Textteil der Festschrift - Kultur in Ostpreußen
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Die neue Zeit.<br />
Je mehr wir uns <strong>der</strong> Gegenwart nähern, desto kürzer können wir uns fassen und das Gedächtnis<br />
<strong>der</strong> Leser selbst als untrügliche Geschichtsquelle <strong>in</strong> Anspruch nehmen. – Immer darauf bedacht, die<br />
allgeme<strong>in</strong>en Belange des deutschen Theaters nicht aus den Augen zu verlieren, war Leopold<br />
Jessner viel auf Reisen gewesen und dann genötigt, die Regelung <strong>der</strong> künstlerischen wie geschäftlichen<br />
Angelegenheiten dem schon <strong>in</strong> Hamburg erprobten Arbeitsgenossen anzuvertrauen. Ri chard<br />
Rosenhei m war allmählich Jessners „rechte Hand“ geworden. So war Rosenheim denn wie ke<strong>in</strong><br />
an<strong>der</strong>er mit den Bedürfnissen des Hauses vertraut und halte zudem als Oberregisseur sehr oft Gelegenheit<br />
gehabt, se<strong>in</strong> Kunstkönnen vor aller Öffentlichkeit zu erproben. Da man nun mit dem<br />
Spielplan <strong>der</strong> letzten Jahre, wie mit dessen Ausführung zufrieden war, so verlangte es sowohl die<br />
Dankbarkeit wie die Logik, bei <strong>der</strong> Neuwahl nicht an dem Manne vorüberzugehen, <strong>der</strong> nächst<br />
Jessner am Erfolge den meisten Anteil hatte. E<strong>in</strong> Regierungswechsel war notwendig, e<strong>in</strong> Systemwechsel<br />
nicht. So wurde denn im Sommer 1919 Richard Rosenheim zum Direktor und im Herbst<br />
zum ersten Geschäftsführer <strong>der</strong> Gesellschaft bestellt.<br />
Der Krieg war wohl vorüber, doch sollten die schwersten Prüfungen dem Theater mit <strong>der</strong> Erschütterung<br />
<strong>der</strong> Währung und <strong>der</strong> Wirtschaft noch bevorstehen! Denkbar größte Sparsamkeit war<br />
geboten und wirkte sich zeitweise fast komisch aus, so <strong>in</strong> <strong>der</strong> behördlichen Festsetzung des allabendlichen<br />
Theaterschlusses. Auch war die Konkurrenz zweier an<strong>der</strong>er Bühnen – das Stadttheater<br />
mit e<strong>in</strong>em zweiten Schauspiel! – doch nicht immer ganz gleichgültig. E<strong>in</strong>e Entspannung und Sicherung<br />
<strong>der</strong> Lage trat <strong>in</strong> dieser Beziehung erst zum Herbst 1924 mit <strong>der</strong> (unter reger Anteilnahme des<br />
Stadtschulrats Prof. Dr. Stett<strong>in</strong>er erfolgten) Begründung des Ostpreußischen Landestheaters<br />
e<strong>in</strong>. Nach e<strong>in</strong>em Organisationsplan Rosenheims g<strong>in</strong>gen damals Neues Schauspielhaus und Stadttheater,<br />
unter Aufrechterhaltung ihrer künstlerischen Selbständigkeit, e<strong>in</strong>e Arbeits- und Interessengeme<strong>in</strong>schaft<br />
e<strong>in</strong>, wodurch <strong>der</strong> erstgenannten Bühne das Schauspiel, dem Stadttheater Oper<br />
und Operette als ausschließliches Betätigungsfeld zugewiesen wurden. Josef Geissel wurde zum<br />
Intendanten <strong>der</strong> Oper, Richard Rosenheim zum Intendanten des Schauspi els ernannt.<br />
In allen Wechselfällen und Notständen hat Rosenheim die Traditionen des Schauspielhauses<br />
nicht nur gewahrt, son<strong>der</strong>n noch vertieft und se<strong>in</strong>e Leistungen auf e<strong>in</strong>er fast gleichmäßigen, ansehnlichen<br />
Höhe gehalten, die dem Theater Ehre und Ansehen e<strong>in</strong>trug. Der neue Direktor vere<strong>in</strong>igte<br />
<strong>in</strong> sich e<strong>in</strong>e Reihe nicht gewöhnlicher Vorzüge: praktischen Geschäftsgeist mit echtem Kunstgefühl,<br />
Enthusiasmus mit Besonnenheit, spürende Intelligenz mit umsichtigem Organisationstalent.<br />
Schon unter <strong>der</strong> früheren Leitung waren von Rosenheim so verschiedenartige Inszenierungsprobleme<br />
wie „Egmont“ und „Hannele“, „Gyges“ und Sternheims „Hose“, „König<strong>in</strong> Esther“ und<br />
„Wozzeck“, „Kaufmann von Venedig“ und „Madame Legros“ befriedigend gelöst worden. Jetzt konnte<br />
sich se<strong>in</strong>e sichere und kühne Regiebegabung erst recht nach allen Seiten ausleben. War Leopold<br />
Jessner <strong>der</strong> s<strong>in</strong>nenfreudigste, so war Richard Rosenheim <strong>der</strong> geistigste Spielleiter des Schauspielhauses<br />
– <strong>der</strong> Denkspieler unter den Regisseuren, <strong>der</strong> gerne e<strong>in</strong> wenig tüftelte, <strong>in</strong>s Innerste <strong>der</strong><br />
Dichtung e<strong>in</strong>drang und auf die Quellen zurückg<strong>in</strong>g. Er gab den „Faust“ <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er ursprünglichen<br />
Gestalt und den „Götz von Berlich<strong>in</strong>gen“ unter Anlehnung an die erste Fassung. Schillers sämtliche<br />
Jugenddramen erschienen <strong>in</strong> mo<strong>der</strong>ner Erneuerung und selbständiger Aufmachung. Den „Don Carlos“<br />
z. B. faßte Rosenheim, im Gegensatz zu se<strong>in</strong>em Vorgänger, nicht bloß als „Familiengemälde<br />
aus e<strong>in</strong>em königlichen Hause“ auf, son<strong>der</strong>n als bewußt-unbewußten Kampf zweier Weltanschauungen:<br />
auf <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en Seite des geistlichen, politischen und häuslichen Despotismus, <strong>der</strong> selbst den<br />
König zum Knecht erniedrigt, und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>n Seite des Boden suchenden Humanitätsgedankens<br />
und Freiheitssehnens. Diesen polaren Gegensatz wollte <strong>der</strong> Inszenator <strong>in</strong> unmittelbare Anschauung<br />
umsetzen, nicht zuletzt durch die Mittel <strong>der</strong> Licht- und Farbensymbolik, durch die er das<br />
R<strong>in</strong>gen zwischen (sozusagen) Helle und Hölle, zwischen den lichten Idealen <strong>der</strong> neuen Zeit und <strong>der</strong><br />
Kerkernacht mittelalterlicher Hierarchie zu vers<strong>in</strong>nbildlichen suchte.<br />
Bei alledem war Rosenheim ke<strong>in</strong> kalter Rechner und Gedankenathlet, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong>e warmempf<strong>in</strong>dende<br />
Künstlernatur, die gerade auch für das Un- und Unterbewußte, für <strong>in</strong>nere Visionen<br />
und die Dämmerungsgebiete des Seelenlebens viel übrig hatte. Nicht selten entrückte er die Handlung<br />
<strong>der</strong> „geme<strong>in</strong>en Deutlichkeit <strong>der</strong> D<strong>in</strong>ge“. Es ist bezeichnend, daß se<strong>in</strong>e Direktionsführung mit<br />
dem „Traumspiel“ e<strong>in</strong>setzte, und unter expressionistischem E<strong>in</strong>fluß g<strong>in</strong>g er so weit, Str<strong>in</strong>dbergs<br />
früher von ihm selbst ganz realistisch durchgeführten „Rausch“ e<strong>in</strong>mal als e<strong>in</strong>e Art mo<strong>der</strong>nen Mysteriums<br />
zu <strong>in</strong>szenieren.<br />
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