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Die Struktur des Bewusstseins - consciousness

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1<br />

Künstliche Propheten<br />

Einleitung<br />

Um einen Computer zu bauen, der menschliches Bewusstsein besitzt, ist es vorteilhaft zu<br />

wissen, was Bewusstsein, Denken, Kognition usw. sind. Eine Methode, es herauszufinden<br />

besteht darin, extreme Fälle, sog. Singularitäten, zu studieren. <strong>Die</strong> deutsche Mentalität<br />

stellt eine solche Singularität dar. In ihr ist es möglich, bei vollem Bewusstsein Stimmen<br />

zu hören und ihnen zu gehorchen, ohne schizophren zu sein. In der Vergangenheit waren<br />

die Deutschen den Stimmen von Adolf Hitler und Josef Goebbels gehorsam. Wie ist es zu<br />

erklären, dass die Deutschen, wie auch andere Europäer, ihre Fähigkeit verloren haben,<br />

sich gegen den Islam zu verteidigen, den sie über Jahrhunderte immer wieder<br />

zurückdrängen konnten? Weil sie mit ihm die gleiche Mentalität teilen, auf Stimmen zu<br />

hören und ihnen zu gehorchen. Hitler verteilte Volksempfänger, damit seine Stimme jeden<br />

erreichte, und der Muezzin ruft die Gläubigen fünfmal täglich zum Gebet. - <strong>Die</strong>se Stimmen<br />

nun können auf künstlichen Systemen emuliert werden, und die <strong>Bewusstseins</strong>-Theorie von<br />

Jaynes beschreibt die nötige <strong>Struktur</strong>.<br />

I. <strong>Die</strong> <strong>Struktur</strong> <strong>des</strong> Jaynes-<strong>Bewusstseins</strong><br />

Das Werk von Julian Jaynes 1 hat einen strukturellen und einen inhaltlichen Aspekt, die das<br />

Bewusstsein als reines bzw. angewandtes betrachten. Angelehnt an Kant kann man von<br />

einer Kritik <strong>des</strong> reinen <strong>Bewusstseins</strong> und einer Kritik <strong>des</strong> sich bewussten <strong>Bewusstseins</strong><br />

sprechen. Letzteres, d.h. die Tatsache, dass man nicht bewusst sein kann, ohne sich eines<br />

Gegenstan<strong>des</strong> bewusst zu sein, entspricht Kants transzendentalem Ich. <strong>Die</strong>ser pragmatische<br />

Aspekt behandelt die “Stimmen“ <strong>des</strong> “bikameralen“ Verstan<strong>des</strong>, wie Jaynes ihn nennt, und<br />

deren Spuren in der Gegenwart. Der bikamerale Verstand ist durch strukturierte Inhalte,<br />

eben die “Stimmen,“ gekennzeichnet. Das reine Bewusstsein wird durch<br />

<strong>Struktur</strong>eigenschaften <strong>des</strong> inneren, nur vorgestellten Raumes beschrieben, nämlich das<br />

metaphorische und das analoge Ich. Es besteht daher aus der Trinität von analogem Ich<br />

(Vater), metaphorischem Ich (Sohn) und dem vorgestellten Raum, der beide unterscheidbar<br />

macht. In der Physik gibt es eine vierte Kraft, die den Raum, natürlich den äußeren,<br />

physikalischen, formt: die Gravitation. Gibt es auch im Bewusstsein eine vierte Kraft?<br />

Analog von der Physik her schließend müssten wir ihr folgende Eigenschaften zusprechen:<br />

Sie muss formalisierbar sein und <strong>Struktur</strong>en und Größen entweder determinieren oder<br />

durch sie determiniert werden, wobei die <strong>Struktur</strong>en konstant und die Größen variabel sind.<br />

<strong>Die</strong>s erinnert an Semantik und Syntax von Sprache. Innerhalb <strong>des</strong> reinen <strong>Bewusstseins</strong> hat<br />

Sprache die Funktion <strong>des</strong> Logos im Sinne der Stoa und <strong>des</strong> 4. Evangeliums. Dessen Logos-<br />

Begriff muss im Sinne <strong>des</strong> reinen <strong>Bewusstseins</strong> nach Jaynes verstanden werden. <strong>Die</strong>ses<br />

besitzt die 4-faktorielle <strong>Struktur</strong> aus metaphorischem Selbst, analogem Ich, vorgestelltem<br />

Raum und Vernunft. <strong>Die</strong>ser stellt die kulturevolutive Quintessenz aus den “Stimmen“ der<br />

bikameralen Psyche dar. Beim Übergang von der bikameralen Psyche zum reinen<br />

Bewusstsein wurden die Wahrnehmungen (Stimmen) und deren Inhalte zur reinen Form,<br />

dem “Logos.“ “Stimmen“ zu hören setzt den Verlust der <strong>Struktur</strong> <strong>des</strong> <strong>Bewusstseins</strong> voraus.<br />

<strong>Die</strong> Abstraktionsleistung, aus der diese resultiert, muss also permanent erbracht werden, da<br />

1 (1922-1997); Der Ursprung <strong>des</strong> <strong>Bewusstseins</strong> aus dem Zusammenbruch der bikameralen Psyche. Reinbek:<br />

Rowohlt 1988. (Englisch 1976). - <strong>Die</strong>ser Artikel referiert die Theorie von Julian Jaynes nicht, sondern<br />

geht von ihr aus. Einen Einstieg bietet /JJ 1988 dt.pdf/ auf dieser Webseite.


die <strong>Struktur</strong> von ihr abhängt.<br />

2<br />

*************************************************************************<br />

*<br />

Bikamerale Psyche * Bewusstsein<br />

*<br />

**************************************************************************<br />

reines<br />

Bewusstsein äußerer Gott * innerer Gott<br />

analoges Ich außen * analoges Ich innen<br />

wirkliches Selbst * metaphorisches Selbst<br />

äußerer Raum * vorgestellter Raum<br />

Stimme * Vernunft<br />

***************************************************************************<br />

intentionales<br />

Bewusstsein sequenzielle Episteme, * begriffsgebundene<br />

an Syntax gebunden * Episteme, in Ideen repräsentiert<br />

***************************************************************************<br />

Tafel 1.<br />

Der Begriff <strong>des</strong> vorgestellten Raumes ist somit für Jaynes-Bewusstsein zentral,<br />

vereinfachend gesagt, setzt Jaynes Bewusstsein und vorgestellten Raum gleich. In der<br />

bikameralen Psyche ist das analoge Ich außerhalb <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong> lokalisiert. Es wird von<br />

Göttern repräsentiert, die hör- und sichtbar sind, wenngleich nur der jeweiligen Person<br />

selbst, zu der sie sprechen. Im Bewusstsein verwandeln sich diese äußeren<br />

Repräsentationen kognitiver Funktionen in das interne analoge Ich, das keine sichtbare<br />

Gestalt besitzt und unhörbar ist. 2 Es “spricht,“ indem es Gedanken komponiert. Von einer<br />

Rede unterscheidet sich ein Gedanke dadurch, dass er sprachlich auf verschiedene Weise<br />

ausgedrückt werden kann, dadurch, dass er, wie in der Kunst, ohne Worte auskommen<br />

kann und dadurch, dass er in einem Begriff enthalten sein kann. Im Alten Testament, in der<br />

Ilias und in den antiken Epen (Gilgamesch, Veden) gibt es keine Begriffe. Jede Vorstellung<br />

muss sequenziell dargelegt werden, und sie ist erst dargestellt, wenn das Ende der Sequenz<br />

erreicht ist, nicht eher. Ihr Inhalt variiert mit der Wahl der Worte. <strong>Die</strong>se sequenzielle Form<br />

der Begriffe beweist, dass der Verstand seine Syntax nicht selbst produzieren kann,<br />

sondern sie importieren muss. Im alten Ägyptisch gibt es nur Semantik, Bedeutung, keine<br />

Syntax. Letztere wird durch die zweidimensionale Fläche ersetzt, in die die Semantik<br />

hineingemeißelt wird. 3 <strong>Die</strong> Fläche speichert die dem Inhalt zugehörige Syntax. Ästhetik,<br />

nämlich das Betrachten der Fläche, ist diejenige Funktion, die die Syntax importiert.<br />

Steinzeitkulturen nutz(t)en nicht das Sehen, sondern das Hören für diese Funktion. In den<br />

Sissi-Filmen klopft der Zeremonien-Meister dreimal mit einem Stock auf den Boden, um<br />

ihr Erscheinen anzukündigen. Ebenso klopfte der Schamane auf der Osterinsel mit einem<br />

Stock den Takt und sang dazu zwar nicht “den Zorn <strong>des</strong> Achill,“ sondern den welches<br />

Helden auch immer. Der Zeremonialstock war mit Hieroglyphen übersät, die der Schamane<br />

jedoch nicht lesen konnte. Er kannte statt<strong>des</strong>sen ihren Sinn, und diesen in die richtige, sinnvolle<br />

Reihenfolge zu bringen genügte der Takt, der Rhythmus. Nicht der Parietal-Lappen,<br />

die Sehrinde, sondern der Taktgeber im Gehirn evozierte die Syntax. Da letzterer in einer<br />

älteren Gehirn-<strong>Struktur</strong> lokalisiert ist, ist diese Methode die “primitivere.“<br />

Wenn die Hypostase “Gott“ die dreidimensionale Oberfläche <strong>des</strong> menschlichen Körpers<br />

nach Innen durchschreitet, wird sie stumm und unsichtbar, und ihre Sequenzen erstarren zu<br />

Begriffen. <strong>Die</strong> dreidimensionale Oberfläche schließt sich wieder und beherbergt nun ein<br />

2 oder, nach Freud, nur sehr leise spricht: “<strong>Die</strong> Vernunft redet mit leiser Stimme, aber sie schweigt nicht.“<br />

3 Assmann, Jan: Stein und Zeit. DA: wbg 2003 3 .


3<br />

dreidimensionales Inneres, den vorgestellten Raum. Erwartungsgemäß variiert <strong>des</strong>sen<br />

Ausdehnung mit der Größe der inkorporierten Hypostase. Steinzeitliche Idole sind winzig,<br />

Skulpturen von Menschen riesig. Idole <strong>des</strong> bewussten Zeitalters sind riesig, 4 <strong>des</strong>sen<br />

Menschendarstellungen im Vergleich winzig, gelegentlich sogar verboten. 5 <strong>Die</strong> Evolution<br />

<strong>des</strong> menschlichen Verstan<strong>des</strong> bildet sich als Evolution <strong>des</strong> Begriffes vom Raume ab.<br />

<strong>Die</strong>ser Verstan<strong>des</strong>-Raum kann innerhalb oder außerhalb seiner dreidimensionalen Höhle,<br />

<strong>des</strong> Körpers, existieren. Er kann groß oder klein sein, vorhanden oder abwesend, und er<br />

kann 2 oder 3 <strong>Die</strong>mensionen besitzen. Der vorgestellte Raum hat natürlich stets 3<br />

Dimensionen, der Mensch der Steinzeit aber erhob seine Augen nicht zum Himmel. Er<br />

lebte in der 2-dimensionalen Umgebung der Natur und entnahm seine Götter ihrem<br />

Angebot an Geschöpfen. <strong>Die</strong> Evolution <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong> als Raum ist erklärungsbedürftig.<br />

Der Steinzeit-Mensch hat keine eigene Geschichte. Geschichte haben seine Götter und die<br />

Heroen seiner Mythen. <strong>Die</strong> Zeit vor seiner eigenen war eine geschichtliche, mit Göttern<br />

und Helden als Handelnden, er selber lebt in einer ewigen Gegenwart. <strong>Die</strong> Geburt einer<br />

Hochkultur fällt mit der symmetrischen Umkehr dieser beiden Begriffe von Zeit, der<br />

mythischen und der historischen, zusammen. Nach der Umkehr wird die mythische Zeit als<br />

ewige Gegenwart verstanden, während die irdische sich mit dem Gewand der Geschichte<br />

bekleidet. <strong>Die</strong>ses Gewand entfaltet sich, wird sequenziell, und die Ereignisse, aus denen es<br />

gewebt ist, stehen in einem kausalen Zusammenhang. <strong>Die</strong> resultierenden Kulturleistungen<br />

sind also kausal von der Zeitumkehr abhängig. <strong>Die</strong>sen Zeitbegriff lehrt Athene 6 den Achill,<br />

wenn sie sagt: “Wenn du siehst, wie X geschieht, dann tue Y.“ Das Epos, sequenziell und<br />

unkürzbar, ist das Ursymbol 7 <strong>des</strong> Begriffs von Zeit als Geschichte. - <strong>Die</strong>se Umkehrung nun<br />

könnte endogenes Ereignis einer biologischen Evolution sein. <strong>Die</strong>s wäre ein Spenglersches<br />

Modell, wonach eine Kultur zu vorbestimmten Zeiten Entwicklungen wie ein einzelner<br />

Mensch durchlebt.<br />

Alternativ könnte man annehmen, dass solche Wandlungen durch exogene Kräfte<br />

verursacht werden, insbesondere dadurch, dass ein Volk von einem anderen erobert und<br />

unterdrückt wird. <strong>Die</strong>s hört sich wahrscheinlicher an und entspricht Jaynes' Theorie von der<br />

Entstehung <strong>des</strong> <strong>Bewusstseins</strong> als Folge von Begegnungen zwischen Kulturen, die um den<br />

selben Lebens-Raum konkurrierten. <strong>Die</strong> unendliche Nähe <strong>des</strong> Unvereinbaren bewirkt eine<br />

Umkehr der Zeit. 8 Raum und Zeit sind die primae causae differentiae und vertreten sich<br />

als solche gegenseitig. <strong>Die</strong> letzte Ursache ist folglich Bifurkation, die als Kraft zu<br />

verstehen ist. Das Eine gibt es nicht, es gibt nur Bifurkation. Das Eine ist Bifurkation. Das<br />

Unvereinbare besteht in 2 verschiedenen Kulturen, 2 Sprachen, 2 unterschiedlichen Weisen<br />

<strong>des</strong> Auftretens, deren Nähe dadurch unerträglich wird, dass die eine die andere unterdrückt<br />

oder den selben Lebensraum mit ihr teilt, wie es in einem mit ummauerten Städten<br />

übersäten Land der Fall ist, deren jede ihren eigenen Volksstamm beherbergt.<br />

Wir beobachten also folgen<strong>des</strong>: In der Vorzeit finden wir winzige Abbilder von Göttern<br />

und riesige von Menschen. <strong>Die</strong>se leben in einer Zeit, die zwar zyklisch sein mag aufgrund<br />

ebensolcher Veränderungen in der Natur, nicht aber als Geschichte erscheint. In der<br />

Abfolge der Generationen ersetzt ein Individuum das vorhergehende, ohne dass sich diese<br />

Abfolge zu einer Geschichte entfaltet. Geschichte wird vielmehr den Göttern und Heroen<br />

4 Kathedralen etc.<br />

5 Bilderstürme in der Orthodoxie und im Protestantismus<br />

6 in der Ilias<br />

7 im Sinne Spenglers<br />

8 <strong>Die</strong>s ist ein Naturgesetz, das für Geist und Materie gleichermaßen gilt und von Boscovich (1711 - 1787)<br />

entdeckt wurde.


4<br />

und dem ihnen eigenen, mythischen Zeitalter attribuiert, welches endete, als der Mensch<br />

geschaffen wurde. Geschichte wird als Traum verstanden, der in einer Traumzeit spielt.<br />

Seit dem Ende derselben leben Götter und Heroen in ewiger Gegenwart in ihrem eigenen<br />

Reich, von wo aus sie mit dem Menschen kommunizieren. <strong>Die</strong>ser hört sie als Stimmen.<br />

Der Quell seiner Vorstellungen liegt außerhalb seiner selbst, als seien sie Wahrnehmungen.<br />

Sie haben die Gestalt von Ganzheiten, die aus unverkürzbaren Sequenzen bestehen.<br />

In Hochkulturen sind die Bilder der Götter riesig und die der Menschen winzig. Der<br />

Einzelne versteht sich als einzigartig und sein Volk als geschichtlich. <strong>Die</strong> Götter leben in<br />

einer stillstehenden Zeit in einem anderen Raum. <strong>Die</strong> Geschichte spielt sich auf der Erde<br />

ab, während die Götter, obwohl sie sie leiten und beschützen, ewig ruhen. Sie sprechen<br />

nicht zu den Menschen, wohl aber sprechen diese zu ihnen, in Gebeten, Riten und<br />

speziellen Symbolen. Der Mensch ist ein Kommunikator, und alle Geschichte ist zugleich<br />

Botschaft. Der Quell seiner Vorstellungen liegt innerhalb seines Körpers, und sie haben die<br />

Form von Begriffen.<br />

*************************************************************************<br />

*<br />

bicameral mind * <strong>consciousness</strong><br />

*<br />

**************************************************************************<br />

*<br />

history of gods sequential (flowing) * static, concepts<br />

*<br />

*<br />

history of man static * dynamic, sequential<br />

*<br />

**************************************************************************<br />

*<br />

statues of gods tiny * huge<br />

*<br />

statues of man huge * tiny<br />

*<br />

***************************************************************************<br />

*<br />

form of cognitions sequential * static, concepts<br />

*<br />

source of cognitions external hypostases * internal, abstract, unknown,<br />

* imperceivable<br />

*<br />

**************************************************************************<br />

tiny idols * man<br />

communicating * communicating<br />

*<br />

*<br />

huge man * gods<br />

listening to voice * listening to prayers<br />

*<br />

***************************************************************************<br />

Table 2.<br />

Das Winzige ist Eigentümer der Geschichte, der sequenziellen Zeit, der göttlichen Stimme.<br />

Es kommuniziert. Das Riesige ist Eigentümer der stillstehenden Zeit und hört zu. Nur,<br />

indem das Winzige in das Riesige inkorporiert wird, beginnt auch dieses zu<br />

kommunizieren. <strong>Die</strong>ser Zustand entspricht dem Bewusstsein. <strong>Die</strong> “Stimmen“ <strong>des</strong> Jaynes-


5<br />

<strong>Bewusstseins</strong>, also die Fähigkeit zu kommunizieren, sind Eigentum <strong>des</strong> Winzigen,<br />

während die Fähigkeit zuzuhören, also zu erkennen, Eigentum <strong>des</strong> Riesigen ist. Letzteres<br />

beginnt erst dann zu kommunizieren, wenn es das Winzige inkorporiert hat.<br />

Offenbar wird das Gefäß gespeicherten Wissens als riesig, die Quelle <strong>des</strong> Wissens als<br />

winzig vorgestellt. Wissen wird als raumfordernder Körper verstanden, als res extensa. <strong>Die</strong><br />

das Wissen kommunizierende <strong>Struktur</strong> erscheint als winzig, als <strong>des</strong> Raumes unbedürftig,<br />

als res cogitans. Wahrnehmung, Ästhetik als Funktion, reizt das Wernicke'sche<br />

Sprachzentrum, welches dann den wahrgenommenen Raum taktet. Rhythmus reizt das<br />

Broca'sche Sprachzentrum, indem er Zeit taktet. In beiden Fällen erzeugt Takt Syntax. Er<br />

ist hinreichend für Syntax. Man sieht dies an den Rhapsoden aller Zeiten von Homer bis<br />

zur Osterinsel. Ihre Epen sind durch Reime Rhythmen getaktet. <strong>Die</strong>jenige Fähigkeit, die<br />

den Takt enthält, ist das Hören. Das Hören, aufgrund dieses Kernels, vermag Diskrepanzen<br />

in der Welt zu erkennen. Erkenntnis ist Erkenntnis von Diskrepanzen, Unterschieden,<br />

Unvereinbarkeiten, Unstimmigkeiten. Da der Kernel aus rhythmisierter Zeit besteht, folgt,<br />

dass alles Geschaffene von der Zeit geschaffen wurde, oder von dem Äquivalent der Zeit<br />

im Verstande. - Tafel n 1 & 2 fassen das Gesagte zusammen.<br />

A. II. Hermetik<br />

1. Kant<br />

In der Philosophie Kants werden die Funktionen <strong>des</strong> reinen Verstan<strong>des</strong> zwar aposteriorisch<br />

ausgelöst, jedoch durch die empirische Erfahrung nicht modifiziert. Sie liegen dieser<br />

Erfahrung voraus und machen diese erst möglich. <strong>Die</strong> Funktionen <strong>des</strong> reinen Verstan<strong>des</strong><br />

sind Vernunft, Wille und Wahrnehmung. Sie arbeiten grundsätzlich konstruktiv. Ihre<br />

<strong>Struktur</strong> hat Gesetzes-Charakter, und die erzeugten empirischen Phänomene verstehen wir<br />

nach Maßgabe dieser Gesetze. <strong>Die</strong> übersinnlichen, nicht-empirischen Objekte werden<br />

ebenfalls von ihnen konstruiert. In der Philosophie machen sie den Gegenstandsbereich der<br />

Metaphysik aus. Er umfasst die Themen Gott, Freiheit <strong>des</strong> Willens und Unsterblichkeit der<br />

Seele. Unsere Begriffe von Gott, Freiheit und Seele sind anschauungsfrei, weshalb die<br />

beiden Kriterien, nach denen die Vernunft urteilt, nämlich der Satz <strong>des</strong> Widerspruchs und<br />

der Satz vom zureichenden Grunde, auf sie nicht anwendbar sind. Von jenen Dingen ist<br />

folglich keine Erkenntnis möglich, da der Vernunft nur Urteile über Gegenstände der Sinne<br />

möglich sind. Das apriorische Gesetz, nach dem sie urteilt, d.h. in Kategorien einordnet, ist<br />

ethischen Ursprungs. <strong>Die</strong> reine Vernunft enthält nur das Sittengesetz. Es anzuwenden ist<br />

Sache <strong>des</strong> Willens, <strong>des</strong>sen Ausübung den apriorischen Begriff der Freiheit konstituiert. <strong>Die</strong><br />

apriorische Wahrnehmung oder Intuition hat die Formen von Raum und Zeit, durch die das<br />

Gesetzhafte auf die Natur projizierbar wird. <strong>Die</strong> apriorisch konstruierten Begriffe sind 5 an<br />

der Zahl, nämlich Substanz, Kausalität, Notwendigkeit, Möglichkeit und Existenz. Ihre<br />

Anwendung auf die Empirie führt über die 4 apriorischen Kategorien der Quantität, der<br />

Qualität, der Relation und der Modalität. Sie gelten im gesamten Reich <strong>des</strong> Denkens, also<br />

im Verstand, für die Urteile der Vernunft und selbst für das Nichtseiende, sofern es gedacht<br />

werden kann. Es gibt keine extra- oder supra-kategoriale Erkenntnis noch Wahrnehmung.<br />

Der Thesaurus apriorischer Funktionen und Begriffe <strong>des</strong> Verstan<strong>des</strong> enthält somit die<br />

folgenden derselben: Raum, Zeit, Substanz, Kausalität, Notwendigkeit, Möglichkeit,<br />

Existenz, Satz vom Widerspruch, Satz vom zureichenden Grunde, konstruktive Potenz der<br />

Vernunft, Gesetzesbegriff, Gott, Freiheit, Wille, Seele, Unsterblichkeit, Quantität, Qualität,


Relation, Modalität.<br />

6<br />

Der Begriff der Apriorität impliziert, dass dieser Thesaurus ständig und vollständig<br />

anwesend ist. Er impliziert nicht, dass der Thesaurus vollständig und nicht erweiterbar sei.<br />

Hingegen folgt, dass er als Ganzes auf Alles funktional anwendbar ist. Das “Alles“ wird<br />

durch ihn definiert. Daraus folgt, dass ihm eine, eventuell dynamische, <strong>Struktur</strong> eignet. Als<br />

diese grundlegend erscheinen Raum und Kausalität, denn die Kombination aus beiden<br />

generiert die Zeit. 9 <strong>Die</strong>se drei Aprioris sind bereits hinreichend für die Konstruktion der<br />

Werkzeuge der Logik, den Satz <strong>des</strong> Widerspruchs 10 (Gleichzeitigkeit) und den Satz vom<br />

zureichenden Grunde 11 (Sequenzialität). Hieraus leitet sich wiederum die Gesetzesqualität<br />

alles Erkennbaren ab. Das Erkennbare wird durch die Zeit in das Erkannte und noch zu<br />

Erkennende getrennt, woraus sich die konstruktive Potenz der Vernunft ergibt. Im<br />

Ethischen führt diese Potenz auf die Begriffe Wille und Freiheit, im Epistemischen auf die<br />

von Gott, Seele und deren Unsterblichkeit. Hieraus wiederum leiten sich die ontologischen<br />

Begriffe Substanz und Existenz und die Verstan<strong>des</strong>begriffe <strong>des</strong> Notwendigen und<br />

Möglichen ab. Unerklärt hingegen bleibt zunächst die Vierzahl der Kategorien Quantität,<br />

Qualität, Relation und Modalität und deren Bezeichnung. Weder das eine noch das andere<br />

ist aus dem Thesaurus ableitbar. <strong>Die</strong> dem Empirischen aufgelegte Vierer-<strong>Struktur</strong> ergibt<br />

sich vielmehr als Analogie-Schluss aus der uranfänglichen Trinität von Raum, Kausalität<br />

und Zeit. Alles zu Erklärende wird apriorisch mit drei Aspekten belegt, die zusammen mit<br />

dem Explikandum die Vierer-<strong>Struktur</strong> bilden. <strong>Die</strong> drei Aspekte sind Assimilationen von<br />

Raum, Kausalität und Zeit an das Explikandum. Ein weiteres Element der apriorischen<br />

<strong>Struktur</strong> ist das Prinzip der Bifurkation. Es ergibt sich aus der Anwendung der Kausalität<br />

auf die Zeit, da erstere die letztere und somit alles Empirische in zwei Hälften teilt. Zu den<br />

primären <strong>Struktur</strong>elementen treten also als strukturierende oder Elemente einer<br />

Hyperstruktur, die freilich aus der primären nur abgeleitet ist, Bifurkation, Trinität und<br />

Quaternität.<br />

<strong>Die</strong> Stärke <strong>des</strong> Kantischen Systems besteht in seiner Fähigkeit, Irrtümer aufzudecken. Es<br />

kann jedoch nicht erklären, woher diese kommen. Vielmehr müsste man erwarten, dass der<br />

aus den Aprioris aufgebaute Apparat roboterhaft irrtumsfrei funktioniert. Offenbar fehlt ein<br />

Super-Apriori, welches alle anderen Aprioris unter Bedingungen stellt.<br />

2. Jaynes<br />

Damit kommen wir zum hermetischen System <strong>des</strong> <strong>Bewusstseins</strong> nach Julian Jaynes. Den<br />

dem Bewusstsein evolutiv vorausliegenden Verstand nennt er die “bikamerale Psyche.“ 12<br />

Sie zeichnet sich, soweit sie funktioniert, und abgesehen von den Entwicklungsstadien<br />

ihres Zusammenbruchs, aus denen allein sie literarisch ist, durch Irrtumsfreiheit aus. Sie<br />

entbehrt <strong>des</strong> intern repräsentierten Raumes. <strong>Die</strong> Kausalität ist nicht an Vorgänge, sondern<br />

an Orte gebunden. <strong>Die</strong> Zeit gehört zum Reich der Götter, nicht zu dem der Menschen. <strong>Die</strong><br />

gesamte Psyche ist gleichsam externalisiert, und unter dieser Bedingung funktioniert sie<br />

irrtumsfrei.<br />

9 Versuch, die negativen Grössen in die Weltweisheit einzuführen (1763)<br />

10 Si oppositum alicuius verum est, ipsum falsum est: Neue Erhellung der Ersten Grundsätze metaphysischer<br />

Erkenntnis (1755). - Keinem “Subjekte“ kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht: Untersuchung<br />

über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764). - “Dinge“ statt<br />

“Subjekte:“ Critic der reinen Vernunft (1781). - “... setzt vielmehr der Satz <strong>des</strong> Widerspruchs (den Begriff<br />

der Zeit) voraus...“: Von der Form der Sinnes- und Verstan<strong>des</strong>welt und ihren Gründen (1770).<br />

11 nihil fit sine causa<br />

12 Der deutsche Übersetzer hat “mind“ mit “Psyche“ übersetzt.


7<br />

<strong>Die</strong> Möglichkeit <strong>des</strong> Irrtums muss also eine Folge <strong>des</strong> Zusammenbruchs sein, der aber<br />

strukturell aus weiter nichts bestand als aus der Hereinnahme der Externalisation. Er war<br />

kein Zusammenbruch, sondern eine evolutive Leistung: <strong>Die</strong> psychischen Funktionen<br />

wurden nach dort verortet, wo sie sich physiologisch befinden, nämlich ins Innere <strong>des</strong><br />

Subjektes. Der externe Raum wurde durch den strukturgleichen Vorstellungsraum<br />

parallelisiert. Struktugleich ist dieser <strong>des</strong>wegen, weil auch in ihm die Quelle der Gedanken<br />

und deren Empfänger räumlich getrennt sind. Aus dem sprechenden Gott wurde das<br />

transzendentale Ich oder Analog-I, aus dem horchend-gehorchenden Helden das Selbst<br />

oder Metaphor-Me. Was wurde aus der Verortung im Raume? Sie wurde in Sprache<br />

übersetzt, die die Ordnung <strong>des</strong> äußeren Raumes, also der Welt, strukturgleich<br />

parallelisieren sollte, in den Logos. Als Aprioris <strong>des</strong> Jaynes-<strong>Bewusstseins</strong> erhalten wir<br />

somit die Quaternität aus Analog-I, Metaphor-Me, Vorstellungsraum und Logos. Wie<br />

leicht zu sehen, besteht zwischen dieser Quaternität und der Kantischen Kategorien eine<br />

Analogie. <strong>Die</strong> Kantische Quaternität ist kulturevolutiv determinert. Es handelt sich nicht<br />

um eine Konstruktion, die durch eine neuere Erkenntnistheorie verbessert, sondern um eine<br />

Entdeckung, der nichts hinzugefügt werden kann.<br />

<strong>Die</strong> Variabilität der Episteme entsteht offenbar durch die Repräsentation <strong>des</strong> äußeren<br />

Raumes als Logos. Jesus ist Ursache <strong>des</strong> Bösen in der Welt, insofern dieses nur irrtümliche<br />

Erkenntnis ist. 13 <strong>Die</strong>se Abbildung geschieht wiederum durch eine Quaternität von<br />

Werkzeugen, nämlich Metaphorator, Paraphorator, Metaphorand und Paraphorand. Es<br />

besteht eine Wahlfreiheit bezüglich der Wahl <strong>des</strong> Metaphorators, der der Erklärung <strong>des</strong><br />

Metaphoranden dienen soll. <strong>Die</strong>se Wahlfreiheit entsteht durch die Distanz zwischen<br />

Analog-I und Metaphor-Me. Sie hängt davon ab, wie das Analog-I das Metaphor-Me<br />

räumlich zum Logos positioniert. Exaktheit ist nicht mehr, wie in der bikameralen Psyche,<br />

das Ergebnis der internen Konsistenz und Vollständigkeit der Um-Welt und der einzig<br />

richtigen Positionierung <strong>des</strong> Subjektes in ihr, sondern wird zum Problem der internen<br />

Konsistenz und Vollständigkeit <strong>des</strong> logos als der Um-Welt <strong>des</strong> Metaphor-Me. <strong>Die</strong><br />

Unsicherheit in dem Wissen um Raum, Zeit, und ihren Attributen Licht und Farbe<br />

erscheint in den Zeugnissen der bikameralen Psyche vielfach 14 und mag Jaynes zum<br />

Vorzug <strong>des</strong> Pejorativs “Zusammenbruch“ vor den adäquateren “Entwicklung,“<br />

“Fortschritt“ oder wenigstenz “Emergenz“ bewogen haben. - In<strong>des</strong>sen kann das Problem<br />

<strong>des</strong> Irrtums anhand der Jaynesschen Aporien nur verdeutlicht, nicht gelöst werden. Jaynes<br />

selbst sieht die Kulturevolution, wie Freud, den er so sehr verschmäht, als Versuch einer<br />

apokalyptischen Rückkehr zur Gewissheit. <strong>Die</strong> entsprechenden Methoden, die er im<br />

ungeschriebenen 4. und 5. Buch seines Werkes darstellen wollte, nennt er “Spuren“ der<br />

bikameralen Psyche. Auch dieser Begriff suggeriert einen Abfall, ein Wenigerwerden.<br />

Tatsächlich aber stellt die Erarbeitung von etwas Verlorenem unter neuen funktionalen<br />

Bedingungen eine - als Dialektik bekannte - Leistung dar.<br />

A. III. Kulturen<br />

1. Morphologie<br />

Wie wir gesehen haben, ist jene Hermetik, die Bedingung für Bewusstsein ist, aus Raum<br />

und Zeit zusammengesetzt. Daraus ergeben sich 4 mögliche <strong>Bewusstseins</strong>formen und<br />

13 Leibniz, Theodizee<br />

14 Elliger, Winfried: <strong>Die</strong> Darstellung der Landschaft in der griechischen Dichtung. de Gruyter 1975.


8<br />

folglich Kultur-Stufen: Wenn eine Kultur Raum und Zeit als aus Fleisch und Blut<br />

bestehende Wesen versteht, dann betrachtet sie sie als ihre Eltern. <strong>Die</strong> Menschen dieser<br />

Kultur sind Angenommene, die bei ihren Namen in Raum und Zeit hineingerufen wurden.<br />

Sie sind Geborgene. Ihr transzendentales Ich oder Analog-I ist an die Eltern-Instanzen<br />

delegiert. Sie besitzen zwar kein Bewusstsein, leben aber in einer festen Ordnung, die<br />

durch die Eltern-Instanzen garantiert wird. (Typ-I). - <strong>Die</strong> Menschen einer Kultur, die Raum<br />

und Zeit leugnet, sind elternlose Ausgestoßene. Ihre Ich-Funktionen bleiben diversifiziert<br />

und physiologisch. Ein transzendentales Ich oder Analog-I bilden sie nicht aus. Sie sind<br />

Automaten ohne Bewusstsein. Ihre Welt besitzt keine Ordnung, sei es eine geoffenbarte,<br />

sei es eine aus Vernunft erkennbare. (Typ-II). - <strong>Die</strong> Menschen einer Kultur, die nur die Zeit<br />

leugnet, delegieren das transzendentale Ich an eine Vielzahl objektiver (Natur-) Götter.<br />

Deren Pantheon bildet als ein willkürliches, aber intern konsistentes System die<br />

Lebensumwelt. Ihr Vorstellungsraum ist externalisiert, Metaphor-Me und körperliches<br />

Individuum sind identisch. Sie leugnen eine innerweltliche Ordnung, die apriorisch<br />

erkennbar wäre. (Typ-III). - Den Raum zu leugnen und die Zeit anzuerkennen ist natürlich<br />

undenkbar, da Zeit Raum voraussetzt. - Bewusstsein können nur Menschen einer Kultur<br />

besitzen, die Raum und Zeit intern repräsentiert. Ist dies der Fall, dann folgt daraus logisch,<br />

dass Raum und Zeit als objektiv, als apriorisch und als unendlich betrachtet, bzw., in<br />

skeptischer Formulierung, konstruiert werden. (Typ-IV).<br />

Andere als diese vier Mentalitäten sind nicht möglich, da andere erstursprüngliche Aprioris<br />

als Raum und Zeit nicht bekannt sind. Sie anzuerkennen wie Typ-I, jedoch ihre<br />

Körperlichkeit zu leugnen, führt auf Typ-IV. Den Raum zu leugnen, die Zeit aber<br />

anzuerkennen, ist unmöglich. <strong>Die</strong> Zeit zu leugnen, den Raum aber anzuerkennen, ist<br />

möglich, und geschieht alltäglich, oder vielmehr allnächtlich: im Traum. Damit haben wir<br />

Typ-III. Raum und Zeit gleichzeitig zu leugnen, ist hingegen möglich. <strong>Die</strong> Welt ist dann<br />

punktuell und ohne Ferne, es gibt keinen Horizont, und der Zeit fehlt die Ausdehnung nach<br />

vorn und hinten. Das entspricht dem Typ-II. Oswald Spengler nun ist der zu Unrecht<br />

kritisierten 15 Ansicht, dass jede Kultur ihren Lebenszyklus aus Jugend, Reife und Verfall<br />

durchlebt, ohne diese epistemischen Grundbedingungen zu verändern, also etwa aus<br />

Lernerfahrung zu modifizieren. <strong>Die</strong> kultur-immanente Episteme ist gegen Lernerfahrung<br />

resistent. Also 16 sind Kulturen Entwürfe eines absoluten Geistes, die dieser konstant halten<br />

muss, um seine eigene Lernerfahrung zu garantieren. Kulturen pflegen mit einander zu<br />

kommunizieren, können sich aber nicht verstehen. <strong>Die</strong> letztere Unmöglichkeit ist Wille <strong>des</strong><br />

absoluten Geistes. Er lokalisiert alle Lernerfahrung in sich. Dennoch stellen die vier<br />

Kulturtypen unterschiedliche epistemische Niveaus dar, woraus folgt, dass ein Lernerfolg<br />

nicht nur stattgehabt haben sondern auch immanent geworden sein muss. Folglich ist die<br />

Despotie <strong>des</strong> absoluten Geistes Bedingung der Möglichkeit von Kultur-Evolution<br />

überhaupt, m.a.W, Form <strong>des</strong> Lernprozesses als Geschichte.<br />

2. Kasuistik<br />

Jaynes beschreibt plastisch jene Mentalität, die Spengler als apollinisch bezeichnet. Beide<br />

Beschreibungen sind deckungsgleich, was nicht weiter verwundert, da ihnen ja die gleiche<br />

Literatur, nämlich die klassisch griechische, zugrunde liegt. Allerdings fehlt bei Spengler,<br />

seiner theoretischen Position gemäß, der Zusammenbruch als historisches Ereignis.<br />

Vielmehr hält sich die apollinische Mentalität von Anfang bis Ende durch, und etwaige<br />

Modifikationen betreffen nicht ihr Wesen, sondern sind Alterserscheinungen. Falls<br />

15 Toynbee hat trotz bewundernswerter Materialfülle niemanden überzeugen können.<br />

16 so folgern wir über Spengler hinaus


9<br />

Aristoteles' Schriften diesem nicht von einer Muse diktiert wurden, so ändert dies nichts<br />

daran, dass auch für ihn Raum und Zeit punktuell und ohne Ferne und Tiefe waren. Ein<br />

Bewusstsein kann er folglich nicht besessen haben, denn ein solches setzt den Raum als<br />

Begriff voraus. <strong>Die</strong> Entwicklung eines Raum-Begriffes fehlt jedoch im Griechischen bis<br />

zum Ende der Kultur, was wieder auf die Despotie <strong>des</strong> absoluten Geistes verweist. <strong>Die</strong><br />

apollinische ist eine Typ-II-Kultur.<br />

Dass der Typ-I von der alt-ägyptischen Kultur repräsentiert wird, dürfte evident sein. Ihr<br />

Raumbegriff umschreibt die Form eines Troges oder Grabens, dem eine kurze, geradlinige<br />

Zeit als einer sehr direkten Wegstrecke zwischen Geburt und Tod entspricht. Der jenseits<br />

der immanenten Raumgrenzen liegende Raum und die vor- und nach-diesseitige Zeit sind<br />

nah oder unmittelbar und wiewohl gewaltig, so doch nicht etwa unendlich in unserem<br />

Sinne. Sie sind nicht fremd, nicht physikalisch-kalt, kein Ganzanderes, sondern Göttliches,<br />

also Gemeintes. Sie sind Ursprung und Ziel <strong>des</strong> Lebensweges. Sie werden gefühlt, nicht<br />

gesehen oder gedacht.<br />

Mit Ausnahme der abendländischen, von Spengler “faustisch“ genannten Kultur gehören<br />

alle anderen Hochkulturen zum Typ-III. Es ist nachgerade das Kennzeichen von<br />

Hochkulturen, die Zeit zum Stillstand zu bringen und Geschichte durch ihr eigenes Wesen,<br />

ihre Identität zu ersetzen. <strong>Die</strong> ägyptische Kultur als Typ-I erscheint als Extremfall dieses<br />

allgemeinen Musters einer Hochkultur, dem Typ-III, als Besonderheit, die durch die<br />

Einmaligkeit der Landschaft, in der sie angesiedelt war, selegiert wurde. Der Raum, das<br />

Niltal, ging mit der Zeit, dem zyklischen An- und Abschwellen <strong>des</strong> Stromes, eine ähnliche<br />

Ehe ein wie der Pharao, der stets seine Schwester heiratete. Raum und Zeit beelterten die<br />

ägyptischen Menschen und nährten sie. <strong>Die</strong>se Kultur steht chronologisch am Beginn der<br />

abendländischen Geschichte, die geistesgeschichtlich mit der griechisch-römischen Antike<br />

beginnt. Stand die Leugnung von Zeit und Raum, genauer, von Tiefe und Ferne, am<br />

Beginn <strong>des</strong> Abendlan<strong>des</strong>, und versteht dieses Raum und Zeit als Unendlichkeiten, so liegt<br />

eine Entwicklung vor, an der zu prüfen ist, ob sie in der Tat eine solche, also zielgerichtet,<br />

oder aber zufällige Sequenz ist.<br />

3. <strong>Die</strong> Hermetische Mentalität<br />

<strong>Die</strong> Typ-III-Kulturen gehören offensichtlich nicht in diese Sequenz. Zum einen sind sie<br />

geografisch entfernt, zum anderen wurden ihre Leistungen nicht ins Faustische<br />

inkorporiert. Erbe Ägyptens wurde Rom, und Rom war die Zivilisationsstufe der<br />

apollinischen Mentalität. Insofern als deren Leugnung auch <strong>des</strong> Raumes eine Extrapolation<br />

der Leugnung der Zeit darstellt, kann man die Apollinik als weiteren Spezialfall <strong>des</strong> Typ-III<br />

ansehen. In ihrem römischen Stadium dehnte sich der punktuelle Raum zum Siedlungsund<br />

Herrschaftsgebiet <strong>des</strong> mare nostrum als einer generalisierten, man möchte sagen,<br />

macdonaldisierten Polis. Damit gleicht das Zivilisationsstadium dieser Kultur den<br />

außerabendländischen Typ-III-Kulturen, die gleichsam den abgesicherten Modus von<br />

Hochkultur repräsentieren. Rom als Erbin Ägyptens auffassend muss man in<strong>des</strong>sen die<br />

Ausweitung <strong>des</strong> Raumes unter Beibehaltung der Leugnung der Zeit als Integration eines<br />

fremden Konzepts und somit als Lernerfahrung interpretieren. Bis zum faustischen<br />

Abendland mit seinen unendlichen inneren wie äußeren Räumen fehlt uns allerdings noch<br />

eine als Lernerfahrung verstehbare Verbindung. Sie findet Spengler in der arabischen<br />

Kultur, die er als “magische“ bezeichnet und die zunächst bezüglich der vier Typen keine<br />

eigene Kontur aufweist.


10<br />

Ihr Ursprung liegt in Syrien, einem Land, in dem sich die Einflüsse <strong>des</strong> Hellenismus,<br />

Mesopotamiens, Ägyptens, <strong>des</strong> Judentums und der arabischen Völker überschneiden.<br />

Überlagert man den ausgedehnten Punkt-Raum der Apollinik mit dem Graben- oder Weg-<br />

Raum Ägyptens, so gelangt man zunächst zu einem formlosen oder verallgemeinerten<br />

Graben oder einem Weg, der durch die wirkliche Welt mehr mäandert als leitet. <strong>Die</strong>s<br />

erinnert in der Tat an die weit abliegende chinesische Vorstellung vom Weg, dem Tao, der<br />

durch die Welt, nicht den Kult-Raum - oder gar durch das oder in das Jenseits - führt. Der<br />

Himmel war den Griechen als Fernes ein ebensolcher Schrecken wie die Unterwelt. Dem<br />

Ägypter hingegen deckte der Himmel gütig den Graben und schützte so vor dem Chaos der<br />

ewig gestaltlosen Wüste. Verallgemeinerter Graben, vielleicht als Wanne treffend<br />

bezeichnet, und Himmelsdach ergeben zusammen einen geschlossenen Raum, die<br />

Welthöhle, die Welt als Höhle. <strong>Die</strong>ses ist in der Tat das Raumkonzept der magischen<br />

Kultur, die zwischen Apollinik und Faustik steht. Nicht nur in zeitlicher Sequenz, also<br />

geschichtlich, vermittelt sie zwischen beiden Kulturen, sondern auch konzeptuell, als Stufe<br />

<strong>des</strong> Lernprozesses. In ihren Konzepten, nicht nur dem <strong>des</strong> Raumes, sind diejenigen<br />

Ägyptens und Griechenlands aufgehoben. Und erst in ihr, in der Magik, deren Beginn um<br />

300 B.C. anzusetzen ist und die bis ca. 900 A.D. blühte, verstummt die kognitogene<br />

Stimme endgültig.<br />

<strong>Die</strong> geschlossene, vollendete Hermetik also ist die Bedingung für das halluzinationsfreie zu<br />

Gedanken Kommen. Der nächste, faustische Lern-Fortschritt bestand dann lediglich noch<br />

in einer Individualisierung und Internalisierung. <strong>Die</strong> kulturevolutive Lernerfahrung wurde<br />

von einer Kultur als deren Trägerin als ganzer auf die einzelnen Individuen übertragen.<br />

Eine solche Individualisierung bezeichnet Hegel als “Abbreviatur“, einen Begriff, den wir<br />

übernehmen wollen. Zum anderen wurde jene Lernerfahrung internalisiert, von den<br />

Individuen inkorporiert. Das symmetrische Gegenstück beider Prozesse bildet die Kunst in<br />

der Architektur der Kathedralen ab, deren unendlicher Innenraum vom allesfarbigen Licht<br />

<strong>des</strong> unendlichen Außenraumes durchströmt wird. Alle ursymbolische Architektur ist<br />

Beschreibung der hirnphysiologischen Grundlagen der Mentalität. In ihnen sagt das Gehirn<br />

<strong>des</strong> biologischen Lebewesens “Kultur“ gleichsam: “So funktioniere ich, und so werde ich<br />

bis zu meinem Tod funktionieren!“ Das Lerngeschehen <strong>des</strong> Abendlan<strong>des</strong> wurde aus einer<br />

bloßen Sequenz zweifellos zur Evolution, zur Kulturevolution. Gleichwohl bleibt die<br />

Kausalität innerhalb der Sequenz ganz ungeklärt. Wieso Lernerfahrung stattfand, obwohl<br />

die jeweils Lebenden ganz sicher nicht über das überlieferte Wissen verfügten, geschweige<br />

denn die Absicht und das Selbstverständnis besessen hätten, es weiter zu entwickeln, bleibt<br />

ein Rätsel. Für uns bleibt festzuhalten, dass die a-halluzinatorische Kognitogense<br />

irreversibel ist, da die gewonnene Hermetik irreversibel ist.<br />

A. IV. Geschichte der Philosophie<br />

1. Das Problem<br />

<strong>Die</strong> Tatsache, dass Kulturen nicht synchronistisch von einander lernen, hat Spengler völlig<br />

richtig beobachtet. Aus der Sicht <strong>des</strong> absoluten Geistes hat jede für sich ihre jeweilige<br />

Aufgabe zu lösen. Jede ist ein Computerprogramm, das bis zum Ende durchlaufen muss,<br />

um das Ergebnis zu errechnen, um <strong>des</strong>sentwillen es konstruiert wurde. Erst wenn dieses<br />

vorliegt, kann das nächste Computerprogramm starten. <strong>Die</strong> das Programm Ausführenden<br />

können natürlich nicht wissen, worin das vorherige Ergebnis aus der Sicht <strong>des</strong><br />

Programmierers bestand. Dennoch liegt ein Lernprozess vor. Dessen Substrat ist nicht der


11<br />

menschliche, sondern ein übermenschlicher Geist. <strong>Die</strong>sen als Gott zu bezeichnen bedeutet,<br />

ihn anthropomorph zu verstehen, ihn objektiv zu nennen, ihn an sein Substrat, die Völker,<br />

zu binden, ihn als absolut zu bezeichnen, ihm die Freiheit der Substratwahl zu lassen.<br />

Das Thema der hermetischen Kultur ist die Christologie. <strong>Die</strong> Frage, um deren Lösung<br />

willen, die hermetische Kultur konstruiert wurde, ist die nach dem Verhältnis der Anteile<br />

<strong>des</strong> Göttlichen und <strong>des</strong> Menschlichen im Menschen. Wieso können wir dies behaupten?<br />

Weil es die Frage ist, die diese Kultur zu ihrer Reifezeit, in ihrem Mannes- oder<br />

Erwachsenen-Alter, bearbeitete und löste. <strong>Die</strong> Lösung war 681 A.D. 17 erbracht.<br />

Dreihundert Jahre später erklärte der Islam die “Tore der Weisheit“ für geschlossen: Gott<br />

habe den Menschen alles geoffenbart, was er zu offenbaren beschlossen hatte. <strong>Die</strong><br />

Konstruktion der kognitogenetischen <strong>Struktur</strong> dieser Kultur war damit beendet.<br />

Sie begann mit dem Anspruch der Göttlichkeit eines Menschen im Hier und Jetzt. Das ist<br />

die Abbreviatur <strong>des</strong> Göttlichen als Lernerfolg aus den Kulturen Typ-I und Typ-II, den<br />

Eltern der magischen oder Typ-III-Kultur. <strong>Die</strong>se Abbreviatur wird zunächst für die Götter<br />

durchgeführt, die als Artefakte oder als Naturelemente sichtbar sind. So galt der Kaiser in<br />

Rom als göttlich. In ihm, aber auch nur in ihm, war Gott, sonst dargestellt als Jupiter,<br />

gegenwärtig. Jesus war strukturell eine Zusammenfassung levantinischer<br />

Vegetationsgötter. Neu war nur seine Behauptung, Gott wohne in jedem Menschen, nicht<br />

nur in ihm. So lange Gott nur in einem Menschen wohnte, im Kaiser, war er in der Welt,<br />

und diese Welt hatte kein Außen, sondern war apollinisch-unbegrenzt. Es gab keine<br />

Oberfläche, durch die hindurch Gott in ein Inneres hätte gekommen sein müssen. Durch die<br />

christliche Abbreviatur aber wurde die anthropomorphe Oberfläche als solche thematisiert.<br />

<strong>Die</strong> Aufhebung der räumlichen und zeitlichen Trennung von Mensch und Gott erzwang die<br />

Konstruktion einer logischen, d.h. einer aus dem Logos abgeleiteten Trennung, erzwang<br />

die Konstruktion von Begriffen. Dabei mussten deren drei für alle späteren entscheidend<br />

sein, da sie nun einmal die ersten waren, nämlich der <strong>des</strong> abbrevierten Gottes, der <strong>des</strong><br />

Menschen als <strong>des</strong>sen Hypostase und der der Relation zwischen beiden. Eine Hereinnahme<br />

verwandelt die Zweiheit also nicht in Einheit, sondern in Trinität. Wegen der Einheit der<br />

Hypostase, <strong>des</strong> biologischen Menschen, müssen alle drei Teile der Trinität von gleicher<br />

Wertigkeit sein. Aus der Gleichrangigkeit ergibt sich das Problem der Abgrenzung <strong>des</strong><br />

Göttlichen vom Menschlichen und das der Zusammenführung <strong>des</strong> Menschlichen mit dem<br />

Göttlichen. Als geistesgeschichtliche Leistung war die Abbreviatur mit der Logos-Lehre<br />

<strong>des</strong> Origines (184 - 254) vollendet.<br />

Für den Glauben und <strong>des</strong>sen Verkündigung entstand aus der Gleichwertigkeit der drei<br />

Aspekte der inkorporierten Trinität zwei Probleme: 1.) Der entscheidende Glaubensgrund<br />

ist für den Christen die Zusage der Erlösung. <strong>Die</strong>se Zusage besteht in der geschehenen<br />

Auferstehung Jesu. Auferstanden kann er nur als Mensch sein, denn als Gott wäre er ja<br />

ohnehin unsterblich. Da er wirklich starb und wirklich auferstand, muss er Mensch<br />

gewesen sein, ohne geheimen inneren göttlichen Vorbehalt. Zu einem Menschen aber kann<br />

man nicht beten, sondern nur zu einem Gott. Also kann zu Jesus nicht gebetet werden. 2.)<br />

<strong>Die</strong>ses rettet zwar den monotheistischen Glauben an einen einzigen - mit Jesus nicht<br />

identischen - Gott, mündet jedoch in eine Unterordnung Jesu unter jenen, also in eine<br />

hierarchische Restrukturierung der Trinität. Es ergibt sich die Frage nach Rang und<br />

Funktion Jesu: War er Prophet? Sohn? Usurpator <strong>des</strong> göttlichen Throns? Eine von vielen<br />

möglichen Inkarnationen Gottes? Was genau teilte er mit diesem: Kenntnisse? Wissen?<br />

Wollen? Und wie war ihm das, was immer er mit ihm teilte, zuteil geworden?<br />

17 3. Konzil von Konstantinopel, verurteilte den Monotheletismus


12<br />

2. Lösungen<br />

<strong>Die</strong> naheliegende Lösung dieser Probleme war der Rückbezug auf die Gottessohnschaft <strong>des</strong><br />

Menschen überhaupt, d.h. Adams, <strong>des</strong> ersten Menschen, wie sie im AT geschildert wird:<br />

Gott formte Adam aus einem Kloß Lehm und blies ihm den göttlichen Atem ein. Analog<br />

konstruiert wurde aus Jesus Gottes Sohn. <strong>Die</strong>se Auffassung vertrat Arius von Alexandria<br />

(+336). Sie wurde von der Volksfrömmigkeit akzeptiert und folglich auch von vielen<br />

Bischöfen geteilt, nicht jedoch von dem Bischof von Alexandria, der nach dem Patriarchen<br />

von Konstantinopel die zweithöchste christliche Autorität besaß. Für den Kaiser war die<br />

Wahrung der Einheit <strong>des</strong> Glaubens von hochpolitischer Bedeutung, nachdem Konstantin<br />

das Christentum 313 zur Staatsreligion erhoben hatte. Er berief daher 325 das Konzil zu<br />

Nicäa ein. Es löste das Christologie-Problem mit der Formel, die zwei Naturen Christi, die<br />

göttliche und die menschliche, seien in ihm “unvermischt und unzertrennlich“ vereint.<br />

<strong>Die</strong>se Formel wurde als nicht evolvierbar und reformresistent erkannt. <strong>Die</strong> beiden<br />

folgenden Konzilien, das von Ephesus 431 und das von Chalcedon 451, bekräftigten die<br />

Formel und erklärten sie für orthodox und unveränderbar. Aus der Erfahrung mit diesen<br />

Konzilien erwuchs die Erkenntnis, dass ökumenische, d.h. genügend große Konzilien in<br />

ihren Beschlüssen nicht irren können. Das bedeutet nichts anderes, als dass die hermetische<br />

Mentalität als solche nicht irren kann. <strong>Die</strong> bikamerale Gewissheit war wieder hergestellt. -<br />

Folgende Häresien wurden wurden nun sukzessive abgewehrt:<br />

Ein alttestamentarischer Monotheismus verunmöglicht die Anbetung Christi und den<br />

Glauben an die Erlösung durch ihn. <strong>Die</strong> Ebioniten (“Arme“) erklärten Jesus zum<br />

Propheten, Joseph zu seinem Vater und leugneten die Jungfräulichkeit Mariens. Von ihnen<br />

unterschieden sich die Nazarener hauptsächlich dadurch, dass sie die übernatürliche<br />

Geburt Jesu anerkannten, während die Elkasaiten christliche Rituale, insbesondere die<br />

Taufe, übernahmen. Im übrigen hielten diese Gruppen am Monotheismus fest, gehören also<br />

in die Geschichte <strong>des</strong> Proto-Islam. - Eine möglicher Kompromiss zwischen Monotheismus<br />

und Anerkennung der Göttlichkeit Jesu bestand in der Konstruktion eines<br />

Unterordnungsverhältnisses, wie es aus weltlichen Hierarchien und<br />

Herrschaftsverhältnissen bekannt war: Gott war oberster Gott und Jesus war sein erwählter<br />

Sohn oder Lehensmann. <strong>Die</strong>se als Monarchianismus bezeichnete Richtung wurde von<br />

Theodotus vertreten, der von Papst Victor, und von Artemon, der von Papst Zephyrinus<br />

exkommuniziert wurde. Dennoch hat diese Häresie überlebt und wird heute von den<br />

Unitariern vertreten. Ihr steht der Subordinationismus spiegelbildlich gegenüber. Er rettet<br />

den Monotheismus, indem er Gott und Jesus zur selben Person erklärt, die bald in der<br />

einen, bald in der anderen Weise erscheine. <strong>Die</strong>se Lehre wurde 213 durch Tertullian<br />

zurückgewiesen. Aber auch er war Häretiker, denn er predigte das baldige Ende der Welt<br />

und leitete daraus unhaltbare Forderungen zur Askese ab. Seine Sekte, die Montanisten,<br />

wurde erst durch Kaiser Justinian 565 beseitigt. - Askese impliziert die Überzeugung von<br />

der Freiheit <strong>des</strong> Willens, da der Asket ein selbstbestimmtes Leben führt. Damit wird die<br />

Lehre von der Erbsünde angegriffen und die aus ihr folgende Notwendigkeit der Taufe, die<br />

dazu dient, sich von der Erbsünde rein zu waschen. Palagius (+429), ein Brite, vertrat dies<br />

und war überzeugt, der Mensch könne aus eigener Kraft ein Leben führen, mit dem er vor<br />

Gott gerechtfertigt wäre. Augustinus (+430), der überzeugt war, Gottes Gnade könne durch<br />

keine irdische Leistung erworben oder verwirkt werden, betrieb die Verurteilung <strong>des</strong><br />

Pelagianismus, die auf dem Konzil zu Chalcedon 431 geschah.<br />

Eine einfache Methode, das Leiden und Sterben Christi mit <strong>des</strong>sen Göttlichkeit zu<br />

vereinbaren, bestand darin, es als virtuell zu erklären: Der Leib Christi war ein


13<br />

schmerzunempfindlicher Astralleib, eine animierte dreidimensionale anthropomorphe<br />

Oberfläche, ein Hologramm. <strong>Die</strong>se, als Doketismus bezeichnete Richtung, die die<br />

Erlösungsbedürftigkeit <strong>des</strong> Menschen und damit den Anlaß für Jesu Epiphanie leugnete<br />

und nebenbei ontologisch zwei Arten von Materie behauptete, starb schon im zweiten<br />

Jahrhundert von selbst aus, erlebt aber im Computerzeitalter ihre Auferstehung. <strong>Die</strong><br />

Gnosis, die Lehre von den zwei Arten von Materie, die folglich auf einen Bruch innerhalb<br />

<strong>des</strong> Schöpfergottes, auf den Gott reduziert wird, zurückgeht, konnte nur durch<br />

organisatorische (Ausschluß von Kirchenämtern) und <strong>des</strong>potische (Verfolgung)<br />

Maßnahmen aus dem Christentum hinausgedrängt werden. Sie überlebt in den Mandäern,<br />

die Jesus als bösen Geist ablehnen, aber Johannes den Täufer verehren.<br />

Auf andere Weise setzte sich die Zwei-Zahl in der Lehre <strong>des</strong> Persers Nestorius (+451)<br />

durch, der lehrte, daß in Jesus die göttliche und die menschliche Natur unabhängig von<br />

einander neben einander lebten. Patriarch von Konstantinopel seit 428, verbot er die<br />

Bezeichnung “Gottesgebärerin“ für Maria, da Jesus Mensch gewesen und von Gott<br />

adoptiert worden sei. Cyrill von Alexandria (+444), der auf den Primat <strong>des</strong> Patriarchen von<br />

Konstantinopel neidisch war, betrieb und erreichte das Verbot dieser Lehre auf dem Konzil<br />

von Chalcedon (451).<br />

Mit dem Nestorianismus hatte der Glaube an zwei Götter endgültig Schiffbruch erlitten.<br />

Der alttestamentliche Monotheismus aber war mit der Gestalt Jesu unvereinbar. Wer den<br />

Monotheismus retten wollte, musste einen neuen Gott konstruieren. <strong>Die</strong>sen Versuch<br />

unternahm der Monophysitismus. Er erklärte zum eigentlichen Gott den Logos, das<br />

Weltgesetz. Der Logos manifestiere sich als alttestamentlicher Schöpfergott einerseits, in<br />

Jesus andererseits. Jesus besitze nur eine Natur, die <strong>des</strong> Logos, der in ihm Fleisch<br />

geworden sei. Damit wurde die Erlöser-Potenz Christi problematisch. Daher verteidigte das<br />

Konzil von Chalcedon 451 das Nicänum von 325 gegen diese Lehre.<br />

3. <strong>Die</strong> Geburt der Faustik<br />

<strong>Die</strong> letzte der antiken Häresien wurde von Maximos Confessor (+662) überwunden, der<br />

den Monotheletismus bekämpfte. In den 300 Jahren seit dem Konzil von Nicäa waren im<br />

Römischen Reich große Veränderungen vor sich gegangen. Das Ost- und das West-Reich<br />

hatten sich getrennt (395), und da das Westreich in von Germanen beherrschte<br />

Einzelstaaten zerfallen war, verstand Konstantinopel sich als “Zweites Rom.“ Es sah sein<br />

politisches Ziel naturgemäß in der Wiederherstellung <strong>des</strong> Römischen Reiches in seinen<br />

alten Grenzen. <strong>Die</strong>ses Ziel erforderte die Durchsetzung einer einheitlichen Staats-Religion,<br />

eben <strong>des</strong> von Konstantin dem Großen dekretierten Christentums. Zugleich war das Reich<br />

dieser Religion gemäß zu formen, d.h. der Staat mußte ein Abbild der Religion darstellen.<br />

Seine Staatsideologie war ein “objektiver Idealismus:“ Das Reich verstand sich als dazu<br />

beauftragt, seine reale Welt einer idealen anzupassen. Der Kaiser begriff sich als Vizekönig<br />

Gottes auf Erden und unterwarf die Kirche seinem Gestaltungswillen. Genauso hatte auch<br />

Konstantin schon gedacht, der an der Formulierung <strong>des</strong> Nicänums direkt mitwirkte,<br />

obwohl er zu der Zeit selber noch gar nicht zum Christentum konvertiert war.<br />

Kompromiß-Versuche zwischen widerstreitenden christlichen Auffassungen waren, sofern<br />

sie Erfolg versprachen, daher nicht nur naheliegend, sondern staatstragend. Da die<br />

bedeutendste Häresie der Monophysitismus und dieser in der Volksfrömmigkeit schon weit<br />

verbreitet war, entwickelte Sergios, der Patriarch von Byzanz, als Kompromiß-Formel<br />

zwischen dem Monophysitismus und dem orthodoxen Glauben den Monotheletismus.


14<br />

<strong>Die</strong>se Lehre behauptete, trotz der zwei Naturen herrsche in Christus nur ein Wille, der<br />

göttliche. Sergios starb 638, aber im gleichen Jahr dekretierte Kaiser Heraklios (610-641)<br />

den Monotheletismus offiziell und veröffentlichte dies in einer “Ekthesis,“ die in der Hagia<br />

Sophia niedergelegt wurde. Um zu prüfen, ob dieser so sehr plausible Einigungsversuch an<br />

der authentischen Lehre Christi oder an den politischen Ereignissen scheiterte, müssen wir<br />

uns diese in Erinnerung rufen:<br />

622 ist das Jahr Null <strong>des</strong> Islam.<br />

632 starb der Prophet.<br />

634 hatte der Islam die arabische Halbinsel, also sein eigentliches Kernland, erobert.<br />

636 unterlag Kaiser Heraklios den Mohammedanern in einer Schlacht und musste ihnen<br />

Antiochia 18 überlassen.<br />

637 eroberte der Kalif Umar I Jerusalem.<br />

638 starb Sergios, der Patriarch von Konstantinopel, und im gleichen Jahr dekretierte<br />

Kaiser Heraklios (610-641) den Monotheletismus offiziell in Form einer “Ekthesis.“<br />

Nachfolger <strong>des</strong> Sergios wurde Pyrrhos I.<br />

Um 640 strömten Monophysiten auf der Flucht vor dem vordringenden Islam nach<br />

Nordafrika ein. Der Exarch von Karthago, Georgios, bekämpfte den Monotheletismus, war<br />

also ein Widersacher <strong>des</strong> Kaisers.<br />

641 starb Kaiser Heraklios. Sein Erbe Konstantin III wurde von <strong>des</strong>sen Frau Martina, die<br />

zugleich seine Nichte war, vergiftet. Martina wollte ihren Sohn Heraklonas inthronisieren,<br />

wurde jedoch vom Volk und vom Senat gestürzt. Ihr und Heraklonas wurden die Nasen<br />

abgeschnitten.<br />

Pyrrhos I, ansich ein Monothelet und kaisertreu, floh nach Karthago, da ihm - ob zu Recht<br />

oder zu Unrecht - die Veruntreuung von Geldern zugunsten von Martina und Heraklonas<br />

vorgeworfen wurde und ihm seine Nase lieb war.<br />

642 wurde somit zum Jahr der Thronbesteigung <strong>des</strong> Enkels <strong>des</strong> Heraklios und <strong>des</strong> Sohnes<br />

(aus erster Ehe) Konstantins III, Constans II Progonatus (der Frühgeborene).<br />

Papst Theodor I, der natürlich an der chalcedonischen Orthodoxie festhielt,<br />

exkommunizierte im gleichen Jahr Pyrrhos I und setzte ihn ab. Constans II reagierte mit<br />

der Absetzung <strong>des</strong> Papstes.<br />

Ebenfalls 642 musste Byzanz Alexandria preisgeben, <strong>des</strong>sen Patriarch, Benjamin, ein<br />

monophysitischer Kopte, die Araber freudig an der Spitze eines Festumzuges als Befreier<br />

vom chalcedonischen Glaubensjoche begrüßte.<br />

Vor diesem Hintergrund musste eine gelehrte Disputation über den vorgeschlagenen und<br />

befohlenen Kompromiss, die eventuell eine endgültige Klärung bringen würde,<br />

hochpolitische Bedeutung erhalten. Sie wurde 645 in Karthago zwischen Pyrrhos I, dem<br />

Flüchtling, und dem Mönch Maximos Confessor geführt. Wer war dieser Maximos<br />

Confessor? - Geboren wurde er 579 oder 580 als Sohn eines Samariters und einer<br />

persischen Sklavin in Palästina. <strong>Die</strong> Familie ließ sich taufen, und Maximos wurde auf den<br />

Namen Moschion getauft. Seine Eltern starben, als er 10 Jahre alt war, und er kam in das<br />

Kloster Palaia Laurea bei Tékoa 19 , wo er den Namen Maximos erhielt. Ab 610 war er in<br />

Konstantinopel als Sekretär <strong>des</strong> Kaisers, bis er sich 613 in das Kloster Chrysopolis bei<br />

Chalcedon 20 zurückzog. 624 oder 625 wechselte er in ein Kloster nach Kyzikos 21 . Um 628 /<br />

630 ging er über Kreta und Zypern nach Karthago. Sein geistlicher Lehrer war Sophronios,<br />

der Patriarch von Jerusalem. - Wir hören nicht, dass er irgendwo Patriarch oder auch nur<br />

18 heute Antakya, in der Antike syrisch, seit 1517 türkisch<br />

19 bei Jerusalem<br />

20 in Bithynien, NW-Ecke Anatoliens<br />

21 am Marmara-Meer


15<br />

Abt eines Klosters gewesen wäre. Dennoch muss er eine enorme geistliche Reputation<br />

besessen haben, wenn man gerade ihn als defensor fidei in die Kampfbahn schickte.<br />

645 disputierten Maximos und Pyrrhos I in Karthago. Der Disput, ein hochpolitischer<br />

Vorgang, heute würde man sagen, ein Medien-Ereignis, erfolgte auf Befehl <strong>des</strong> Karthagoer<br />

Exarchen Gregorios. Maximos vertrat natürlich die orthodoxe Position, d.h. das<br />

Glaubensbekenntnis <strong>des</strong> Konzils von Chalcedon, Pyrrhos kaisertreu den Monotheletismus.<br />

Anschließend reisten beide gemeinsam nach Rom. Pyrrhos, vorgeblich von Maximos<br />

überzeugt, widerrief vor - dem offiziell abgesetzten - Papst Theodor seinen<br />

Monotheletismus, während Maximos die Einberufung eines Konzils betrieb, das diese<br />

Lehre verurteilen sollte.<br />

Unter<strong>des</strong>sen erhob sich der Exarch Gregorios, übrigens ein Großneffe <strong>des</strong> Heraklios, gegen<br />

den jungen Kaiser. Er folgte damit dem Vorbild <strong>des</strong> Kaisers Heraklios, <strong>des</strong> Vorfahren<br />

beider, der ebenfalls von Karthago aus seinen eigenen Vorgänger, Phokas, gestürzt hatte.<br />

646 verurteilten Synoden in Nordafrika den Monotheletismus, also die offizielle Linie<br />

Konstantinopels. Pyrrhos begab sich von Rom wieder in die Hauptstadt und widerrief<br />

seinen Widerruf, bekannte sich also zum Monotheletismus. Er wurde von dem noch immer<br />

amtierenden Theodor I gebannt, der zugleich den Gehorsam Roms gegenüber dem Kaiser<br />

von <strong>des</strong>sen Rückkehr zum chalcedonischen Dyo-Physitismus abhängig machte. Daraufhin<br />

erklärte Patriarch Paul, der zwischenzeitliche Nachfolger <strong>des</strong> Pyrrhos, im Namen <strong>des</strong><br />

Kaisers in einem “Typos“ von 648 die Ekthesis <strong>des</strong> Heraklios von 638 zwar für ungültig,<br />

verbot aber zugleich jegliche Diskussion zwischen Chalcedoniern und Monophysiten. <strong>Die</strong><br />

Antwort <strong>des</strong> Papstes bestand noch im selben Jahr in der Absetzung <strong>des</strong> Patriarchen Paul.<br />

Auch um den Preis einer weiteren Spaltung <strong>des</strong> Glaubens und einer Schwächung <strong>des</strong><br />

Reiches wollte sich Rom das Denken nicht verbieten lassen.<br />

649 folgte auf Theodor I Martin I. Constans stimmte seiner Wahl nicht zu. Martin berief<br />

im selben Jahr eine Lateransynode ein, auf der Monotheletismus und Monophysitismus<br />

verurteilt wurden. Das Diskussionsverbot war also von Rom missachtet worden. Constans<br />

beauftragte den Exarchen von Ravenna, Olympios, Maximos und Martin zu verhaften und<br />

nach Konstantinopel zu bringen. Olympios erkannte darin seine Chance zum Aufruhr und<br />

rief sich selbst zum Kaiser aus. Er starb jedoch schon 652, ohne es zum Kaiser gebracht zu<br />

haben, und erst sein Nachfolger führte 653 die kaiserlichen Befehle aus. Nachfolger<br />

Martins wurde Eugen I (654 – 657).<br />

Neben dem Verstoß gegen den Typos <strong>des</strong> Kaisers, das Diskussionsverbot, wurde Maximos<br />

- sicher fälschlich - die Unterstützung <strong>des</strong> Gregorios vorgeworfen. Dessen Revolte war<br />

allerdings glücklos geblieben, denn er war schon 647 in Nordafrika im Kampf gegen die<br />

Araber gefallen. Martin wurde erst im nächsten Jahr, 654, nach Konstantinopel gebracht,<br />

dort öffentlich gedemütigt und dann nach Cherson auf der Krim verbannt. Schon vorher<br />

krank, starb er im Jahr darauf. Nach seinem Tod wurde Maximos aus dem Kerker entlassen<br />

und nach Bizya in Thrakien verbannt.<br />

In diesem Jahr, dem Jahre 655, errangen die Sarazenen unter dem späteren (ab 661) Kalifen<br />

von Damaskus, Muawiya I (602 – 680), durch einen vernichtenden Sieg über die römische<br />

Flotte bei Phoinix 22 die Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer, und ihre Heere marschierten<br />

gegen Konstantinopel. <strong>Die</strong> Flotte bei Phoinix hatte Constans selber befehligt. 662 verließ<br />

22 Lykien, Süd-Anatolien


16<br />

er Ostrom mit einem Heer in Richtung Westen, um von dort den Widerstand zu<br />

organisieren. <strong>Die</strong>s war weder Flucht noch Feigheit, sondern Taktik innerhalb <strong>des</strong><br />

konsensualen geschichtlichen Auftrags, das Römische Reich wieder herzustellen.<br />

Allerdings flossen aus dem weniger stark verwüsteten Westreich die Finanzmittel auch<br />

etwas reichlicher, wofür Ravenna vorübergehend mit der Autokephalität belohnt wurde.<br />

Ebenfalls 662 lehnte Maximos es erneut ab, dem kaiserlichen Typos von 648 zu gehorchen.<br />

Zur Strafe wurde ihm nun die Zunge herausgeschnitten und die rechte Hand abgehackt.<br />

Anschließend wurde er in den Kaukasus verbannt. Auf dem Weg dorthin starb er im selben<br />

Jahr in Lazika, Georgien, im Kastell Schemarion. Constans wurde 668 in Syrakus, das er<br />

zur Hauptstadt erhoben hatte, ermordet, vermutlich von einem Schergen Muawiyas.<br />

Soweit also die historischen Ereignisse. Weder die Einheit <strong>des</strong> Glaubens noch die <strong>des</strong><br />

Reiches konnte gewahrt bzw. wieder hergestellt werden. Ob letzteres unter ersterem<br />

gelungen wäre, erscheint angesichts der kriegerischen Überlegenheit der Barbaren, der<br />

Germanen einerseits und der Araber, bzw. später der Türken, andererseits, äußerst<br />

zweifelhaft. Mit Spengler betrachten wir in<strong>des</strong>sen die Ereignisse nicht als Zusammenprall<br />

verschiedener Kulturen im selben Raum, sondern als einheitliche Entwicklung innerhalb<br />

ein und derselben Kultur, eben der magisch-arabischen oder - in unserer Terminologie - der<br />

Typ-III-Kultur. Dann erscheinen die verschiedenen Häresien und ebenso die gegen sie<br />

aufgebotenen Kompromisse und insbesondere der Typos von 648 als frühe, erfolglose<br />

Versuche, die “Tore der Weisheit“ zu schließen, was letztlich erst nach Herstellung eines<br />

unter dem Islam einheitlichen Raumes und erst dadurch möglichen Leugnung der Zeit - wie<br />

sie den Typ-III kennzeichnet - geschehen konnte. <strong>Die</strong> verschiedenen rezenten christlichen<br />

Richtungen waren innerhalb dieser Typ-III-Kultur Keime späterer Kulturen. Nur einer<br />

dieser Keime war mit der magischen Leugnung der Zeit nicht kompatibel und folglich<br />

Ursprung der Nachfolge-Kultur, nämlich die Nicänische Orthodoxie. Mit welchen<br />

Argumenten wurde sie von Maximos Confessor im Jahre 645 in Karthago gerettet?<br />

<strong>Die</strong> chalcedonische Formel zur Christologie lautete, in Jesus seien zwei Naturen, die<br />

göttliche und die menschliche, “unvermischt und unzertrennlich“ vereint. Beten aber kann<br />

man nur zu einem Gott, nicht zu einem Menschen. Wenn aber andererseits Jesus nur Gott<br />

war und nichts Menschliches hatte, so besteht keine Hoffnung auf Erlösung, die durch ihn<br />

vermittelt und garantiert würde. Aus diesem Dilemma sollte der Monotheletismus<br />

heraushelfen: Es gibt in der Tat ein Eines in Jesus, auf das sich Glaube und Gebet richten<br />

können, weil es rein göttlich ist: Der Wille. 23 Hiergegen argumentiert Maximos, daß dann<br />

dieser eine Wille Gott, also Jesus, sowohl dazu gedient haben müsse, vor seiner<br />

Menschwerdung alles aus Nichtseiendem zu erschaffen und das Erschaffene durch seine<br />

Vorsehung zum Heil zu lenken, als auch nach seiner Menschwerdung sich von Ort zu Ort<br />

zu begeben und in Vollkommenheit zu handeln.<br />

<strong>Die</strong>ses Argument ist schwach, da dem Begriff <strong>des</strong> Willens genau dies zukommt. Wille ist<br />

transzendental, d.h. sowohl transzendent als immanent. Wille ist apriorisch. Es gibt in der<br />

Tat nur einen Willen. Descartes und die moderne Wissenschaft sind monotheletisch.<br />

Das stärkste Argument, das vor dem zweiten Vatikanischen Konzil 24 innerhalb der Kirche<br />

möglich war, war der Verweis auf die (Kirchen-)Väter. So beriefen sich die Monotheleten<br />

auf den vor-chalcedonischen Glauben. Maximos meint dagegen: “Sollen wir am Tage <strong>des</strong><br />

Gerichts, wenn Christus uns fragt: “Warum habt ihr einen Ausdruck übernommen, der das<br />

23 Da “Wille“ auf griechisch “thelema“ heißt, spricht man vom Monotheletismus.<br />

24 1962-1965


17<br />

Geheimnis meiner Menschwerdung zerstört?“ etwa antworten: “Weil wir die Väter mehr<br />

als Dich achteten?“ - <strong>Die</strong>ses Argument ist schon Lutherisch.<br />

Sein entscheiden<strong>des</strong> Argument ist jedoch das folgende: “Wie wollt ihr, die ihr eine einzige<br />

Wirkkraft behauptet, diese benennen? Göttlich, oder menschlich, oder keines von beiden?<br />

Wenn göttlich, dann behauptet ihr, daß Christus nur Gott war, wenn aber menschlich, daß<br />

er überhaupt nicht Gott war, wenn aber keines davon, daß er nicht existent war.“<br />

Durch diese Überlegung kommt eine gleichsam faustische Dimension in die Christologie,<br />

nämlich die Erkenntnis, daß das Verhältnis zwischen dem Göttlichen und dem<br />

Menschlichen überhaupt, nicht Wesen ist, sondern Beziehung. 25 - In dieser Erkenntnis liegt<br />

die entscheidende Trennung zwischen westlichem und östlichem Christentum, welches die<br />

Bezeichnung “orthodox“ heute für sich reklamiert.<br />

4. Oberfläche und Gewissheit<br />

Alle Häresien hatten zum Ziel, die Oberfläche zwischen dem Quell der Kognition und dem<br />

Menschen außerhalb <strong>des</strong>selben zu halten. Sie waren hierin Fortsetzungen der Apollinik und<br />

Rückbewegungen zu ihr. Ihre inhaltlichen Mythologeme, die Dogmen, deretwillen sie<br />

notfalls den Märtyrertod hinnahmen, waren lediglich Mittel zur Re-Konstruktion der alten<br />

Mentalität. <strong>Die</strong>s gilt für tradierte Glaubensinhalte <strong>des</strong> Alten Testaments ebenso wie für die<br />

neuentwickelten Kompromißversuche. <strong>Die</strong> monotheistischen Atavismen verringern die<br />

alttestamentarische Distanz zwischen Gott und Mensch. Ihr Versuch, Jesus zu definieren,<br />

mündet in die Verweltlichung Gottvaters. <strong>Die</strong> kognitogenetische Grenze wird analog zu<br />

den Grenzen, Distanzen und Relationen zwischen Menschen innerweltlich konstruiert.<br />

Dabei kann das Aktionszentrum entweder in Gott oder im Menschen liegen. Letzteres ist<br />

bei den asketischen und optimistischen Lehren der Fall, die dem Menschen die Initiative<br />

anheim geben, sich zu Gott hin zu bewegen, als sei er ein wohlbekanntes Ziel. Hierzu<br />

gehören Eboniter, Nazarener, Elkasaiten, Monarchisten, Subordinatianer, Montanisten und<br />

Pelagianer. <strong>Die</strong> numismatischen Häresien spalten die Begriffe, so daß wieder<br />

Monotheismus hergestellt wird. Hierzu zählen Doketismus, Gnostizismus und<br />

Nestorianismus. Ihnen zufolge hat entweder Gott oder der Mensch zwei Seiten 26 , die durch<br />

eine innere Grenze getrennt sind. Welche Ansichtsseite jeweils erscheint und aufgrund<br />

welcher Kausalität, bleibt unklar. Also muss es ein Drittes geben, welches genau dies<br />

entscheidet. <strong>Die</strong> numismatischen Häresien sind somit durch ihre Restriktion auf die Zwei-<br />

Zahl unvollständig.<br />

<strong>Die</strong> Hermetik behält die apollinische Lage der Grenze zwischen Gott und Mensch bei,<br />

schließt aber die Welt als Ganze zu einer Höhle. Wie in der Bikameralen Psyche ist die<br />

Grenze mit der menschlichen Körperoberfläche identisch. In Relation zum Raum bleibt der<br />

einzelne Mensch unausgedehnt. Der ihn umgebende Raum aber ist nicht mehr das<br />

Unbegrenzte, dem mangels Begrenzbarkeit keine Ordnung aufgezwungen werden kann,<br />

sondern ist eine geschlossene, hermetische Höhle, in der alles seinen Ort hat, auch Gott,<br />

und außerhalb derer es nichts gibt. <strong>Die</strong> aktive Grenzfläche zwischen epistemischer Quelle<br />

und epistemischem Empfänger windet sich allgegenwärtig und nirgendwo lokalisierbar<br />

durch den Raum. In ihm werden die Gedanken erzeugt. Ein so konstruierter Raum erzeugt<br />

Gedanken. Unter Leugnung der Zeit müssen diese die Form von Begriffen besitzen. <strong>Die</strong>s<br />

war die erste Lösung <strong>des</strong> Problems <strong>des</strong> zu Gedanken Kommens nach dem Zusammenbruch<br />

25 Nach Spengler ist es das Wesen der Faustischen (Typ-IV) Kultur, Wesen durch Beziehung zu ersetzen.<br />

26 wie eine Münze, daher “numismatisch“


der Bikameralen Psyche.<br />

18<br />

Jaynes sieht die Psyche als sich über verschiedene Stadien evolvierend an. Genauer gesagt<br />

ist er der Meinung, dass erst mit dem Erscheinen <strong>des</strong> <strong>Bewusstseins</strong> eine solche Evolution<br />

möglich wird: Bewusstsein sei ein Operator. Er scheint allerdings anzunehmen, dass dieser<br />

Operator auf sich selbst wirkt, sich also selber evolviert. Das vorherige Stadium, die<br />

Bikamerale Psyche, ist nicht evolviert, sondern zusammengebrochen. Wir kennen sie<br />

überhaupt nur aus der Phase ihres Zusammenbruchs, weil sie gerade in dieser Phase die<br />

grossen Epen und die die Religionen begründenden Texte produziert hat. Das resultierende<br />

Bewusstsein kennen wir nur aus Introspektion. <strong>Die</strong>se historisch gleichsam punktuelle<br />

Sichtweise erscheint unbefriedigend und inkonsequent. Wenn wir den Jaynes'schen Ansatz<br />

verallgemeinern und in einen grösseren Rahmen stellen wollen, so kann dieser nur der<br />

Gedanke der auf Kultur übertragenen, sich auch in Kulturen ereignenden Evolution sein.<br />

Dann aber müssen wir den psychologisch-qualitativen Gegenstand “Bewusstsein“ durch<br />

einen epistemisch-strukturellen ersetzen. Statt <strong>des</strong> <strong>Bewusstseins</strong> betrachten wir die<br />

epistemische Grenzfläche, deren Lage über die psychologische Verfasstheit der Mentalität<br />

entscheidet. Ist diese Grenzfläche mit der <strong>des</strong> geografischen Siedlungsraumes identisch<br />

(Typ-I), dann sind Raum und Zeit ununterscheidbar und ungetrennt. - Ist sie mit der<br />

Körperoberfläche identisch (Typ-II), dann sind Raum und Zeit parametrisch. <strong>Die</strong>ser<br />

terminus technicus soll besagen, dass sie an isolierte Ereignisse oder Gegenstände<br />

gekoppelt sind und von diesen abgelesen, durch diese definiert werden. - Befindet sie sich<br />

im Inneren einer dreidimensionalen Welt (Typ-III), dann dient der Raum als<br />

“Anschauungsweise <strong>des</strong> inneren Sinnes.“ Episteme besteht dann in der Verortung von<br />

Denkmöglichkeiten, von denen nur eine verbindlich ist. Sie zu verlassen bedeutet, den<br />

Raum zu verlassen. - Liegt sie im Inneren <strong>des</strong> Einzelnen (Typ-IV), dann dient die Zeit als<br />

“Anschauungsweise <strong>des</strong> inneren Sinnes“ und “entsteht“ zugleich mit dieser Funktion. -<br />

Alle vier Stadien sind solche einer sukzessiven Abbreviatur als eines evolutiven<br />

Geschehens. <strong>Die</strong> enorme Dauer <strong>des</strong>selben spricht für Jaynes' Deutung der Götter als<br />

Stimmen und der Stimmen als Götter: Nichts kann schwieriger sein, als Götter zu<br />

Menschen und Menschen zu Göttern zu machen.<br />

(c) 2013 webmaster @ ptolemaios.de

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