismus Schluss zu
machen, darf nicht als eine Möglichkeit von vielen angesehen werden, sondern
als dringende Notwendigkeit. Hierbei werden die kommenden Jahre zweifellos
eine entscheidende Rolle spielen.
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April 2005
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Henryk MUSZYNSKI ´
Erzbischof von Gnesen
Europa im Jahr 2020
Es ist keineswegs leicht, die Faktoren zu bestimmen, die heute die Identität
Europas ausmachen, geschweige denn eine Vision des Europa von 2020 aufzuzeigen.
Selbstverständlich geht es hier nicht um eine weitere subjektive Utopie, sondern
darum, möglichst genau die Entwicklungstendenzen unter dem Blickwinkel
dessen aufzuzeigen, was den Begriff der europäischen Identität ausmacht.
Europa in seiner zivilisatorischen Dimension als Geschichts-, Traditions- und
Kulturgemeinschaft mit einem bestimmten Wertesystem ist keine statische, abgeschlossene,
ein für allemal gegebene Realität. Europa ist eine dynamische und sich
ständig weiter entwickelnde Realität, die sich immer wieder aufs Neue schafft
und sich dennoch treu bleibt und wichtige Eigenschaften und Merkmale, die es
von anderen Zivilisationsformen unterscheiden, bewahrt. Im Bewusstsein der
Europäer, das die Identität maßgeblich mitbestimmt, bleibt Europa sich gleich,
wenn auch nicht dasselbe. Die Frage nach seiner künftigen Identität ist deshalb
mehr als gerechtfertigt 1 .
In der Präambel des Verfassungsvertrags wird Europa als „in Vielfalt geeint“
bezeichnet. Es lässt sich kaum leugnen, dass es das Christentum war, das mit
seinem Wertesystem Europa die zivilisatorische Einheit gebracht hat. Ihm ist es
gelungen, das Gefühl für die Würde des Menschen, die Freiheit, die Achtung
des Rechts, Elemente des antiken Griechenland, des römischen Rechts und des
jüdischen Geistes mit den Errungenschaften des Humanismus und der Aufklärung
zu verbinden.
Seit der Epoche der Aufklärung besteht jedoch eine deutliche innere Spannung
zwischen der Inspiration der christlichen europäischen Kultur und der Haltung
des weltlichen Humanismus. Das Aufeinanderprallen dieser beiden Tendenzen
wurde in den jüngsten Überlegungen zur Zukunft Europas offenbar. Während die
Vertreter der einen Richtung ausdrücklich an das christliche Wertesystem anknüpfen,
auf das Europa sich gründet, sehen die Vertreter der anderen Richtung die
Zukunft eher in einem nachchristlichen Europa. Ein unermüdlicher Verfechter
der ersten Vision ist Johannes Paul II. Einen völlig entgegengesetzten Standpunkt
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HENRYK MUSZYNSKI ´
vertreten, aus einem eigentümlichen Verständnis des Begriffes Weltlichkeit (laïcité)
heraus, die Verfasser des Verfassungsvertrags, insbesondere Valéry Giscard
d’Estaing.
1. Die Vision von Europa unter dem Blickwinkel der ideologischen Grundlagen
des Verfassungsvertrags
Die Europa-Vision der Verfasser des Verfassungsvertrags ist, betrachtet man die
axiologischen Prämissen der Präambel, überaus optimistisch. Es ist ein Europa,
das, „in Vielfalt geeint“, „auf dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des
Wohlstands zum Wohl aller seiner Bewohner weiter voranschreiten will“ und
„offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt“. Es respektiert die
Besonderheit und Verschiedenartigkeit der Völker, und es vereint die Völker, die
„stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte“ und entschlossen sind, „die alten
Gegensätze zu überwinden“ und „immer enger vereint ihr Schicksal gemeinsam
zu gestalten“. Sie gestalten die Zukunft, indem sie aus dem „kulturellen, religiösen
und humanistischen Erbe“ Europas schöpfen, das sich auf die „unverletzlichen
und unveräußerlichen Rechte des Menschen“ gründet und aus dem sich
„Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit“ entwickelt haben. Mit
der Wahrung dieser Rechte und der Verantwortung „gegenüber den künftigen
Generationen und der Erde“ soll Europa zu einem Raum werden, „in dem sich
die Hoffnung der Menschen entfalten kann“.
Eine solch optimistische Vision von Europa findet leicht Zustimmung und
weckt sogar Begeisterung. Denkt man jedoch gründlicher darüber nach, melden
sich ernsthaft Zweifel: Reichen die oben erwähnten Beweggründe und
Inspirationsquellen aus, um diese Vision zu verwirklichen? Die kulturellen Elemente
umfassen auch religiöse Werte. Im Kontext der europäischen Zivilisation können
und müssen sie im Zusammenhang mit der christlichen Tradition gesehen
werden. Die Gegenwart lebender Zeugen für den christlichen Glauben in Europa
berechtigt zu der Hoffnung, dass durch ihr Zeugnis diese Werte auch in einem
künftigen Europa ihren Platz haben werden.
Die feierliche Aussage zum humanistischen Erbe und zur Freiheit weckt ohne
den Bezug zum Gedanken des Christentums und den ethischen Werten die
begründete Befürchtung, dass es sich hier um eine reine Erklärung handelt.
Wahre Freiheit muss stets einen Bezug zur Wahrheit, die objektive Wahrheit über
die Würde des Menschen eingeschlossen, wie auch zu den ethischen Grundwerten
haben. Andernfalls kann die Freiheit der einen zur Unfreiheit der anderen werden.
Das zeigt sich eindrucksvoll an der jüngsten Geschichte des 20. Jahrhunderts,
wo im Namen einer wahnsinnigen Ideologie die fundamentalen Menschenrechte
ausradiert wurden.
Dieselbe Geschichte mahnt uns auch, dass Vernunft als einziges Kriterium
für eine alleinige Beurteilung durch den Menschen nicht ausreicht, um die „unverletzlichen
und unveräußerlichen Rechte des Menschen“ zu garantieren, der sich
selbst zum ausschließlichen Bezugspunkt aller Werte macht. Die Erfahrung der
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posttotalitären Zeit lehrt ebenso, dass diese Normen nicht ausreichend gewährleistet
sind, wenn ein Mensch sich das Recht nimmt, über das Leben eines anderen
Menschen zu entscheiden und ihn damit des fundamentalen und unveräußerlichen
Rechts auf Leben beraubt. In diesem Falle gibt es keine reale Garantie,
dass diese Rechte zu irgendeinem Zeitpunkt respektiert werden. Für die Christen,
die nach wie vor die zahlenmäßig stärkste Glaubensgemeinschaft in Europa bilden,
wird Gott stets der absolute Bezugspunkt und Garant der Würde sein. Wird
Europa dieses Bezugspunktes beraubt, so bedeutet das, dass die jahrhundertelange
europäische Tradition um vieles ärmer wird.
Die polnische Verfassung ist in dieser Hinsicht viel komplexer und offenbar
auch demokratischer. Sie berücksichtigt sowohl diejenigen, die an Gott als die
Quelle der Wahrheit, Gerechtigkeit, des Guten und des Schönen glauben, als auch
diejenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus
anderen Quellen ableiten 2 . Grundlage einer so verstandenen Gleichheit der
Rechte ist nicht nur die Toleranz gegenüber dem anderen in seiner Andersartigkeit
und Verschiedenartigkeit, sondern auch die Achtung vor ihm selbst dann, wenn
man seine Wertehierarchie nicht teilt.
Ähnliche Zweifel weckt auch die Aussage, dass „die Völker Europas entschlossen
sind, die alten Gegensätze zu überwinden und immer enger vereint ihr
Schicksal gemeinsam zu gestalten“. Hierzu bedarf es stärkerer ethischer Motive
der Wahrheit und des Guten. Diese Vision kann nur dann Realität werden, wenn
es tatsächlich eine Versöhnung zwischen den Völkern gibt, die den Aufbau einer
wahrhaft zwischenmenschlichen Gemeinschaft ermöglicht. Hierbei kann die Rolle
der katholischen Kirche als universale Institution, die der Versöhnung und der
Errichtung einer Geistesgemeinschaft zwischen den Menschen dient, gar nicht hoch
genug bewertet werden, und sie ist auch kaum zu ersetzen. Versöhnung ist auch
die wichtigste Botschaft der Kirche, was sie in den letzten Jahrzehnten wiederholt
zum Ausdruck gebracht hat.
2. Europa als Gemeinschaft des Geistes
Die entscheidende Frage zur Zukunft Europas lautet: Was kann Europa, das
„in Vielfalt geeint“ ist, zu geistiger Einheit motivieren? Welcherart soll die geistige
Grundlage sein, die stärker, tragfähiger und beständiger ist als alle Gegensätze,
die Europa heute von innen zerreißen?
In der Vergangenheit, und das wird niemand leugnen können, war das geistige
verbindende Element, das Europa inmitten der Vielfalt und Verschiedenartigkeit
einte, eben die christliche Zivilisation mit ihrem einheitlichen, auf dem Gebot der
Liebe und den Zehn Geboten fußenden Wertesystem. Wurden diese Kriterien auch
nicht immer respektiert, so wurde doch ihre Rechtmäßigkeit als wesentliches
Element der europäischen Kultur und Zivilisation niemals in Frage gestellt. Die
überaus bedeutsame Frage nach dem Fundament der europäischen Einheit darf
nicht ohne Antwort bleiben. Sind nämlich die Beweggründe der Gemeinschaft,
die die Völker Europas verbinden, nicht stärker als die unterschiedlichen Interessen
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und Antagonismen, an denen es nicht mangelt, kann sich die Überzeugung dieser
Völker, die „stolz auf ihre nationale Identität und Geschichte“ sind, leicht zu
gefährlichem Nationalismus wandeln. Es lässt sich nicht leugnen, dass das stolze
Bewusstsein der eigenen Besonderheit und Identität heute immer stärker wird
und eine tragfähigere Basis bildet als das Streben nach einer gemeinsamen Zukunft.
In seiner programmatischen Botschaft an Europa sagte Johannes Paul II.: „In
Europa wird es keine Einheit geben, solange diese nicht auf der Einheit des
Geistes beruht 3 .“ Wahre Gemeinschaft verwirklicht sich stets im zwischenmenschlichen
Bereich und darf nicht ausschließlich auf die Bestimmung gemeinsamer
Aufgaben und Ziele beschränkt werden; ihr Bestreben muss es sein, diese Ziele,
gestützt auf gemeinsam anerkannte Werte, zu erreichen. Jean Monet hat richtig
gesagt: „Wir vereinigen nicht Staaten, sondern Menschen.“ Als Grundwerte einer
künftigen europäischen Demokratie nennt die Präambel Freiheit, Gleichheit und
Rechtsstaatlichkeit. Eine deutliche Anspielung auf die drei bekannten Grundsätze
liberté, égalité, fraternité ist hier unschwer zu erkennen. Bedauerlicherweise fehlte
der Begriff fraternité, der sich, wie die beiden anderen Elemente auch, inhaltlich
vom Christentum herleitet. Gläubige Menschen verbinden mit dem Begriff
Brüderlichkeit unweigerlich die Idee Gottes als unser aller Vater. Die französische
Revolution hat sich diese schönen und zutiefst religiösen Ideale zu Eigen
gemacht. Sie hat sie jedoch ihrer ursprünglichen christlichen Inspiration beraubt.
„Brüderlichkeit“ durch „Rechtsstaatlichkeit“ zu ersetzen, kommt praktisch einer
Verarmung des Inhalts gleich. Durch das Gesetz lässt sich nämlich nur ein Minimum
an korrektem Verhalten erzwingen, es darf nicht zur Inspirationsquelle für die
Verwirklichung des Guten und des Wirkens für die Errichtung einer wahrhaften
Gemeinschaft werden.
Die Präambel ist von dem Glauben getragen, dass das geeinte Europa „auf
dem Weg der Zivilisation, des Fortschritts und des Wohlstands weiter voranschreiten
will“ und „offen ist für Kultur, Wissen und sozialen Fortschritt“.
Angesichts der nahezu unbegrenzten Möglichkeiten, die die Entwicklung der
Wissenschaft heute bietet, müssen auch die ethischen Grundwerte respektiert
werden. Der Fortschritt der medizinischen Wissenschaften, namentlich der
Biotechnologie, kann, losgelöst vom unverletzlichen Wert des menschlichen
Lebens, zu einer tödlichen Bedrohung für den Menschen werden. Ein solcher
Fortschritt bedeutet eine Verletzung der Menschenwürde, denn er ermöglicht die
Instrumentalisierung des menschlichen Wesens als des höchsten geschaffenen
Wertes 4 .
Die Proklamierung eines unbeschränkten Fortschritts weckt, wenn die grundlegende
Tatsache außer Acht gelassen wird, dass jeder echte Fortschritt mit der
Vervollkommnung und einer neuen Qualität des Menschen beginnt, die wir
Gläubigen schlicht „Bekehrung“ nennen, ernsthafte Befürchtungen, was die „friedliche
Zukunft“ Europas anbelangt. Man muss nicht unbedingt die Ansicht des
Politologen Francis Fukuyama teilen, dass unkontrollierte biogenetische
Experimente das „Ende des Menschen“ bedeuten. Es besteht jedoch kein Zweifel
daran, dass die unkontrollierte biotechnologische Revolution eine größere
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Bedrohung für die Identität des Menschen (Bioterrorismus) darstellen kann als die
Atombombe, wenn die Würde des Einzelnen außer Acht gelassen, wenn nicht an
die Grundwerte der Freiheit des Menschen, des Guten und der Wahrheit angeknüpft
wird und eine entsprechende Regelung durch das Gesetz fehlt 5 .
Schwer vorstellbar ist auch eine Ökologie im weitesten Sinne, wenn die
Grundgesetze der Natur, die für die gläubigen Menschen das Werk des Schöpfers
sind, unter ethischem Gesichtspunkt nicht respektiert werden. Man muss zu
Recht befürchten, dass ohne eine stärkere ethische Motivation selbst die besten
Rechtsnormen beispielsweise dem vom Streben nach mehr materiellem Gewinn
diktierten Raubbau an den Naturressourcen nicht Einhalt gebieten können.
3. Anthropozentrischer Humanismus oder christlicher Universalismus?
Die grundlegende Alternative für das Europa der Zukunft besteht noch immer
in dem grundsätzlichen Entwurf des Menschen als des einzigen und ausschließlichen
Bezugspunkts aller Werte oder in dem biblischen Entwurf, dem zufolge sich
die Würde des Menschen daraus ergibt, dass Gott als der absolute Garant seiner
unverletzlichen und unveräußerlichen Würde ihn nach seinem Bild schuf (Mose
1,27). Diese Konzeptionen, die im philosophischen Sinne seit dem fernen Altertum
bekannt sind, treten heute besonders deutlich hervor. Bedeutet das aber, dass wir
Menschen im 21. Jahrhundert im Namen der Menschenwürde von vornherein
dazu verurteilt sind, gegen uns selbst zu kämpfen?
Der entscheidende anthropologische Unterschied im Verständnis vom Wesen
sowie vom Platz und der Rolle des Menschen führt unweigerlich auch zur
Wahrnehmung der völlig unterschiedlichen Vorstellungen von der Zukunft Europas.
Die unbeirrbaren Erben des Zeitalters der Aufklärung sehen die Zukunft ausschließlich
in weltlichen Kategorien. Für sie bleibt der Mensch absoluter
Bezugspunkt und einziges Kriterium für die Beurteilung dessen, was wahr und
gut ist. Diese Auffassung wird gemeinhin nicht ohne Grund als anthropozentrischer
Humanismus bezeichnet.
Einen völlig entgegengesetzten Standpunkt vertritt der christliche Humanismus,
der in Gott die absolute Bedingung für die unveräußerliche und unverletzliche
Würde des Menschen sieht. Diese Würde wird keinem verliehen, jeder Mensch
erhält sie mit seiner Geburt. Als freies Wesen und als einziges zur Liebe befähigtes
Wesen ist er gleichsam das sichtbare Abbild des ewigen Gottes.
Hans-Gert Pöttering stellt richtig fest: „Der Mensch wird als Schöpfung Gottes
begriffen – ihm ebenbildlich. Daraus leitet sich die Überzeugung ab, dass jeder
Mensch mit einer unverletzlichen Würde ausgestattet ist. Wenn jeder Mensch
einmalig ist, dann dürfen wir ihn nicht reproduzieren. Wenn menschliches Leben
ein Wert an sich ist, dann dürfen wir nicht menschliches Leben schaffen, um es
dann – für welchen Zweck auch immer – wieder zu töten 6 .“ Paradoxerweise wird
der „Mensch durch das ärmer, was er erreicht hat. Setzt er sich keine höheren Ziele,
beraubt er sich der Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln 7 ”.
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HENRYK MUSZYNSKI
Es erhebt sich also die Frage, ob es in einer Zeit, da wir nach dem umfassend
verstandenen Wohl des Menschen suchen – in der Überzeugung, dass, was von
Gott kommt, nicht im Widerspruch stehen kann zu dem, was wahrhaft menschlich
ist –, nicht möglich ist, diese beiden Standpunkte einander anzunähern.
Die Gegner der Religion verweisen sehr häufig auf die religiösen Kriege in
Europa, einschließlich jener, die innerhalb des Christentums selbst geführt wurden.
Dem ist selbstverständlich kaum zu widersprechen. Wir dürfen jedoch nicht
vergessen, dass uns, wenn es uns nicht gelingt, die Standpunkte derer einander
anzunähern, die unter verschiedenen, oft sogar entgegengesetzten Voraussetzungen
für die Würde des Menschen kämpfen, nicht so sehr ein möglicher Krieg zwischen
den Religionen bevorstehen könnte als vielmehr ein Krieg um das tiefste Wesen
des Menschen.
Gibt es etwas, was diese beiden Konzeptionen, die des Menschen, den Gott
„nach seinem Bild“ schuf, und des Menschen, „der das Maß aller Dinge ist“, verbindet,
fragt Prof. Bronisław Geremek – und er antwortet: „Die erste Aussage
bedeutet, an Gott und mit Gott zu denken, die zweite – ohne Gott, aber nicht
gegen Gott zu denken. Die eine wie die andere findet ihren Ausdruck in dem
Grundsatz von der Würde des Menschen 8 .“
Eine Annährung der beiden gegensätzlichen Standpunkte auf der personalistischen
Ebene ist aber nur dann möglich, wenn der Mensch anerkennt, dass das
menschliche Leben der höchste, unveräußerliche Wert ist, der aus dem Menschsein
selbst resultiert. Zweitens gilt es auch zu akzeptieren, dass die menschliche Freiheit
nicht unbegrenzt ist, sondern dort endet, wo das Recht des anderen beginnt.
Die jahrhundertelangen Erfahrungen der Generationen, aber auch die jüngste
Zeit lehren uns, dass der Mensch, wenn er die Gebote der ersten Tafel des
Dekalogs, die sein Verhältnis zu Gott bestimmen, ablehnt, sich Götzen in Gestalt
von „Rassen“ oder „Klassen“ schafft, denen zu dienen er bereit ist. Der in der
Präambel proklamierten moralischen „Verantwortung gegenüber den künftigen
Generationen und der Erde“ muss die Verantwortung aller Menschen gegenüber
dem eigenen Gewissen vorausgehen. Wichtigster Bezugspunkt für die Gläubigen
muss hier jedoch Gott sein.
All jene, denen die „menschliche Hoffnung“ genügt, sollten sich – gestützt
auf das dauerhafte moralische Fundament, dessen Gesetze im unverfälschten
Gewissen eines jeden Menschen eingeschrieben sind – in ihrem Handeln in erster
Linie vom umfassend verstandenen Wohl des Menschen leiten lassen. Diese
Gesetze sind weitgehend auf der zweiten Tafel der Zehn Gebote enthalten, die
universelle Werte umfasst, die in vielen verschiedenen Religionen anerkannt
sind. In der allgemeinen Überzeugung
– ist das menschliche Leben das höchste Gut, das Töten – das Böse;
– baut die Wahrheit auf, während die Lüge zerstört;
– bildet die Achtung des Eigentums die Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung,
während der Diebstahl diese Ordnung zerstört und verurteilt werden muss;
– ist die Ehe von Mann und Frau der sicherste Garant für den Fortbestand und
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EUROPA IM JAHR 2020
die Entwicklung jeder Gesellschaft, die Zerstörung der Ehe jedoch Quelle großen
Unglücks.
Das rechtschaffene menschliche Gewissen kann eine dauerhafte Grundlage,
ein Ort der Begegnung und ein wirksamer Impuls dafür sein, sich für das Wohl
des Menschen einzusetzen. Das gilt für Menschen mit einer tiefen religiösen
Überzeugung ebenso wie für Nichtgläubige.
Auf paradoxe Weise hat „das Vergessen Gottes“ zum Niedergang des Menschen
geführt. Es wundert daher nicht, dass in diesem Kontext ein großer Freiraum für
die Entwicklung des Nihilismus im philosophischen Bereich, des Relativismus
im erkenntnistheoretischen und moralischen Bereich, des Pragmatismus und
sogar des zynischen Hedonismus in der Gestaltung des Alltagslebens entstanden
ist.“ (EinE 9).
Auch wenn die christlichen Werte in der Präambel keine Erwähnung finden,
bilden die Christen nach wie vor die Mehrheit unter den Europäern. Sie wollen
gleichberechtigt mit den anderen das öffentliche Leben mitgestalten. In der
Grundrechtecharta heißt es: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissensund
Religionsfreiheit“, und das sowohl im privaten als auch im öffentlichen Leben
(Kapitel II, Art. 10 (1)). Im Bewusstsein ihrer Verantwortung gerade für die
Zukunft Europas wollen die Christen in Anerkennung der demokratischen
Ordnung kraft ihres Zeugnisses gleichberechtigt mit den anderen das künftige
Antlitz Europas mitgestalten.
Rolle, Aufgaben und Platz der Christen im Europa der Zukunft sind in dem
Apostolischen Schreiben Ecclesia in Europa, der großen Charta der Kirche in
Europa, festgeschrieben. Es richtet sich in erster Linie an die Christen selbst und
bezieht sich auf ihren geistigen Wandel, der sie in die Lage versetzen soll, durch
die Gabe des evangelischen Geistes auszustrahlen und durch ihr Zeugnis die
Inspirationen des Evangeliums in alle Bereiche des kulturellen, öffentlichen und
politischen Lebens zu tragen. Es geht nicht darum, irgendjemandem die christlichen
Werte aufzuzwingen, sondern es geht um die Gegenwart der Christen durch
das Zeugnis ihres Lebens. Die Christen wollen nicht Bürger zweiter Klasse sein.
Sie fühlen, dass sie in Europa nach wie vor gebraucht werden, nicht nur, um
das christliche Erbe unter den veränderten Bedingungen zu bewahren, sondern
vor allem, um die spezifischen christlichen Werte in Europa einzubringen, ohne
die das gemeinsame Haus Europa nicht errichtet werden kann. Hierzu gehören:
– die Achtung vor jedem Leben von der Geburt bis zum natürlichen Tod;
– die Förderung des Gedankens der Versöhnung;
– die Unterstützung des Freiheitsgedankens als Dienst im Namen der Liebe,
die Apostel Paulus Europa eingepflanzt hat;
– der Bestand der Familie als Fundament des gesellschaftlichen Lebens;
– die christliche Hoffnung, die aus der Auferstehung erwächst.
Die „menschliche Hoffnung“ als Fundament für die Zukunft währt allzu kurz,
um darauf auf lange Sicht die Zukunft aufzubauen. Es ist die Hoffnung auf einen
sicheren Arbeitsplatz, auf ein bequemeres Leben, auf Wohlstand und Sicherheit.
173
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 174
Es ist unschwer zu erkennen: „Der Verlust der Hoffnung hat seinen Grund in
dem Versuch, eine Anthropologie ohne Gott und ohne Christus durchzusetzen.“
(EinE 9). Ohne Hoffnung gibt es keine Zukunft. Ohne eine tiefgreifende und
beständige Hoffnung fürchten wir uns mehr vor der Zukunft als dass wir sie uns
wünschen. Die Kirche hat Europa das kostbarste Gut anzubieten, das ihm niemand
anderer zu geben vermag: den Glauben an Jesus Christus, Quelle der Hoffnung,
die nie enttäuscht. (EinE 18). Diese Hoffnung, die aus dem Glauben an die
Auferstehung Christi erwächst, steht keineswegs im Widerspruch zu den zutiefst
menschlichen Hoffnungen. Fehlt diese langfristige Perspektive, auf die sich die
Europäer über Jahrhunderte gestützt haben, so wird Europa um vieles ärmer.
Johannes Paul II. erinnert daran, dass Europa „auf soliden Grundlagen erbaut
werden“ muss; dazu „ist es notwendig, sich auf die echten Werte zu stützen, die
ihr Fundament in dem allgemeinen Sittengesetz haben, das in das Herz jedes
Menschen eingeschrieben ist.“ (EinE 116). Dieses allgemeingültige Gesetz, das in
jedes unverfälschte Gewissen eingeschrieben ist, bildet ein dauerhaftes Fundament,
eine Stütze, einen Ort der Begegnung für all jene, denen die „menschliche
Hoffnung“ genügt, wie auch für jene, die aus der Teilhabe am Sieg Christi, der
auferstanden ist und – wie wir glauben – unter uns lebt, stärkere Hoffnung schöpfen
(vgl. Kol 1,27). Für uns Christen bedeutet das eine vollständige Rückkehr zu
Christus, der Quelle jeglicher Hoffnung, und es ist zugleich das stärkste Motiv, sich
einzusetzen und an der Errichtung einer dauerhaften moralischen und sozialen
Ordnung für die jetzige und für künftige Generationen mitzuwirken.
Februar 2005
1 Prof. P. HÜNERMANN, Die christlichen Wurzeln europäischer Identität, in: Europa.
Zadanie chrześcijańskie, Warzawa, 1998, S. 88.
2 Siehe Präambel der Verfassung der Republik Polen vom 2. April 1997.
3 Johannes Paul II., Predigt in Gniezno, 3. Juni 1997.
4 P. LIESE, Nauka i medycyna a chrześcijański obraz człowieka, in: Scenariusze przyszłości.
Co chrześcijanie mają do zrobienia w Europie ?, Gliwice, 2004, S. 61.
5 Prof. F. FUKUYAMA, Koniec człowieka. Konsekwencje rewolucji biotechnologicznej,
Kraków, 2004, 17-18.
6 H.-G. PÖTTERING, Von der Vision zur Wirklichkeit, Bonn, 2004, S. 115.
7 A. SZUDRA, Koniec człowieka. Konsekwencje rewolucji biotechnologicznej, Więź
10(2004)134.
8 B. GEREMEK, Czy demokracja może być totalitarna ?, in: Scenariusze przyszłości, Gliwice,
2004, S. 50.
´
HENRYK MUSZYNSKI
174
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 175
Hartmut NASSAUER
Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe
im Europäischen Parlament
Markus FERBER
Co-Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe
im Europäischen Parlament
Europa als Wertegemeinschaft
Was ist Europa? Diese vermeintlich einfache Frage ist auch mehr als 50 Jahre
nach Gründung der ersten europäischen Institutionen nicht beantwortet. Wahr
ist: Europa hat verschiedene Dimensionen.
Europa ist nicht gleich Europäische Union, auch wenn beides oftmals gleichgesetzt
wird. Europa ist zunächst geografische Einheit, dann gemeinsamer
Kulturkreis verschiedener Nationen, die durch ihre Geschichte, ihr religiöses
Erbe und ihre Kultur miteinander verbunden sind.
Die Europäische Union dagegen ist ein politisches Projekt, hervorgegangen
aus den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs. Die EU verköpert die Einsicht, daß
dauerhafter Friede und Wohlstand nur durch den Zusammenschluss der europäischen
Nationalstaaten zu einer handlungsfähigen Gemeinschaft möglich ist.
Deswegen ist die EU eine historische Notwendigkeit.
CDU und CSU als die beiden großen deutschen Europaparteien, die mitgeholfen
haben, die europäische Integration voranzutreiben, treten für eine gemeinsame
europäische Zukunft ein. Wir sehen Europa als eine Einheit von Menschen,
die gemeinsam eine friedliche Zukunft gestalten wollen. Dies aber ist nur möglich
auf der Basis gemeinsamer Werte. Wenn die Europäische Union dauerhaften
Frieden und Wohlstand in Europa sichern soll, dann kann sie dies nur, wenn
sie die Werte Europas annimmt und aufrechterhält.
175
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 176
HARTMUT NASSAUER – MARKUS FERBER
Mehr als nur eine Wirtschaftsgemeinschaft
Die Geschichte der europäischen Integration ist die Geschichte des Ausgleichs
und der Versöhnung nach dem Blutvergießen des Zweiten Weltkriegs. Erstmals
arbeiteten die Nationen Europas mit friedlichen Mitteln an einer gemeinsamen
Zukunft. Dieser Entwicklung liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Frieden die
Voraussetzung ist für mehr Wohlstand.
Durch die Zusammenarbeit und zunehmende Verschmelzung der bisher
getrennten, gar konkurrierenden Volkswirtschaften Europas, haben es die Staaten
der Europäischen Union vermocht, ein einzigartiges Wirtschaftswachstum zu
erzeugen. Die EU ist neben den USA und Japan einer der drei großen
Wirtschaftsblöcke der Welt und verantwortlich für einen bedeutenden Anteil am
Welthandel.
Die Erfolgsgeschichte der Europäischen Union umfasst aber nicht nur das
Streben nach materiellem Wohlstand. Was mit der Europäischen Gemeinschaft
für Kohle und Stahl begann, und mit der Einführung des Euros und der Debatte
um den europäischen Verfassungsvertrag einen vorläufigen Höhepunkt gefunden
hat, ist die Geschichte eines politisch-sozialen Erfolgsmodells. Dies ist vielleicht
die wichtigste Errungenschaft der Europäischen Union, die auch fast 60 Jahre
nach Kriegsende nichts von ihrer Bedeutung verloren hat.
Seit ihren wirtschaftspolitischen Anfängen hat sich die Europäische Union
weiterentwickelt. Sie ist heute weit mehr als lediglich ein reiner Wirtschaftsblock.
Die heutige EU ist eine Wertegemeinschaft, die deshalb funktioniert, weil sich die
Menschen in Europa dieser gemeinsamen Werte bewusst sind. Kurz gesagt: die
EU repräsentiert mittlerweile selbst Werte, die Werte Europas, und ist damit mehr
als lediglich die Summe ihrer Mitgliedstaaten.
Die Werte und Wertvorstellungen, die durch die Europäische Union verkörpert
werden, bieten ein Maximum an persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten für
alle Menschen. Das sind zum einen die Grundwerte, die Europa ausmachen:
Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Im politischen Alltag zeigen sie
sich im Einsatz für Toleranz und Rechtstaatlichkeit, sowie der Achtung der
Menschenrechte und der Rechte von Minderheiten. Die Verkörperung dieser
Werte ist eine der wichtigen Errungenschaften der europäischen Integration.
Geboren sind diese Werte aus dem christlichen Erbe unseres Kontinents. Ihre
Kraft erhalten sie aus der gemeinsamen Geschichte, und dem Selbstverständnis,
einem gemeinsamen Kulturkreis anzugehören. CDU und CSU haben immer auf
die Notwendigkeit solcher Werte für ein gemeinsames Verständnis und eine
gemeinsame Politik verwiesen.
Deshalb haben wir bei den Verhandlungen um den europäischen
Verfassungsvertrag auch die Aufnahme eines Gottesbezuges gefordert. Wir sind
der Meinung, daß nur ein solcher Verweis den europäischen Werten und ihrer
Verkörperung in der Europäischen Union gebührend Rechnung trägt. Das christ-
176
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liche Wertefundament stellt die Basis für unser Verständnis von Freiheit, Gleichheit,
Gerechtigkeit und Solidarität dar.
Die EU als Spiegelbild europäischer Werte
Diese europäischen Werte spiegeln sich im Selbstverständnis der Europäischen
Union wieder. Dies bedeutet auch, daß Politik in der Europäischen Union transparent
und klar gestaltet werden muss. Der Verfassungsvertrag stellt hier einen
wichtigen Schritt dar, indem er die Transparenz und die Effizienz der Europäischen
Union weiter vorantreibt. In einem Satz: die rasche Ratifikation des
Verfassungsvertrages festigt auch das Wertefundament, auf dem die EU gegründet
ist und das ihre Identität ausmacht.
Wichtig ist, daß der Verfassungsvertrag dem Europäischen Parlament zusätzliche
Kompetenzen überträgt. Das bedeutet eine weitere Demokratisierung der
Europäischen Union, und damit eine gesteigerte Teilnahme der Bürger an der
europäischen Gesetzgebung. Bedeutsam ist dabei insbesondere die Ausweitung
des Verfahrens der Mitbestimmung bei der europäischen Gesetzgebung. Bis auf
wenige Ausnahmen werden auch Gesetzgebungsinitiativen in den Bereichen
der Agrar-, Struktur-, Innen- und Justizpolitik dem Votum des Parlaments unterliegen.
Wichtig ist zudem, daß der Europäische Rat künftig bei der Berufung des
Kommissionspräsidenten die Ergebnisse der Europawahl berücksichtigt. Der
Präsident der Kommission muss zudem durch das Parlament bestätigt werden.
Grundsätzlich gibt der Verfassungsvertrag eine Antwort auf die Frage, wie
die EU den Herausforderungen der nächsten Jahre begegnen kann. Zum einen
fasst er zum ersten Mal alle bisherigen Verträge in einem Dokument zusammen.
Zum anderen trägt er zu einer Klärung der Kompetenzverteilung zwischen
Mitgliedstaaten und Gemeinschaft bei. Erstmals werden dazu die Zuständigkeiten
der EU in einem eigenen Kapitel aufgeführt. So wird künftig zwischen ausschließlichen
und geteilten Zuständigkeiten sowie ergänzenden Maßnahmen
unterschieden.
Werte verlangen Handlungsfähigkeit
EUROPA ALS WERTEGEMEINSCHAFT
Um ihre Ziele zu erreichen, müssen sich die Wertvorstellungen der EU aber
auch in ihrer Politik widerspiegeln. Die Europäische Union ist ein Friedensprojekt
unter lange konkurrierenden Nationen, die sich Grundwerten verpflichtet fühlen
und verpflichtet fühlen müssen. So dient die EU als geglücktes Experiment
für das friedliche Miteinander von Nationen. Wir sind stolz darauf, an diesem
Projekt mitwirken zu dürfen, das Toleranz, Rechtstaatlichkeit, die Achtung der
Menschenrechte, und die friedliche Kooperation von Staaten zu stärken versucht.
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Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 178
Aufgrund unserer eigenen Geschichte, der Erfahrungen, die wir in Europa mit
Kriegen und Unruhen gemacht haben, ist die Europäische Union einer Politik des
Friedens und des Ausgleichs verpflichtet. Deswegen entwickelt die EU eine
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, und übernimmt friedensschaffende
Einsätze in der Welt. Ziel ist es, dabei zu helfen, Konflikte einvernehmlich und
im Vertrauen zu lösen und so zu einer friedlicheren Welt für alle Menschen beizutragen.
Auch bei der Vorbeugung von Konflikten kommt der EU aufgrund ihrer eigenen
Prinzipien eine wichtige Rolle zu. Die EU verfolgt eine langfristig angelegte
Politik des Ausgleichs und der Vermittlung. Im internationalen System stellt sie
einen wichtigen Ruhepol dar, der konträre Interessen fair balancieren kann.
In diesem Konzept ist die Europäische Nachbarschaftspolitik ein wichtiger
Baustein. Durch das Modell einer besonderen Beziehung zu Staaten Osteuropas,
des Mittelmeerraums und des Nahen Ostens fördert die Europäische Union die
Entwicklung rechtsstaatlicher und marktwirtschaftlicher Prinzipien, sowie die
Achtung der Menschenrechte und die Rechte von Minderheiten. Das Besondere
daran ist der langfristige Ansatz der europäischen Außenpolitik.
Dieser Ansatz kommt auch nach Naturkatastrophen zum Tragen, zum Beispiel
der Flutkatastrophe in Südostasien im Dezember 2004. Es ist ein großes Anliegen
der Europäischen Union, daß die Hilfe für die von der Flut betroffenen Länder
sich nicht nur auf die direkte Nothilfe bezieht, sondern langfristige Hilfe beim
Wiederaufbau der Infrastruktur bietet.
Eine solche Politik ist nur möglich, wenn die Europäische Union ihre
Handlungsfähigkeit bewahrt. Nur wenn die EU die Möglichkeit hat, die selbstgesteckten
Ziele zu erreichen, kann sie den großen Herausforderungen der
nächsten Jahre begegnen. Dies führt zu einer Erkenntnis, die nur scheinbar ein
Paradox darstellt: Wenn die Europäische Union eine gestalterische Rolle in der
Welt einnehmen will, um Toleranz, Rechtstaatlichkeit und die Achtung der
Menschenrechte voranzutreiben, und beim Kampf gegen Armut und Kriegen
mitzuhelfen, muss sie selbst Grenzen besitzen.
Dies ist keineswegs eine Selbstbeschränkung. Im Gegenteil, bei einer Überdehnung
der EU droht die Rückentwicklung zur Wirtschaftsgemeinschaft mit
lediglich einigen wenigen Elementen der politischen Kooperation. Zu viele unterschiedliche
Interessen bedeuten letztlich Stillstand, da es bei einer Zunahme der
immer unterschiedlicher werdenden Interessen immer schwieriger wird, eine
politische Einigung über politische Ziele herbeizuführen. Dies gilt für das
Parlament ebenso wie für die Arbeit des Ministerrates.
Europa bracht klare Ziele
HARTMUT NASSAUER – MARKUS FERBER
Die momentan wichtigste Frage für die Zukunft der Gemeinschaft, das
Beitrittsbegehren der Türkei, wird dabei oftmals unter einem fehlgeleiteten
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Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 179
EUROPA ALS WERTEGEMEINSCHAFT
Blickwinkel betrachtet. Die wichtigste Frage ist nicht, ob die Europäische Union
zur Türkei passt. Die wichtigste Frage ist nicht einmal, ob die Türkei ein europäisches
Land ist. Die wichtigste Frage ist, welchen Einfluss ein möglicher Beitritt
der Türkei auf den Inhalt und die Ziele der Europäischen Politik haben könnte.
Wir glauben, daß ein möglicher Beitritt der Türkei die Europäische Union
überfordern würde. Eine derart ausgeweitete Union wäre zu sehr mit sich selbst
beschäftigt, und könnte sich der selbstgesteckten Zielen nicht mehr annehmen.
Die Konsequenz wäre die Abkehr von den politischen Zielen der Gemeinschaft,
und eine Selbstbeschränkung auf die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen
Integration.
Eine Fokussierung lediglich auf wirtschaftliche Aspekte, eine Europäische
Union als „Binnenmarkt de luxe“, kann aber weder im Interesse der Europäer
selbst, noch im Interesse unserer Partner in der Welt sein. Denn nur eine handlungsfähige
Union, die sich den Prinzipien ihrer eigenen Entwicklung bewusst
ist, kann verlässlicher Partner sein, und zu mehr Frieden und Stabilität in der
Welt beitragen.
Die Handlungsfähigkeit der Union muss deshalb wichtiges Kriterium für
Beitrittsverhandlungen sein. Eine überdehnte EU nutzt weder Europa noch unseren
Freunden in der Welt. Wenn die Handlungsfähigkeit der Union eingeschränkt
ist, zum Beispiel durch den Mangel an gemeinsamen Interessen oder langwierige
Entscheidungswege, kann die Gemeinschaft ihre Aufgaben nicht erfüllen.
Der Mitbegründer der europäischen Idee und erste Kanzler der Bundesrepublik
Deutschland, Konrad Adenauer, hat den europäischen Integrationsgedanken
einst so beschrieben: „Die Einheit Europas war ein Traum weniger. Sie wurde eine
Hoffnung für viele. Heute ist sie eine Notwendigkeit für alle.“ Dieses Zitat hat
nichts von seiner Aktualität verloren. Im Gegenteil: eine aktive und handlungsfähige
Union ist jetzt notwendiger denn je.
Zu Adenauers Zeiten sah der europäische Einigungsprozess anders aus als
heute. Auch die Rahmenbedingungen haben sich grundlegend verändert. Die
Erkenntnis aber ist geblieben: Wir brauchen die europäische Einigung. Wir blicken
großen Herausforderungen entgegen, nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht,
sondern gerade auch in politischer.
Dazu müssen wir der EU Ziele und Inhalt geben und dafür sorgen, daß sie
diese auch erfüllen kann. Die Europäische Union bedeutet eine große Chance
für Europa, nach wie vor und gerade jetzt. Es ist eine Chance, die wir nutzen müssen,
und daran wollen wir arbeiten. Die Besinnung auf die europäischen Werte
verleihen der Europäischen Union die Kraft und die gemeinsame Identität, die
nötig ist, um die Herausforderungen der Zukunft zu schultern. Nur so kann sie
dem eigenen Anspruch und den an sie gestellten Aufgaben gerecht werden.
179
April 2005
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180
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 181
Ana PALACIO
Abgeordnete des spanischen Parlaments
Unsere Sicherheit
Die größte Herausforderung, vor der wir im 21. Jahrhundert stehen, besteht
zweifellos darin, den Terrorismus durch Demokratie zu bekämpfen und damit
unsere Sicherheit zu gewährleisten.
Unsere Sicherheit: Was verbinden wir mit dem Sicherheitskonzept? Werfen
wir zunächst einen Blick zurück in die Geschichte. Für einen Großteil des 20.
Jahrhunderts – während der gesamten Periode des Kalten Krieges – war die
westliche Sicherheit in einem einzigen Bild zusammengefasst. Wir, die wir im
Westen lebten, stellten uns bei dem Begriff Sicherheit eine Karte von Europa
vor, das von Nord nach Süd durch eine gepunktete Linie geteilt war. Auf der
einen Seite befanden sich die Symbole, die die Streitkräfte des Warschauer Pakts
repräsentierten – Flugzeuge, Panzer, Waffen, Schiffe und U-Boote, alle in Rot – und
auf der anderen Seite, in Blau, standen die Streitkräfte der NATO, die für uns – vor
allem dank des Einsatzes der Vereinigten Staaten – die Überlegenheit unserer
Seite über den Kommunismus verkörperten. Heute sind es die an einem Morgen
in New York einstürzenden Zwillingstürme, durch Explosionen zerstörte Züge im
Bahnhof von Atocha, das neueste Szenario von Trümmerhaufen und verstümmelten
Leichen irgendwo in der Welt: Istanbul, Jerusalem, Beslan, Bali, Bagdad, die
das dramatische Bild liefern, mit dem wir die Bedrohung unserer Sicherheit verbinden.
Was vermitteln uns diese beiden Bilder? Zunächst, dass die internationale
Dimension eingebettet ist in die „Andersartigkeit“ der Bedrohung: Sicherheit war
untrennbar verbunden mit Verteidigung und beruhte auf klaren Vorstellungen
und akzeptierten Gewissheiten. Man war auf einen Feind eingestellt, der (1) von
extern kam, (2) uns nicht unähnlich, (3) vollkommen als solcher erkannt und
bekannt, und der (4) trotz der Androhung gegenseitiger Zerstörung gewisse
Grundregeln einhielt. (5) Schließlich – und das ist vielleicht am wichtigsten –
vermittelte dieses Bild die Einheit und die ähnliche Denkweise innerhalb der
euro-atlantischen Gemeinschaft. Wir standen zusammen im Krieg gegen unseren
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Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 182
ANA PALACIO
gemeinsamen Feind, den Kommunismus, der allgemein als Bedrohung für
unsere Existenz galt.
Beim zweiten Bild sind die intellektuellen Gewissheiten und konzeptionellen
Ankerplätze, die uns ein Gefühl der Überlegenheit und relativen Kontrolle erlaubten,
verschwunden. Wenn wir dieses Bild ansehen, überwältigt uns ein Gefühl
der Desorientierung, der Verwundbarkeit und des Missklangs in unserem einst festen
Atlantikbündnis, vor allem weil die Vorstellung von der „Andersartigkeit“ verschwunden
ist. Jeder kann überall zum Opfer werden.
Heutzutage spielt es keine Rolle, ob man Sicherheit nach nationalen und
internationalen Gesichtspunkten unterscheidet, nationale Grenzen als Barrieren
und Verteidigungslinien ansieht. Die sich aus Sicherheit und Verteidigung auf
dem „Möbius-Streifen“ ergebende logische Konsequenz besagt, dass sich die bisherigen
typischen Funktionen und der Aufbau der Armeen wandeln, Informationen
eine zentrale Rolle zukommt – neben der Notwendigkeit, die Grundlagen der
Nachrichtenbeschaffung und – auswertung neu zu formulieren, – und
Zusammenarbeit unabdingbar wird. Manche vertreten die Ansicht, dass abgesehen
von dem verankerten Bild in der Vergangenheit, die NATO von heute ein gutes
Beispiel für eine militärische Truppe ist, die die Herausforderungen durch unsere
neue Realität verstanden hat. Dies zeigt sich am Beispiel des neuen militärischen
Konzepts der Verteidigung gegen den Terrorismus, der Schaffung einer
Einsatztruppe und der Entwicklung von Strukturen, um auf chemische, radiologische
und nukleare Angriffe reagieren zu können, sowie im Verzicht auf das
„Out of area“ - Konzept. Die NATO hat sich des Weiteren von ihren traditionell
militärischen Funktionen und Strukturen hin zu einem Bündnis aus
Funktionsbereichen und Strukturen für Ordnungspolitik, Interimsverwaltung und
Zivilschutz entwickelt.
Die Bedrohung durch den Kommunismus war zweifellos schrecklich, aber
zumindest wussten wir, wer unser Feind war. Wir wussten, was er dachte, wie
er agierte, was ihn motivierte. Die Bezugspunkte von damals gibt es heute nicht
mehr. Es gibt kein charakteristisches Erscheinungsbild des Terrorismus. Auch
kennen wir seine Ideologie nicht, seine Identität, seine Motive oder „Anlässe“, die
er als Rechtfertigung für seine verbrecherischen Angriffe verkündet, oder die
Psyche derjenigen, die sich dieser mannigfaltigen Bedrohung verschreiben.
Eine mannigfaltige Bedrohung. Die Übereinstimmung der gegensätzlichen
Seiten gibt es nicht mehr, wie auch die relative Gelassenheit durch die Vorstellung,
dass unsere NATO-Streitkräfte zwar ein Gegenüber hatten, aber effektiver waren
als die sowjetische Gegenseite. Die Terroristen, die uns heute bedrohen, haben
keine Heimat im Sinne eines Vaterlandes; ihre Loyalität kann nicht bis zu einem
Staat oder einer quasistaatlichen Einrichtung zurückverfolgt werden – trotz der
logistischen oder politischen Unterstützung durch gewisse Regimes und der
Symbiose mit Schurkenstaaten oder gescheiterten Nationen. Heute sind wir nicht
in der Lage, unseren Feind geografisch oder institutionell auszumachen. Alles, was
wir wissen, ist, dass uns eine dezentrale Organisation gegenübersteht, die an die
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UNSERE SICHERHEIT
heutige vernetzte Welt perfekt angepasst ist und augenscheinlich zusammenhanglose,
sich selbst motivierende und finanziell unabhängige Gruppen umfasst,
obwohl wir vermuten, dass ihre Strategien stark zusammenhängen und untereinander
abgestimmt sind. Im Umgang mit ihnen sind wir – unsere Polizei,
Zollbeamten, Richter und selbst unsere Armeen – benachteiligt durch ein
Organisationssystem, das noch einer analogen Welt verhaftet ist. Jeder Chef
eines westlichen Nachrichtendienstes oder einer Justizvollzugsbehörde wird
ohne weiteres voller Sorge eingestehen, dass Terroristennetze Menschen, Geld
und Waffen viel leichter rund um die Welt bewegen können als er Haushaltsmittel
umwidmen könne.
Viertens war während des Kalten Krieges die Unsicherheit durch die schreckliche
Gefahr einer atomaren Zerstörung dennoch Teil der akzeptierten
Spielregeln. Regeln, die in der staatlichen Struktur der Völker wurzelten, die
einander gegenüberstanden. Wenn es eine Sache gibt, die den Terrorismus
heute charakterisiert, dann die, dass seine einzige Regel darin besteht, alle
Regeln außer Acht zu lassen.
Nicht zuletzt unterscheiden sich unsere zwei Bilder auch im Bereich der
Auffassungen. Obwohl es paradox scheinen mag, glauben die Menschen auf
beiden Seiten des Atlantiks, dass die strategische Partnerschaft zwischen Amerika
und Europa zerbrochen ist, vielleicht unwiederbringlich. Diese Meinung wird
auch von denen vertreten, die diesseits des Atlantiks für ein Europa eintreten, das
sich als Gegenkraft oder Gegengewicht zur Übermacht der USA versteht. Sie
wird auch von denjenigen auf der amerikanischen Seite des Atlantiks geteilt, die
glauben, dass für die Vereinigten Staaten die Zeit gekommen sei, sich vom
Eurozentrismus zu befreien, der ihre Außenpolitik im 20. Jahrhundert die meiste
Zeit bestimmte, und ein für alle Mal offen anzuerkennen, dass ihre nationale
Sicherheitsstrategie auf aktiver Hegemonie (vor allem militärischer) beruht. Beide
Seiten zeigen den Konflikt zwischen zwei verschiedenen Auffassungen von den
neuen Bedrohungen und der Art und Weise, wie ihnen zu begegnen sei. Das
wiederum heißt, dass diese zwei Auffassungen bis zu einem gewissen Grade
aus verschiedenen geschichtlichen Zeiten stammen und natürlich zwei verschiedene
Vorstellungen von internationalen Beziehungen zur Folge haben. Das
Ereignis, das unsere europäische Realität geformt hat, ist nach wie vor der Fall
der Berliner Mauer und der anschließende Zusammenbruch der Sowjetunion
und des europäischen Kommunismus, wodurch wir Europa als Kontinent zurückerhalten
haben. Das ist eine Perspektive, bei der manche das Gefühl haben, es
reiche aus, sich allein auf Verhandlung und Diplomatie als Instrumente der internationalen
Politik zu verlassen und dabei auch die Doktrin des „Realismus“ des
Kräftegleichgewichts zu unterstützen. Die Vereinigten Staaten leben jedoch in
der Epoche nach dem 11. September. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte fühlen
sie sich im eigenen Land verwundbar und einer globalen Bedrohung ausgesetzt,
die unter allen Umständen auf die totale Zerstörung des eigentlichen Kerns ihrer
Gesellschaft und des Westens allgemein zielt. Während sich die Amerikaner im
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ANA PALACIO
Krieg gegen den Terrorismus befinden, wird Terrorismus in Europa großenteils
als eine Geißel gesehen, gegen die anzugehen ist. Terrorismus ist für sie vor
allem eine Frage der Sicherheit; für viele von uns stehen humanitäre Überlegungen
an erster Stelle, wie das der Umstand zeigt, dass Artikel I-43 der neuen
Europäischen Verfassung die Solidarität, die für den Fall terroristischer Angriffe
oder Bedrohungen eingefordert wird, mit der bei Natur- oder vom Menschen
verursachten Katastrophen auf eine Ebene stellt. Der Gegensatz in den
Auffassungen zeigt sich auch, wenn es um Verantwortung für die Wahrung und
die Förderung der Werte der Freiheit und Demokratie geht, die jeder Strategie zur
Bekämpfung des Terrorismus zugrunde liegen, wie das die Debatte um die
Nahost- und Nordafrika-Initiative der Vereinigten Staaten sowie die unterschiedlichen
Einstellungen in Bezug auf eine „humanitäre Diplomatie“ verdeutlichen,
die letzten Endes in einer Auseinandersetzung zwischen einer Auffassung von der
Welt als harmonisch funktionierender Einheit, bis es zu einer Krise oder
Katastrophe kommt, und der Vorstellung gipfelt, dass die weltliche Realität etwas
Veränderbares ist und ihre Umgestaltung eine Pflicht.
Die vorstehenden Überlegungen unterstreichen die Bedeutung des Aufbaus
einer kohärenten und weitreichenden transatlantischen Zusammenarbeit. Obwohl
Terrorismus ein weltweites Phänomen ist und – da er uns alle betrifft – wir alle
ihn bekämpfen sollten, kann die zentrale Bedeutung der euro-atlantischen
Gemeinschaft nicht ignoriert werden. Die Frage ist deshalb, wie wir unsere
Zusammenarbeit im Interesse einer sichereren und freieren Welt entwickeln können.
Um Erfolg zu haben, müssen wir unsere gemeinsame Strategie auf verschiedenen
Ebenen verfolgen – im Inland, bilateral (sowohl zwischen der EU und
ihren Mitgliedern als auch zwischen der EU und den Vereinigten Staaten), multilateral
und international. Unsere Strategie sollte sich deshalb auf drei
Hauptbereiche konzentrieren: praktische Initiativen entwickeln, unsere Reaktionen
gemeinsam planen und zusammen die Meinungsschlacht gewinnen.
184
Juni 2005
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 185
Alojz PETERLE
Leiter der slowenischen Delegation der EVP-ED-Fraktion
im Europäischen Parlament
Vision für ein Europa 2020
In den letzten beiden Jahrzehnten kam es in Europa zu epochalen und tektonischen
Veränderungen in Politik, Gesellschaft und in anderen Bereichen.
Europa ist demokratischer geworden, seine Erweiterung und seine Einigung
schreiten voran. Trotz dieser Erfolge stellen aber immer mehr kritische Stimmen
die Frage, wie Europa langfristig bestehen kann. Diese Frage ist bei genauer
Analyse gewisser demographischer, sozialer, wirtschaftlicher und gesundheitsbezogener
Entwicklungen zweifelsohne berechtigt.
Ich kann eine Vision Europas für die erste Hälfte des dritten Jahrtausends
verantwortungsvoll nur vor dem Hintergrund der Grundsätze entwerfen, die
bereits von den Gründervätern des modernen, freiheitlichen und demokratischen
Europas aufgestellt wurden. Wenn wir eine nachhaltige Entwicklung wollen,
müssen wir sie auf nachhaltige Grundlagen stellen. Ausschlaggebend bleibt in dieser
Hinsicht für mich der Ansatz, mit dem die Europäische Gemeinschaft das
Problem der Vielfalt lösen konnte. Der Nationalismus und der Totalitarismus
haben die Frage der Vielfalt mit der Liquidierung, Marginalisierung oder
Ausschaltung Andersdenkender beantwortet. Die neue europäische Antwort auf
diese Frage beruht auf einer grundlegend anderen Sicht des Menschen und der
Gesellschaft. Den Anderen wirklich zu achten und bereit zu sein, mit ihm in
Dialog zu treten und mit ihm zusammenzuarbeiten, ist nur bei konsequenter
Achtung der Würde des Menschen möglich. Das Prinzip der Einheit in Vielfalt lässt
sich nur verwirklichen, wenn wir den Wert eines jeden Menschen anerkennen.
Damit lernen wir auch, ganze Nationen und die mit ihnen lebenden Minderheiten
zu achten.
Ich bin sehr darüber erfreut, dass in diesem Sinne die Würde des Menschen
als zentraler geistiger und kultureller Grundsatz in den neuen Vertrag über eine
Verfassung für Europa aufgenommen wurde, denn nach Artikel 1 der Charta der
Grundrechte ist die Würde des Menschen unantastbar. Meiner Ansicht nach ist es
dieser Grundsatz, der die Europäische Union weiterhin für Beitrittskandidaten
185
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 186
ALOJZ PETERLE
attraktiv macht und gleichzeitig den Ausbau ihrer tragenden Rolle in einer globalisierten
Welt ermöglicht.
In den kommenden Jahren werden die Rahmenbedingungen für die Achtung
der menschlichen Würde anders sein als in den Anfangsjahren der Europäischen
Gemeinschaft und zu Beginn der Verhandlungen über die historische Erweiterung
der Union. Europa sieht sich heute mit dem Problem eines weitaus größeren
Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung und damit einer schwächeren
Bejahung des Lebens konfrontiert. Falsche Antworten auf neue
Herausforderungen könnten zu Spannungen zwischen den Generationen führen,
die nicht unbedingt mit der Achtung der Menschenwürde zusammenhängen.
Ich stelle mir die Europäische Union im Jahr 2020 weniger als einen weiten
und großen Zuwanderungsraum vor, sondern eher als Raum, in dem das Leben
wieder stärker bejaht wird. Die damit verbundenen notwendigen Veränderungen
sind in meinen Augen alles andere als romantisch. Sie werden sicherlich einen
Wandel der Werte erfordern, der unsere Haltung zum Leben von der Zeugung bis
zum Tode in den Mittelpunkt unseres Denkens, Redens und Handelns stellen
wird. Das heute so im Mittelpunkt stehende kurzsichtige Profitstreben erweist
sich als unzureichend und schädlich, weil es zu kurz greift. Wir werden dafür sorgen
müssen, dass Entwicklung auch Wachstum bedeutet.
Es geht aber nicht nur um quantitative Aspekte der Demographie, also um
mehr Kinder. Es geht auch um Qualität. Es geht um ein gesundes Europa.
Allerdings werden wir keine Fortschritte erzielen, wenn wir unsere Wünsche
nach nachhaltiger Entwicklung nicht mit einer ganzheitlichen und ehrlichen Sicht
der Wirklichkeit verbinden, die uns insbesondere auf dem Gebiet der Umwelt und
somit auch auf dem der Gesundheit die Folgen falscher Entwicklungsprämissen
und falscher Politik aufzeigt. Nach meiner Vorstellung beruht ein gesundes Europa
nicht auf dem Ringen um Vorrang zwischen wirtschaftlichen, sozialen und umweltbezogenen
Aspekten, sondern auf der Einsicht, dass sie sich gegenseitig bedingen
und ergänzen. Wenn wir dies verstehen und angemessen handeln, wenn
wir in der Lage sind, uns über die wichtigsten Veränderungen zu einigen, werden
wir zwar kein starkes Wachstum der Entwicklungsindikatoren erreichen,
aber ein Wachstum in die richtige Richtung. Wenn wir ein anderes und besseres
Europa wollen, werden wir dafür einiges investieren und möglicherweise auch
einiges opfern müssen.
186
März 2005
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 187
Zuzana ROITHOVÁ
Stellvertretende Leiterin der tschechischen Delegation der EVP-ED-
Fraktion im Europäischen Parlament
Gemeinsames Erbe, Gemeinsame Aufgaben,
Gemeinsamer Wille
Die großen Probleme, vor denen das heutige Europa steht, können die Europäer
nicht allein auf der Ebene der Mitgliedstaaten lösen, sondern nur gemeinsam, unter
Nutzung aller Quellen des intellektuellen und materiellen Reichtums, über die
Europa verfügt. Es steht außer Zweifel, dass das erweiterte Europa die große Chance
hat, die neuen Aufgaben zu meistern, zum einen dank der bereits funktionierenden
europäischen Institutionen, zum anderen aber vor allem dank des eigenständigen
Denkens, das über die Jahrhunderte hinweg durch unsere Geschichte geprägt
wurde. Dies ist eine Chance, die die Europäer nicht verpassen dürfen, weil die
europäischen Probleme an der Schwelle des dritten Jahrtausends über die Grenzen
Europas hinausreichen und von globalem Charakter sind. Um sie zu lösen, bedarf
es der Entschlossenheit, den gemeinsamen Weg in Etappen, die aus Übereinkommen
und aus für alle Beteiligten akzeptablen Kompromissen bestehen, fortzusetzen.
Dazu darf man die Stärkung des gemeinsamen Willens nicht scheuen, einen
Weg zu beschreiten, auf dem nicht die einzelnen Völker, sondern die Bürger
Europas, die die gemeinsamen Werte teilen, die Sieger sind. Die Verantwortung
der Politiker besteht darin, dieses Bewusstsein in den Köpfen der Menschen zu
festigen, weil es in ihrem Interesse ist, dass Europa zu einem starken Spieler auf dem
globalen Spielfeld wird und seinen Einfluss auf die Lösung der globalen
Herausforderungen verstärkt. Es gibt nicht wenige Gründe für eine solche europäische
Ambition:
Erste Herausforderung – Kampf gegen Terrorismus und Gewalt
An der Wiege des gemeinsamen Europa standen Christen, die glaubten, dass man
Europa mit diesem Projekt vor weiteren Kriegen bewahren könne. Das ist gelungen.
Sie haben bewiesen, dass es möglich ist, die kriegerische Lösung von nationalen,
ethnischen und ökonomischen Konflikten durch das Aushandeln von
Kompromissen am runden Tisch zu ersetzen. Die Europäische Union ist ein lebendiges
Zeugnis vom Erfolg der Vision, dass es durch demokratische Vereinbarungen
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ZUZANA ROITHOVÁ
über die gemeinsame Nutzung der Schlüsselressourcen und die Einhaltung der
Menschenrechte möglich ist, die Interessen von Bürgern unterschiedlicher Nationen
dahingehend zu vereinen, dass sie zu einem tatsächlich wirksamen Mittel gegen den
Krieg werden. Heute spüren immer mehr junge Europäer, dass eine unserer Pflichten
darin besteht, dieses Modell auch in anderen von kriegerischen Konflikten geplagten
Teilen der Welt zu umzusetzen.
Die Europäer allein können jedoch derzeit der neuen Form des Bösen nur
schwer die Stirn bieten. Die Form der kollektiven Gewalt hat sich nämlich unterdessen
geändert – es ist das von ihr organisierte Verbrechen und der Terrorismus,
die keine Grenzen kennen, weder moralische noch geographische. Für die Europäer
ist es schwer, ein Mittel gegen diese neue Form des Bösen mit seiner verheerenden
Ideologie des Todes zu finden. „Du sollst nicht töten“ ist ein auf die Dauer
ausgelegtes Gebot und das nicht nur für die praktizierenden Christen, sondern
auch für alle Europäer. Wir wissen, dass unsere Achtung vor dem menschlichen
Leben als Wert weit über die Grenzen Europas hinaus getragen werden muss, auch
dorthin, wo Selbsttötung und Tötung anderer menschlicher Geschöpfe verherrlicht
werden. Vor diesem Ziel dürfen wir nicht resignieren, auch wenn der Terrorismus
stärker zu sein scheint, als wir ihn gegenwärtig zu bezwingen in der Lage sind.
Unsere Schwäche ist, dass Europa sich noch nicht im Klaren ist, an welchem Ende
des Stranges es ziehen soll und mit wem. Aber auch in den kommenden Jahrzehnten
wird das sehr schwierig sein, weil wir auch in diesem Kampf nicht von unseren
demokratischen Prinzipien abgehen wollen. Und dennoch haben wir eine gute
Chance, wenn wir nicht jeder für uns allein und inkonsequent das internationale
Verbrechen bekämpfen, sondern alle gemeinsam an einem Strang ziehen, und zwar
sowohl in Europa als auch in Übersee. Dies ist ein ernsthafter Grund dafür, die
exekutiven Befugnisse der Institutionen der Union für den Bereich der Sicherheitsund
Außenpolitik grundlegend zu stärken. Unser Kampf muss effektiver werden und
darf sich nicht nur auf Repressionen beschränken. Die euroatlantische Zivilisation
sollte eine gemeinsame Sprache finden.
Darin besteht für die kommende Zeit die Hauptverantwortung der Politiker vor
den Bürgern und vor Gott.
Zweite Herausforderung – Einfluss der Globalisierung auf den Bestand des europäischen
Sozial- und Wirtschaftsmodells
Das Gebot „Du sollst nicht töten“, das in der ersten Herausforderung erwähnt
wurde, ist für die europäische Gesellschaft ungeachtet des Ausmaßes ihrer
Säkularisierung ein so verwurzelter und anerkannter Wert, dass er zu den wichtigen
Unterscheidungsmerkmalen zwischen Europäern und anderen Zivilisationen
gehört, dann sind die hohen sozialen und ökologischen Standards ein weiteres
Merkmal der europäischen Wirtschaftskultur. Ihr Vorzug besteht darin, dass sie den
Lebensstandard der Bürger anheben und eine bedeutende Rolle im Umweltschutz
spielen. Gesundheitsschutz und soziale Sicherung gehören heute bereits zu den
traditionellen Werten der europäischen Wirtschaft, weil sie innerhalb der Grenzen
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GEMEINSAMES ERBE, GEMEINSAME AUFGABEN, GEMEINSAMER WILLE
von sozialem Ausgleich und einer begrenzten Abschöpfung der natürlichen
Ressourcen funktioniert. Diese Standards sind jedoch nicht umsonst. Sie bewirken
auch eine Anhebung der Kosten für sämtliche europäische Waren, was deren
Konkurrenzfähigkeit schmälert und im Rahmen der fortschreitenden Liberalisierung
des Welthandels die strukturelle Arbeitslosigkeit in Europa verstärkt. Diesem Trend
werden wir ohne ideologische Vorurteile entgegenwirken müssen.
Der Binnenmarkt der Union basiert auf gemeinsamen Regeln, seine Freiheiten
sind durch die Harmonisierung dieser und anderer hoher Standards bedingt. Nur
so wird ein gleicher Wettbewerb für die Unternehmer in einer auf diese Weise
regulierten Wirtschaft gewährleistet. Der EU-Binnenmarkt ist jedoch keine wirtschaftliche
Insel, sondern er ist und entwickelt sich immer mehr zu einem Bestandteil
des globalen Marktes, der sich bei weitem nicht nach solchen Regeln richtet. Seine
Regeln beeinflussen die großen Spieler auf dem internationalen Spielfeld, vor allem
Japan, die USA und jetzt auch China, mit einer ganz anderen Wirtschafts- und
Sozialkultur. Das Aufeinandertreffen dieser Wirtschaften spielt sich innerhalb des liberalisierten
Welthandels ab, wo Europa am kürzeren Hebel sitzt. Zum einen deshalb,
weil mit Ausnahme Irlands und der Skandinavier die Länder Europas zu sehr
an Bildung und Investitionen in Wissenschaft und Forschung gespart haben, zum
anderen, weil die europäischen Erzeugnisse nicht mit den niedrigen Preisen bzw.
Dumpingpreisen der legal und illegal aus Asien eingeführten Waren konkurrieren
können, die dort mit minimalen sozialen und ökologischen Kosten und mit staatlichen
Subventionen hergestellt werden. Europa steht deshalb in den nächsten
Jahrzehnten vor einer schweren Prüfung. Es wird mit dem Verlust von möglicherweise
mehr als einer Million Arbeitsplätzen, vor allem für Frauen in der Textil-,
Leder- und Schuhindustrie, und nach und nach auch in anderen Branchen fertig werden
müssen. Eine Chance hat nur eine technisch ausgereifte Produktion, die
Mehrwert schafft. Europa wird sich auch mit den Folgen des gegenwärtigen Exodus
europäischer Investoren nach Osteuropa und Asien auseinandersetzen müssen,
weil die Unternehmer weiterhin ihre Betriebe vom „teuren“ Europa dorthin verlagern
werden, wo die europäischen harmonisierten Regeln für die Abfallwirtschaft
nicht gelten und wo sie Menschen für um ein Vielfaches niedrigere Löhne als in
Europa beschäftigen können und sie zudem auch günstige Steuerbedingungen
vorfinden. Unser gemeinsames Europa wird der Nichteinhaltung der internationalen
Handelsregeln die Stirn bieten müssen. Dabei geht es um unerlaubte staatliche
Subventionen zum Beispiel für Textilbetriebe, das unerlaubte Kopieren technologischer
Verfahren und Marken, vor allem in der Automobil- und
Computerindustrie. Das alles schadet der europäischen Industrie, verletzt den gleichen
Wettbewerb und vertieft die Arbeitslosigkeit. Die Union wird es lernen müssen,
die eigenen Regeln auch außerhalb Europas durchzusetzen und zu schützen,
ansonsten müsste sie bald auf ihre derzeit hohen Standards verzichten. Dies ist ein
weiterer wichtiger Grund zur Stärkung der Rechtsbefugnisse der Europäischen
Institutionen auf dem Gebiet des Außenhandels. Die Union muss zu einem starken
und geachteten Partner auch für die Weltwirtschaftsorganisation werden. Die einzelnen
Mitgliedstaaten haben keine Chance, die Europäische Union muss nicht nur
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ZUZANA ROITHOVÁ
die Rechtsbefugnis, sondern auch den Mut haben, alle politischen und ökonomischen
Instrumente zu nutzen, um die europäische Wirtschaftskultur unter den globalen
Bedingungen zu bewahren und durchzusetzen, und zwar auch gegen die
Interessen einiger starker Handelsgesellschaften. Diese Herausforderung erfordert
auch den Mut, die Grenzen ideologischer Klischees zu überwinden, sonst wird
Europa zu einem Freilichtmuseum. Wir können die auch weiterhin verbindlichen
europäischen Standards nicht weiter erhöhen, ohne dafür zu sorgen, dass sie auch
außerhalb des sich erweiternden Europas gelten. Der Grund ist nicht nur die
Wirtschaftsmathematik, sondern vor allem die Überzeugung, dass dies die Perspektive
für den Weg der Menschheit auf unserem Planeten ist.
Dritte Herausforderung – das Altern von Europa macht Reformen der Sozialund
Gesundheitssysteme erforderlich
Europa altert. In den letzten 100 Jahren ist die durchschnittliche Lebenserwartung
von 55 auf 80 Jahre gestiegen. Das Problem ist, dass zudem immer weniger Kinder
geboren werden. Im Jahre 2030 beginnt die Bevölkerung des alten Kontinents auszusterben,
weil in keinem der EU-Länder mindestens 2,1 Kinder pro Frau geboren
werden, was für die Regenerierung der Bevölkerung erforderlich ist.
Die Heraufsetzung des Lebensalters hängt mit der Verbesserung des
Lebensstandards, was zu einem bedeutenden Rückgang der Infektionskrankheiten
geführt hat, sowie mit dem weiteren Fortschritt in der Medizin, wo die meisten
Krankheiten nicht mehr wie früher zum Tode führen, zusammen. Die niedrige
Geburtenrate ist paradoxerweise auch bedingt durch den hohen Lebensstandard,
das gestiegene Bildungsniveau der Frauen sowie einen individualistischen Lebensstil,
der bereits viele Jahre lang die traditionelle kinderreiche Familie ersetzt. Das
Bevölkerungsdefizit wird in einer Reihe europäischer Regionen nur durch die
Zuwanderung sowie die höhere Geburtenrate der Immigranten aus Drittländern
gebremst. Insgesamt ist aber das Altern der Bevölkerung zusammen mit den hohen
Anforderungen an die Gesundheits- und Sozialleistungen ein Phänomen, das den
Europäern nicht nur gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen bringt, sondern
auch ökonomische Probleme bereitet. Ich bin überzeugt, dass für deren verantwortungsvolle
Lösung weitreichende Änderungen im System der Gesundheitsund
Sozialfürsorge, aber zum Beispiel auch in der Urbanistik bzw. im öffentlichen
Verkehr notwendig sind. Sie erfordert auch eine durchdachte langfristige Strategie
einer gemeinsamen Zuwanderungspolitik.
Weil also die Europäische Union zu einem Altersheim wird, wo die Zahl der
Senioren zu- und die der Werktätigen abnimmt, werden wir es mit Ausnahme von
Irland bald mit einem Mangel an denjenigen zu tun haben, die die Voraussetzungen
zur Finanzierung der immer kostenintensiveren Gesundheits- und Sozialfürsorge
im Rahmen von Solidarsystemen in den meisten Mitgliedsländern schaffen. Im
Jahre 2030 werden in Europa über 20 Millionen Menschen im produktiven Alter fehlen,
wohingegen in den USA ein Bevölkerungswachstum um 25 Prozent zu verzeichnen
sein wird.
190
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GEMEINSAMES ERBE, GEMEINSAME AUFGABEN, GEMEINSAMER WILLE
In der Tschechischen Republik zum Beispiel verbrauchen schon heute gerade
die Menschen im Rentenalter ganze 80 % der Kosten für das Gesundheitswesen. Zum
einen ist die Behandlung der Krankheiten an sich teuer, vor allem aber wird auch
die Zeit länger, in der diese Betreuung den älteren Menschen gewährt wird. Das ist
das Ergebnis des Erfolgs und nicht des Versagens der modernen Medizin. Man
nennt es ein „medizinisches Paradoxon“. Obwohl die maximale Lebenserwartung
von der genetischen Anlage 100 bis 110 Jahre beträgt, hat die Verlängerung des
Lebensalters seine biologischen Grenzen. Ich bin überzeugt, dass dieser Trend seinen
Höhepunkt noch nicht erreicht hat. Die Politiker in den Mitgliedstaaten sollten
die notwendigen Reformen zur Kostenkontrolle nicht hinausschieben, auch wenn
es unpopulär ist. Am dynamischsten entwickeln sich die Gesundheitstechnologien
und die pharmazeutische Industrie wie auch die Informationstechnologien und die
Rüstungsproduktion. Sowohl die Möglichkeiten der Medizin als auch die Ansprüche
der Bürger an Gesundheits- und Sozialleistungen in hoher Qualität steigen schneller
als die finanziellen Möglichkeiten der alternden, auf dem Solidarprinzip beruhenden
europäischen Gemeinschaft. Die Solidarität zwischen den Generationen
ist in den vormals kommunistischen Ländern stärker ausgeprägt als in den alten
Mitgliedstaaten, weshalb auch die finanzielle Diskrepanz offenkundiger ist und in
einigen Ländern zu einer Krise führt. Deshalb ist auch der Reformdruck in den
neuen Mitgliedstaaten größer. Das Sozialmodell muss im Hinblick auf die realen
Möglichkeiten seines Weiterbestands überarbeitet werden.
Ziel der Gesundheitsreformen dürfen nicht nur die Kostenkontrolle,
Zentralisierung der Spezialmedizin, Bereitstellung von genügend Rehabilitationseinrichtungen
und die Behandlung von Alterskrankheiten sein. Zu den grundlegenden
gemeinsamen Zielen der Union gehört eine objektive Qualitätskontrolle
der Gesundheitsfürsorge von außen. Die zunehmende Mobilität der Patienten zwischen
den Mitgliedstaaten zeigt auch die Notwendigkeit, das Vertrauen der Patienten
und Versicherungsgesellschaften in die Qualität und Sicherheit der Leistungen ungeachtet
der Grenzen zwischen den Staaten zu stärken. Positiv zu bewerten ist, dass
sich immer mehr Krankenhäuser schon heute einer freiwilligen nationalen bzw.
internationalen Akkreditierung unterziehen. Nach einer mehrmonatigen Inspektion
durch unabhängige Qualitätsinstitutionen werden Zertifikate über die Einhaltung der
nationalen bzw. internationalen Standards für die Qualitätssicherung der Fürsorge
ausgestellt. Im Interesse der europäischen Bürger sollte die EU die Implementierung
der internationalen Akkreditierungssysteme der Krankenhäuser und Ambulanzen fördern,
und zwar mindestens in gleichem Maße wie sie heute andere Aktivitäten
zum Verbraucherschutz fördert.
Die Solidarität gehört zu den wichtigen traditionellen christlichen Werten, und
darauf errichten wir heute unser gemeinsames Haus Europa. Ausufernde Solidarität
führt jedoch zu ihrem Missbrauch und zu gemeinsamer Armut. Dass es sich hierbei
nicht um eine Theorie, sondern eine Tatsache handelt, bezeugen die bekannten
Erfahrungen aus dem Gesundheitswesen in den neuen Mitgliedsländern. Der
Staat hat für die Gesundheit seiner Bürger mehr Verantwortung getragen als sie
selbst. Die Leistungen waren „gratis“ und der Patient hatte keinerlei Einfluss auf
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ZUZANA ROITHOVÁ
eine Preis- oder Qualitätskontrolle. Den Patienten waren die Preise für die Leistungen
nicht bekannt und sie waren daran gewöhnt, jederzeit auch wegen banaler Probleme
den Arzt aufzusuchen, was dazu führte, dass Geld verschwendet wurde, das dann
zur Behandlung schwerer Krankheiten fehlte. Eine solche Verhaltensweise findet man
noch immer, selbst dann, wenn die staatliche Versicherung für die Behandlung aufkommt.
Zudem belegen aussagekräftige Fachstatistiken, in welch hohem Maße in
den neuen Mitgliedsländern Gesundheitsdienstleistungen und Mittel in Anspruch
genommen wurden. Reformversuche sind jedoch problematisch, weil sie nicht
populär sind. Wenn sie effektiv sein sollen, müssen sie auch zu einem größeren
Mitspracherecht der Patienten bei Therapie und Prävention führen. Der Patient
muss stärker in das System einbezogen werden, und zwar als ein Konsument von
Leistungen, der seine Rechte und Pflichten kennt und in der Lage ist, sich an der
der Qualitäts- und Kostenkontrolle zu beteiligen. Ihm müssen allerdings genügend
verständliche Informationen zur Verfügung stehen. Zu diesen Maßnahmen gehört
auch die Einführung einer Teilfinanzierung bei banalen Erkrankungen aus der eigenen
Tasche, damit die öffentlichen Mittel für die kostenintensive Behandlung von
schweren Krankheiten und zur finanziellen Hilfe für die wirklich Ärmsten zur
Verfügung stehen. Das Denken der Patienten/Wähler zu ändern, erfordert Zeit und
politischen Mut. Dies liegt bei den neuen Mitgliedsländern näher, da sie unter
einem größeren wirtschaftlichen Druck stehen. Ihre Erfahrungen, die guten wie
die schlechten, sind schon heute für das übrige Europa ein Gewinn.
Auch wenn sich die einzelnen Systeme voneinander unterscheiden, sind sie
sich doch im Wesentlichen ähnlich, und deshalb können auch Probleme wie
Kostenkontrolle, Qualitätskontrolle sowie Sicherstellung von Gesundheitsfürsorge
und Sozialleistungen unter Berücksichtigung der sich vollziehenden Veränderungen
auf ähnliche Weise gelöst werden. In diesem Kontext ist auch das Problem des
Alterns von Europa zu sehen. Die jüngste Erweiterung der Union ist eine Gelegenheit,
dieses Problem gemeinsam zu lösen und die Kräfte bei der Reform der Gesundheitsund
Sozialfürsorge zu bündeln.
Die Bevölkerungsentwicklung in Europa ist so alarmierend, dass neue Formen
der Solidarität zwischen den Generationen entwickelt werden müssten. Das
Programm zur Achtung von Mutterschaft und Kindererziehung wird, wie ich hoffe,
zu einer gesamteuropäischen Angelegenheit. Gerade die Christdemokraten und
Mitglieder der Volksparteien streben danach, dass Mutterschaft und Erziehung
gesellschaftlich anerkannt werden, indem sie moralisch und finanziell stärker unterstützt
werden. Diese Anerkennung muss sich in den Maßnahmen zu den geplanten
Sozialreformen widerspiegeln, die aber nicht nur eine bessere Lösung der sozialen
Probleme von Familien mit Kindern, sondern auch die Erneuerung der
europäischen Gemeinschaft zum Ziel haben sollten. Das ist eine der wichtigsten
Aufgaben für die weitere gemeinsame europäische Politik.
192
April 2005
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 193
Ivo SANADER
Ministerpräsident von Kroatien
Kroatien und Europa im Jahre 2020
Kroatien auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft
Seit Juni 2004 ist Kroatien ein Bewerberland für die Mitgliedschaft in der EU
und wird in Kürze offiziell Verhandlungen mit der Union über einzelne Kapitel des
Acquis aufnehmen und in diesem Zusammenhang sein Regierungssystem weiter
angleichen und modernisieren.
In den letzten Jahren hat Kroatien auf dem Gebiet der politischen Reformen
große Fortschritte gemacht, und als langfristige Aufgabe steht nun die Erhöhung
der Wettbewerbsfähigkeit der kroatischen Wirtschaft gegenüber den Mitbewerbern
aus der Union. Eine Voraussetzung für dieses wirtschaftliche Kriterium ist ein
funktionierendes Rechtssystem sowie gut ausgestattete und arbeitende Einrichtungen
für die Überwachung und Durchsetzung des Rechtsstaatsprinzips in einer freien
Marktwirtschaft. Dazu ist es notwendig, den Staat in Bezug auf seine ordnungspolitischen
und regelnden Funktionen zu stärken, gleichzeitig jedoch die aus Sicht
eines förderlichen wirtschaftlichen Wettbewerbs unerwünschten Interventionen
am Markt abzubauen. Dieser wirtschaftliche Aspekt der Anpassung an EU-Normen
ist eine logische Fortsetzung des Weges, den Kroatien seit Abschaffung des sozialistischen
Wirtschaftsmodells geht, das vor den Neunzigerjahren bestand.
Wir setzen auch weiterhin alles daran, unsere Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen;
die institutionellen und viele politische Voraussetzungen sind bereits gegeben
und weisen Kroatien als eine funktionierende Marktwirtschaft aus. Das wurde
auch von der Europäischen Kommission in ihrer Stellungnahme zum Beitrittsgesuch
Kroatiens anerkannt, das dem Rat im April 2004 übergeben wurde.
Diese Anerkennung ist das Ergebnis unserer systematischen Bemühungen um
die Errichtung einer Marktwirtschaft, Vollendung des Privatisierungsprozesses und
Aufnahme und Vertiefung der Handelsbeziehungen zu europäischen Partnern.
Das bisherige Ergebnis dieser Bemühungen sollte im Lichte der sozioökonomischen
und politischen Bedingungen betrachtet werden, wie sie im Anschluss an den
193
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IVO SANADER
Krieg bestanden. Angesichts der Auswirkungen dieser Geschehnisse auf den politischen
Spielraum in Kroatien kann ich voller Stolz erklären, dass die kroatische
Wirtschaft in jüngster Vergangenheit einen Aufschwung erlebt hat und dass die
Regierung in der Lage ist, sich durchaus langfristig um eine anhaltende Stabilität
der Volkswirtschaft, um steuerpolitische Konsolidierung und Strukturreformen zu
bemühen. Die Rahmenbedingungen für diese Bemühungen bietet das wirtschaftliche
Heranführungsprogramm, ein Planungsinstrument zur Beitrittsvorbereitung,
das die Europäische Union von den Mitgliedstaaten und Bewerberländern gleichermaßen
für (die Angleichung) ihrer Wirtschafts- und Währungspolitik fordert.
Diese gezielten Bemühungen um Reformen und Modernisierung im
Allgemeinen werden durch eine große politische Entschlossenheit von Regierung
und Parlament unterstützt. Mit zunehmendem Tempo des Integrationsprozesses
in die EU ist es der Führung des Landes gelungen, die Bereitschaft der verschiedenen
politischen Parteien für die offizielle Mitwirkung am europäischen Projekt
zu gewinnen. Bereits im Dezember 2002 nahm das kroatische Parlament eine
Entschließung an, in der sich alle im Parlament vertretenen Parteien einverstanden
erklären, den EU-Beitritt als vorrangiges außenpolitisches Ziel zu unterstützen.
Diese Zustimmung ermöglichte auch die Durchführung eines parlamentarischen
Eilverfahrens zur Angleichung von nationalen Rechtsakten an den Acquis.
Anfang 2005 schloss die regierende Kroatische Demokratische Gemeinschaft
(HDZ) mit der Opposition eine „Allianz für Europa“ mit dem Ziel, den
Beitrittsprozess aus allen parteipolitischen Auseinandersetzungen herauszuhalten.
In diesem Zusammenhang kann ich mit Freude feststellen, dass die konzertierten
Bemühungen nochmals bestätigt wurden und die Grundlage bildeten, als das
Parlament den Grundsätzen der Verhandlungen mit der EU und der Einrichtung
eines Nationalen Ausschusses für die Überwachung der Verhandlungen zustimmte
und gemeinsam mit der Regierung eine Erklärung zum gemeinsamen Vorgehen
im Verhandlungsprozess verabschiedete. Die Tatsache, dass der Vorsitzende der
größten Oppositionspartei zum Leiter des Nationalen Ausschusses für die Überwachung
der Verhandlungen ernannt wurde, beweist, in welch bemerkenswerter
Weise das EU-Integrationsprojekt die kroatische politische Szene und die
Bevölkerung, die sie vertritt, vereint.
Auch in Zukunft werde ich mich für eine ähnlich gute Zusammenarbeit und
Konsultation aller maßgeblichen Akteure in dieser Frage einsetzen, die die jetzigen
und zukünftigen Generationen Kroatiens unmittelbar betrifft. Die Notwendigkeit
der Zusammenarbeit bestärkt mich in meiner Begeisterung für Kroatiens weiteres
Voranschreiten auf dem Weg in die EU, zumal wenn man bedenkt, dass eine
effektive Zusammenarbeit von Regierung und Opposition in der Vergangenheit
kaum zu erreichen war. Die „Allianz für Europa“ zwischen Regierung und
Opposition beweist, dass die politische Zusammenarbeit in Kroatien einen beneidenswerten
Stand erreicht hat und dass Kroatien erfolgreich eine niveauvolle politische
Kultur entwickelt.
In diesem Sinne haben sich unsere Anstrengungen für die Reformierung unse-
194
Projet_Notre Vision DE 10/01/06 11:31 Page 195
KROATIEN UND EUROPA IM JAHRE 2020
rer Partei, die Kroatische Demokratische Gemeinschaft, in den vier Jahren, in
denen wir in der Opposition waren, mehr als gelohnt. Die von uns angestrebte
Reform war erfolgreich, denn sie machte es möglich, dass Offenheit und
Anerkennung der europäischen Ausrichtung Fuß fassen konnten und die
Herausforderung als der sicherste Weg für Weiterentwicklung akzeptiert wurde.
Darin sind wir uns einig mit den übrigen Mitgliedern der Familie der Europäischen
Volkspartei sowie mit all denen, die sich dem Erfolg des gemeinsamen europäischen
Projekts verschrieben haben.
Kroatiens Beitrag zum Europa des Jahres 2020
Auf den folgenden Seiten möchte ich darlegen, welchen Beitrag Kroatien
meiner Ansicht nach zum europäischen Projekt leisten kann, in das es hoffentlich
bald aktiv eingebunden ist.
Erstens: Wir haben innenpolitische Reformen in Angriff genommen, um neue
politische Normen für unsere eigene Gesellschaft festzulegen, gleichzeitig aber
auch in der Absicht, ein Beispiel für andere Länder im benachbarten Südosteuropa
zu geben.
Kroatien ist ein mitteleuropäisches Land, das in sich die mediterrane Kultur
und die mitteleuropäische Kultur der Donauregion vereinigt. Dank seiner geopolitischen
Lage und der bereits erreichten Fortschritte bei der Angleichung an
EU-Normen kann Kroatien die Rolle eines Bindeglieds zwischen der EU und
Südosteuropa spielen. Durch unsere positive Politik gegenüber unseren Nachbarn
im Osten dürften wir zu einem Vorbild für EU-Standards in dieser Region werden,
deren Geschichte, Sprachen, Mentalität und Schwierigkeiten wir nur zu gut
kennen.
Mit dieser Vision vor Augen haben wir die Ärmel hochgekrempelt und bei uns
selbst mit den Veränderungen angefangen. Kroatien bemüht sich aktiv um
Versöhnung im Lande, und der Wandel hin zu einer modernen Gesellschaft, die
ihre Bürger und deren kulturelle Vielfalt achtet, ist gelungen. Diese Regierung fühlt
sich voll und ganz einer stärkeren sozialen Integration der nationalen Minderheiten
verpflichtet. Inzwischen ist dieser Prozess so weit fortgeschritten, dass Minderheiten
sowohl auf nationaler als auch lokaler Ebene politisch integriert sind. So sind
alle Vertreter nationaler Minderheiten im kroatischen Parlament Partner meiner
Regierungskoalition. In diesem Sinne sind sie aktiv und systematisch an der
Entscheidungsfindung in meinem Lande beteiligt und übernehmen die
Verantwortung für deren Ergebnisse und künftige Ausrichtung. Das erreichte
Niveau der Mitwirkung der Minderheiten an der Staatspolitik kann als beispielgebend
nicht nur für Südosteuropa, sondern auch für andere Teile unseres
Kontinents angesehen werden.
In den Einheiten der regionalen und kommunalen Selbstverwaltung wurden
Wahlen für Minderheitenräte und deren Vertreter durchgeführt. Vorgesehen ist,
dass diese Räte die Organe der lokalen Selbstverwaltung bei Maßnahmen für
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IVO SANADER
Minderheiten beraten, um deren Position zu stärken. Zu dieser institutionellen
Neuerung fanden Schulungen statt, bei denen die Organe der lokalen
Selbstverwaltung darin angeleitet wurden, wie sie die Arbeitsweise der
Minderheitenräte unterstützen und wirksam mit ihnen zusammenarbeiten können.
Wir setzen in dieses institutionalisierte Element der Zusammenarbeit zwischen
Zivilgesellschaft und Regierung, die meiner Ansicht nach ganz im Einklang mit
der Tendenz zu progressiver Staatsführung andernorts in Europa steht, große
Erwartungen.
Ein weiterer kroatischer Beitrag zum Europa des Jahres 2020 besteht darin, dass
die kroatische Regierung keine Gelegenheit versäumt, ihre ökumenische Überzeugung
zum Ausdruck zu bringen. Ich bin der erste kroatische Ministerpräsident,
der – bisher zweimal – an die serbische orthodoxe Gemeinschaft eine Botschaft
für eine gesegnete Weihnacht aller Gläubigen gerichtet hat. Ich habe das aus
ehrlicher Überzeugung und in der großen Hoffnung getan, dass diese und ähnliche
Gesten dazu beitragen mögen, uns den traditionellen Säulen der östlichen
und der westlichen Gesellschaft – der römisch-katholischen und der orthodoxen
Kirche – näher zu bringen. In einer Zeit, da ein auf religiöser Überzeugung
beruhender guter Wille gegenüber allen Mitmenschen der allgemeingültige und
aussagekräftigste Ausweis in dieser Welt der Differenzen ist, stellt eine solche
Annäherung meines Erachtens nach ein Ziel dar, das sowohl Kroatien und diese
Region als auch Europa selbst anstreben sollten.
Es liegt im Interesse Kroatiens, die Kommunikation mit der Zivilgesellschaft
generell zu intensivieren. Dieser Prozess ist im Hinblick auf unseren Beitritt nicht
nur unabdingbar, sondern auch für unseren aktiven Beitrag zu den
Entscheidungsprozessen in der Union unerlässlich. Vor der Aussprache über die
Zukunft der Union findet eine Debatte statt, bei der es darum geht, dass Staaten
und Völker das gemeinsame EU-Projekt verstehen und es als unmittelbar mit
der Verwirklichung ihrer individuellen Ziele in Verbindung stehend betrachten.
Ausgehend von den vorstehend genannten Fortschritten in Kroatien besteht
der dritte Aspekt seines Beitrags zum Europa des Jahres 2020 in seiner Rolle als
Bindeglied zwischen der EU und Südosteuropa.
Da andererseits die Aussichten, dass diese Region in die Union eingegliedert
wird, immer näher rücken, kann Kroatien viele eigene Erfahrungen aus diesem
Prozess in eine verantwortungsbewusste Erweiterung und die Gestaltung des
Lebens in einer noch stärker erweiterten Europäischen Union einbringen. Dieses
Angebot kann angesichts dessen, dass die Region gegenwärtig immer noch nach
einem machbaren und dauerhaften Frieden und Stabilität sucht, mit Fug und
Recht ernst genommen werden.
Die politische Zusammenarbeit, von der ich spreche, ist für einen effizienten
und ungehinderten Prozess der EU-Integration von Bedeutung. Mehr noch:
sie bestätigt das Engagement des Landes für eine wesentlich umfassendere
Entwicklungsagenda. Verpflichtungen, die wir in diese Richtung übernehmen,
unterstreichen unsere Bereitschaft, ein aktiver Partner Europas zu werden, wenn
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KROATIEN UND EUROPA IM JAHRE 2020
es diese Region aufnimmt und wenn es zur Heimat für alle friedliebenden, demokratischen
Nationen wird, die sich in den vergangenen Jahren entschlossen
haben, eine neue Seite in ihren Geschichtsbüchern aufzuschlagen.
Gemäß seinem außenpolitischen Ziel, das Bindeglied zwischen der EU und
Südosteuropa zu sein, hat Kroatien seine stabilisierende Rolle in der Region ernst
genommen. Im Oktober 2004 haben wir eine Charta für gute Nachbarschaft,
Stabilität, Sicherheit und Zusammenarbeit in Südosteuropa unterzeichnet, wodurch
Kroatien Mitglied des Südosteuropäischen Kooperationsprozesses (SEECP) wurde.
Die innere Logik dieser und anderer regionaler Rahmenbedingungen für die
Zusammenarbeit besteht im Ausstrahlungseffekt, den wir oftmals mit den Anfängen
der Europäischen Union selbst in Verbindung bringen: Wenn konkrete
Beziehungen und Interessen erst einmal (wieder) hergestellt sind, verstärkt und
vertieft sich naturgemäß die Zusammenarbeit. Und genau von dieser Form der
konkreten und zukunftsweisenden Zusammenarbeit zeugt Kroatiens positive
Haltung gegenüber regionalen Initiativen zur Bekämpfung der organisierten
Kriminalität, der Liberalisierung des Handels, des Aufbaus von Infrastrukturnetzen
im Bereich Verkehr und Energie, für parlamentarische Zusammenarbeit usw. Je
größer die Zahl der Parteien ist, die an einer regionalen Zusammenarbeit interessiert
sind, desto besser stehen die Chancen für eine langfristige Stabilität zwischen
Nachbarn.
Mit der gleichen Absicht unternimmt Kroatien auch auf bilateraler Ebene
Anstrengungen. Ich möchte in diesem Zusammenhang unterstreichen, dass sich
unsere Beziehungen zu Bosnien und Herzegowina deutlich verbessert haben,
wobei sich der Schwerpunkt mehr und mehr von politischen Fragen auf technische
und wirtschaftliche Aspekte verlagert. Wir fördern mit aller Kraft den
Reformprozess des Landes, der auf die Integration in EU und NATO gerichtet
ist, und unterstützen Bemühungen zur Gewährleistung der Gleichbehandlung
der drei Volksgruppen sowie der nachhaltigen Rückkehr der Flüchtlinge und
Vertriebenen. Kroatiens Unterstützung in diesem Bereich geht Hand in Hand mit
den unaufhörlichen Bemühungen der internationalen Gemeinschaft in diesem
Land. Aufgrund seiner positiven Maßnahmen gegenüber Bosnien und
Herzegowina nimmt Kroatien auch am historischen Dialog zwischen der EU und
dem Islam teil, denn der Islam ist die vorherrschende Religion einer der
Volksgruppen in Bosnien und Herzegowina.
Kroatien hat auch die Beziehungen zu Serbien und Montenegro ausgebaut.
Unser Ziel ist es, gutnachbarliche Beziehungen durch einen offenen Dialog herzustellen.
Aus diesem Grunde war ich auch der erste kroatische Ministerpräsident
nach Kroatiens Unabhängigkeit, der Belgrad Ende 2004 einen offiziellen Besuch
abstattete. Wir erzielten Übereinkommen zum systematischen Schutz der nationalen
Minderheiten in beiden Ländern sowie zur Stärkung der wirtschaftlichen
Zusammenarbeit. Kroatien hat seine Bereitschaft erklärt, seine Erfahrungen im
Prozess der EU-Integration und im Reformprozess im Allgemeinen weiterzugeben.
Die von uns angebotene zukünftige Zusammenarbeit ist ein hervorragender
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IVO SANADER
Beweis des guten Willens, denn Kroatien hat viel erreicht und tut alles in seinen
Kräften Stehende, um das Problem der Rückkehr der Serben zu lösen, die während
des Krieges Zuflucht in Serbien und Montenegro gesucht hatten.
Bemühungen um die Herstellung praktikabler Beziehungen in der Region
sind kein Nebenprodukt des kroatischen Integrationsprozesses in die EU, sondern
eine Priorität an sich. Auch wenn wir unsere Augen auf den Beitritt zur
Europäischen Union richten, bleibt unsere Heimat doch die Region. Das Ziel,
das wir uns setzen sollten und das auch mit der politischen Agenda der EU in
Südosteuropa in Einklang steht, besteht daher eher in einer starken und weniger
in einer formalen und oberflächlichen Zusammenarbeit. Wie auch im Falle der
EU-Integration liegt dem der Gedanke zugrunde, dass die Länder mit der Aussicht,
Wohlstand durch Zusammenarbeit zu schaffen, die Gefahr wirtschaftlicher Not und
geopolitischer Unsicherheit aus der Welt schaffen, die ihre individuelle soziale,
politische und kulturelle Entwicklung bedroht. Jetzt gilt es, Umfang und Form einer
Zusammenarbeit festzulegen, die der Entwicklung der Beteiligten dient.
Ein weiterer wichtiger Beitrag, den Kroatien als Mitgliedstaat der EU leisten
kann, ergibt sich daraus, dass es eines der wenigen europäischen Länder ist, die
über aktuelle Erfahrungen mit der Teilnahme an einer multinationalen Föderation
verfügen. Aufgrund dessen wissen wir genau, welche Konzepte und Maßnahmen
geeignet sind, um den Wunsch der Menschen nach Freiheit, Identität und
Wohlergehen in einem multinationalen Organismus wie der Europäischen Union
erfüllen zu können.
Jetzt, da wir am Anfang eines weiteren Projekts einer Gemeinschaft von
Nationen stehen, dürfen wir nicht vergessen, was uns die Vergangenheit über
andere und über uns selbst gelehrt hat. Dieses Wissen ist von größtem Wert
innerhalb einer Union, die zur Heimat einer stetig wachsenden und vielfältiger
werdenden Gruppe von Mitgliedstaaten wird. Daher muss die Union alles daransetzen,
das Gespräch zwischen ihren Mitgliedern in Gang zu halten, zuzuhören
und die Erfahrungen und die Weisheit jedes einzelnen Mitgliedstaats zu nutzen.
Der europäische Bürger des Jahres 2020 schließlich muss in verschiedenen
europäischen Kulturen und Sprachen arbeiten und leben und mit diesen Kulturen
und der Mentalität ihrer Menschen vertraut werden. In dieser Hinsicht besitzt
Kroatien bereits umfangreiche Erfahrungen. Ausgehend von Kroatiens historischen
Kontakten zu deutsch-, italienisch- und ungarischsprachigen Gebieten,
der starken Orientierung des Landes auf den Fremdenverkehr und insbesondere
einer großen kroatischen Diaspora im englisch- und deutschsprachigen Raum
gibt es bereits heute viele kroatische Bürger, für die Mehrsprachigkeit Teil ihrer
Identität ist.
In dieser Hinsicht kann Kroatien neben einigen anderen kleineren europäischen
Nationen, die ähnliche multilinguale Merkmale aufweisen, als Modell für
Europas Zukunft dienen.
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Unsere Wege kreuzen sich
KROATIEN UND EUROPA IM JAHRE 2020
Abschließend möchte ich mich noch zu den Aufgaben äußern, die Kroatien
zu lösen hat, da sie meiner Meinung nach denen vergleichbar sind, vor denen auch
die EU steht. Die kurze Zeit, in der Kroatien jetzt unabhängig ist, hat uns vor
viele Herausforderungen gestellt. Möglicherweise ist das Schlimmste geschafft, doch
mit ruhigen Zeiten ist nicht so bald zu rechnen. Ich bin weder verantwortungslos
noch gefühllos, wenn ich sage, dass ich darüber nicht verzweifelt bin, denn
ich sehe den Weg meines Landes als unaufhörliche Verbesserung und
Vervollkommnung. Deshalb sind wir optimistisch, wenn unser administratives
und demokratisches System durch die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft jetzt
vor der Herausforderung steht, in Bezug auf Effektivität, Transparenz, Demokratie
und Staatsführung im Allgemeinen immer besser zu werden.
Wenn sich heute die Mehrzahl der kroatischen Bevölkerung für die
Weiterführung dieser verschiedenen Projekte ausspricht, so beweist das den
guten Willen und die Beharrlichkeit unserer Bürger. Wir wollen voll und ganz zur
europäischen Familie gehören, das europäische Modell und die Normen akzeptieren,
die die Politik regulieren und leiten, sowohl die „hohe Politik“ als auch die
„Politik im Kleinen“. Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass die Standhaftigkeit
des europäischen Integrationsprojekts und sein Erfolg seine Machbarkeit auch in
Zukunft unter Beweis stellen. Dennoch verschließen wir nicht die Augen vor
den Problemen der Union und den noch offenen Fragen, und wir hegen nicht
die Illusion, dass dieser Weg zu Ende ist, wenn wir erst in der Europäischen
Union sind.
Wenn die Europäische Union – wie auch Kroatien – auch weiterhin
Herausforderungen gern annimmt, braucht man sich keine Sorgen über Europas
Zukunft im Jahre 2020 und darüber hinaus zu machen. Das Rezept für den
Wandel ist klar und eindeutig: Man muss die eigenen Schwächen kennen und
bereit sein, daran zu arbeiten. Vor allem darf man nicht vergessen, dass das
Projekt „Europäische Integration“ genau das ist, was es bedeutet: ein Projekt.
Damit hat es weder ein vereinbartes Endziel noch einen vorgeschriebenen Weg,
den man gehen muss. Um ihre Bedeutung und ihren Mehrwert zu bewahren, muss
die Union offen und flexibel bleiben. In diesem Zusammenhang scheint es mir
angebracht, an die Worte des Willkommens zu erinnern, mit denen die EU in
der Vergangenheit oft die unter uns begrüßt hat, die noch draußen stehen, sozusagen
an der Türschwelle. Diese Worte bieten Stoff zum Nachdenken für die
Europäische Union selbst. Sie lauten in etwa: Wir freuen uns, dass sich unsere Wege
kreuzen, denn auch Sie haben ein großes Potenzial.
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April 2005
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Jacek Emil SARYUSZ-WOLSKI