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Zeitschrift "Militärgeschichte"

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Heft 4/2005<br />

Militärgeschichte<br />

<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />

C 21234 ISSN 0940 – 4163<br />

Militärgeschichte im Bild: UNPROFOR-Einsatz in Trogir bei Split in Kroatien, 1995<br />

Deutsche Luftwaffe<br />

Der Fall Löwen<br />

Nationale Volksarmee<br />

Westliche Verteidigungsstrategie<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />

MGFA


IMPRESSUM<br />

Militärgeschichte<br />

<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />

Editorial<br />

Herausgegeben<br />

vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />

durch Oberst Dr. Hans Ehlert und<br />

Oberst i.G. Dr. Hans-Hubertus Mack<br />

(V.i.S.d.P.)<br />

Produktionsredakteur der<br />

aktuellen Ausgabe:<br />

Mag. phil. Michael Thomae<br />

Redaktion:<br />

Major Heiner Bröckermann M.A. (hb)<br />

Hauptmann Agilolf Keßelring M.A. (aak)<br />

Hauptmann Thorsten Loch M.A. (tl)<br />

Mag. phil. Michael Thomae (mt)<br />

Bildredaktion:<br />

Dipl.-Phil. Marina Sandig<br />

Redaktionsassistenz:<br />

Richard Göbelt, Cand. Phil.<br />

Lektorat:<br />

Dr. Aleksandar-S. Vuletić<br />

Layout/Grafik:<br />

Maurice Woynoski<br />

Karten:<br />

Bernd Nogli<br />

Anschrift der Redaktion:<br />

Redaktion »Militärgeschichte«<br />

Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />

Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam<br />

Telefon: (03 31) 97 14 -569<br />

Telefax: (03 31) 97 14 -507<br />

Homepage: www.mgfa.de<br />

Technische Herstellung:<br />

MGFA, Schriftleitung<br />

Manuskripte für die Militärgeschichte werden<br />

an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt<br />

eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet.<br />

Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt<br />

der Herausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung,<br />

Übersetzung usw. Honorarabrechnung<br />

erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die<br />

Redaktion behält sich Kürzungen eingereichter<br />

Beiträge vor. Nachdrucke, auch auszugsweise,<br />

fotomechanische Wiedergabe und Übersetzung<br />

sind nur nach vorheriger schriftlicher<br />

Zustimmung durch die Redaktion und mit Quellenangaben<br />

erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme<br />

in elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen<br />

auf CD-ROM. Die Redaktion hat<br />

keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die<br />

Inhalte derjenigen Seiten, auf die in dieser <strong>Zeitschrift</strong><br />

durch Angabe eines Link verwiesen wird.<br />

Deshalb übernimmt die Redaktion keine Verantwortung<br />

für die Inhalte aller durch Angabe<br />

einer Linkadresse in dieser <strong>Zeitschrift</strong> genannten<br />

Seiten und deren Unterseiten. Dieses gilt<br />

für alle ausgewählten und angebotenen Links<br />

und für alle Seiteninhalte, zu denen Links oder<br />

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© 2005 für alle Beiträge beim<br />

Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA)<br />

Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber ermittelt<br />

worden sein, bitten wir ggf. um Mitteilung.<br />

Druck:<br />

SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden<br />

ISSN 0940-4163<br />

in ruheloser Zeit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts,<br />

wurden erstmals deutsche Luftstreitkräfte<br />

als Teil von Heer und Marine<br />

geschaffen; 1918, nach nur fünf Jahren Existenz,<br />

verboten die alliierten Siegermächte<br />

sie. Aber schon 1939 – bei der Entfesselung<br />

des Zweiten Weltkrieges – besaßen die Deutschen<br />

eine der stärksten Luftwaffen. Auch<br />

dieser war bloß ein kurzes Leben beschieden.<br />

Im Zuge der Wiederbewaffnungsdebatte<br />

Anfang der 50er Jahre gab es erste Überlegungen<br />

zur Gründung einer Luftwaffe der<br />

Bundeswehr. 1955, im Gründungsjahr des<br />

Bundesministeriums für Verteidigung, war<br />

das Ziel klar: eine Teilstreitkraft zu schaffen,<br />

die eine Einbindung in NATO-Kommandostrukturen<br />

ermöglichte. Auch die Bundesrepublik<br />

Deutschland sollte schließlich ihren<br />

Beitrag zur Bündnisverteidigung leisten. Seit<br />

Anfang der 60er Jahre war dann die Luftwaffe Teil der atomaren Planungen der<br />

NATO im Rahmen der so genannten Massiven Vergeltung. Mit der Übernahme<br />

einer neuen NATO-Strategie, der »Flexible Response«, stieg der Anteil der »konventionellen«<br />

Aufgaben der Luftwaffe sprunghaft an, die nukleare Einbindung in<br />

die NATO-Planungen nahm hingegen ab. Dieser Strategiewechsel der NATO im<br />

Jahre 1967 hatte weitreichende Auswirkungen auch auf die bundesrepublikanische<br />

Luftwaffe: Sie erlebte einen nachhaltigen Umbau, der bis 1991 in Kraft blieb.<br />

Das Jubiläum »50 Jahre Luftwaffe« der Bundeswehr am 3. Januar 2006 nimmt<br />

Bernd Lemke zum Anlass, die aufregenden Anfangsjahre dieser Teilstreitkraft zu<br />

beschreiben. Den Wandel von der Massiven Vergeltung zur Flexible Response und<br />

die Folgen für Westeuropa schildert Oliver Palkowitsch. Schließlich erinnert Heiner<br />

Bröckermann an einen weiteren Geburtstag: Am 1. März 1956 wurde offiziell<br />

die »Armee des Volkes« der DDR, die NVA, ins Leben gerufen.<br />

Eine gewinnbringende Lektüre beim vorliegenden Heft sowie viel Gesundheit<br />

und Erfolg im Jahr 2006 wünscht Ihnen<br />

Mag. phil. Michael Thomae<br />

Anmerkung in eigener Sache: Dem Heft liegt ein Jahreskalender 2006 bei.


D i e A u t o r e n<br />

Inhalt<br />

• Der Aufbau der deutschen<br />

Luftwaffe bis 1970<br />

4<br />

Dr. Bernd Lemke,<br />

geboren 1965 in Riedlingen/Donau,<br />

Wissenschaftlicher Rat z.A.<br />

und Wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am MGFA,<br />

Potsdam<br />

Eine grimmige graue Horde ...<br />

• Der Fall Löwen<br />

25. August 1914<br />

10<br />

• Die Nationale Volksarmee<br />

Gedanken zum 50. Jahrestag ihrer Gründung<br />

14<br />

Dr. Klaus-Jürgen Bremm,<br />

geboren 1958 in Duisburg,<br />

Oberstleutnant d.R. und<br />

Lehrbeauftragter für Neuere<br />

Geschichte an der Universität<br />

Osnabrück<br />

Heiner Bröckermann M.A.,<br />

geboren 1966 in Bremerhaven,<br />

Major und Wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter am MGFA,<br />

Potsdam<br />

• Westliche Verteidigungsstrategie<br />

in der Gründungsphase der NATO<br />

• Service<br />

Das historische Stichwort:<br />

»Gleichberechtigung ist nicht Gleichmacherei«<br />

Medien online/digital<br />

Lesetipp<br />

Ausstellungen<br />

Geschichte kompakt<br />

• Militärgeschichte im Bild<br />

10 Jahre Balkaneinsätze – Blauhelme in Kroatien 1995<br />

18<br />

22<br />

22<br />

24<br />

26<br />

28<br />

30<br />

31<br />

Dipl. Politologe Oliver Palkowitsch,<br />

geboren 1976 in Mannheim,<br />

Hauptmann und Lehroffizier an der<br />

Sanitätsakademie der Bundeswehr,<br />

München<br />

Mit dem UNPROFOR-Einsatz<br />

begannen im Sommer 1995 die<br />

Einsätze auf dem Balkan. Im Bild:<br />

Parole des Kompaniefeldwebels der<br />

Sanitätskompanie GECONUNPF<br />

1. Kontingent im Oktober 1995,<br />

Feldlazarett Trogir.<br />

Foto: SKA/IMZBw/Detmar Modes<br />

Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe: Wissenschaftlicher Oberrat Dr. Torsten Diedrich, MGFA; Dr. Martin Rink, Potsdam;<br />

Oberstleutnant Dr. Matthias Rogg, MGFA; Oberstleutnant Dr. Wolfgang Schmidt, MGFA;<br />

Wissenschaftlicher Oberrat Dr. Rüdiger Wenzke, MGFA; Major John Zimmermann M.A.,<br />

Offizierschule der Luftwaffe Fürstenfeldbruck


Deutsche Luftwaffe<br />

Fotosammlung Görigk<br />

Der Aufbau der<br />

deutschen Luftwaffe<br />

bis 1970<br />

5 Die ersten Freiwilligen der Luftwaffe in Nörvenich 1955/56<br />

LwM Berlin-Gatow<br />

Luftstreitkräfte sind immer eingebunden<br />

in die Entwicklung von Staat<br />

und Gesellschaft ihrer jeweiligen Zeit.<br />

Dies gilt auch für die deutsche Luftwaffe.<br />

Ihr Weg war geprägt vom<br />

Wechsel zwischen Nichtexistenz und<br />

hektischem Aufbau bzw. Einsatz. Ab<br />

1914 als Teil von Heer und Marine aufgebaut,<br />

1918 verboten und offiziell<br />

nichtexistent, ab 1933/35 bis 1939 als<br />

eigene Teilstreitkraft quasi aus dem<br />

Boden gestampft und dann in den<br />

Eroberungskampf geworfen, in die<br />

Defensive gedrängt und dann vernichtet,<br />

nach 1945 wieder nichtexistent,<br />

wurde sie 1955/56 im Zuge der<br />

Wiederbewaffnung der Bundesrepublik<br />

als Instrument zur Verteidigung<br />

der jungen Demokratie gegründet.<br />

Konzeptionelle Anfänge im Zeichen des<br />

entstehenden Ost-West-Konflikts<br />

Die Grundlagen für den Wiederaufbau<br />

entstanden schon<br />

direkt nach dem Ende des Hitler-Regimes.<br />

Im Westen verbreitete sich<br />

nach dem Zerbrechen der Kriegsallianz<br />

zunehmend die Furcht vor der militärischen<br />

Macht der Sowjetunion, vor<br />

allem vor ihren Panzerarmeen. Nachdem<br />

die USA nach 1945 ihre Streitkräfte<br />

in Europa zunächst erheblich<br />

reduziert hatten, beschlossen sie eine<br />

Wiederaufrüstung, um im Konfliktfall<br />

die angenommene Gefahr aus dem<br />

Osten abwehren zu können.<br />

Europa erhielt in der strategischen<br />

Perspektive Washingtons ein zentrales<br />

Gewicht. Nun hatte man jedoch in<br />

Europa abgerüstet, und die europäischen<br />

Verbündeten waren nach 1945<br />

am Ende ihrer Kräfte. Briten und<br />

Franzosen belasteten sich zudem noch<br />

durch vergebliche Versuche, ihre Kolonialreiche<br />

durch militärische Interventionen<br />

zu retten.<br />

Zunächst gingen westliche Militärplaner<br />

davon aus, dass es bestenfalls<br />

gelingen würde, Stützpunkte an der<br />

westlichen Peripherie Europas zu halten.<br />

Als einziges Mittel für einen Gegenschlag<br />

standen, wie schon 1940–1944,<br />

die schweren Bomber der Briten und<br />

Amerikaner zur Verfügung, diese nun<br />

allerdings mit Nuklearwaffen ausgerüstet.<br />

In der 1949 gegründeten NATO<br />

glaubte man Anfang der 50er Jahre<br />

einen Angriff der sowjetischen Streit-<br />

4<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


3 Abschuss einer NIKE Hercules auf der<br />

NATO Missile Firing Installation (NAMFI)<br />

Kreta<br />

4 Tower-Besatzung eines Fliegerhorstes,<br />

Ende der 1950er Jahre<br />

kräfte im günstigsten Falle auf einer<br />

Linie Kaiser-Wilhelm-Kanal–Ijssel–<br />

Rhein stoppen zu können.<br />

Angesichts dieser Lage begann man<br />

über die Einbeziehung Westdeutschlands<br />

in die Verteidigungsanstrengungen<br />

nachzudenken. Akut wurde diese<br />

Option, als im Juni 1950 der Koreakrieg<br />

ausbrach und man auf westlicher<br />

Seite eine ähnliche Entwicklung<br />

in Europa befürchtete. Bundeskanzler<br />

Konrad Adenauer setzte nach einem<br />

Treffen der westlichen Außenminister<br />

eine Expertenkommission ein, die vom<br />

3. bis 6. Oktober 1950 im Eifelkloster<br />

Himmerod tagte. Dort stellten die Planer<br />

Überlegungen zur Aufstellung von<br />

zwölf Heeresdivisionen mit einer taktischen<br />

Heeresluftwaffe an, ohne ihr<br />

den Status einer eigenen Teilstreitkraft<br />

zuzubilligen. Dies geschah erst<br />

im Zuge der EVG-Verhandlungen bis<br />

1954, wobei die USA einen erheblichen<br />

Einfluss ausübten.<br />

Wehrtechnische Studiensammlung/BWB Koblenz, FA. P. Strack<br />

Startschuss<br />

Am 12. November 1955 erhielten die<br />

ersten 101 Soldaten, darunter auch<br />

Luftwaffensoldaten, ihre Ernennungsurkunden<br />

von Verteidigungsminister<br />

Theodor Blank. Die erste Einheit der<br />

Luftwaffe wurde zum Jahresbeginn<br />

1956 aufgestellt: die Luftwaffenlehrkompanie<br />

in Nörvenich. Die ersten<br />

Flugzeuge erhielt die Teilstreitkraft<br />

am 24. September 1956 in Fürstenfeldbruck.<br />

Diese Maschinen stammten wie alles<br />

Großgerät der Erstausstattung aus amerikanischen<br />

Beständen. Da sich der<br />

Westen einer starken Bedrohung durch<br />

den Warschauer Pakt ausgesetzt sah<br />

und die Bundesregierung die Verpflichtung<br />

eingegangen war, rasch aufzurüsten,<br />

hielt man es für das Beste, das<br />

von den USA bereits produzierte Material<br />

zu übernehmen, zumal es im Rahmen<br />

der »Nash-Liste« kostenlos zur<br />

Verfügung gestellt wurde und die USA<br />

auch die entsprechenden Kapazitäten<br />

für die notwendige Ausbildung der<br />

deutschen Piloten und Techniker bereit<br />

stellten. Infolgedessen war das Erschei-<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 5


Deutsche Luftwaffe<br />

nungsbild der Luftwaffe von Anfang<br />

an stark amerikanisch geprägt.<br />

Die ersten Planungen sahen den Aufbau<br />

von insgesamt 20 Geschwadern<br />

mit insgesamt höchstens 1326 Kampfflugzeugen<br />

vor (Obergrenze nach den<br />

EVG-Verhandlungen und dem WEU-<br />

Vertrag), dazu eine bodenständige<br />

Luftverteidigung mit Flugabwehrkanonen,<br />

später mit Fla-Raketen. Gedacht<br />

war die Luftwaffe zunächst als rein<br />

konventionelle Streitmacht zur Unterstützung<br />

der Heeresverbände und zur<br />

Heimatluftverteidigung.<br />

Im Ernstfall oblag der NATO und<br />

nicht deutschen Einsatzstäben die Führung<br />

sämtlicher Kampfverbände. Denn<br />

mit dem Übergang zur modernen<br />

Flugtechnologie mit Geschwindigkeiten<br />

von bis zu Mach 2 sanken die<br />

Reaktionszeiten. Dies galt vor allem im<br />

geografischen »Handtuch« Bundesrepublik,<br />

das – für den Kriegsfall ohnehin<br />

als »Schlachtfeld« definiert – von<br />

modernen Jets in wenigen Minuten<br />

überflogen werden konnte. Ein wesentlicher<br />

Grund für die Leitung der deutschen<br />

Verbände durch die NATO war<br />

jedoch auch die Tatsache, dass die<br />

Westalliierten den Deutschen nach den<br />

unheilvollen Erfahrungen des Zweiten<br />

Weltkrieges noch nicht recht trauten. So<br />

ersteckten sich die Befehlskompetenzen<br />

des Führungsstabes der Luftwaffe<br />

im Ernstfall lediglich auf die Bereiche<br />

Ausbildung, Nachschub, Logistik und<br />

Technik. Die Kampfverbände wurden<br />

ausschließlich von der NATO und<br />

ihren beiden taktischen Luftflotten in<br />

Deutschland (2. und 4. Allied Tactical<br />

Air Force, ATAF) eingesetzt.<br />

Die praktischen Aufstellungsplanungen<br />

der Luftwaffe wurden abgeschlossen<br />

und auch vom Bundestag genehmigt.<br />

Der Oberbefehlshaber der NATO,<br />

Lauris Norstad, ließ jedoch im Oktober<br />

1956 wissen, dass die Luftwaffe, stärker<br />

als zunächst von Josef Kammhuber<br />

vermutet, atomar auszurüsten sei.<br />

Aufbau und Ausrüstung der<br />

Luftwaffe vor dem Hintergrund<br />

der NATO-Nuklearstrategie<br />

Hintergrund für diese Entscheidung<br />

war die anhaltende konventionelle<br />

Schwäche der NATO in Europa. Anfang<br />

der 50er Jahre hatte man noch gehofft,<br />

mittels einer massiven Aufrüstung der<br />

Sowjetunion Paroli bieten zu können,<br />

musste dann aber einsehen, dass dies<br />

unmöglich war. Da nun aber die USA<br />

immense Fortschritte in der Atomtechnologie<br />

machten und kleine Atomwaffen,<br />

sogenannte taktische Nuklearwaffen,<br />

herzustellen begannen, sah man<br />

hier eine gangbare und vor allem auch<br />

preiswerte Lösung des Problems. Die<br />

Verfasser der entscheidenden Strategiepapiere<br />

der NATO MC 48/1 und<br />

MC 14/2 forderten die Bereitstellung<br />

von Kräften, die bei Bedarf in der Lage<br />

sein sollten, eine nukleare Zertrümmerung<br />

von den Rändern bis in die politischen<br />

und wirtschaftlichen Zentren<br />

hinein vorzunehmen (»massive retaliation«).<br />

Die schweren strategischen<br />

Bomber sollten die Fähigkeit besitzen,<br />

die zentralen Kraftquellen und die<br />

Regierungszentren des Gegners zu vernichten;<br />

die taktischen Luftwaffen in<br />

Europa sollten innerhalb ihrer Reichweite<br />

alle wichtigen militärischen Ziele,<br />

also Truppenansammlungen, Verkehrsknotenpunkte,<br />

Fernmeldezentren<br />

und vor allem auch feindliche Flugplätze<br />

zerschlagen oder zerstören können.<br />

Ungeachtet des dann zu erwartenden<br />

Massensterbens unter der Zivilbevölkerung<br />

auch in Deutschland – die<br />

NATO ging in ihren Planübungen zum<br />

Entsetzen des deutschen Militärbeobachters<br />

von einem Masseneinsatz der<br />

Atomwaffen beiderseits der Zonengrenze<br />

aus – kam es ab 1955 in einem rasanten<br />

Tempo zur allgemeinen atomaren<br />

Aufrüstung der NATO.<br />

Auch die deutsche Luftwaffe wurde<br />

in die Nuklearisierung einbezogen,<br />

dies nicht zuletzt auch aus politischen<br />

Gründen. Insbesondere Bundeskanzler<br />

Konrad Adenauer und Verteidigungsminister<br />

Franz Josef Strauß glaubten,<br />

dass die Bundesrepublik an den Atomwaffen<br />

beteiligt werden müsse, sollte<br />

sie innerhalb des Bündnisses nicht vollkommen<br />

in die Bedeutungslosigkeit<br />

versinken.<br />

Die nukleare Ausrüstung wurde,<br />

soweit sie die Luftwaffe betraf, ab 1958<br />

unter der Bezeichnung »Wagon Train«<br />

umgesetzt. Die erste Einheit der Luftwaffe,<br />

die unter dieses Programm fiel,<br />

war die 1. Staffel des Jagdbombergeschwaders<br />

(JaboG) 33 in Büchel. Die<br />

Atomwaffen trafen 1962/63 ein und<br />

standen unter strengster Bewachung<br />

der US-Begleitkommandos, der »Custodial<br />

Detachments«. Im Ernstfall hätten<br />

ausschließlich US-Soldaten die<br />

Sicherungen der Atombomben freigegeben.<br />

Für die Luftverteidigung der NATO<br />

installierte man auf dem Gebiet der<br />

Bundesrepublik ab 1958 zwei Verteidigungsgürtel,<br />

bestehend aus einem<br />

rückwärtigen Flugabwehrraketensystem<br />

für große Höhen (NIKE) und<br />

einem vorgelagerten System für tiefe<br />

und mittlere Höhen (HAWK). Daran<br />

beteiligten sich neben den USA alle<br />

europäischen NATO-Partner bis auf<br />

Großbritannien.<br />

Die NATO-Luftverteidigung in der<br />

Bundesrepublik und im übrigen Europa<br />

diente wegen der ungeheuren Zerstörungskraft<br />

der Atomwaffen nicht<br />

mehr dem direkten Schutz der Bevölkerung,<br />

sondern in erster Linie der<br />

Sicherung der Abschreckung, d.h. dem<br />

Schutz der eigenen Atomangriffsverbände.<br />

Dem Aggressor sollte klargemacht<br />

werden, dass er in keinem Falle<br />

die NATO-Verbände ausschalten konnte<br />

und somit bei einem Angriff der Vernichtung<br />

anheimfiele.<br />

Diese Strategie geriet jedoch immer<br />

mehr ins Wanken, je mehr die Sowjetunion<br />

atomar aufrüstete, dabei vor<br />

allem auch Interkontinentalraketen in<br />

großer Anzahl beschaffte. Das Erreichen<br />

eines Gleichstandes, das »nukleare<br />

Patt«, war abzusehen. Infolgedessen<br />

beschloss die NATO auf Initiative<br />

Washingtons nach jahrelanger kontroverser<br />

Debatte Anfang 1968 einen Strategiewechsel.<br />

Ziel war nun nicht mehr<br />

die Androhung der allgemeinen Vernichtung,<br />

sondern die Verhinderung<br />

oder zumindest die Hinauszögerung<br />

des Einsatzes atomarer Waffen im<br />

Kriegsfall, da dieser auch die Zerstörung<br />

der USA bedeutet hätte. Im Ernstfall<br />

sollte nicht mehr der sofortige<br />

Einsatz der Atomwaffen stehen, sondern<br />

die konventionelle Verteidigung,<br />

um den Angreifer zu stoppen, möglichst<br />

ohne eine nukleare Eskalation<br />

auszulösen. Als Wendemarke hin zur<br />

neuen Strategie, die man als »flexible<br />

response« bezeichnete, gilt der Beginn<br />

der Präsidentschaft von John F. Kennedy.<br />

Damit ging eine Art Bedeutungsverschiebung<br />

einher. Unter der bisherigen<br />

Strategie der massiven Vergeltung<br />

hatten die Luftstreitkräfte deutlich an<br />

Boden gewonnen, da es im Kriegsfall<br />

vor allem darum gegangen wäre, mög-<br />

6<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


lichst viel atomare Vernichtungsenergie<br />

zum Einsatz zu bringen. Auch<br />

die deutsche Luftwaffe, insbesondere<br />

Kammhuber, hatte gedacht, hiervon zu<br />

profitieren und zwischenzeitlich sogar<br />

die Anschaffung von Mittelstreckenraketen<br />

(Polaris) und damit den Aufstieg<br />

in die strategische Liga geplant.<br />

Dies änderte sich nun. Nach und nach<br />

wurden die schweren Jabo-Verbände,<br />

die man gerade erst komplett für den<br />

Atomeinsatz ausgestattet hatte, auf<br />

konventionelle Munition umgerüstet.<br />

Die »Strike«-Aufgabe, d.h. die Anwendung<br />

von Atomwaffen, blieb zwar<br />

erhalten, trat jedoch ins zweite Glied.<br />

LwM Berlin-Gatow<br />

Die Waffensysteme der<br />

Luftwaffe: Leistungen, Probleme<br />

und Grenzen<br />

Die Erstausstattung der neuen Luftwaffe,<br />

die man von den USA geschenkt<br />

bekommen hatte, bestand aus meist<br />

zuverlässigen, technologisch aber noch<br />

relativ bescheiden ausgestatteten Strahlflugzeugen<br />

vom Typ F-86 Sabre und<br />

F-84 Thunderstreak.<br />

Der Kampfwert dieser Ausstattung<br />

sank jedoch schnell angesichts der<br />

rasanten technologischen Entwicklung:<br />

Eine neue Generation mit bisher<br />

nicht gekannten Hochleistungseigenschaften<br />

entstand. Deren Ausrüstung<br />

erreichte einen hohen Grad an Komplexität:<br />

Trägheitsnavigation, Ausrüstung<br />

mit hitzeempfindlichen Luft-Luft-<br />

Raketen, Luft- und Zielradar und<br />

vieles andere mehr. Ihre Geschwindigkeit<br />

erreichte Mach 2, also doppelt<br />

so schnell wie der Schall. Damit erhöhte<br />

sich gleichzeitig aber auch der Aufwand<br />

für Logistik und Wartung, da<br />

diese Muster nicht mehr »nur« Flugzeuge,<br />

sondern empfindliche Waffensysteme<br />

darstellten.<br />

Vor diesem Hintergrund und angesichts<br />

der geringen geografischen Breite<br />

der Bundesrepublik benötigte die Luftwaffe<br />

zunächst einen Hochgeschwindigkeitsjäger.<br />

Das Verteidigungsministerium<br />

beschaffte nach rigoroser Intervention<br />

von Strauß und Kammhuber<br />

eines der schnellsten, aber auch problematischsten<br />

Muster, den F-104 Starfighter.<br />

Der Starfighter wurde von der<br />

US-Firma Lockheed gebaut und bedeutete<br />

für die US-Rüstungsindustrie ein<br />

umfangreiches Geschäft. Er war nicht<br />

nur für Abfangaufgaben geeignet, son-<br />

5 Die Canadair CL-13B Sabre (F-86)<br />

war der erste Jäger der neugegründeten<br />

Luftwaffe. Er war zwischen 1957 und<br />

1968 im Einsatz.<br />

4 Mehrzweckhubschrauber Bell UH-1D<br />

im Einsatz<br />

5 Die F-104 G »Starfighter« in der<br />

Frühphase der Luftwaffe<br />

4 »Starfighterkrise«: Trümmer einer<br />

F-104 G bei Köln am 22. Mai 1967<br />

Dornier GmbH<br />

ullstein - AP<br />

picture-alliance / dpa<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 7


Deutsche Luftwaffe<br />

4 Pilot einer Fiat G-91 im Cockpit Piloten<br />

Fotosammlung Rebhan<br />

Der Aufbau der deutschen Luftwaffe ab<br />

1955 setzte einen technologischen Amerikanisierungsprozess<br />

in Gang. Schon allein das<br />

Fehlen einer Rüstungsindustrie in der Bundesrepublik<br />

bedingte amerikanische Waffenlieferungen.<br />

Aber es stellte sich auch die<br />

Frage, ob in Deutschland genügend Personal<br />

zu finden sei, das dieses moderne Gerät<br />

überhaupt bedienen könne.<br />

Von den ehemaligen Wehrmachtpiloten<br />

kamen nur wenige in Frage. Die Technik<br />

hatte sich rasant weiterentwickelt, die Anforderungen<br />

an die Piloten waren somit gestiegen.<br />

Zudem hatten die meisten von ihnen<br />

seit Kriegsende nicht mehr im Cockpit einer<br />

Maschine, geschweige denn eines Strahlflugzeuges<br />

gesessen. Schon die körperlichen<br />

Voraussetzungen erfüllten die wenigsten.<br />

Zwangsläufig mussten ungediente Freiwillige<br />

eingestellt werden. Sie galt es mit amerikanischer<br />

Unterstützung auszubilden.<br />

Am 11. März 1956 traf die erste offizielle<br />

Gruppe von vierzehn bundesdeutschen Soldaten<br />

in New York ein, die in den USA<br />

ihre fliegerische oder technische Ausbildung<br />

erhielten. Allein in Luke Air Force Base<br />

(AFB) durchliefen 830 Piloten zwischen<br />

1957 und 1965 ihre Ausbildung für den<br />

Jagdbomber F-84. 1964–1983 wurden dort<br />

1868 bundesdeutsche Piloten auf dem Starfighter<br />

geschult. Seit 1966 begannen die<br />

meisten deutschen Soldaten ihre mehrjährige<br />

Ausbildung zum Strahlflugzeugführer mit<br />

einer Sprachausbildung in Lackland AFB; sie<br />

gingen danach zur fliegerischen Grundschulung<br />

auf die Basen Sheppard oder Williams,<br />

wo sie das deutsche und amerikanische Flugzeugführerabzeichen<br />

erwarben.<br />

So prägte nicht nur die US-amerikanische<br />

Ausrüstung das Gesicht der jungen bundesdeutschen<br />

Luftwaffe. Das täglich erlebte<br />

amerikanische Führungsdenken, die Organisation<br />

des Flugbetriebs und besonders das<br />

gesprochene Englisch übten Einfluss auf die<br />

deutschen Soldaten aus. Aber nicht nur die<br />

Piloten, sondern auch die in den USA stationierten<br />

Soldaten der Verbindungskommandos<br />

und deren Familien lernten über Jahre<br />

den »american way of life« kennen. Diese<br />

unmittelbare Verbindung schuf neben der<br />

Integration in die NATO in partnerschaftlicher<br />

Verbundenheit eine starke US-amerikanische<br />

Ausrichtung der deutschen Luftwaffe.<br />

Sie wirkt bis heute, ließ aber auch Platz für<br />

Eigenes.<br />

Thorsten Loch<br />

Wolfgang Schmidt<br />

8<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


5 Das leichte Erdkampfflugzeug Fiat G-91 auf der Flight. Die Dienstzeit der G-91 begann 1961<br />

und endete 1982.<br />

5 F-84 F Thunderstreak bei der Betankung (Feldtankwagen 1800 Ltr.), um 1960. Die F-84 wurde<br />

von der Luftwaffe von 1956 bis 1966 verwendet.<br />

dern auch für den Einsatz von Atombomben<br />

(Jagdbomber) und verschaffte<br />

so der Bundesrepublik die nötigen Voraussetzungen<br />

für die nukleare Teilhabe<br />

als Basis für die Festigung der politischen<br />

Position in der NATO. Man<br />

rüstete also die fünf schweren Jagdbombergeschwader<br />

ebenfalls mit dem<br />

Starfighter und nuklearen Trägermitteln<br />

aus. Gleichzeitig diente die F-104<br />

als Aufklärer.<br />

Aus einer Mischung von militärischer<br />

Notwendigkeit, technologischem<br />

Hochgefühl, Machtpolitik, Abhängigkeit<br />

von den USA und Hoffnung auf<br />

Kosteneffizienz entschied man sich für<br />

die Maschine, die eigentlich als Fliegende<br />

Rakete für den Abfang-Einsatz<br />

in großen Höhen konstruiert worden<br />

war, und setzte sie auch als Jagdbomber<br />

für Tiefflüge ein. Die Wahl<br />

dieses komplizierten und anspruchsvollen<br />

Musters führte zusammen mit<br />

dem teils erheblichen Mangel bei Personal,<br />

Ausbildung und Logistik ab 1961,<br />

der auf das rasche Aufstellungstempo<br />

zurückzuführen war, zur »Starfighterkrise«.<br />

Fast 300 Maschinen gingen verloren<br />

und 108 Piloten verunglückten<br />

tödlich. Den Höhepunkt erreichte die<br />

Krise in den Jahren 1965/66. Sie wurde<br />

schließlich zum Auslöser des Rücktritts<br />

von Werner Panitzki, dem Nachfolger<br />

Kammhubers als Inspekteur der Luftwaffe.<br />

Neuer Inspekteur wurde Johannes<br />

Steinhoff, der die Absturzserie in<br />

den Griff bekam und, gemessen an<br />

Wehrtechnische Studiensammlung/BWB Koblenz, FA. P. Strack<br />

Wehrtechnische Studiensammlung/BWB Koblenz, FA. P. Strack<br />

den Absturzzahlen anderer Flugzeugtypen,<br />

die Unfälle in erträglichen Grenzen<br />

halten konnte. Dazu wurde ein spezieller<br />

Systembeauftragter eingesetzt<br />

– ein richtungweisender Schritt zur<br />

Einführung moderner Managementmethoden<br />

in die Luftwaffe, der eigentlich<br />

nicht von Steinhoff, sondern bereits<br />

von Panitzki eingeleitet worden war.<br />

Als zweites bemanntes Hauptwaffensystem<br />

beschaffte das Verteidigungsministerium<br />

das leichte Erdkampfflugzeug<br />

Fiat G-91. Dieses sollte die<br />

Heerestruppen bei ihrem Kampf an der<br />

Front unterstützen und war vergleichsweise<br />

einfach ausgestattet. Damit wurden<br />

die leichen Kampfgeschwader<br />

(leKG) ausgestattet.<br />

Ergänzt wurde dieses Instrumentarium<br />

nach dem Scheitern der Pläne<br />

für eine Ausrüstung mit weitreichenden<br />

Mittelstrecken-Raketen (Polaris)<br />

durch die Boden-Boden-Rakete Pershing<br />

I (Reichweite ca. 740 km).<br />

Für die Luftverteidigung wurden<br />

sechs Bataillone NIKE und neun Bataillone<br />

HAWK angeschafft, die in die integrierte<br />

NATO-Luftverteidigung eingebunden<br />

wurden. Allerdings kosteten<br />

die Fla-Raketen so viel, dass sich<br />

die Bundesrepublik pro Raketenwerfer<br />

durchschnittlich nur zweieinhalb<br />

Schuss leisten konnte. Dies hieß wiederum,<br />

dass im Ernstfall die ganze<br />

Abwehr nur ca. 60 Minuten hätte feuern<br />

können. Dazu kam, dass man<br />

aufgrund technischer Beschränkungen<br />

Tiefflieger, die in Höhen von unter<br />

150 m anflogen, nicht bekämpfen konnte.<br />

Auch ballistische Raketen konnten<br />

nicht abgeschossen werden. Das ganze<br />

System war also »oben und unten«<br />

offen, dies vor allem auch, weil die<br />

Sowjets zunächst wohl Wellen alter<br />

Flugzeuge geschickt hätten, um die<br />

NATO-Luftverteidigung zu erschöpfen,<br />

und erst danach die modernen<br />

Atomträger eingesetzt hätten. Ergänzt<br />

wurde das Instrumentarium noch<br />

durch eine ganze Anzahl von Transport-<br />

(zunächst Noratlas 2501, dann<br />

Transall) sowie Trainer-, Verbindungsund<br />

Passagierflugzeugen. Ein komplettes<br />

Geschwader (HTG 64) rüstete man<br />

mit dem Hubschrauber Bell UH-1D<br />

aus.<br />

Fazit<br />

Der gesamte Aufbau der ersten 15<br />

Jahre stellte, gemessen an den ungeheuren<br />

Schwierigkeiten, eine respektable<br />

Leistung dar. Vielfach musste<br />

jedoch improvisiert werden. Da man<br />

sich infolge der Bedrohungsdefinition<br />

sehr stark auf die Kampfverbände konzentrierte,<br />

herrschten in den anderen<br />

Bereichen, vor allem auch in der Logistik,<br />

teilweise chaotische Verhältnisse.<br />

So lagerte die konventionelle Munition<br />

bei einigen Verbänden zeitweise in<br />

Behelfs-Verschlägen. Im Oktober 1967<br />

kam es zu einer spektakulären Aktion<br />

eines ehemaligen Starfighterpiloten,<br />

der beim Jagdgeschwader (JG)<br />

74 in Neuburg/Donau eine Sidewinder-Rakete<br />

entwendete und diese per<br />

Post nach Moskau schickte. Die Rakete<br />

lagerte nicht, wie von der NATO<br />

vorgeschrieben, im Bunker, sondern in<br />

einer Baracke.<br />

Große Schwierigkeiten ergaben sich<br />

auch auf dem Sektor der Personalrekrutierung<br />

und der Finanzierung. Erst<br />

nach und nach gelang eine Beruhigung<br />

und Konsolidierung. Die Teilstreitkraft<br />

schuf vor allem mit dem Einsatz der<br />

EDV und einem modernen Management<br />

die Grundlagen für ein wirkungsvolles<br />

Handeln bis zum Ende des Kalten<br />

Krieges und darüber hinaus.<br />

• Bernd Lemke<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 9


Der Fall Löwen<br />

Eine grimmige graue Horde ...<br />

00481046 / ullstein - ullstein bild<br />

Der Fall<br />

Löwen<br />

25. August 1914<br />

Die deutsche Invasion Belgiens<br />

Der 25. August 1914 versprach<br />

ein ruhiger Tag für die 45 000<br />

Bewohner der belgischen Universitätsstadt<br />

Löwen (Leuven) zu werden.<br />

Erst am 19. August hatten deutsche<br />

Truppen der 1. Armee auf ihrem<br />

Vormarsch die etwa 20 km östlich von<br />

Brüssel gelegene Stadt erreicht. Die belgische<br />

Armee, knapp 100 000 Mann,<br />

hatte sich kampflos zurückgezogen.<br />

Angesichts des Einmarsches der deutschen<br />

Truppen in die Stadt hatten die<br />

Stadtoberen und auch der einflussreiche<br />

Klerus die Bevölkerung mehrfach<br />

zur Besonnenheit aufgerufen. Außerdem<br />

nahmen die deutschen Truppen<br />

Geiseln, um befürchteten Anschlägen<br />

aus der Zivilbevölkerung vorzubeugen.<br />

Sie verhängten zudem eine Ausgangssperre<br />

ab 20.00 Uhr.<br />

Schon lange vor 1914 hatte der preußische<br />

Große Generalstab im Fall eines<br />

Krieges gegen Frankreich das neutrale<br />

Belgien zum Durchmarschgebiet Richtung<br />

Nordfrankreich erklärt. Obwohl<br />

Belgien bei Kriegsbeginn seine Neutralität<br />

bekräftigt hatte, waren seit<br />

dem 4. August 1914 drei deutsche Armeen<br />

mit rund einer Million Mann<br />

in das kleine Nachbarland eingedrungen.<br />

Zwischenfälle, bei denen belgische<br />

Zivilisten angeblich Widerstand<br />

gegen die Deutschen leisteten, hatten<br />

sich gehäuft. Über hundert Vorkommnisse<br />

mit mehr als 4200 Erschießungen<br />

von Zivilisten durch deutsche Truppen<br />

allein im ersten Kriegsmonat sind bislang<br />

registriert worden.<br />

Haben die Überfälle belgischer Zivilisten<br />

tatsächlich stattgefunden? Oder<br />

war es nur die Panik kriegsunerfahrener<br />

deutscher Truppen, die sie schon<br />

nach dem ersten Beschuss, erwiesenermaßen<br />

oft genug auch aus den eigenen<br />

Reihen, zu ungewöhnlich harten<br />

Repressalien greifen ließ? Die Deutschen,<br />

die der US-Botschafter in Brüssel,<br />

Brand Whitlock, als eine grimmige<br />

graue Horde mit wilden Liedern bezeichnet<br />

hatte, fürchteten seit dem<br />

Krieg von 1870/71 gegen Frankreich<br />

nichts so sehr wie die Überfälle von<br />

Heckenschützen, der so genannten<br />

Franctireurs. Belgien hatte erst im Jahre<br />

1909 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt.<br />

Bei Kriegsausbruch waren die<br />

meisten Männer in ihren Heimatorten<br />

geblieben: eine aus deutscher Sicht ungewohnte<br />

Situation, die immer wieder<br />

Anlass zu Verdächtigungen gab. In einer<br />

Warnung an seine Truppen hatte<br />

Generalstabschef Generaloberst Helmuth<br />

von Moltke d.J. am 12. August<br />

1914 von »Nichtuniformierten« gespro-<br />

10<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


3 August 1914: Infanteriekolonnen beim<br />

Vormarsch. Eine Ortschaft in Belgien wird<br />

passiert. Ein Ordensgeistlicher (Mönch)<br />

bietet den Soldaten Trinkwasser zur<br />

Erfrischung an.<br />

chen, die sich ohne deutlich erkennbare<br />

Abzeichen am Kampf beteiligten<br />

und daher als außerhalb des Völkerrechts<br />

stehend wie Franctireurs zu behandeln<br />

und sofort standrechtlich zu<br />

erschießen seien.<br />

In Löwen blieb zunächst<br />

alles friedlich<br />

In Löwen fühlten sich die Deutschen<br />

einigermaßen sicher. Bis zum 22. August<br />

hatte sich sogar vorübergehend<br />

das Hauptquartier der 1. Armee dort<br />

eingerichtet und drei Tage später, als<br />

die Ereignisse eskalierten, waren mindestens<br />

15 000 deutsche Soldaten in der<br />

Stadt einquartiert.<br />

Gegen Abend des 25. August, so<br />

heißt es übereinstimmend in Augenzeugenberichten<br />

beider Seiten, ertönten<br />

plötzlich zwischen 18.00 und 19.00<br />

Uhr Alarmsirenen. Eine Weile herrschte<br />

wieder Stille. Dann fielen gegen acht<br />

Uhr die ersten Schüsse. Der Schusswechsel<br />

griff sofort auf die ganze<br />

Stadt über. Ein Augenzeuge, der deutsche<br />

Kriegsberichterstatter Paul Grabein,<br />

hat seine Erlebnisse an diesem<br />

Abend nur wenige Tage später im Berliner<br />

Tageblatt vom 5. September 1914<br />

veröffentlicht. Nichts im Aussehen der<br />

Stadt habe, so Grabein, etwas Ungewöhnliches<br />

verraten. Auf dem Marsch<br />

zum Bahnhof hätten einige Bewohner<br />

die deutschen Soldaten noch freundlich<br />

gegrüßt und ihnen sogar Gläser<br />

mit Wein dargereicht:<br />

»Da aber plötzlich heulten die Glocken<br />

los, und im nächsten Augenblick ein<br />

Prasseln und Rattern, ein auf das Steinpflaster<br />

niederschmetternder Kugelregen,<br />

als ob alle Geister der Hölle auf<br />

einmal losgelassen seien. Ein eisiges Erstarren,<br />

ein Herzstocken bei unseren<br />

Soldaten, dann warf sich jeder instinktiv<br />

zu Boden. Aber dann riss der<br />

lähmende Bann des Entsetzens. Hoch<br />

sprang ein Oberleutnant und schrie in<br />

heißem Grimm: ›Auf, nun los!‹ Und<br />

da sprangen sie empor vom Pflaster, alles,<br />

was noch lebte. In rasendem Zorn<br />

00666733 / ullstein - Heinrich<br />

5 Propagandistische Darstellung des Überfalls von Franctireurs in Löwen auf durchziehende<br />

deutsche Truppen am 25. August 1914, colorierte Postkarte (Zeichnung) 1914/15<br />

6 Löwen nach Beendigung der Kampfhandlungen;<br />

rechts das gotische Rathaus<br />

wurden die Türen zerschmettert, und<br />

wehe, wer sich bewaffnet im Hause befand<br />

– er hatte nicht mehr die Zeit, ein<br />

Stoßgebet zum Himmel zu schicken.«<br />

Freischärlerüberfälle oder<br />

eigenes Feuer?<br />

Kurz nach den Vorkommnissen behauptete<br />

der Garnisonskommandant<br />

von Löwen, Major Walter von Manteuffel,<br />

gegenüber einem niederländischem<br />

Journalisten, dass belgische<br />

Soldaten in Zivilkleidung nach der<br />

Einnahme durch deutsche Truppen in<br />

ullstein bild / 00097463<br />

der Stadt zurückgeblieben seien, um<br />

die Deutschen im Rücken anzugreifen.<br />

Nach dem Krieg gab er jedoch vor dem<br />

Reichsgericht in Leipzig zu Protokoll,<br />

dass er weder Augenzeuge eines Überfalles<br />

belgischer Zivilisten gewesen sei<br />

noch Beweise für eine Teilnahme der<br />

Bewohner Löwens an Kampfhandlungen<br />

gegen deutsche Truppen anführen<br />

könne.<br />

Fest steht, dass am selben Abend die<br />

belgische Festungsbesatzung von Antwerpen<br />

einen Ausfall in Richtung Löwen<br />

unternahm und dass eine deutsche<br />

Kolonne bis in unmittelbare Nähe der<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 11


Der Fall Löwen<br />

Franctireurs<br />

Nach der Krise um Luxemburg 1867<br />

hatten sich in den nördlichen französischen<br />

Departements so genannte Schützenverbände<br />

gebildet. Sie blieben sehr<br />

auf ihre Unabhängigkeit von der kaiserlichen<br />

französischen Armee bedacht.<br />

Auch nach den schweren Niederlagen der<br />

kaiserlichen Truppen in der Eröffnungsphase<br />

des Deutsch-Französischen Krieges<br />

von 1870/71 ließen sich die nunmehr<br />

erstmals in Erscheinung tretenden<br />

Franctireurs nie vollständig in die Streitkräfte<br />

der neuen französischen Republik<br />

integrieren, sondern bekämpften auf eigene<br />

Faust vor allem die rückwärtigen<br />

Linien der Deutschen. Am 22. August<br />

1870 hatte der Chef des preußischen Generalstabes<br />

Helmuth von Moltke in einem<br />

Schreiben seine Armeekommandos<br />

erstmals vor diesen Freikorps gewarnt,<br />

die sich selbst »franc-tireurs« nannten<br />

und vereinzelt deutsche Soldaten überfielen.<br />

Sie seien daher, da selbst keine Soldaten,<br />

nach dem Kriegsrecht zu behandeln<br />

und mit dem Tode zu bestrafen.<br />

Der verlustreiche Kleinkrieg gegen einen<br />

Gegner, dessen Kombattanten von<br />

Zivilpersonen nur schwer zu unterscheiden<br />

waren, ließ auf deutscher Seite schon<br />

bald den Ruf nach drastischen Gegenmaßnahmen<br />

laut werden. Der preußische<br />

Ministerpräsident Otto von Bismarck beklagte<br />

sich am 14. Oktober 1870 über die<br />

eigene Truppe, die »fix beim Schießen,<br />

aber nicht beim Erschießen« sei. Nach<br />

seiner Ansicht sollte man »alle Dörfer, wo<br />

Verrat vorkommt, sofort ausbrennen und<br />

alle männlichen Einwohner hängen«.<br />

Oft war nicht zu unterscheiden, ob<br />

es sich um paramilitärische Freiheitskämpfer<br />

oder schlicht um marodierende<br />

»Banditen« handelte. Daher war wahrscheinlich<br />

auch das Verhältnis der französischen<br />

Bevölkerung zu den Franctireurs<br />

ambivalent. Moltke sprach in einem<br />

Brief vom 22. Dezember 1870 an seinen<br />

Bruder wohl nicht ganz zu Unrecht von<br />

dem »Schrecken aller Ortschaften«, die<br />

das Verderben über sie brächten. Das<br />

prominenteste Opfer der Franctireurs war<br />

der Schriftsteller Theodor Fontane, der<br />

als Kriegsberichterstatter am 5. Oktober<br />

1870 in ihre Hände fiel, später aber wieder<br />

freigelassen wurde.<br />

Stadt zurückgeschlagen wurde. Dies<br />

ging natürlich nicht ohne Gefechtslärm<br />

ab. Die Deutschen in Löwen glaubten<br />

sich jedoch von Freischärlern angegriffen.<br />

Häuser, aus denen angeblich<br />

geschossen worden war, wurden gestürmt<br />

und sofort angezündet, die Bewohner<br />

zusammengetrieben, die Männer<br />

zum Teil auf der Stelle erschossen.<br />

2000 Gebäude wurden zerstört und<br />

1500 Löwener Bürger, darunter auch<br />

100 Frauen, in Lager nach Deutschland<br />

deportiert.<br />

Die Besatzer nahmen offenbar bewusst<br />

in Kauf, dass Unschuldige ihren<br />

Repressalien zum Opfer fielen. So hatte<br />

der Kommandeur des 1. Bataillons<br />

des Landwehrinfanterieregimentes Nr.<br />

20, Major Georg von Stössel, wegen<br />

vermeintlicher Beschießung deutscher<br />

Soldaten am Abend des 28. August<br />

1914 in einem Löwener Vorort eine Reihe<br />

von Häusern »säubern« und die darin<br />

angetroffenen 54 Männer, unter ihnen<br />

auch katholische Geistliche, auf<br />

einen nahen Platz bringen lassen. Stössel<br />

wusste, dass sich viele seiner<br />

Soldaten im Laufe des Tages Spirituosen<br />

beschafft hatten. Am Abend war<br />

schließlich eine »wüste, planlose Schießerei«<br />

ausgebrochen, bei der 14 Soldaten<br />

verwundet wurden. Vieles, wenn<br />

nicht alles sprach dafür, dass sich seine<br />

Truppe selbst beschossen hatte, doch<br />

glaubte der Reserveoffizier ein Exempel<br />

statuieren zu müssen: Da bei Verdacht<br />

auf Waffengebrauch seitens belgischer<br />

Zivilisten der Armeebefehl ein<br />

»rücksichtslos scharfes Vorgehen« forderte,<br />

ließ Stössel die ergriffenen Männer<br />

in einer Reihe aufstellen und befahl,<br />

jeden siebten von ihnen zu erschießen.<br />

Diese Beschränkung wurde ihm nach<br />

dem Krieg vom Leipziger Reichsgericht<br />

als »besondere Humanität« ausgelegt.<br />

Den Höhepunkt der drei Tage anhaltenden<br />

deutschen Repressalien und<br />

Zerstörungen bildete der Brand der<br />

Löwener Universitätsbibliothek. Am<br />

Abend des 25. August 1914 waren<br />

deutsche Soldaten gegen 23.30 Uhr unter<br />

Beschimpfungen auf die »Pfaffen-<br />

Universität« in das Gebäude eingedrungen,<br />

hatten Feuer gelegt und alle<br />

Löschversuche des Bibliothekspersonals<br />

und der herbeigeeilten Löwener<br />

Bürger verhindert. Die Bibliothek mit<br />

ihren 300 000 Bänden und alten Schriften<br />

wurde ein Raub der Flammen. Bei<br />

den meisten Deutschen galt der katholische<br />

Klerus mit seinen angeblichen<br />

Hasspredigten gegen die protestantischen<br />

Invasoren als die treibende Kraft<br />

des belgischen Widerstandes. Das Vorurteil<br />

vom katholischen Priester, der<br />

von seinem Kirchturm auf die deutschen<br />

Eindringlinge schoss, hatte sich<br />

besonders bei protestantischen Deutschen<br />

schnell eingeprägt. Es taucht als<br />

Stereotyp in vielen Schilderungen auf.<br />

Am 27. August ließen die Besatzer<br />

die Stadt von noch 10 000 verbliebenen<br />

Bewohnern räumen. 400 Priester und<br />

Theologen trieb man auf einem Feld<br />

bei Brüssel zusammen, um sie nach<br />

Waffen zu durchsuchen. Bei einem jungen<br />

Jesuiten namens Dupierreux fanden<br />

die Deutschen eine Tagebuchnotiz,<br />

die sie in französischer und dann<br />

in deutscher Sprache laut verlesen ließen:<br />

»Ohne Frage, ich mag die Deutschen<br />

nicht. In meiner Jugend habe ich gelernt,<br />

dass es vor Jahrhunderten die<br />

Barbaren waren, die [...] die unschuldigen<br />

Bewohner der Städte ermordeten.<br />

Das und nichts anderes haben die Deutschen<br />

getan. Ich habe gelernt, dass vor<br />

langer Zeit [der Kalif] Omar die Bibliothek<br />

von Alexandria niedergebrannt<br />

hat; die Deutschen haben dasselbe in<br />

Leuven getan. Dieses Volk kann stolz<br />

sein auf seine Kultur.«<br />

Dupierreux erhielt noch die Gelegenheit<br />

zur Beichte, dann wurde er erschossen.<br />

Politische Reaktionen auf die<br />

deutschen Ausschreitungen<br />

Die Öffentlichkeit auf Seiten der Alliierten<br />

war empört. Aber auch die neutralen<br />

Mächte nahmen Anstoß an dem<br />

brutalen Vorgehen der Deutschen in<br />

Belgien. Am 16. September 1914 hatte<br />

eine belgische Delegation dem US-Präsidenten<br />

Woodrow Wilson über die<br />

Vorfälle in Löwen berichtet. Reichskanzler<br />

Theobald von Bethmann Hollweg<br />

bemühte sich um Schadensbegrenzung.<br />

Er besuchte im November die<br />

verwüstete Stadt, entschuldigte sich<br />

für die Vorfälle und versprach eine Untersuchung.<br />

Im Mai 1915 gab die deutsche<br />

Regierung ein so genanntes Weißbuch<br />

heraus, in dem sie die offiziellen<br />

Untersuchungsergebnisse präsentierte.<br />

12<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


akg-images<br />

5 Innenansicht der am 25. August 1914 ausgebrannten Bibliothek<br />

Viele die deutschen Truppen belastende<br />

Aussagen waren in der Schlussfassung<br />

jedoch wieder gestrichen worden.<br />

So hatten selbst Armeeangehörige<br />

übereinstimmend erklärt, dass die in<br />

Löwen einquartierten Soldaten bei den<br />

ersten Schüssen ans Fenster gelaufen<br />

seien und auf die Straße geschossen<br />

hätten. Ein deutscher Leutnant sagte<br />

aus, er sei bei Beginn des Schusswechsels<br />

in einem Café in Deckung geblieben,<br />

weil er nicht von den eigenen Leuten<br />

angeschossen werden wollte. Im<br />

Weißbuch erschien seine Aussage jedoch<br />

um den letzten Nebensatz gekürzt,<br />

da er kaum geeignet war, die<br />

deutsche Kernaussage zu bestätigen,<br />

nach der die Truppe in der Stadt von<br />

Zivilisten beschossen worden sei. Für<br />

die Vermutung, dass viele solcher Zwischenfälle<br />

im besetzten Belgien auf eigenes<br />

Feuer zurückzuführen waren,<br />

spricht auch, dass nur wenige Monate<br />

nach Kriegsbeginn die Zahl der Berichte<br />

über angebliche Überfälle belgischer<br />

Zivilisten rapide abnahm. Doch wer<br />

mochte schon auf deutscher Seite einräumen,<br />

dass man sich in derart fataler<br />

Weise geirrt hatte?<br />

Nach dem Krieg:<br />

Schadenersatz statt Sühne<br />

Nach Kriegsende wurden von den alliierten<br />

Siegermächten ernsthafte Versuche<br />

unternommen, die Täter von<br />

Löwen und andere der Kriegsverbrechen<br />

Beschuldigte zur Rechenschaft zu<br />

ziehen. Die Alliierten forderten von<br />

Deutschland die Auslieferung von zunächst<br />

rund 1580 Personen, darunter<br />

Militärs und Politiker. Im Februar 1920<br />

veröffentlichten sie dann eine Liste mit<br />

853 Verdächtigen.<br />

Ihr Vorgehen hatten sich die Alliierten<br />

im Versailler Vertrag legitimieren<br />

lassen (Strafbestimmungen, Artikel 227<br />

bis 230). Politiker und die Öffentlichkeit<br />

in Deutschland sprachen jedoch<br />

von einseitiger Siegerjustiz und plädierten<br />

dafür, Kriegsverbrechen in je<br />

eigener Zuständigkeit zu verhandeln.<br />

Auf amerikanischen und britischen<br />

Druck hin setzte sich dieser Gedanke<br />

durch. Schließlich wurden 1921 vor<br />

dem Leipziger Reichsgericht die so genannten<br />

Kriegsverbrecherprozesse eröffnet.<br />

Von den insgesamt 45 erhobenen<br />

Anklagen betrafen 15 die Vorfälle<br />

in Belgien, keiner befasste sich jedoch<br />

mit den Ereignissen in Löwen. Von der<br />

Staatsanwaltschaft wurde zwar eine<br />

Anklageschrift gegen Major a.D. Stössel<br />

wegen der Vorfälle vom 28. August<br />

1914 entworfen. Zu einer Anklage und<br />

einer Verhandlung vor dem Reichsgericht<br />

ist es aber nicht gekommen. Als<br />

einzige Sühne blieb letztlich nur der<br />

Artikel 247 des Versailler Vertrages,<br />

der Deutschland die Wiederbeschaffung<br />

der vernichteten Löwener Bibliotheksbestände<br />

auferlegte.<br />

• Klaus-Jürgen Bremm<br />

Literaturtipp:<br />

John Horne/Alan Kramer, Deutsche<br />

Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene<br />

Wahrheit, Hamburg 2004<br />

Artikel 228 des<br />

Versailler Vertrages:<br />

»Die deutsche Regierung räumt den alliierten<br />

und assoziierten Mächten die Befugnis<br />

ein, die wegen eines Verstoßes gegen<br />

die Gesetze und Gebräuche des Krieges<br />

angeklagten Personen vor ihre Militärgerichte<br />

zu ziehen. Werden sie schuldig befunden,<br />

so finden die gesetzlich vorgesehenen<br />

Strafen auf sie Anwendung. Diese<br />

Bestimmung greift ohne Rücksicht auf ein<br />

etwaiges Verfahren oder eine etwaige Verfolgung<br />

vor einem Gerichte Deutschlands<br />

oder seiner Verbündeten Platz.<br />

Die deutsche Regierung hat den alliierten<br />

und assoziierten Mächten oder derjenigen<br />

Macht von ihnen, die einen entsprechenden<br />

Antrag stellt, alle Personen<br />

auszuliefern, die ihr auf Grund der Anklage,<br />

sich gegen die Gesetze und Gebräuche<br />

des Krieges vergangen zu haben,<br />

sei es namentlich, sei es nach ihrem<br />

Dienstgrade oder nach der ihnen von den<br />

deutschen Behörden übertragenen Dienststellung<br />

oder sonstigen Verwendung bezeichnet<br />

werden.«<br />

Im Namen der Bundesrepublik<br />

Deutschland ...<br />

87 Jahre nach den Repressalien deutscher<br />

Heereseinheiten in Löwen und anderen<br />

belgischen Orten entschuldigte sich am 6.<br />

Mai 2001 der Parlamentarische Staatssekretär<br />

im Bundesverteidigungsministerium,<br />

Walter Kolbow, im Namen der Bundesrepublik<br />

Deutschland für die Übergriffe<br />

deutscher Soldaten auf belgische Zivilisten<br />

im Ersten Weltkrieg. In seiner Rede<br />

sprach er ohne Umschweife von »sinnloser<br />

Grausamkeit« und von »Verbrechen«:<br />

»[E]s ist jetzt 87 Jahre her, dass in Belgien<br />

deutsche Soldaten Menschen ermordet,<br />

Kirchen geschändet und Wohnviertel<br />

niedergebrannt haben. Nun können einige<br />

sagen, dass dies alles doch schon so lange<br />

zurückliege. Das mag zwar sein. Aber<br />

es ist bis heute nicht vergeben. Und zwar<br />

auch deshalb nicht, weil niemand Sie bisher<br />

um Vergebung gebeten hat. Dies ist<br />

der Grund, warum ich heute hier bin. Ich<br />

möchte Sie alle bitten, das von Deutschen<br />

in ihrem Lande damals begangene Unrecht<br />

zu vergeben«.<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 13


Nationale Volksarmee<br />

5 Ein sowjetischer Soldat und ein Gefreiter der NVA beim<br />

Beladen einer Startrampe der Boden-Luft-Rakete S 125<br />

der Luftverteidigung<br />

Die Nationale Volksarmee<br />

Gedanken zum 50. Jahrestag ihrer Gründung<br />

ullstein - Willmann<br />

Die Nationale Volksarmee (NVA)<br />

ist heute, fünfzig Jahre nach<br />

ihrer Gründung, Teil der deutschen<br />

Militärgeschichte. Wenn sie auch<br />

kein Teil der Traditionspflege der Bundeswehr<br />

wurde, so ist sie doch als<br />

die »andere deutsche Armee« in den<br />

Medien, im historischen Unterricht<br />

und in persönlichen Gesprächen immer<br />

noch präsent. Einige inhaltliche Aspekte<br />

ihrer Geschichte sollen im Folgenden<br />

aufgezeigt werden und einen<br />

Beitrag in der Diskussion um die Erinnerung<br />

an die NVA leisten.<br />

Zu den »bewaffneten Kräften« der<br />

DDR gehörten neben der Nationalen<br />

Volksarmee (NVA) die Grenztruppen,<br />

die Verbände des Ministeriums für<br />

Staatssicherheit (MfS), die Volkspolizei<br />

(VP), die »Kampfgruppen der Arbeiterklasse«<br />

und die Zivilverteidigung<br />

(ZV). Die NVA und ihr Auftrag wurde<br />

1987 in einem Leitfaden zur Militärpolitik<br />

der DDR mit folgenden Worten<br />

beschrieben:<br />

»Die Nationale Volksarmee<br />

(NVA) ist das stärkste<br />

bewaffnete Machtorgan der<br />

DDR, das im Klassen- und<br />

Waffenbündnis der Streitkräfte<br />

der Teilnehmerstaaten<br />

des Warschauer Vertrages<br />

die sozialistische<br />

Ordnung und das friedliche<br />

Leben der Bürger der<br />

DDR und aller Staaten<br />

der sozialistischen Gemeinschaft<br />

gegen jegliche<br />

Angriffe der aggressiven<br />

Kräfte des Imperialismus<br />

und der Reaktion schützt<br />

und die Souveränität der<br />

DDR, ihre territoriale<br />

Integrität sowie die Unverletzlichkeit<br />

ihrer Grenzen<br />

und ihrer staatlichen<br />

Sicherheit gewährleistet.<br />

Sie ist der Kern der Landesverteidigung<br />

der DDR.«<br />

Landesverteidigung wurde aus DDR-<br />

Perspektive als Zusammenfassung aller<br />

Maßnahmen zur äußeren und inneren<br />

Sicherheit begriffen.<br />

Armee der DDR und der SED<br />

Die NVA gliederte sich in die Landstreitkräfte<br />

mit zwei Panzer- und vier<br />

Mot.-Schützen-Divisionen (1987 rund<br />

106 000 Mann), die Luftstreitkräfte/<br />

Luftverteidigung mit drei Divisionen<br />

(1987 rund 35 000 Mann) und die Volksmarine<br />

mit drei Flottillen (1987 rund<br />

14200 Mann). Seit ihrer Aufstellung 1961<br />

bis zur Reorganisation um 1971 waren<br />

auch die Grenztruppen Teil der NVA.<br />

In der Anfangszeit war die NVA<br />

eine Freiwilligenarmee. Erst durch den<br />

Mauerbau im August 1961 wurde<br />

die Voraussetzung für die Einführung<br />

der Wehrpflicht 1962 geschaffen. Ein<br />

Recht auf Verweigerung des 18-monatigen<br />

Grundwehrdienstes hatte man<br />

bis Anfang 1990 nicht, dafür gab es<br />

14<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


1. März 1956 – Gründung der NVA. Die offizielle Aufstellung einer existierenden Armee<br />

Am 18. Januar 1956 wurde das »Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung«<br />

kurzfristig auf die Tagesordnung der 10. DDR-Volkskammersitzung gesetzt. SED-Politbüromitglied und Verteidigungsminister Generaloberst<br />

Willi Stoph begründete den Gesetzentwurf mit der »Aufstellung einer westdeutschen Söldnerarmee und der Einbeziehung Westdeutschlands<br />

in den aggressiven Nordatlantikpakt«. Es genüge nicht mehr, nur Friedensbeteuerungen abzugeben, »die Verteidigungsfähigkeit«<br />

der DDR müsse hergestellt werden. Das Gesetz wurde einstimmig verabschiedet; es trat mit Verkündung in Kraft. Einen Tag später<br />

wurde Stoph »Minister für Nationale Verteidigung der DDR«. Warum aber zu diesem Zeitpunkt ein solcher Schritt, existierten doch unter<br />

zentraler Führung bereits zwei Armeekorps zu Lande, sowie Marine- und Luftwaffenformationen in einer Stärke von fast 100 000 Mann.<br />

Bereits seit 1952 war eine Armee – als Polizeiverbände getarnt (»Kasernierte Volkspolizei«, KVP) – aufgebaut worden.<br />

Im Mai 1955 trat die DDR dem Warschauer Pakt bei. Im September des Jahres wurden mit dem Staatsvertrag zwischen der DDR und<br />

der UdSSR und mit der Änderung der DDR-Verfassung die souveränitäts- und verfassungsrechtlichen Grundlagen für eine offizielle Armee<br />

gelegt. Die offene Verkündung der Aufstellung von Streitkräften war folglich nur eine Frage des politisch richtigen Zeitpunkts. Trotz Drängens<br />

der DDR sah Moskau diesen erst gekommen, nachdem die Aufstellung der Bundeswehr begonnen hatte. Nun sollte als Antwort auf<br />

die »Militarisierung der Bundesrepublik« die Gründung der »Nationalen Volksarmee« erfolgen. Der Begriff »National« war als Kontrapunkt<br />

zur »Amerikanisierung« der Bundeswehr gewählt worden, »Volksarmee« sollte für die neue Einheit zwischen Volk und Armee stehen. Die<br />

neue Uniform, die verdächtig an die der Wehrmacht erinnerte, sah die DDR-Führung in der Traditionslinie der »fortschrittlichen deutschen<br />

Militärgeschichte«. Mit ihr sollte sich die NVA auch optisch von der »Bundeswehr abheben, deren erste Uniformen denen der US-Streitkräfte<br />

ähnelten.<br />

Am 10. Februar 1956 unterzeichnete Stoph den ersten Grundsatzbefehl zum Aufbau der NVA in einer Gesamtstärke von 120000 Mann.<br />

Zuerst wurde das Ministerium für Nationale Verteidigung aus dem Stab der KVP in Strausberg bei Berlin gebildet. Aus den Territorialverwaltungen<br />

Nord und Süd entstanden die Stäbe der Militärbezirke V und III in Pasewalk bzw. Leipzig. Die Strukturen der in der Folgezeit<br />

aufgestellten Verbände der Landstreitkräfte zeigten gegenüber der KVP kaum Unterschiede. Am 1. März hatten alle Stäbe und Verwaltungen<br />

arbeitsfähig zu sein. Ein Jahr später erklärte das Präsidium<br />

des Ministerrats der DDR den 1. März 1956 zum »Gründungstag<br />

der NVA«.<br />

Torsten Diedrich<br />

3 Am 30. April 1956 überreichte Verteidigungsminister<br />

Generaloberst Willi Stoph dem Regimentskommandeur<br />

des 1. Mechanisierten Regiments die Truppenfahne in<br />

Oranienburg/Lehnitz. Am Nachmittag desselben Tages<br />

übergab Stoph auch die Truppenfahne an den Kommandeur<br />

der 1. Mechanisierten Division, Oberst Erich Jäckel, im<br />

Potsdamer Luftschiffhafen.<br />

ab 1964 einen waffenlosen Wehrdienst<br />

als Bausoldat, der im Warschauer Pakt<br />

eine Ausnahme darstellte.<br />

Durch die enge Ausrichtung am sowjetischen<br />

Vorbild, aber auch durch den<br />

starken Führungswillen der SED wurde<br />

die NVA von Beginn an zu einer Parteiarmee<br />

aufgebaut. Nahezu 100 Prozent<br />

der Offiziere waren Mitglieder der<br />

Staatspartei SED. Ein Netz von Politoffizieren<br />

und Mitarbeitern der Staatssicherheit<br />

sorgte für die geforderte politische<br />

Indoktrination und Kontrolle.<br />

MHM Dresden<br />

Aufrüstung im Schatten des<br />

Kalten Krieges<br />

Die Ausrüstung der NVA folgte den<br />

Empfehlungen des Kommandos der<br />

Vereinten Streitkräfte des Warschauer<br />

Paktes. Kalaschnikow-Sturmgewehre,<br />

sowjetische Panzer- und Schützenpanzermodelle<br />

prägten das Erscheinungsbild<br />

der Landstreitkräfte. Die NVA<br />

erhielt ab 1962 auch Kurzstreckenraketen<br />

vom Typ 8-K-11 (NATO-Bezeichung:<br />

SCUD-A) und 8-K-14 (SCUD-B)<br />

und ab 1967 Luna (FROG-5) und<br />

Luna-M (FROG-6). Sie verfügte zwar<br />

auch über nukleare Trägermittel, aber<br />

die Atomsprengköpfe verwahrte die<br />

GSSD (Gruppe der sowjetischen Streitkräfte<br />

in Deutschland).<br />

Die Luftstreitkräfte/Luftverteidigung<br />

waren seit 1962 Teil des einheitlichen<br />

Luftverteidigungssystems des Warschauer<br />

Paktes. Gleichzeitig erhielten<br />

sie die ersten MIG-21 (FISHBED) als<br />

Standardjäger. Durch Umstrukturierung<br />

und Ausrüstung mit sowjetischen<br />

Raketenschnellbooten und Landungsbooten<br />

wurde die Volksmarine<br />

in die Lage versetzt, offensive Operationen<br />

in der Ostsee zu unternehmen.<br />

Während des Prager Frühlings 1968<br />

(siehe Militärgeschichte Nr. 3/2003)<br />

standen im Süden der DDR zwei Divisionen<br />

der NVA zum Eingreifen bereit,<br />

sie wurden aber durch den Warschau-<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 15


Nationale Volksarmee<br />

Widerständiges Verhalten und Repression in der NVA<br />

Die NVA war als Institution zweifellos eine Parteiarmee – im Dienste und unter Führung<br />

der SED. Sie war aber damit noch längst nicht der damals mitunter in Ost und West<br />

gleichermaßen propagierte monolithische Block von parteihörigen Klassenkämpfern in<br />

Uniform. So musste man sich in der Führung von Partei, Staat und Armee immer wieder<br />

auch mit politisch abweichendem oder widerständigem Verhalten von Soldaten, Unteroffizieren<br />

und Offizieren auseinandersetzen. Die Formen dieser mutigen Verhaltensweisen<br />

waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von politisch motivierter Spionage über Fahnenflucht,<br />

Wehrdienst- und Waffendienstverweigerungen, die Ablehnung der Teilnahme an<br />

militärischen Einsätzen oder des Schießbefehls an der Grenze bis hin zu offenen Protestaktionen<br />

gegen das kommunistische System. Dennoch war das Militär in der DDR zu<br />

keinem Zeitpunkt ein Hort von Opposition und Widerstand. Dafür sorgte nicht zuletzt<br />

ein sich am sowjetischen Vorbild orientierender und extrem ausgebauter Überwachungs-,<br />

Kontroll- und Disziplinierungsapparat innerhalb der Streitkräfte, der in erster Linie der<br />

Sicherung der militärischen und politischen Zuverlässigkeit der Armee im Sinne der SED<br />

dienen sollte. Das Ministerium für Staatssicherheit in Gestalt seiner Hauptabteilung I, die<br />

Parteiorganisationen und Politorgane der SED, die NVA-Kommandeure sowie die Militärjustiz<br />

gingen mit geheimdienstlicher Überwachung, Partei- und Disziplinarverfahren<br />

sowie strafrechtlicher Verfolgung gegen Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere vor, die<br />

sich der geforderten politischen Norm widersetzten. Warf man Armeeangehörigen reale<br />

oder vorgebliche politische Straftaten vor, wurden jene anfangs vor zivilen Gerichten, ab<br />

1963 vor Militärgerichten verhandelt und die Beschuldigten zum Teil mit hohen Strafen<br />

bedacht. Allein der Tatbestand »staatsfeindliche Hetze« führte oftmals zu Verurteilungen<br />

mit mehrjährigen Haftstrafen. Nicht wenige Delinquenten mussten ihre Strafen im NVAeigenen<br />

»Knast« in Schwedt/Oder verbüßen. »Dafür kommst du nach Schwedt« war eine<br />

Drohung, die in den NVA-Kasernen Schrecken auslöste. So wurde der Mythos Schwedt<br />

geboren, der auch im System der politischen Disziplinierung und Repression von NVA-<br />

Angehörigen eine wichtige Rolle spielte.<br />

Rüdiger Wenzke<br />

er Pakt nicht angefordert; nur wenige<br />

Soldaten eines Verbindungskommandos<br />

der NVA waren im Hauptquartier<br />

der Warschauer-Pakt-Truppen in der<br />

Tschechoslowakei anwesend.<br />

Waffenbruder und Musterschüler<br />

Durch die Umsetzung der sowjetischen<br />

Vorgaben und das Verhalten<br />

innerhalb des Bündnisses erwarb sich<br />

die NVA den Ruf eines Musterschülers<br />

der Sowjetunion. 1970 wurde das Warschauer-Pakt-Manöver<br />

»Waffenbrüderschaft«<br />

unter der Leitung des DDR-Verteidigungsministers<br />

Heinz Hoffmann<br />

(1910–1985) auf dem Territorium der<br />

DDR zum Beweis für die erfolgreiche<br />

Integration in das Bündnis und die<br />

Leistungsfähigkeit der NVA.<br />

Unabhängig von der offiziellen Entspannungspolitik<br />

wurden in den 70er<br />

und 80er Jahren die Kampfkraft und<br />

Gefechtsbereitschaft weiter ausgebaut.<br />

Hierbei erfolgte immer wieder eine<br />

Angleichung an sowjetische Standards,<br />

vor allem im Bereich der Raketensysteme<br />

SS-21 (SCARAB)/SS-23 (SPIDER)<br />

und der Kampfpanzer T-72/T-72 M1.<br />

Ab 1984 wurden Armeefliegerkräfte<br />

neu eingeführt und mit den Kampfhubschraubern<br />

Mi-8 TB (HIP E) und<br />

Mi 24D (HIND D) ausgerüstet. Die<br />

Luftstreitkräfte führten neue Generationen<br />

von Jagd- und Bombenflugzeugen<br />

ein, wie die MIG-29 (FULCRUM)<br />

und SU-22 M4 (FITTER K). Die Luftverteidigung<br />

erhielt mit ANGARA (SA-10)<br />

sogar ein gegenüber dem NATO-System<br />

PATRIOT gleichwertiges System.<br />

Im Kriegsfall, der in offiziellen Verlautbarungen<br />

von einem Angriff der<br />

NATO ausging, wäre die NVA auf rund<br />

500 000 Mann aufgewachsen und ein<br />

Teil der 1. und 2. Front innerhalb der 1.<br />

Strategischen Staffel der Truppen des<br />

Warschauer Paktes geworden. Unter<br />

Führung der sowjetischen Hauptkräfte<br />

sollten Angriffe auf das Gebiet der Bundesrepublik<br />

Deutschland, Dänemarks<br />

und der Benelux-Länder erfolgen. Eine<br />

besondere Gruppierung mit Unterstützung<br />

von Kampfgruppen, Grenztruppen<br />

und VP-Bereitschaften sollte West-<br />

Berlin einnehmen.<br />

Die unruhigen 80er Jahre<br />

Während der Unruhen in Polen von<br />

1980 bis 1982 hielt die NVA zeitweise<br />

Teile der 9. Panzer-Division zu einem<br />

Einsatz im Nachbarland bereit, der<br />

dann aufgrund der Entspannung der<br />

Lage ausblieb. Die wirtschaftlich prekäre<br />

Situation der DDR in den 80er Jahren<br />

ging auch an der NVA nicht spurlos<br />

vorüber. Trotzdem prägte eine hohe<br />

Einsatzbereitschaft die Armee, wenn<br />

auch ihre Infrastruktur nicht mehr im<br />

gleichen Maße wie bisher unterhalten<br />

werden konnte. Durch die Friedensbewegung<br />

der DDR und oppositionelle<br />

Gruppen war die NVA-Führung<br />

für die kommenden Ereignisse schon<br />

»sensibilisiert«. Infolge des ideologischen<br />

Wandels durch das »Neue Denken«<br />

in der Sowjetunion unter Gorbatschow<br />

war sie auch bereits mit<br />

ungewohnten taktischen operativen<br />

und strategischen Entwicklungen des<br />

Kriegsbildes konfrontiert worden.<br />

Dennoch wurde die NVA von der<br />

»friedlichen Revolution« in der DDR<br />

1989 völlig überrascht. Im Oktober und<br />

November 1989 bildete man während<br />

der innenpolitischen Krise »Hundertschaften«<br />

mit insgesamt 20 000 Soldaten<br />

zur Unterstützung der Polizeikräfte.<br />

Der Einsatz erfolgte zur<br />

Sicherung von Gebäuden und Institutionen.<br />

Jedoch war die NVA dabei<br />

nicht an gewaltsamen Auflösungen<br />

von Demonstrationen beteiligt. In der<br />

Zeit zwischen Maueröffnung und Wiedervereinigung<br />

kam es nach einer ersten<br />

Phase der Orientierungslosigkeit<br />

in über 40 Standorten zu Demonstrationen<br />

und Streiks von Soldaten. Es ging<br />

u.a. um Verkürzung der Dienstzeit,<br />

die Verbesserungen der Dienst- und<br />

Lebensbedingungen und ein stärkeres<br />

Mitspracherecht in sozialen Angelegenheiten.<br />

Die Führung der NVA stabilisierte<br />

durch Zugeständnisse die Lage<br />

und leitete erste Reformen ein.<br />

Die Auflösung des Politapparats<br />

innerhalb der Streitkräfte und die<br />

schrittweise Einführung demokratischrechtstaatlicher<br />

Strukturen waren nach<br />

den ersten freien Wahlen der DDR<br />

im März 1990 weitere Reformschritte.<br />

Alles geschah vor dem Hintergrund<br />

der noch ungeklärten Frage, ob es nach<br />

einer Wiedervereinigung zwei Armeen<br />

auf deutschem Boden geben würde<br />

oder nicht. Nachdem die Sowjetunion<br />

einer Mitgliedschaft der wiedervereinigten<br />

Bundesrepublik in der NATO<br />

zugestimmt hatte, war das Ende der<br />

NVA jedoch besiegelt. Am 24. September<br />

1990 wurde sie aus der Militärorganisation<br />

des Warschauer Paktes<br />

16<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


herausgelöst und am 2. Oktober 1990<br />

offiziell aufgelöst. Am Tag der Wiedervereinigung,<br />

dem 3. Oktober 1990,<br />

übernahm die Bundeswehr zunächst<br />

befristet rund 90 000 ehemalige Angehörige<br />

der NVA und 48 300 Zivilbeschäftigte.<br />

Was bleibt?<br />

Die NVA war eine Armee von hoher<br />

Professionalität und Einsatzbereitschaft.<br />

Die NVA war aber auch einer<br />

der Orte staatlicher Repression. Gerade<br />

aufgrund ihrer staatstragenden Rolle<br />

innerhalb der SED-Diktatur und<br />

ihrer hohen ideologischen Durchdringung<br />

hat die NVA in der Traditionspflege<br />

der Bundeswehr keinen Platz<br />

erhalten. Trotzdem zeigt die Phase der<br />

Reformen seit November 1989, dass in<br />

der NVA nicht wenige reformwillige<br />

und der Demokratie loyale Kräfte auszumachen<br />

waren. Äußerer Ausdruck<br />

dieses Wandels wurden im Sommer<br />

1990 ein neuer Eid und die Übernahme<br />

der Traditionen des Widerstands vom<br />

20. Juli 1944. Eine Vereinigung von<br />

Bundeswehr und NVA fand schließlich<br />

nicht statt, aber die Integration<br />

ehemaliger NVA-Soldaten und Zivilbediensteter<br />

in die Bundeswehr kann<br />

im Vergleich mit anderen Bereichen<br />

der Gesellschaft als gelungen betrachtet<br />

werden. Ende 1998 gab es noch<br />

9300 Soldaten in der Bundeswehr mit<br />

Vordienstzeiten in der NVA. Heute ist<br />

in Interviews mit Betroffenen oft zu<br />

hören, dass keine Unterschiede mehr<br />

auszumachen seien. Die »Armee im<br />

Einsatz« setzte für alle neue Maßstäbe.<br />

Die geistige Auseinandersetzung<br />

mit der historisch gewordenen NVA ist<br />

aber Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung<br />

mit der DDR-Vergangenheit<br />

geblieben. »Ostalgie« oder Pauschalurteile<br />

sind dabei fehl am Platz.<br />

MHM Dresden<br />

»Armee des Volkes?« – Selbstverständnis, Inneres Gefüge und<br />

Fremdwahrnehmung der NVA<br />

Zu den Leitbildern der NVA gehörte die wechselseitige Bindung und Akzeptanz von Volk<br />

und Armee. Mit Hilfe der »Sozialistischen Wehrerziehung« sollte nach dem Willen der<br />

SED bereits in den Kindergärten, den Schulen und während der Berufsausbildung die<br />

systematische Heranführung an die Aufgaben der Landesverteidigung erfolgen. Später<br />

kamen noch die Hochschulen hinzu. Zur Legitimierung bediente man sich eines völlig<br />

überzogenen Bedrohungsbildes, das in der Forderung der »Erziehung zum Hass auf den<br />

Klassengegner« gipfelte. Als Gegenentwurf propagierte man das Ideal der »sozialistischen<br />

Soldatenpersönlichkeit«, die politisch überzeugt, menschlich und fachlich kompetent die<br />

Überlegenheit des eigenen Systems demonstrierte. Insgesamt konnte die NVA diesen<br />

hohen Idealen zu keiner Zeit entsprechen. Während praktisch keine Möglichkeit bestand,<br />

sich dem Wehrdienst zu entziehen, gab es nur eine geringe Bereitschaft, einen längeren<br />

Wehrdienst als Zeit- oder Berufssoldat zu leisten.<br />

Neuere NVA-Forschungen zeigen, dass die meisten Wehrpflichtigen und Reservisten<br />

von ihrer Dienstzeit bei der NVA und insbesondere von den Vorgesetzten enttäuscht<br />

waren. Ein als rigide empfundenes Disziplinar- und Strafsystem, Ohnmacht gegen die<br />

Willkür von Vorgesetzten, mangelnde Dienstaufsicht vor allem auf der unteren und mittleren<br />

Führungsebene und nicht zuletzt die unverhältnismäßig hohe Dienstzeitbelastung<br />

wirkten sich besonders demotivierend aus. Unbotmäßigkeiten gegenüber Vorgesetzten<br />

und Versuche, die Dienstverpflichtung vorzeitig zu kündigen, waren äußere Zeichen dieser<br />

Unzufriedenheit. Trotz eines strikten Alkoholverbots in den militärischen Einrichtungen<br />

gehörten der übermäßige Alkoholkonsum und seine Folgen zu den Dauerproblemen.<br />

Bei den Wehrpflichtigen und jüngeren Unteroffizieren entwickelte sich mit dem<br />

»EK-Wesen« eine informelle Hierarchie der Soldaten des letzten Diensthalbjahres (»Entlassungskandidaten«)<br />

gegenüber jüngeren Kameraden. Das System nahm zuweilen menschenverachtende<br />

Züge an. Diese Hackordnung wurde von vielen Vorgesetzten geduldet,<br />

teils aus mangelnder Autorität, teils aus Abhängigkeit von der Erfahrung der dienstälteren<br />

Soldaten. Die positiven Wahrnehmungen der NVA in der Öffentlichkeit, zum Beispiel bei<br />

Katastropheneinsätzen oder durch die Erfolge der Armeesportler bei großen Wettkämpfen,<br />

konnten das insgesamt negative Bild nicht ändern. Ihren eigenen Anspruch, eine<br />

»Armee des Volkes« zu sein, konnte die NVA als Ganzes zu keiner Zeit einlösen.<br />

Matthias Rogg<br />

• Heiner Bröckermann<br />

Literaturtipp:<br />

Hans Ehlert, Matthias Rogg (Hrsg.),<br />

Militär, Staat und Gesellschaft in der<br />

DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse,<br />

Perspektiven, Berlin 2004.<br />

Torsten Diedrich, Hans Ehlert, Rüdiger<br />

Wenzke (Hrsg.), Im Dienste der Partei.<br />

Handbuch der bewaffneten Organe<br />

der DDR, Berlin 1998.<br />

5 Soldaten-Streik in Cottbus, um die Jahreswende 1989/90<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 17


Westliche Verteidigungsstrategie<br />

Westliche<br />

Verteidigungsstrategie<br />

in der Gründungsphase der NATO<br />

Logo der Reihe »Strategie« unter Verwendung eines Bildes von bpk/<br />

Antikensammlung; Foto: Jürgen Liepe; Gestaltung: MGFA<br />

Spätestens ab 1947 überwogen die<br />

Gegensätze zwischen den ehemaligen<br />

Verbündeten der Anti-<br />

Hitler-Koalition. Als Beginn des Kalten<br />

Krieges werden gemeinhin die<br />

Jahre 1946–1948 angesehen. Die Sowjetunion<br />

festigte ihren Einfluss in Osteuropa<br />

bis 1948 durch Schaffung von<br />

auf Moskau ausgerichteten Regimen.<br />

Die US-Wiederaufbauhilfe für Europa,<br />

der Marshallplan (European Recovery<br />

Program ERP), wurde auf Druck der<br />

Sowjetunion von den mittel- und osteuropäischen<br />

Staaten abgelehnt. In<br />

den USA wurde die Truman-Doktrin<br />

formuliert, die erstmals öffentlich<br />

den Systemgegensatz zwischen Sowjetkommunismus<br />

und dem westlichen<br />

demokratisch-freiheitlichen System<br />

formulierte. Die Außenpolitik der USA<br />

legte den Leitgedanken der Eindämmung<br />

(»containment«) des Kommunismus<br />

durch Stabilisierung der freiheitlich-demokratischen<br />

Gesellschaften<br />

fest. Ein erster Höhepunkt des<br />

Kalten Krieges begann mit der am<br />

24. Juni 1948 begonnenen Blockade<br />

West-Berlins und bereits 1950 führte<br />

der Ausbruch des Koreakrieges zur ersten<br />

heißen Phase des Kalten Krieges.<br />

Militärisch verließen sich die Westmächte<br />

vor allem auf das US-Nuklearmonopol.<br />

An konventionellen Streitkräften<br />

konnte der Westen der Sowjetunion<br />

nur wenig entgegensetzen.<br />

Gerade die am Ende des Zweiten<br />

Weltkrieges beeindruckende Militärmacht<br />

der USA wurde zugunsten des<br />

wirtschaftlichen Aufbaus bis 1947 von<br />

zwölf Millionen auf etwa anderthalb<br />

Millionen Soldaten reduziert.<br />

Die Planungen der USA:<br />

HALFMOON und OFFTACKLE<br />

Die militärstrategischen Überlegungen<br />

der westlichen Alliierten zeichneten<br />

ein pessimistisches Lagebild für die<br />

Verteidigungsmöglichkeiten des europäischen<br />

Kontinents und für Deutschland<br />

als Hauptgefechtsgebiet. Grundsätzlich<br />

wurde auf die abschreckende<br />

Wirkung des amerikanischen Atomwaffenmonopols<br />

vertraut. Mit dem<br />

HALFMOON-Konzept entwickelten<br />

die US-amerikanischen Joint Chiefs of<br />

Staff 1948 den ersten offiziellen Kriegsplan<br />

nach Beendigung des Zweiten<br />

Weltkrieges. Hierbei wurde der Krieg<br />

der Zukunft als Weltkrieg eingestuft.<br />

Das amerikanische Militär ging davon<br />

aus, dass die Sowjetunion über<br />

eine konventionelle Übermacht verfüge.<br />

Diese sei auf konventionellem Weg<br />

mit den geringen in Westeuropa stationierten<br />

Kräften nicht zum Stehen<br />

zu bringen. Den USA blieben im Falle<br />

eines Kriegsausbruchs in erster Linie<br />

die Mittel des strategischen Luftkriegs<br />

gegen die UdSSR. In Europa stand<br />

der Rückzug der Truppen vom europäischen<br />

Kontinent, »Evakuierung«<br />

genannt, im Vordergrund. Der Vormarsch<br />

der feindlichen Kräfte sollte<br />

entlang des Rheins zunächst nur durch<br />

Verzögerungsgefechte gebremst werden,<br />

um so den Widerstand der europäischen<br />

Staaten zu fördern. Jedoch<br />

wurde damit gerechnet, dass der »Brückenkopf<br />

Europa« nicht länger als<br />

drei Monate gehalten werden könne.<br />

Von einer Verstärkung der vorhandenen<br />

Truppen nahm man aufgrund dieser<br />

Lageeinschätzung von vornherein<br />

Abstand. Nur für Großbritannien wurde<br />

die Chance einer etwas längeren<br />

Verteidigung gesehen. Die Insel war<br />

für die USA als Stützpunkt besonders<br />

wichtig, weil die US Air Force von dort<br />

den strategischen Luftkrieg gegen das<br />

Hinterland der UdSSR führen konnte.<br />

Im zweiten Kriegsjahr sollten dann<br />

amerikanische Truppen mit der Rückeroberung<br />

der von der UdSSR und<br />

ihren Verbündeten eroberten Gebiete,<br />

zunächst im Mittleren Osten, beginnen.<br />

Im Zuge der Unterzeichnung des<br />

Nordatlantikvertrages 1949 wurde das<br />

HALFMOON-Konzept überarbeitet<br />

und durch das OFFTACKLE-Konzept<br />

ersetzt. Grundsätzlich entsprach es seinem<br />

Vorgänger, sah aber Detailänderungen<br />

vor. Diese konnten aber auch<br />

nicht darüber hinwegtäuschen, dass<br />

die politischen Forderungen insbesondere<br />

der Europäer sich an den militärischen<br />

Möglichkeiten und Bedrohungsszenarios<br />

messen lassen mussten.<br />

Geplant wurde die Verteidigung<br />

entlang der Linie Großbritannien–<br />

Rhein–Kairo–Suezkanal. Für die Eroberung<br />

Westeuropas durch die UdSSR<br />

wurden 70 Tage veranschlagt. Im<br />

Gegensatz zu HALFMOON sahen bei<br />

OFFTACKLE die amerikanischen Planer<br />

jetzt eine realistische Chance, die<br />

sowjetischen Truppen an den Pyrenäen<br />

zum Stehen zu bringen. Das neutrale,<br />

aber unter der Diktatur des Generalissimus<br />

Francisco Franco deutlich<br />

antikommunistische Spanien sollte als<br />

Festlandbrückenkopf gehalten werden.<br />

Die Rückeroberung Westeuropas war<br />

18<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


ullstein - histopics<br />

Michail Sawin, Sammlung Museum Berlin-Karlshorst<br />

5 Die militärischen Möglichkeiten des Westens basierten auf dem<br />

Nuklearmonopol der USA. Die massive Vergeltung sollte mittels<br />

Langstreckenbombern, hier B-29 Superfortress, erfolgen.<br />

5 Im Westen wurde die konventionelle gepanzerte Übermacht der<br />

Sowjetunion mit dem Hauptwaffensystem T-34 als die Bedrohung<br />

angesehen.<br />

wiederum erst für das zweite Kriegsjahr<br />

vorgesehen.<br />

Die amerikanischen Planungen konnten<br />

aufgrund des zu erwartenden Verlustes<br />

von fast ganz Europa für die<br />

europäischen Alliierten keine zufriedenstellende<br />

Lösung darstellen. Darum<br />

vermied man auf amerikanischer<br />

Seite bewusst, genaue Absichten für<br />

den Kriegsfall zu äußern. Nur mit<br />

den Vertretern des seit dem Zweiten<br />

Weltkrieg wichtigsten und vertrautesten<br />

Verbündeten Großbritannien<br />

diskutierten die Amerikaner diese<br />

Pläne im Zuge der militärstrategischen<br />

Beratungen der NATO im Herbst<br />

1949. Ansonsten blieben diese Verteidigungspläne<br />

den europäischen Partnern<br />

weitestgehend verborgen.<br />

Die europäischen Vorstellungen<br />

Die politischen Anfänge einer erfolgversprechenden<br />

europäischen Verteidigung<br />

des eigenen Territoriums fanden<br />

durch die Erneuerung der in<br />

der Vergangenheit erfolgreichen Beistandspakte<br />

statt. Großbritannien und<br />

Frankreich unterzeichneten im März<br />

1947 den Dünkirchener Allianz- und<br />

Beistandspakt, der im März 1948 durch<br />

den Beitritt der Benelux-Staaten zum<br />

Brüsseler Vertrag erweitert wurde.<br />

Das erklärte Ziel der so entstandenen<br />

Westunion war es, die Verteidigung am<br />

Rhein undurchdringlich zu machen.<br />

Es entsprach aber nicht dem offensichtlich<br />

mangelhaften Kräftepotential.<br />

Dies ist auch eine Erklärung für<br />

die Zurückhaltung der USA, einen<br />

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Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 19


Westliche Verteidigungsstrategie<br />

Massive Vergeltung (Massive Retaliation)<br />

Die von 1949 bis 1965 gültige NATO-Strategie der Massiven Vergeltung ging von zwei Voraussetzungen aus: Der Warschauer Pakt<br />

war dem westlichen Bündnis konventionell weit überlegen, was die NATO nicht durch Aufrüstung ausgleichen konnte.<br />

Die NATO verfügte jedoch über überlegene atomare Streitkräfte. Deshalb war vorgesehen, auf einen Angriff mit einem massiven<br />

atomaren Gegenschlag zu antworten.<br />

Führungsanspruch für die europäische<br />

Verteidigung zu erheben: »Wir<br />

wünschen nicht, dass ein amerikanischer<br />

Befehlshaber allzu eng mit<br />

den Anfangsoperationen [in Europa]<br />

in Verbindung kommt, die im Ganzen<br />

betrachtet nicht allzu erfolgreich sein<br />

dürften.« Die militärische Führungsrolle<br />

übernahm Großbritannien. Damit<br />

wurde Großbritannien enger in die<br />

kontinentale Verteidigung eingebunden,<br />

wenn auch die militärische Präsenz<br />

der Britischen Rheinarmee mit<br />

einer Infanteriedivision und drei selbstständigen<br />

Brigaden nur bescheiden<br />

ausfiel. Das nationale britische Verteidigungskonzept<br />

konzentrierte sich<br />

allerdings nicht ausschließlich auf<br />

die Bedrohung Westeuropas, sondern<br />

auch, dem eigenen Großmachtanspruch<br />

entsprechend, auf die Sicherung<br />

des britischen Kolonialreichs bzw. des<br />

Commonwealth weltweit. Daher setzte<br />

man auf britischer Seite verstärkt<br />

auf die anglo-amerikanischen Beziehungen,<br />

um insbesondere eine eigene<br />

nukleare Rüstung zu etablieren. Die<br />

enge Bindung an die Amerikaner führte<br />

zwangsläufig zu einer Kontroverse<br />

mit den europäischen Bündnispartnern,<br />

die von diesen internen Strategiegesprächen<br />

weitgehend ausgeschlossen<br />

blieben und dadurch nicht selten<br />

die europäischen Interessen gegenüber<br />

den USA als unzureichend vertreten<br />

sahen.<br />

Frankreich hingegen, dessen staatliche<br />

Existenz im Kriegsfall unmittelbar<br />

bedroht war, musste auf die Verteidigung<br />

der Rheinlinie bestehen. Aber<br />

gerade das wirtschaftlich geschwächte<br />

Frankreich war in einen heftigen Kolonialkrieg<br />

in Indochina verwickelt und<br />

deshalb nicht in der Lage, zur europäischen<br />

Verteidigung ausreichend Truppen<br />

aufzubieten. Daher war man auf<br />

französischer Seite besonders bemüht,<br />

die USA stärker in die Verteidigung<br />

Europas einzubinden.<br />

Auch die Gründung der NATO mit<br />

der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages<br />

am 4. April 1949 änderte<br />

zunächst nichts am Standpunkt der<br />

USA. Die Staaten der Westunion sollten<br />

weiterhin die Verteidigung Kontinentaleuropas<br />

sicherstellen. Weiterhin<br />

bestand eine Diskrepanz zwischen den<br />

hohen Forderungen der Westeuropäer<br />

an die USA und der Bereitschaft bzw.<br />

Fähigkeit, eigene (europäische) Leistungen<br />

bereitzustellen. Die Verteidigungsplanungen<br />

für 1949 sahen eine<br />

Mindeststärke von 34 präsenten und<br />

22 innerhalb eines Monats mobilisierbaren<br />

Divisionen vor – eine Zahl, die<br />

trotz schlechter Ausrüstung und unterbesetzten<br />

Verbänden nicht annähernd<br />

erreicht werden konnte.<br />

Die kurzfristigen Planungen<br />

der NATO<br />

In Wirklichkeit standen am 1. April<br />

1950 für die Verteidigung Westeuropas<br />

insgesamt 17 Divisionen sowie neun<br />

Brigaden respektive Regimenter (maximal<br />

drei zusätzliche Divisionen) zur<br />

Verfügung. Davon waren aber nur acht<br />

Divisionen direkt auf dem Kontinent<br />

stationiert, die restlichen wären erst<br />

frühestens fünfzehn Tage nach der<br />

Mobilmachung vor Ort gewesen. Man<br />

rechnete aber nicht damit, dass der<br />

Gegner diese Zeitspanne gewähren<br />

würde. Zusammen mit den zwei amerikanischen<br />

Besatzungsdivisionen in<br />

der Bundesrepublik und in Österreich<br />

musste sich die Anfangsverteidigung<br />

der NATO zu Lande auf ganze zehn<br />

Divisionen stützen. Diese hätten einen<br />

hoffnungslosen Stand gegen die Rote<br />

Armee gehabt, die alleine in Ostdeutschland<br />

und den angrenzenden<br />

Satellitenstaaten 31 Divisionen disloziert<br />

hatte. Dies war der Rahmen, innerhalb<br />

dessen die NATO planen musste.<br />

Bis 1954 sollten dann die mittelfristigen<br />

Ziele einer Aufrüstung Westeuropas<br />

realisiert sein. Das Grundkonzept<br />

sah daher zum einen den sofortigen<br />

strategischen Luftkrieg durch die USA<br />

vor, also in deren nationaler Verantwortung,<br />

während zum anderen die<br />

Abwehr der sowjetischen Landstreitkräfte<br />

in der Verantwortung der Europäer<br />

lag. Da die Westeuropäer die konventionelle<br />

Verteidigung übernahmen,<br />

konnten die Amerikaner zu wesentlichen<br />

Kompromissen bewegt werden:<br />

Erstens sollte im Sinne der europäischen<br />

Interessen die Verteidigung so<br />

weit wie möglich im Osten erfolgen.<br />

Zweitens konnten die Europäer, die<br />

in der Anfangsphase des Angriffs die<br />

Hauptlast der Verteidigung tragen sollten,<br />

durchsetzen, dass sie so schnell wie<br />

möglich Unterstützung durch die amerikanischen<br />

Streitkräfte erhalten würden.<br />

Mit anderen Worten: die USA<br />

erklärten sich bereit, auf ihr Evakuierungskonzept<br />

zu verzichten.<br />

Doch blieb die Kontroverse über die<br />

augenscheinliche Undurchführbarkeit<br />

der europäischen Strategie – Verteidigung<br />

am Rhein – mit den vorhandenen<br />

Mitteln weiterhin bestehen. Insbesondere<br />

Frankreich und die Benelux-Staaten<br />

beharrten auf Garantien ihrer<br />

territorialen Unversehrtheit. Feldmarschall<br />

Bernard L. Viscount Montgomery<br />

of Alamain and Hindhead, Vorsitzender<br />

im Verteidigungsstab des<br />

Brüsseler Paktes (ab 1949 Stellvertretender<br />

Oberster Alliierter Befehlshaber<br />

in Europa) kam zu dem Schluss,<br />

dass die Verteidigung am Rhein unrealistisch<br />

sei, und plädierte für »einen<br />

geordneten Rückzug als Alternative<br />

zur Vernichtung«.<br />

Da die Kontroverse nie gelöst wurde,<br />

muss festgestellt werden, dass es<br />

im eigentlichen Sinne ein kurzfristiges<br />

Verteidigungskonzept, zumindest ein<br />

erfolgversprechendes, gar nicht gab.<br />

Die Amerikaner zogen hieraus den<br />

Schluss, sich über ihre eigenen Konzepte<br />

weiterhin bedeckt zu halten.<br />

Verstärkungskräfte von acht Divisionen<br />

sollten erst sechs Monate später<br />

bereit gestellt werden. Vergleicht man<br />

dies mit den Einschätzungen von OFF-<br />

TACKLE – dort wurde mit einer Erobe-<br />

20<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


Strategie<br />

3<br />

Feldmarschall<br />

Bernard L. Montgomery<br />

verkörperte das europäische<br />

Verteidigungskonzept. Als<br />

Kriegsheld, hier in seinem mobilen<br />

Hauptquartier, stand er für die<br />

siegreiche Weltmacht Großbritannien<br />

im Zweiten Weltkrieg.<br />

rung Westeuropas bis zu den Pyrenäen<br />

innerhalb von 70 Tagen gerechnet –,<br />

wird deutlich, dass im Ernstfall die<br />

Rheinverteidigung vermutlich ohnehin<br />

obsolet gewesen wäre. Die gebilligte<br />

Sofortverstärkung, eine US-Luftlandedivision,<br />

muss demnach eher als<br />

politische Geste angesehen werden.<br />

Die mittelfristigen Planungen<br />

der NATO<br />

ullstein - ullstein bild<br />

Am 1. April 1950 wurde ein vierjähriges<br />

Aufstellungsprogramm vom<br />

Verteidigungsplanungsausschuss der<br />

NATO akzeptiert. Es bildete den mittelfristig<br />

angelegten Verteidigungsplan<br />

des Bündnisses bis 1954. Dieser<br />

sah vor, innerhalb von 90 Tagen die<br />

sowjetische Offensive am Rhein zum<br />

Stehen gebracht zu haben und den<br />

strategischen Luftkrieg vollständig zu<br />

beginnen. Dabei wurde mit der »Vorwärtsstrategie«<br />

angestrebt, möglichst<br />

wenig NATO-Territorium preiszugeben.<br />

Taktisch wollte man sich hier<br />

nicht auf reine Verteidigungsgefechte<br />

verlassen, sondern selbst die Initiative<br />

durch Defensiv-Offensiv-Operationen<br />

ergreifen. Ebenso von vitaler Bedeutung<br />

war das Offenhalten der Seewege<br />

über den Atlantik, um die amerikanische<br />

Verstärkung zu gewährleisten.<br />

Die militärischen Planer waren dafür<br />

bereit, alles auf eine Karte zu setzten<br />

und alle verfügbaren Kräfte zu nutzen.<br />

Entscheidend war es, in dieser<br />

90-Tage-Frist die Verteidigung aufrecht<br />

erhalten zu können, weil nur so die<br />

Voraussetzung für die erwartete Verstärkung<br />

geschaffen werden konnte.<br />

Die Diskrepanz zu amerikanischen Planungen,<br />

die eine relevante Verstärkung<br />

erst zwölf Monate nach der Mobilmachung<br />

vorsahen, blieb weiterhin bestehen.<br />

Damit wird deutlich, wie sehr<br />

sich ein militärischer Erfolg des westlichen<br />

Bündnisses auf den strategischen<br />

Luftkrieg der USA stützen musste.<br />

Die konkreten Truppenaufstellungen,<br />

die für eine erfolgversprechende Verteidigung<br />

als präsent vorgesehen wurden,<br />

hatten nach den Festlegungen<br />

des Verteidigungsplanungsausschusses<br />

der NATO vom 1. April 1950 den<br />

folgenden Umfang:<br />

• 90 Heeres-Divisionen<br />

• 1000 Kriegsschiffe und 107 U-Boote<br />

• 8000 Flugzeuge.<br />

Dabei ist zu berücksichtigen, dass dies<br />

die Gesamtstärke darstellte, die Zahlen<br />

also für das gesamte NATO-Gebiet<br />

galten. Für die direkte Verteidigung<br />

Westeuropas waren somit, abzüglich<br />

der Kontingente für die europäischen<br />

Flanken und der Verstärkungstruppen,<br />

nur 53 Divisionen – sowohl präsente<br />

Verbände als auch diejenigen, die von<br />

D + 30 (= Kriegsbeginn + 30 Tage)<br />

zu mobilisieren gewesen wären – und<br />

4200 Flugzeuge vorgesehen. Auch diese<br />

Zielvorgaben wurden weiterhin, insbesondere<br />

durch die USA, als besorgniserregend<br />

gering angesehen, dennoch<br />

sollten die Verteidigungsanstrengungen<br />

der Europäer nicht durch »utopische<br />

Planzahlen« im Keim erstickt werden.<br />

So war das Aufstellungskonzept<br />

von Anfang an nur zur Ermittlung der<br />

notwendigen, aber geringst möglichen<br />

Anzahl von Streitkräften ausgelegt.<br />

Um zudem die nun vorgesehene<br />

Vorneverteidigung (forward strategy)<br />

glaubhaft zu machen, mussten von<br />

dem veranschlagten Kräftepotential<br />

von 53 Divisionen gleich 32 Verbände<br />

schon direkt bei Kriegsbeginn präsent<br />

sein. Es gelang der NATO allerdings<br />

weder kurz- noch mittelfristig, dieses<br />

Ziel umzusetzen. Während die USA<br />

und Großbritannien ihren für 1954 vorgesehenen<br />

Anteil von zehn Divisionen<br />

bereits 1951 mit neun in Europa stationierten<br />

Verbänden nahezu erfüllt hatten<br />

und damit das Rückgrat der Verteidigungskräfte<br />

stellten, hinkten die<br />

Kontinentaleuropäer weiter hinterher.<br />

Bis Ende 1951 gelang es gerade, 20<br />

Divisionen bereit zu halten. Da absehbar<br />

war, dass sich an diesem Zustand<br />

auch in den folgenden Jahren, nichts<br />

ändern würde, klaffte weiterhin eine<br />

eklatante Lücke, die durch die Bündnispartner<br />

nicht geschlossen werden<br />

konnte.<br />

In diese Zeit fällt die Diskussion über<br />

den westdeutschen Verteidigungsbeitrag,<br />

der dem deutschen Konzept der<br />

Himmeroder Denkschrift mit zwölf<br />

Divisionen folgend die Lücke passgenau<br />

schließen sollte. Zuerst im Rahmen<br />

der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft<br />

(EVG), nach deren Scheitern<br />

am 30. August 1954 im Verbund<br />

mit der NATO, kam es schließlich auch<br />

zur Umsetzung dieser Vorstellungen.<br />

Die konventionelle Unterlegenheit und<br />

das absehbare Aufbrechen des Nuklearmonopols<br />

machte eine Einbindung<br />

der Bundesrepublik Deutschland in die<br />

westlichen Verteidigungsbemühungen<br />

unerlässlich. Dies führte zur Bewaffnung<br />

der Bundesrepublik und zum<br />

Rollenwechsel der alliierten Truppen<br />

in Westdeutschland von einer Besatzungs-<br />

zu einer Schutzmacht. Ein<br />

wesentlicher Schritt hin zu einer<br />

glaubhaften – auch konventionellen –<br />

Abschreckung wurde mit der Aufstellung<br />

der Bundeswehr vollzogen.<br />

• Oliver Palkowitsch<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 21


Service<br />

Das historische Stichwort<br />

Vor 30 Jahren:<br />

»Gleichberechtigung ist nicht<br />

Die ersten weiblichen<br />

Sanitätsoffiziere sind im<br />

Einsatz bei der Bundeswehr<br />

Gleichmacherei«<br />

3 In ihren Maßuniformen, vom bekannten Modeschöpfer Heinz Oestergaard entworfen und<br />

von der Bielefelder Firma Jobis produziert, glichen sie eher zivilen Stewardessen denn<br />

Bundeswehroffizieren. Uniformfarbe war – für Heer, Luftwaffe und Marine gleichermaßen<br />

– ein helles Blau. Die Schulterstücke mit den Hauptmannssternen und dem Äskulapstab sind<br />

kleiner und eleganter als auf der Männermontur. Frauen durften zu ihrer Uniform Tasche,<br />

Schuhe und Handschuhe nach freier Wahl tragen.<br />

SKA/IMZ<br />

F<br />

rauen im Soldatenrock. Ein<br />

nahezu absurder Gedanke für<br />

viele männliche Angehörige der<br />

Bundeswehr Mitte der 70er Jahre, die<br />

sich häufig noch mit »dem klassischen<br />

Bild eines männlichen Kriegers« identifizierten.<br />

Was die Soldaten vieler<br />

Armeen in der Welt längst gelernt hatten,<br />

begannen nun ihre Kameraden<br />

in der Bundesrepublik allmählich zu<br />

üben: Nämlich nicht zu staunen, wenn<br />

sie plötzlich einem Offizier gegenüberstanden,<br />

der eine Frau war. Ab dem<br />

1. Oktober 1975 konnten approbierte<br />

Ärztinnen, Zahnärztinnen, Tierärztinnen<br />

und Apothekerinnen als Sanitätsoffiziere<br />

aufgrund freiwilliger Verpflichtung<br />

in die Bundeswehr eingestellt<br />

werden.<br />

Der Einsatz von Frauen in den Streitkräften<br />

wurde in der Bundesrepublik,<br />

im Gegensatz zur DDR, zunächst völlig<br />

ausgeschlossen. Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg entstand die Bundesrepublik<br />

Deutschland als Staat ohne Armee<br />

und mit einem Grundgesetz ohne<br />

wehrrechtliche Bestimmungen. Als die<br />

Diskussion über die Wiederbewaffnung<br />

schließlich in der Aufstellung<br />

von Streitkräften in Form einer Wehrpflichtarmee<br />

mündete, wurde auch das<br />

Grundgesetz 1956 der neuen Lage<br />

angepasst. Frauen sollten keinen Dienst<br />

an der Waffe leisten. Im Spiegel<br />

der Erinnerung an die militärischen<br />

Dienste, in die deutsche Frauen in der<br />

damals jüngsten Vergangenheit verwickelt<br />

worden waren, erschien dies<br />

den Vätern und Müttern des Grundgesetzes<br />

als einzige konsequente Entscheidung.<br />

Mit der Einführung des<br />

Artikels 12a in das Grundgesetz im<br />

Rahmen der »Notstandsverfassung«<br />

von 1968 konnten Frauen im Verteidigungsfall<br />

zumindest zu zivilen Aufgaben<br />

herangezogen werden.<br />

Anfang der 70er Jahre zeichnete<br />

sich eine dramatische personelle Unterbesetzung<br />

im Stellenplan der Bundeswehr<br />

gerade im militärärztlichen<br />

Dienst ab. 2900 Sanitätsoffiziere, darunter<br />

2100 Ärzte, benötigte die Bundeswehr<br />

zu Beginn des Jahres 1975.<br />

Von den erforderlichen länger dienenden<br />

1400 Medizinern bei den Soldaten<br />

fehlten damals rund 600. Diese<br />

Posten wurden mit grundwehrdienstleistenden<br />

Jung-Medizinern oder mit<br />

so genannten Zwei-Jahres-Soldaten<br />

besetzt. Durch die ungünstige Altersstruktur<br />

der Bundeswehrärzte – das<br />

Durchschnittalter der Medizinalbeamten<br />

der Bundeswehr lag bei 56 Jahren,<br />

zwei Drittel der Musterungsärzte sollten<br />

bis 1985 aus dem aktiven Dienst<br />

ausscheiden – hatte sich der Bedarf<br />

noch vergrößert. Die Gesundheitsfürsorge<br />

in der Bundeswehr war so<br />

wesentlich beeinträchtigt. Im Hinblick<br />

auf diese Lage reiften auf der Bonner<br />

Hardthöhe ernsthafte Überlegungen,<br />

die Laufbahn der Sanitätsoffiziere auch<br />

für Ärztinnen zu öffnen. Der Leitgedanke<br />

bestand damals darin, dass »die<br />

Bundeswehr nur dann in der Lage<br />

sein wird, genügend tüchtige Ärzte zu<br />

gewinnen und zu halten, wenn das<br />

Berufsbild des Sanitätsoffiziers nicht<br />

weniger anziehend und lohnend ist als<br />

das des Krankenhaus- oder niedergelassenen<br />

Arztes im zivilen Bereich«.<br />

Für die Aufnahme weiblicher Sanitätsoffiziere<br />

als Berufssoldat oder Soldat<br />

auf Zeit wurde festgelegt, dass nur<br />

approbierte Medizinerinnen aufgrund<br />

freiwilliger Verpflichtung als Vorgesetzte<br />

mit Disziplinargewalt eingestellt<br />

würden. Im Sinne gleicher Rechte und<br />

Pflichten für männliche und weibliche<br />

Stabsoffiziere sollten sie hinsichtlich<br />

ihrer Verwendung wie männliche San-<br />

Offiziere behandelt werden.<br />

Nach Beginn des Gesetzgebungsverfahrens<br />

im Frühjahr 1975 traten bereits<br />

am 1. Oktober des Jahres die ersten<br />

fünf weiblichen Sanitätsoffiziere ihren<br />

Dienst als »Seiteneinsteigerinnen« in<br />

der Bundeswehr an. In einer schlichten<br />

Veranstaltung ohne Urkundenverleihungen,<br />

Blumen und Militärmarsch<br />

ernannte Verteidigungsminister Georg<br />

Leber Eva Neuland (Fernmeldeschule<br />

des Heeres, Feldafing), Dr. Angela von<br />

Porthan (Flugmedizinisches Institut<br />

der Luftwaffe, Fürstenfeldbruck), Dr.<br />

Doris von Rottkay (Hochschule der<br />

Bundeswehr, München) und Dr. Eva<br />

Seifert (Sanitätsamt der Bundeswehr,<br />

Bonn-Beuel) zum Stabsarzt. Zuvor hat-<br />

22<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


Die Journalistin Almut Lüder führte mit Generalarzt Dr. Verena von Weymarn im August 2005 kurz vor<br />

deren Pensionierung ein Interview, das wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion INTRANET<br />

aktuell in Auszügen wiedergeben.<br />

Generalarzt Dr. Verena<br />

von Weymarn wurde<br />

unter großer öffentlicher<br />

Beachtung am 1. April<br />

1994 zur ersten »Generalin«<br />

der Bundeswehr. In<br />

ihrer letzten Verwendung<br />

leitete sie als Chefärztin<br />

das Bundeswehrzentralkrankenhaus<br />

in Koblenz.<br />

te er als erste Frau Dr. Sigrid Fuchs<br />

(Flugmedizinisches Institut der Luftwaffe)<br />

zum Oberstabsarzt ernannt.<br />

Weitere 25 Frauen wurden am 1. Januar<br />

1976 vereidigt.<br />

Eine Änderung des Grundgesetzes<br />

als Voraussetzung für die Einstellung<br />

der Frauen wurde nicht notwendig, da<br />

nach dem Genfer Rot-Kreuz-Abkommen<br />

vom 12. August 1949 Angehörige<br />

des Sanitäts- und Militärmusikpersonals<br />

nicht zu den so genannten Kombattanten<br />

einer Armee gehörten und so<br />

auch grundsätzlich nicht an eventuellen<br />

Feindseligkeiten teilnehmen durften.<br />

Somit war lediglich eine entsprechende<br />

Änderung des Soldatengesetzes<br />

erforderlich, die am 9. August 1975 im<br />

Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde.<br />

Die Einstellung weiblicher Sanitätsoffiziere<br />

gehört zu den großen Ereignissen<br />

»von hohem gesellschaftspolitischen<br />

und historischen Rang« (Verteidigungsminister<br />

Leber) in der Geschichte<br />

der alten Bundesrepublik.<br />

Erstmals hatte eine deutsche Streitmacht<br />

weibliche Offiziere einberufen.<br />

Mit den Entscheidungen des Jahres<br />

1975 hatte sich das Thema »Frauen in<br />

den Streitkräften« aber noch lange nicht<br />

erledigt. Der »Waffenrock« begann sich<br />

seiner rechtmäßigen verbalen Bedeutung<br />

bewusst zu werden. Seit Anfang<br />

der 90er Jahre wurden die Laufbahngruppen<br />

der Unteroffiziere und Mannschaften<br />

für Frauen im Sanitäts- und<br />

Musikdienst geöffnet und seit dem 1.<br />

Januar 2001 sind für Frauen alle Dienstbereiche<br />

der Streitkräfte frei zugänglich.<br />

Den Respekt und die Anerkennung<br />

verdienten sich die Soldatinnen<br />

dadurch, dass sie in all den 30 Jahren<br />

stets von neuem ihre hohe Motivation,<br />

einen ausgeprägten Arbeitswillen,<br />

Teamgeist und Einsatzbereitschaft<br />

unter Beweis stellen.<br />

Richard Göbelt<br />

SKA/IMZ<br />

Mittlerweile sind Frauen 30 Jahre im Sanitätsdienst der Bundeswehr. Sie sind seit 1976<br />

dabei. Wie haben Sie die Anfänge erlebt?<br />

von Weymarn: Ich habe sie eigentlich rein zufällig wahrgenommen. In einer Zeitung las ich,<br />

dass der damalige Verteidigungsminister Leber sich mit seinem Plan durchgesetzt habe, Frauen<br />

in die Bundeswehr aufzunehmen.<br />

Die Zeit war für mich gerade ein Entscheidungszeitraum. Was mache ich? Familie hatte ich,<br />

zwei Kinder, Examen, Dr.-Arbeit, alles war gelaufen. Die Frage stellte sich, gehe ich in die<br />

Praxis, gehe ich in die Klinik oder in den öffentlichen Gesundheitsdienst? Bei Praxis und Klinik<br />

zögerte ich. Dann hätte ich die Treffen mit meiner Familie in den Kalender eintragen müssen.<br />

Öffentlicher Gesundheitsdienst war mir nicht interessant genug. Eigentlich wollte ich, wie<br />

die meisten Mediziner, Patienten betreuen und begleiten.<br />

Ich las den ganzseitigen Artikel über Einstellungen von Frauen in der Bundeswehr. Dann habe<br />

ich meinen Mann angerufen, um ihn zu fragen, ob das was für mich sei. Nun muss man dazu<br />

sagen, dass Militär bei uns zu Hause kein Fremdwort war. Ich habe zwei Brüder, die gedient haben,<br />

mein Stiefvater war im ersten und zweiten Weltkrieg. Militär war ein Thema. Mein Mann und ich<br />

haben ein halbes Jahr nachgedacht und recherchiert. Im März 1976 habe ich mich beworben. Im<br />

Mai hatte ich die Stelle.<br />

Wurden Sie als eine der ersten Frauen als kleines Wunder in der Männerriege angesehen?<br />

von Weymarn: Wunder will ich nicht sagen. Schon zu meinen Studienzeiten waren ein Drittel<br />

aller ärztlichen Mitarbeiter Frauen. Neu waren Frauen in der Kaserne mit Dienstgrad. Ja, ich war<br />

die erste und einzige Frau, die zuständig war für Soldaten im weitesten Sinne.<br />

Das war mehr für die männlichen Kameraden eine Umstellung als für mich. Ein männlicher<br />

Patient ist für einen Mediziner auch kein Weltwunder, sondern irgendein Patient, der mit einem<br />

Anliegen kommt. Natürlich musste ich in den militärischen Gepflogenheiten sehr viel dazu lernen,<br />

aber das war alles im Rahmen des Machbaren.<br />

Inwiefern haben Frauen das Bild der Bundeswehr verändert?<br />

von Weymarn: Das müssten Sie eigentlich eher die Männer fragen, denn deren Welt ist ja verändert<br />

worden, nicht meine. Meine hat eine männlichere Variante gekriegt im beruflichen Umfeld.<br />

Die Bundeswehr ist eine flexible Institution, die sich Herausforderungen und Veränderungen sehr<br />

schnell stellt und versucht, sie zum normalen Alltag zu machen.<br />

Fühlten Sie sich unter Druck gesetzt?<br />

von Weymarn: Überhaupt nicht. In jedem Bereich, in dem geordnet gearbeitet werden muss, muss<br />

man seine Arbeitsabläufe ordnen oder es gibt Vorgaben von Vorgesetzten. Das ist in einer zivilen<br />

Klinik genauso wie beim Militär, nur die Rahmenbedingungen sind ein bisschen anders.<br />

Haben sich Ihre anfänglichen Erwartungen, die Sie an die Bundeswehr hatten, erfüllt?<br />

von Weymarn: Sonst wäre ich nicht Berufssoldat geworden. Ich habe doch schnell gemerkt, dass<br />

man verschiedene Felder abdecken muss: Menschen führen, anleiten und begleiten. Da man auch<br />

dafür sorgen muss, dass die Leute ausgebildet und fortgebildet werden, muss man sich um Menschen<br />

kümmern, damit sie ihren Weg innerhalb ihres Dienstgrades gehen können.<br />

Wenn man dann später selbst Chef einer Einheit ist, dann ist es erstaunlich, um was man sich da<br />

alles kümmern muss. In einer Klinik muss man sich nicht um Fahrzeuge und Munition kümmern.<br />

Letztlich ist man die Nummer 1 und verantwortlich für einen Haushalt mit sehr viel Geld.<br />

Warum hat sich die Bundeswehr generell so spät für Frauen geöffnet?<br />

von Weymarn: Es wäre ja nicht bereits ein Jahr nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs<br />

gekommen, wenn der Plan nicht schon in den Schubladen gelegen hätte. Wahrscheinlich wurde<br />

politisch auf den günstigsten Moment gewartet.<br />

Aber eben spät?<br />

von Weymarn: Der Sanitätsdienst wurde immer vorgeschickt, wir waren in Kambodscha die ersten,<br />

die in den Auslandsdienst geschickt wurden. Warum? Weil wir Nicht-Kombattanten waren.<br />

Warum hat man Soldaten Medizin studieren lassen? Nicht nur, weil man der Gesellschaft Gefallen<br />

tun wollte, sondern weil ein erheblicher Bedarf da war.<br />

Warum hat man Frauen im Sanitätsdienst der Bundeswehr zugelassen? Weil ein Drittel der Mediziner<br />

Frauen waren und man auf dieses Potential nicht verzichten konnte. Politisch lässt sich so<br />

ein Schritt gut verwerten, gleichgültig welcher Couleur die Regierung ist. Tatsache war, dass die<br />

Bundeswehr als eine der letzten Armeen war, die Frauen zuließ. Es war eine chronologische Folge,<br />

die durch äußere Umstände beschleunigt wurde.<br />

Wenn Sie eine Prognose wagen, wann wird es die erste Generalinspekteurin geben?<br />

von Weymarn: Bei uns dauert das noch lange. Da sind uns andere Länder weit voraus. Die Franzosen<br />

haben eine Verteidigungsministerin. Wir haben in der Truppe jetzt die ersten Frauen im Hauptmannsrang.<br />

Das ist noch ein gewaltiger Weg. Das dauert locker noch 20 Jahre. Und das ist auch gut<br />

so. Bitte jetzt keine Frauen zum Vorzeigen und »Dahinpushen«<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 23


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Medien online/digital<br />

Archive im Netz<br />

Und auch während der Umbrüche<br />

selbst, also in Zeiten von, modern ausgedrückt,<br />

»failed states«, gab es deutsches<br />

Militär oder zumindest militärische<br />

Erscheinungsformen: Bürgerkriegsverbände,<br />

ob revolutionär oder<br />

reaktionär, Bürgerwehren und Freikorps.<br />

Hinzu kommen – um die Dinge<br />

noch etwas zu komplizieren – teils nicht<br />

staatlich, teils regional, teils von ausländischen<br />

Besatzungsmächten organisierte<br />

(para)militärische Grenzschutzverbände<br />

und Milizen, beispielsweise<br />

Grenzwacht, Dienstgruppen, Bundesgrenzschutz,<br />

Kasernierte Volkspolizei.<br />

Die militärgeschichtlich relevante<br />

Archivlandschaft ist ein Spiegel dieser<br />

Entwicklungen. Sie ist anders als<br />

in anderen Ländern, etwa Frankreich,<br />

Spanien oder Großbritannien, weitestgehend<br />

dezentral organisiert. Dass<br />

man im Internet nicht einfach die<br />

Akten, beispielsweise als pdf-Datei,<br />

nline<br />

K<br />

ürzlich fragte ein Anrufer aus<br />

Australien, der sich mit bestimmten<br />

Aspekten deutscher<br />

Militärgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert<br />

beschäftigen wollte, welches<br />

Archiv er denn dazu besuchen müsse.<br />

Als ich erst einmal stutzte, fragte er entnervt:<br />

»Sie haben doch in Berlin sicher<br />

ein Nationalarchiv mit einer Kriegsabteilung?!«<br />

Das Gespräch wurde länger<br />

und vermutlich aus Australien auch<br />

recht teuer.<br />

Ein zentrales Archiv zur deutschen<br />

Militärgeschichte gibt es eben nicht.<br />

Das liegt nicht an den Archiven, sondern<br />

an der deutschen Militärgeschichte.<br />

Sie ist komplex, zumindest so komplex,<br />

wie die Geschichte der deutschen<br />

Staaten. Schließlich ist reguläres Militär<br />

an die jeweilige – im deutschen Fall<br />

höchst unterschiedliche – Staatsmacht<br />

gebunden. So finden sich in Deutschland<br />

die verschiedensten Spielarten<br />

von Militär: Diese reichen von den<br />

Heeren der deutschen Klein- und Mittelstaaten<br />

über gemeinsame Unternehmungen,<br />

wie die Marine des Deutschen<br />

Bundes, bis zu Kontingentsarmeen<br />

unter Führung eines<br />

gemeinsamen kaiserlichen<br />

Kommandos. Man findet<br />

Armeen im Stile einer levée<br />

en masse, aber auch kleine,<br />

hoch professionalisierte<br />

Kaderarmeen, wie das<br />

»100 000-Mann-Heer« der<br />

Reichswehr. Deutsche Soldaten<br />

findet man (betrachtet<br />

man selbst nur diejenigen<br />

deutschen Soldaten in deutschen<br />

Diensten) unter den denkbar un-<br />

terschiedlichsten Herrschaftsformen:<br />

Deutsche Soldaten dienten im Verlauf<br />

der Geschichte in absoluten und konstitutionellen<br />

Monarchien, in braunen<br />

und roten Diktaturen, in präsidialen<br />

und parlamentarischen Demokratien.<br />

Nach jedem Umbruch – ob in Folge<br />

eines verlorenen Krieges oder einer<br />

Revolution – musste sich das Militär in<br />

seinem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft<br />

neu definieren oder anders ausgedrückt,<br />

sich erst im neuen politischen<br />

System verorten.<br />

abrufen kann, erklärt sich aus der<br />

Masse des Archivgutes, aber auch<br />

Gründe des Persönlichkeitsschutzes<br />

spielen hierbei eine Rolle. Was bieten<br />

also die Websites der Archive? Führt<br />

das World Wide Web wieder »zusammen,<br />

was zusammen gehört«? Wie<br />

sieht sie also aus, die deutsche militärgeschichtliche<br />

Archivlandschaft im<br />

World Wide Web?<br />

www.gsta.spk-berlin.de<br />

Erst 1867 wurde mit der Verfassung<br />

des Norddeutschen Bundes das Bundeskriegswesen<br />

ganz in die Hand des<br />

Königs von Preußen gelegt. Daher<br />

müssen wir uns zuerst in die regionalen<br />

Bereiche begeben. Wer an deutsches<br />

Militär denkt, denkt zuerst an Preußen.<br />

Unter www.gsta.spk-berlin.de findet<br />

man das Geheime Staatsarchiv Preußischer<br />

Kulturbesitz. Eine übersichtliche<br />

Navigation führt den militärgeschichtlich<br />

interessierten Nutzer schnell über<br />

den Menüpunkt »Bestände« zur Preußischen<br />

Armee. So finden sich beispielsweise<br />

unter »Militärverwaltung<br />

und Truppenführung« die Bestände<br />

des Großen Generalstabs. Angegeben<br />

sind laufende Aktenmeter, das entsprechende<br />

Findbuch sowie Verweise<br />

auf verwandtes Archivgut. Eine Suchfunktion<br />

führt mittels Schlagworten<br />

zur entsprechenden Bestandsbeschreibung.<br />

Von 1662 bis 1944 liegen die<br />

preußischen Militärkirchenbücher im<br />

Geheimen Staatsarchiv. Sucht man also<br />

nach Akten zu Militärpersonen, so ist<br />

das Geheime Staatsarchiv eine wichtige<br />

Anlaufstelle. Etwas versteckt kommt<br />

man über den Menüpunkt »Rückblick/<br />

Vorschau« zu »Literatur«. Dies ist eine<br />

wahre Fundgrube: Es sind hier nicht<br />

nur Titel aus dem Geheimen Staatsarchiv,<br />

sondern auch Arbeiten über<br />

Archivbestände zu finden. Ein sachlicher,<br />

aber angenehm moderner Auftritt.<br />

Leider ist jedoch die Bibliothek<br />

des Archivs noch nicht online.<br />

www.gda.bayern.de<br />

Zur bayerischen Militärgeschichte benötigt<br />

man Akten aus dem Bayerischen<br />

Hauptstaatsarchiv. Die Abteilung IV ist<br />

in München das Kriegsarchiv. Dessen<br />

Auftritt beschränkt sich leider auf nur<br />

drei Seiten: eine kurze Geschichte des<br />

Archivs und eine kurze Beschreibung<br />

der Bestände. Der Auftritt<br />

entspricht nicht neuesten<br />

Standards, eine Suchfunktion<br />

oder Literaturhinweise<br />

findet man nicht. Um<br />

so interessanter sind die<br />

Bestände vor Ort: Insbesondere<br />

die Truppenakten<br />

des Ersten Weltkrieges (die<br />

preußischen Truppenakten<br />

verbrannten größtenteils<br />

im Heeresarchiv bei der Bombardierung<br />

Potsdams 1944), die Akten des<br />

bayerischen Kriegsministeriums, die<br />

auch eine Parallelüberlieferung zu fehlenden<br />

preußischen Akten darstellen,<br />

und nicht zuletzt die Kriegsranglisten<br />

und -stammrollen mit über 22 790 Bänden<br />

bilden eine solide Grundlage für<br />

Militärhistoriker.<br />

www.sachsen.de<br />

Über www.sachsen.de findet man die<br />

Website des Sächsischen Hauptstaatsarchivs.<br />

Die Beständeübersicht erreicht<br />

24<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


man dort gut und komfortabel. Sie<br />

ist mit dem Bundesarchiv verlinkt. Es<br />

findet sich sowohl eine Suchfunktion<br />

als auch etwas versteckt unter dem<br />

Menüpunkt »2.3.8 Militär« ein Überblick<br />

über militärgeschichtlich relevante<br />

Findbücher. Das Archiv in Dresden<br />

beherbergt etwa Akten des Geheimen<br />

Kriegsrats, aber auch solche von Verbänden<br />

und Truppenteilen der Sächsischen<br />

Armee oder, für Personenrecherchen<br />

interessant, die Akten der<br />

sächsischen Militärkirchengemeinden<br />

von 1884 bis 1920.<br />

www.landesarchiv-bw.de<br />

Die Website des Landesarchivs Baden-<br />

Württemberg www.lad-bw.de führt<br />

zum Generallandesarchiv Karlsruhe.<br />

Hier finden sich die Bestände der Badischen<br />

Armee. Die badischen Regimenter<br />

können ab 1858 bearbeitet werden.<br />

Auch zu Personalia findet sich hier bis<br />

1870 einiges. Das Angebot der Seite ist<br />

sehr umfangreich, die Bestände sind<br />

genau<br />

digital<br />

beschrieben und teilweise sind<br />

hier sogar bereits Findbücher ins Netz<br />

gestellt worden. Ein Musterauftritt aus<br />

dem »Musterländle« – nur die Navigation<br />

ist noch gewöhnungsbedürftig, da<br />

etwas umständlich.<br />

www.bundesarchiv.de<br />

Für die Zeit ab 1867, spätestens ab<br />

der deutschen Nationalstaatsgründung<br />

1870, erreicht man auch bei den<br />

Archiven die nationale Ebene. Das<br />

Bundesarchiv-Militärarchiv (Freiburg<br />

i. Br.) präsentiert sich im Web unter<br />

www.bundesarchiv.de. Die Abteilung<br />

»MA«, wie Militärarchiv, ist der richtige<br />

virtuelle Ort für den Militärhistoriker.<br />

Im Bundesarchiv-Militärarchiv<br />

findet sich Archivgut zur Preußischen<br />

Armee ab 1867, zu den Sreitkräften<br />

des Norddeutschen Bundes, zur kaiserlichen<br />

Marine, zu den Schutztruppen<br />

und den Freikorps, zur Reichswehr,<br />

Wehrmacht und Waffen-SS, zu deutschen<br />

Arbeitseinheiten im Dienst der<br />

Alliiertensowie zur Nationalen Volksarmee<br />

und zur Bundeswehr. Oberfläche<br />

und Navigation sind sehr übersichtlich<br />

und nutzerfreundlich gestaltet. Die<br />

Suchfunktion ist schnell und effektiv.<br />

Zu den Beständen gibt es viele zusätzliche<br />

Informationen. Es wird über den<br />

Bestand selbst, dessen Überlieferung<br />

und Erschließungsstand informiert.<br />

Teilweise gibt es auch bereits Online-<br />

Findbücher. Der Bibliothekskatalog der<br />

Freiburger Archivsbibliothek ist ebenfalls<br />

per Internet nutzbar.<br />

www.dd-wast.de<br />

Geht es jedoch um Personenrecherchen,<br />

insbesondere zum Zweiten Weltkrieg,<br />

so sollte man sich an die Deutsche<br />

Dienststelle zur Benachrichtigung<br />

der nächsten Angehörigen von Gefallenen<br />

der ehemaligen deutschen Wehrmacht<br />

(WASt) wenden. Neben einer<br />

Zentralkartei mit über 18 000 000 Karteikarten<br />

von Teilnehmern des Zweiten<br />

Weltkriegs finden sich in Berlin die<br />

Erkennungsmarkenverzeichnisse, Personalunterlagen<br />

der deutschen Marine<br />

von 1871 bis 1947 (!) und auch Personalunterlagen<br />

der deutschen Wehrmacht.<br />

Wichtig ist auch die Zentralgräberkartei<br />

über Kriegssterbefälle mit Meldungen<br />

zu beiden Weltkriegen. Die<br />

WASt erreicht man im Internet über<br />

www.dd-wast.de. Die Seite ist dreisprachig<br />

(deutsch, englisch, französisch)<br />

und gut handhabbar. Suchanträge<br />

können über ein standardisiertes<br />

Formblatt unkompliziert erfolgen.<br />

Insgesamt bieten das Bundesarchiv<br />

und die Landesarchive sowie das<br />

Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz<br />

und die WASt gute Recherchemöglichkeiten<br />

über das World Wide<br />

Web. Lediglich das Bayerische Hauptstaatsarchiv<br />

hat hier noch Nachholbedarf.<br />

Der Gang ins Archiv wird aber<br />

nach wie vor zur Arbeit des Militärhistorikers<br />

gehören.<br />

aak<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 25


Service<br />

Lesetipp<br />

50 Jahre Bundeswehr<br />

Rolf Clement,<br />

Paul Elmar Jöris,<br />

50 Jahre Bundeswehr<br />

1955–2005.<br />

Hamburg, Berlin,<br />

Bonn 2005.<br />

ISBN 3-8132-0837-0;<br />

288 S.,<br />

29,00 €<br />

Was sich dem Leser auf den ersten<br />

Blick wie ein bunt bebildertes<br />

»Jubelbuch« zu 50 Jahren Bundeswehr<br />

präsentiert, entpuppt sich bei genauerem<br />

Hinsehen bald als mehr:<br />

Eingebettet in die Grundlinien der<br />

Sicherheitspolitik und die jeweiligen<br />

NATO-Strategien wird der Leser durch<br />

die Geschichte unserer Streitkräfte<br />

geführt. So zeichnen die Autoren im<br />

ersten Teil des Buches die »große«<br />

Entwicklung innerhalb des Bündnisses<br />

nach. Im zweiten Teil werden<br />

die Hauptwaffensysteme, die Teilstreitkräfte<br />

und Organisationsbereiche dargestellt.<br />

Die Bundeswehr wird als<br />

Teil der Gesellschaft der Bundesrepublik<br />

Deutschland betrachtet. Somit werden<br />

auch heiklere Themen wie Proteste<br />

gegen die »Wiederbewaffnung«,<br />

die Notstandsgesetzgebung, aber auch<br />

Affären in der Bundeswehr thematisiert.<br />

Dieser breite Ansatz ist wohltuend.<br />

Schließlich hebt doch gerade<br />

die Einbindung in ihre rechtlichen und<br />

politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

die Bundeswehr innerhalb<br />

der deutschen Streitkräfte heraus.<br />

aak<br />

Neben historischen Darstellungen<br />

zu den Teilstreitkräften und einzelnen<br />

Aspekten des Einsatzes im Inund<br />

Ausland kommen in den 36 Beiträgen<br />

des Buches Zeitzeugen sowie<br />

sachkundige Autoren aus Diplomatie,<br />

Politik, Militär, Verbänden, Wirtschaft<br />

und Industrie zu Wort. Für den historischen<br />

Überblick sorgt eine Zeitleiste,<br />

die am Textrand mitläuft. Angehörige<br />

fast aller heute im Deutschen<br />

Bundestag vertretenen Parteien ziehen<br />

Fazit anlässlich des 50. Geburtstages<br />

der Bundeswehr. Als »Geburtstagsgeschenk«<br />

wünscht einer der Autoren<br />

Rainer Huhle (Hrsg.),<br />

50 Jahre Bundeswehr. Bonn, 2004.<br />

ISBN 3-9809680-1-4;<br />

286 S., 32,00 €<br />

des Bandes der Bundeswehr das lange<br />

angekündigte Weißbuch. Und wird<br />

etwa im Beitrag über »Filzlaus und<br />

Affenjacke« die Geschichte der Uniformen<br />

beschrieben, bieten die folgenden<br />

Beiträge zum »modularen Bekleidungssystem«<br />

und zum »Infanterist<br />

der Zukunft« die zukunftsbezogene<br />

Anknüpfung. Interesse findet sicher<br />

auch ein Beitrag zu »Bundeswehr und<br />

Wirtschaft«, dessen Autor nach dem<br />

reduzierungsbedingten Verlust des Gewichts<br />

der Bundeswehr als »direkter<br />

Arbeitergeber« einen Ausgleich durch<br />

erhöhte Investitionen in die Privatwirtschaft<br />

sieht. Insgesamt erscheint<br />

der Band nicht aus einem Guss zu<br />

sein, kann aber durch die Auswahl der<br />

Autoren und viele Bezüge zur Zukunft<br />

der Bundeswehr überzeugen.<br />

hb<br />

In der Reihe der Jubiläumsbände fällt<br />

dieses Buch als reiner Bildband auf.<br />

Nach einer kurzen historischen Einleitung<br />

folgen die Kapitel zu den Teilstreitkräften,<br />

der Streitkräftebasis und<br />

dem Sanitätsdienst, zur Verwaltung,<br />

zur internationalen Zusammenarbeit,<br />

zu »Retten und Helfen« und den unterschiedlichen<br />

Bereichen des Einsatzes.<br />

Der Band kommt mit Bildern der Erinnerung<br />

an den Zweiten Weltkrieg und<br />

an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus<br />

am Ende zum Gründungsmythos<br />

der Bundeswehr. Historische<br />

Abbildungen zur Bundeswehr<br />

sind wenige vorhanden. Im Vordergrund<br />

steht die »Armee im Einsatz«<br />

mit hervorragenden Bildern und drei-<br />

sprachigen Texterläuterungen. Heute<br />

ein Dokument der Bundeswehr im<br />

fünfzigsten Jahr ihres Bestehens und<br />

morgen eine historische Bildquelle von<br />

beeindruckender Qualität.<br />

hb<br />

Paul Carell<br />

Gerhard<br />

Hubatschek (Hrsg.),<br />

Bundeswehr.<br />

50 Jahre Einsatz<br />

für den Frieden,<br />

Bonn 2005.<br />

ISBN 3-932385-19-5;<br />

192 S.,<br />

38,00 €<br />

Wigbert Benz,<br />

Paul Carell. Ribbentrops<br />

Pressechef Paul Karl<br />

Schmidt vor und<br />

nach 1945,<br />

Berlin 2005.<br />

ISBN 3-86573-068-X;<br />

112 S.,<br />

16,80 €<br />

Paul Carell erscheint seriös wissenschaftlich<br />

Schaffenden wie engagiert<br />

Lehrenden gleichzeitig als jahrzehntelanges<br />

Ärgernis und Phänomen.<br />

Als Paul Karl Schmidt schaffte er einen<br />

kometenhaften Aufstieg im nationalsozialistischen<br />

Außenministerium. Trotz<br />

seiner NS-Vergangenheit avancierte er<br />

unter dem neuen Namen Carell zu<br />

einem bedeutenden Meinungsmacher<br />

der jungen Bundesrepublik. Redakteurstätigkeiten<br />

bei diversen westdeutschen<br />

Zeitungen und beste Beziehungen<br />

zu Medienzaren wie Axel Cäsar<br />

Springer ermöglichten es Schmidt/<br />

Carell zeitlebens, »Vergangenheitsbewältigung«<br />

zu betreiben, die auf die<br />

Reinwaschung und Rechtfertigung der<br />

Deutschen unter Hitler hinauslief. Mit<br />

Büchern über Stalingrad und die Wehrmacht<br />

erreicht(e) er eine Öffentlichkeit,<br />

die nicht viel wissen wollte von individueller<br />

Verantwortung im verbrecheri-<br />

26<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


schen nationalsozialistischen Regime,<br />

wohl aber von der scheinbaren individuellen<br />

Ausweglosigkeit unter der Diktatur.<br />

Dazu benutzte Schmidt/Carell<br />

Phrasen wie jene von der »Pflichterfüllung«<br />

gleichermaßen wie die von<br />

einem scheinbar noch zu findenden<br />

»Heldentum«. Benz deckt die skrupellose<br />

Infamie, mit der Schmidt/Carell<br />

seine Karriere betrieb, ebenso auf wie<br />

den bigotten Opportunismus, der<br />

durch das gesellschaftliche Umfeld<br />

ermöglicht wurde. Der Autor legt den<br />

Finger in die Wunde der angeblichen<br />

Vergangenheitsbewältigung in unserem<br />

Land, indem er die »Erfolgsgeschichte«<br />

von Schmidt/Carell in der<br />

braunen Diktatur ebenso wie in der<br />

Bonner/Berliner Republik kurz, aber<br />

präzise und lesenswert aufzeichnet.<br />

John Zimmermann<br />

Imperien<br />

Herfried Münkler,<br />

Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom<br />

Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten,<br />

Berlin 2005.<br />

ISBN 3- 871-34509-1;<br />

332 S., 19,90 €<br />

Die europäische Erfahrung des<br />

20. Jahrhunderts mit imperialer<br />

Macht und deren Verlust erinnert vor<br />

allem an sinnlosen Krieg, Massenvertreibung<br />

und Massenmord. Herfried<br />

Münkler leitet in seinem Buch aus<br />

dieser spezifisch europäischen imperiumskritischen<br />

Haltung allerdings keine<br />

allgemeingültige Position für imperiale<br />

Herrschaft ab. Die Kernfrage Münklers<br />

lautet: »Ist die Weltgemeinschaft zu<br />

ihrer eigenen Sicherheit auf eine imperiale<br />

Vormacht angewiesen? Oder stellt<br />

diese imperiale Vormacht eine gravierende<br />

Störung der Weltordnung dar,<br />

so dass es besser wäre, wenn es sie<br />

nicht gäbe?« Die Analyse des Autors<br />

zur inneren Logik imperialer Herrschaft<br />

zeichnet sich durch ihre historische<br />

Tiefe bei gleichzeitiger Diskussion<br />

möglicher Entwicklungen in der<br />

Zukunft aus. In sechs Kapiteln befasst<br />

sich Münkler zunächst mit der Definition<br />

des Begriffs Imperium und seiner<br />

Abgrenzung von Hegemonie und<br />

Imperialismus. Er teilt die Imperialherrschaft<br />

in verschiedene Typen ein<br />

(Steppenimperien, Seereiche, Handelsmächte),<br />

benennt dann die Zivilisierungsmission<br />

und die offenen Grenzen<br />

als Merkmale imperialer Ordnung und<br />

ergründet das regelmäßige Scheitern<br />

der Imperien an Überdehnung und an<br />

der »Macht der Schwachen«. Das Buch<br />

diskutiert am Ende das heutige imperiale<br />

Handeln der USA und die dadurch<br />

gestellten Herausforderungen für Europa.<br />

Karten, zahlreiche Anmerkungen<br />

und Literaturhinweise schließen<br />

die anspruchsvolle, aber immer spannende<br />

und anregende Lektüre ab.<br />

Richard Göbelt<br />

Südosteuropa<br />

Ausgewiesene Spezialisten präsentieren<br />

die Geschichte Südosteuropas<br />

in 544 Stichwörtern von A<br />

wie »Annexionskrise« über »Geheimbünde«<br />

und »Militärgrenze« bis Z wie<br />

»Zwangsmigration«. Wer wissen will,<br />

was es mit der »Knabenlese« oder der<br />

»Schwäbischen Türkei« auf sich hat,<br />

wird hier auf dem neuesten Stand der<br />

Forschung informiert. Neben Slowaken,<br />

Slowenen oder Serben findet der<br />

Leser auch oft vernachlässigte Völker.<br />

Wissen Sie z.B., wo die Aromunen<br />

oder die Ruthenen leben und haben<br />

Sie schon von den Pomaken in Südbulgarien<br />

und Nordgriechenland gehört?<br />

Ob als Soldat auf dem Balkan, als<br />

Student der europäischen Geschichte<br />

oder einfach als interessierter Zeitgenosse:<br />

Wer sich fundiert mit Südosteuropa<br />

beschäftigen möchte, dem hilft<br />

ein Blick in das Lexikon, sich in den<br />

»Schluchten des Balkan« zurechtzufinden.<br />

aak<br />

Belletristik<br />

Edgar Hösch,<br />

Karl Nehring,<br />

Holm Sundhaussen (Hrsg.),<br />

Lexikon zur Geschichte<br />

Südosteuropas,<br />

Wien, Köln, Weimar 2004.<br />

ISBN 3-8252-8270-8;<br />

770 S.,<br />

34,90 €<br />

In ihrem literarischen Debüt greift die<br />

Potsdamer Autorin eine bislang in<br />

der Belletristik zur sogenannten Wende<br />

eher ungewöhliche Facette auf. Erzählt<br />

wird die Geschichte der 19-jährigen<br />

Tilli, die mit anderen jungen Erwachsenen<br />

im Jahre 1990 ihr Abitur in einer<br />

Schule auf dem Gelände des NVA-<br />

Stützpunktes Lehnitz nachholen will;<br />

das Lehrpersonal hatte vor 1990 NVA-<br />

Zeitsoldaten auf die Höhere Reife vorbereitet.<br />

Die Protagonistin verliebt sich<br />

in den Klassenprimus Christian, den<br />

ein dunkles Geheimnis umgibt. Es<br />

hängt mit seiner Vergangenheit als<br />

Soldat bei den Grenztruppen zusammen.<br />

Da sich die jungen Zivilistinnen<br />

und Zivilisten auf noch-militärischem<br />

Gelände bewegen, kommt es zu einigen<br />

amüsanten Verwicklungen. Die<br />

Figuren nehmen überraschend wenig<br />

Anteil an den politischen Umwälzungen<br />

um sie herum. Trotzdem: Wer zwischen<br />

den Zeilen zu lesen vermag, wird<br />

auch in dem scheinbar unpolitischen<br />

Verhalten die Zeichen der Zeit erkennen.<br />

Der Roman ist spannend zu lesen,<br />

die Handlung schreitet rasch voran.<br />

Vielleicht zeichnet den Text noch ein<br />

Merkmal aus: Er trägt autobiographische<br />

Züge.<br />

mt<br />

Christine Anlauff,<br />

Good Morning, Lehnitz.<br />

Roman, Berlin 2005.<br />

ISBN 3-378-00661-7;<br />

366 S., 19,90 €<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 27


Service<br />

Ausstellungen<br />

• B e r l i n<br />

10 Jahre<br />

Luftwaffenmuseum<br />

der<br />

Bundeswehr in<br />

Berlin-Gatow<br />

Luftwaffenmuseum<br />

der Bundeswehr<br />

Kladower Damm 182<br />

14089 Berlin Gatow<br />

Telefon: (0 30) 36 87 26 01<br />

Telefax: (0 30) 36 87 26 10<br />

www.luftwaffenmuseum.de<br />

e-mail:<br />

LuftwaffenMuseumBwEingang@<br />

bundeswehr.org<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

9.00 bis 17.00 Uhr<br />

(letzter Einlass 16.00 Uhr)<br />

Eintritt frei<br />

23. September 2005 bis<br />

5. März 2006<br />

Eingang: Ritterfelddamm/<br />

Am Flugplatz Gatow<br />

Bernhard Heisig:<br />

Die Wut der Bilder<br />

Martin-Gropius-Bau Berlin<br />

Niederkirchner Str. 7<br />

10963 Berlin<br />

Telefon: (0 30) 25 48 60<br />

www.bernhard-heisig.de<br />

Mittwoch bis Montag<br />

10.00 bis 20.00 Uhr<br />

Eintritt: 5,00 €<br />

ermäßigt: 3,00 €<br />

noch bis 29. Januar 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

U-Bahn: U2<br />

(Station »Potsdamer Platz«);<br />

S-Bahn: S1, S2, S25<br />

(Stationen »Potsdamer Platz«<br />

oder »Anhalter Bahnhof«);<br />

Bus: M29<br />

(Haltestelle »S Anhalter<br />

Bahnhof«), 123 (Haltestelle<br />

»Abgeordnetenhaus«),<br />

M41<br />

Die Hugenotten<br />

Deutsches Historisches<br />

Museum - PEI Bau<br />

Hinter dem Gießhaus 3<br />

10117 Berlin<br />

Telefon: (0 30) 20 30 40<br />

Telefax: (0 30) 20 30 45 43<br />

www.dhm.de<br />

Täglich von<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

22. Oktober 2005 bis<br />

12. Februar 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

S-Bahn: Stationen<br />

»Hackescher Markt« und<br />

»Friedrichstraße«; U-Bahn:<br />

Stationen »Französische<br />

Straße«, »Hausvogteiplatz«<br />

und »Friedrichstraße«; Bus:<br />

Linien 100, 157, 200 und 348,<br />

Haltestellen »Staatsoper« oder<br />

»Lustgarten«<br />

Mit Adleraugen<br />

Sonderausstellung des<br />

Aufklärungsgeschwaders 51<br />

»Immelmann« im<br />

Luftwaffenmuseum der<br />

Bundeswehr<br />

25. November 2005 bis<br />

26. März 2006<br />

(siehe Plakat Seite 29)<br />

• D e t m o l d<br />

Entschieden für Frieden.<br />

50 Jahre Bundeswehr<br />

Kreishaus - Kreis Lippe<br />

Felix-Feschenbach-Straße 5<br />

32756 Detmold<br />

Telefon: (0 52 37) 91 20 28<br />

Montag bis Donnerstag<br />

8.00 bis 18.00 Uhr<br />

Freitag<br />

8.00 bis 15.00 Uhr<br />

30. Januar bis<br />

12. Februar 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Ab Hauptbahnhof Detmold<br />

Bus 702 bis Haltestelle<br />

»Kreishaus«<br />

• D o r t m u n d<br />

Aufbau West. Neubeginn<br />

zwischen Vertreibung und<br />

Wirtschaftswunder<br />

Westfälisches<br />

Industriemuseum<br />

Zeche Zollern II/IV<br />

Grubenweg 5<br />

44388 Dortmund<br />

Telefon: (02 31) 6 96 11 11<br />

Telefax: (02 31) 6 96 11 14<br />

www.industriemuseum.de<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

Eintritt: 5,00 €<br />

ermäßigt: 2,00 €<br />

18. September 2005 bis<br />

26. März 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

ÖPNV: U-Bahn-Linie 47<br />

bis Dortmund-Huckarde,<br />

Haltestelle »Bushof«, dann<br />

Bus-Linie 462 Richtung<br />

Dortmund-Marten bis<br />

Haltestelle »Industriemuseum<br />

Zollern«<br />

• E d e n k o b e n<br />

Liebesleid und<br />

Heldentod – Gemälde<br />

des Historismus aus<br />

dem Landesmuseum<br />

Mainz<br />

Schlossverwaltung Villa<br />

Ludwigshöhe<br />

Villastraße<br />

67480 Edenkoben<br />

Telefon: (0 63 23) 9 30 16<br />

Telefax: (0 63 23) 9 30 17<br />

www.landesmuseum-mainz.de<br />

e-Mail: villaludwigshoehe@burgen-rlp.de<br />

Täglich<br />

9.00 bis 17.00 Uhr<br />

geschlossen im<br />

Dezember und am<br />

ersten Werktag<br />

der Woche<br />

Eintritt: 2,60 €<br />

ermäßigt: 1,30 €<br />

9. Oktober 2005 bis<br />

12. Februar 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Pkw: A65, Ausfahrt<br />

Edenkoben. Im Ort der<br />

Beschilderung zur<br />

»Villa Ludwigshöhe«<br />

folgen<br />

• H a l l e (Saale)<br />

Saladin und die<br />

Kreuzfahrer<br />

Landesmuseum für<br />

Vorgeschichte Halle<br />

Richard-Wagner-Str. 9<br />

06114 Halle (Saale)<br />

Telefon: (03 45) 52 47 363<br />

Telefax: (03 45) 52 47 351<br />

www.archlsa.de/saladin<br />

e-mail:<br />

poststelle@lfa.mk.lsa-net.de<br />

Dienstag bis Sonntag,<br />

Feiertage<br />

9.00 bis 19.00 Uhr<br />

Montag nach<br />

Voranmeldung<br />

Eintritt: 6,00 €<br />

ermäßigt: 4,00 €<br />

21. Oktober 2005 bis<br />

12. Februar 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Straßenbahn: Vom Hauptbahnhof<br />

Halle (Saale) mit<br />

der Linie 7 Richtung<br />

Kröllwitz, Haltestelle<br />

»Mozartstraße«<br />

• I n g o l s t a d t<br />

Zerstörungen des<br />

2. Weltkriegs in Ingolstadt<br />

Bayerisches Armeemuseum<br />

– Neues Schloss<br />

Paradestraße 4<br />

85049 Ingolstadt<br />

Telefon: (08 41) 9 37 70<br />

Telefax: (08 41) 9 37 72 00<br />

www.bayerischesarmeemuseum.de<br />

e-mail:<br />

sekretariat@bayerischesarmeemuseum<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

8.45 bis 16.30 Uhr<br />

6. September 2005 bis<br />

2. April 2006<br />

28<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


Landkarten aus dem<br />

Bayerischen Armeemuseum<br />

– seltene Karten<br />

vom 17. bis<br />

20. Jahrhundert<br />

Bayerisches Armeemuseum<br />

- Neues Schloss<br />

Paradeplatz 4<br />

85049 Ingolstadt<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

8.45 bis 16.30 Uhr<br />

7. Juli 2005 bis<br />

26. März 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Mit Öffentlichen Verkehrsmitteln<br />

bis Reduit Tilly,<br />

Parkmöglichkeit in der<br />

Tillygarage<br />

• K a r l s r u h e<br />

Imperium Romanum.<br />

Römer, Christen,<br />

Alamannen – die<br />

Spätantike am Oberrhein<br />

Badisches Landesmuseum<br />

Karlsruhe<br />

Schloss<br />

76131 Karlsruhe<br />

Telefon: (07 21) 9 26 65 14<br />

Telefax: (07 21) 9 26 65 37<br />

www.landesmuseum.de<br />

mail: info@landesmuseum.de<br />

Dienstag bis Sonntag<br />

10.00 bis 18.00 Uhr<br />

Donnerstag<br />

10.00 bis 21.00 Uhr<br />

Eintritt: 4,00 €<br />

ermäßigt: 3,00 €<br />

22. Oktober 2005 bis<br />

26. Februar 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Vom Hauptbahnhof mit<br />

den Linien 2, S1, S4, S1 bis<br />

Haltestelle »Marktplatz«<br />

Montag geschlossen<br />

Eintritt: 3,50 €<br />

ermäßigt: 2,00 €<br />

11. September 2005 bis<br />

01. Mai 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Von den Kreisstädten<br />

Meiningen und Hildburghausen<br />

kommend, erreicht man<br />

Kloster Veßra über die B 89.<br />

Der Parkplatz für Museumsbesucher<br />

befindet sich in der<br />

Ortslage Kloster Veßra und ist<br />

ca. 150 m vom Eingang des<br />

Museums entfernt<br />

• K ö l n<br />

18. Januar 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Stadtbahn: Linien 6, 12, 13,<br />

15; Bus: Linien 121, 134, 137,<br />

Haltestelle »Neusser Str./<br />

Gürtel«<br />

• M a n n h e i m<br />

Freitag<br />

8.00 bis 12.00 Uhr<br />

23. Februar 2006 bis<br />

14. März 2006<br />

Verkehrsanbindungen:<br />

Stadtbahn: Linie 6, Haltestelle<br />

»Lucas-Cranach-Straße«<br />

• K l o s t e r V e ß r a<br />

Eine feste Burg – Wehrhafte<br />

Kirchen im Henneberger<br />

Land<br />

Hennebergisches Museum<br />

98660 Kloster Veßra<br />

Telefon: (03 68 73) 6 90 30<br />

Telefax: (03 68 73) 6 90 49<br />

www.museumklostervessra.de<br />

e-Mail:<br />

info@museumklostervessra.de<br />

Täglich<br />

10.00 bis 17.00 Uhr<br />

Entschieden für Frieden.<br />

50 Jahre Bundeswehr<br />

Bürgeramt Köln-Nippes<br />

Neusser Str. 450<br />

50733 Köln<br />

Telefon: (02 21) 22 10<br />

Telefax: (02 21) 22 19 54 47<br />

e-Mail: buergeramtnippes@stadt-koeln.de<br />

Montag bis Donnerstag<br />

8.00 bis 16.00 Uhr<br />

Freitag<br />

8.00 bis 12.00 Uhr<br />

21. Dezember 2005 bis<br />

Entschieden für Frieden.<br />

50 Jahre Bundeswehr<br />

Bundesakademie für<br />

Wehrverwaltung und<br />

Wehrtechnik<br />

Seckenheimer Landstraße 12<br />

68163 Mannheim-<br />

Neuostheim<br />

Tel: (06 21) 42 95-0<br />

Fax: (06 21) 42 95 -4 63<br />

e-Mail:<br />

BAkWVT@bundeswehr.org<br />

Montag bis Donnerstag<br />

8.00 bis 16.00 Uhr<br />

mt<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 29


Service<br />

Geschichte kompakt<br />

2. Januar 1956<br />

5. März 1931<br />

Das Einrücken der ersten 1000 Freiwilligen –<br />

die wahre Geburtsstunde der Bundeswehr?<br />

Am 2. Januar 1956 rücken die ersten 1000 Freiwilligen<br />

in drei Standorte der jungen bundesdeutschen<br />

Streitkräfte ein. Ihren Namen »Bundeswehr« erhalten<br />

diese erst im Verlauf politischer Auseinandersetzungen<br />

im Februar 1956. Die Freiwilligen verteilen<br />

sich auf die drei Lehrkompanien der Teilstreitkräfte<br />

von Heer, Luftwaffe und Marine. In Andernach, Nörvenich<br />

und Wilhelmshaven melden sie sich zum<br />

SKA/IMZBw Dienst.<br />

Diese Männer, überwiegend ehemalige Soldaten<br />

der Wehrmacht, sind der Kern für die Aufstellung der Bundeswehr. Nach ihrer<br />

Ausbildung werden sie selbst zu Ausbildern und Vorgesetzten in neu aufzustellenden<br />

Truppenteilen in der ganzen Bundesrepublik.<br />

Am 20. Januar treten die drei Lehrkompanien am Heeresstandort Andernach<br />

zu Ehren des Besuchs von Bundeskanzler Konrad Adenauer gemeinsam an<br />

(siehe Foto). Deswegen gilt Andernach in der öffentlichen Wahrnehmung als<br />

Keimzelle der Bundeswehr.<br />

Die ersten Unterkünfte sind Provisorien. Im Fall von Andernach handelt<br />

es sich um ein von den französischen Streitkräften übernommenes und noch<br />

nach frischer Farbe riechendes Barackenlager. Auch Ausbildungs- und Wehrmaterial<br />

fehlt noch. Waffen und Fahrzeuge werden von den Westmächten, vor<br />

allem den USA, übernommen. Aber auch die Sicherstellung des Bedarfs des<br />

täglichen Lebens funktioniert noch nicht reibungslos. So werden Klagen über<br />

eine nicht ausreichende Verpflegung laut. Ehefrauen von Soldaten beschweren<br />

sich darüber, dass Wehrsold nicht pünktlich bezahlt wird.<br />

Das Einrücken dieser ersten 1000 Freiwilligen bildet den Abschluss der Aufstellungsphase<br />

der Bundeswehr. Am 7. Juni 1955 war aus dem »Amt Blank«<br />

das Bundesministerium für Verteidigung geworden. Am 12. November 1955,<br />

dem 200. Geburtstag des preußischen Militärreformers Gerhard von Scharnhorst,<br />

wurden die ersten 101 Soldaten ernannt. Hierzu schrieb Generalleutnant<br />

Adolf Heusinger in das Diensttagebuch der militärischen Abteilung des Verteidigungsministeriums,<br />

dass diese schlichte Veranstaltung nicht als Geburtsstunde<br />

der neuen Streitkräfte anzusehen sei. Dies sollte aus seiner Sicht der<br />

2. Januar 1956 werden. tl<br />

akg images<br />

»Unterordnen – jewiß! Aber unter wat drunter?«<br />

Uraufführung des »Hauptmanns von Köpenick«<br />

Wenn durch Amtsanmaßung Gehorsam erzwungen wird, spricht<br />

man von »Köpenickiade«. Der Begriff leitet sich von jenem<br />

berühmten Ereignis des Jahres 1906 im Köpenicker Rathaus ab:<br />

Der arbeitslose Schuster Wilhelm Voigt, der bereits mehrere Jahre<br />

in Zuchthäusern zugebracht hatte, macht sich die Uniformgläubigkeit<br />

seiner Zeit zunutze. Als Garde-Offizier verkleidet<br />

und mit einer Abteilung Soldaten, die er unter Berufung auf<br />

allerhöchste Kabinettsorder seinem Befehl unterstellt hat, verhaftet<br />

er den Bürgermeister Köpenicks, lässt ihn nach Berlin<br />

bringen und erleichtert die Stadtkasse um 4000 Mark. Ganz<br />

Deutschland lacht! »Wer die Uniform trägt«, schreibt das Berliner Tageblatt,<br />

»der siegt nicht, weil er besser oder klüger oder vorsichtiger wäre als die<br />

andern, sondern weil er uniformiert ist.« Voigt wird zu vier Jahren Haft verurteilt,<br />

nach zweien jedoch begnadigt.<br />

1931, am 5. März, gelangt der Stoff in der Bearbeitung des Dramatikers Carl<br />

Zuckmayer in Berlin zu Uraufführung. Auch wenn das Stück in keinen Skandal<br />

ausgeartet ist – die nationalsozialistische Presse tobt. Im Jahr zuvor waren<br />

die Nationalsozialisten, die - so Zuckmayer - »die Nation in einen neuen Uniformtaumel<br />

versetzten«, als zweitstärkste Partei in den Reichstag eingezogen.<br />

Die Geschichte war für den Autor gerade zu dieser Zeit »wieder ein Spiegelbild,<br />

ein Eulenspiegel-Bild des Unfugs und der Gefahren, die in Deutschland<br />

heranwuchsen«. Noch 1931 wird das Zuckmayer-Stück als Film adaptiert.<br />

Wohl unvergessen ist jedoch die Verfilmung aus dem Jahre 1956 mit Heinz<br />

Rühmann (siehe Filmplakat) in einer seiner wohl bekanntesten Rollen. mt<br />

Heft 1/2006<br />

Militärgeschichte<br />

<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />

Ü Vorschau<br />

5 155-mm-Panzerhaubitze M 44 in Idar-Oberstein,<br />

der »Hauptstadt der deutschen Artillerie«<br />

WTS/BWB Koblenz<br />

Während die Jubiläumsfeierlichkeiten zum<br />

fünfzigsten Geburtstag der Bundeswehr gerade<br />

erst beendet sind, beginnen 2006 schon<br />

die nächsten Feiern. Die Jubilare sind die<br />

1956 aufgestellten Teilstreitkräfte: Heer, Luftwaffe<br />

und Marine. Die Redaktion der Militärgeschichte<br />

hat dies zum Anlass genommen,<br />

verstärkt Beiträge zur Geschichte der<br />

Bundeswehr und der Teilstreitkräfte anzubieten.<br />

Im nächsten Heft wird Oberstleutnant<br />

Dr. Hammerich die Geschichte des Heeres<br />

von den Anfängen 1956, von der Motorisierung<br />

über die Mechanisierung bis zur Entmechanisierung<br />

der 1990er Jahre behandeln.<br />

Das Heer ist vielseitig – die Soldaten wissen<br />

das. Effektiv ist es nur im Verbund der Waffen.<br />

Das Heer muss in erster Linie zum<br />

Kampf befähigt sein, daran hat sich nichts<br />

geändert. Daher steht und stand die Kampftruppe<br />

immer im Rampenlicht. General Klaus<br />

Naumann gab 1996 »seinen« Artilleristen<br />

beim Abschied als Generalinspekteur in Idar-<br />

Oberstein folgende Worte mit: »Denken Sie<br />

stets daran, Artillerie ist kein Selbstzweck.<br />

Sie hat immer eine dienende Funktion«. Dies<br />

gilt für alle Soldaten, im Mittelpunkt steht<br />

immer der Auftrag, keine Truppengattung<br />

und keine Teilstreitkraft kann diesen alleine<br />

bewältigen. Für Artilleristen gehört »Bescheidenheit,<br />

Stolz auf die dienende Funktion<br />

bei gleichzeitig größter Wirkung aus der<br />

Deckung« zum Selbstverständnis. Der gesamten<br />

Bundeswehr, die immer enger zusammenrückt<br />

und immer mehr »verzahnt« wird,<br />

steht solch ein Selbstverständnis gut an.<br />

aak<br />

30<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005


Militärgeschichte im Bild<br />

10 Jahre<br />

Balkaneinsätze<br />

Blauhelme<br />

in Kroatien<br />

1995<br />

SKA/IMZ<br />

Ab Juli 1995 begann für die Bundeswehr<br />

ein neues Kapitel der<br />

Einsatzgeschichte. Nachdem<br />

zwei Jahre zuvor schon beim Betreiben<br />

des »German Hospital« in Phnom<br />

Penh/Kambodscha (siehe Militärgeschichte<br />

4/2003) und beim Somalia-<br />

Einsatz die Bundeswehr »out of area«<br />

in buchstäblich »exotische« Regionen<br />

geführt hatte, begann nun der Auftakt<br />

für das deutsche Engagement auf dem<br />

Balkan. Mittlerweile währt es nun<br />

schon seit einem Jahrzehnt. Bei Kroatien<br />

handelte es sich im Sommer 1995<br />

nicht um ein Land in der Nachkriegsund<br />

Stabilisierungsphase. Das Land<br />

befand sich vielmehr mitten im Krieg.<br />

Im Mai 1995 tobten Kämpfe in Ostslawonien,<br />

die »Republika Srpska« in der<br />

Krajina hatte sich von Kroatien losgelöst<br />

und sich für unabhängig erklärt.<br />

Für das deutsche Einsatzkontingent<br />

bestand anfangs sogar eine theoretische<br />

Bedrohung durch Raketen aus der<br />

Krajina.<br />

Der Beschluss des Deutschen Bundestages<br />

vom 30. Juni 1995 legte die<br />

Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr<br />

im Zusammenhang mit dem<br />

Konflikt im zerfallenden Jugoslawien.<br />

Dazu wurde zur Unterstützung der<br />

im Einsatzgebiet versammelten UNPF<br />

(United Nations Protection Force) ein<br />

deutsches Feldlazarett im Raum Split<br />

stationiert. Das Erkundungskommando<br />

dieses ersten Bundeswehr-Kontingents<br />

auf dem Balkan traf am 10. Juli<br />

auf dem Flughafen in Split ein. Währenddessen<br />

erreichte der Balkankonflikt<br />

am 11. Juli mit dem Massaker<br />

in Srebrenica einen traurigen Höhepunkt.<br />

Zur gleichen Zeit, ab dem 12.<br />

Juli, begann die Einsatzausbildung des<br />

deutschen Einsatzkontingents in Hammelburg.<br />

Von Anfang an war der Einsatz multinational<br />

ausgelegt. So befand sich eng<br />

an das Feldlazarett angekoppelt eine<br />

französische Einheit: »ATSA« (»Antenne<br />

de transit sanitaire aérien«). Soldaten<br />

des Sanitätsdienstes der französischen<br />

Luftwaffe hätten im Falle<br />

eines Massenanfalls an Verwundeten<br />

eine schnelle »Triage« vorzunehmen<br />

gehabt: zwischen Leichtverwundeten,<br />

die vor Ort bleiben konnten, und<br />

solchen Patienten, die mit Hilfe der<br />

Luftwaffe schnell in die Heimat zu<br />

»evakuieren« waren. Das Zauberwort<br />

»MEDEVAC« wurde viel erwähnt,<br />

doch blieb die Zerreißprobe aus. Zum<br />

Glück, denn zu einem Massenanfall<br />

von Verwundeten kam es nicht.<br />

Die Rapid Reaction Force der UNPF<br />

beschränkte sich weitgehend auf eine<br />

Rolle als Beobachtungstruppe mit politischem<br />

Drohpotential. Doch gab es<br />

auch Behandlungen von französischen<br />

Artilleriesoldaten, die mit einem Bandscheibenvorfall<br />

eingeliefert wurden –<br />

Rückenschaden vom Munitionsnachladen,<br />

denn auch UN-Soldaten schossen.<br />

Im August 1995 tobte die Operation<br />

»Sturm«. Die kroatische Armee unternahm<br />

einen letzten Großangriff auf die<br />

Krajina und die dortige »Republika<br />

Srpska«. Für die deutschen Soldaten<br />

5 Internist im Feldlazarett<br />

bot sich im Land das Bild eines grausamen<br />

Bürgerkrieges: herrenlos umherlaufendes<br />

Vieh, mitunter auch Kadaver<br />

und Zerstörung. Bis zum Abkommen<br />

von Dayton im Oktober 1995 ging der<br />

Krieg weiter. Die Notwendigkeit einer<br />

internationalen Stabilisierungstruppe<br />

auf lange Sicht war offenkundig.<br />

Die breite Palette des sanitätsdienstlichen<br />

Angebots wurde von den Soldaten<br />

der anderen Kontingente geschätzt<br />

und gerne genutzt. So mischte sich<br />

das Bild: Spanier beim Zahnarzt, Briten<br />

als Sportverletzte (Boxsport), Franzosen<br />

nach Verkehrsunfall. Auch zivile<br />

Notfallpatienten wurden behandelt<br />

wie ein britischer UN-Kraftfahrer, eine<br />

Krankenschwester der »Médecins sans<br />

frontières« oder kroatische Bürger mit<br />

lebensbedrohenden Krankheitsbildern.<br />

Für die Bundeswehr war es der Auftakt<br />

zur Einbindung in die internationale<br />

Verantwortung. Im Folgejahr, nach<br />

Ablauf des 2. UNPF-Kontingents, vertauschten<br />

die deutschen Soldaten ihr<br />

hellblaues UN-Barett mit den Kopfbedeckung<br />

ihrer Truppengattungen. War<br />

noch in der ersten Phase 1995 das Betreten<br />

bosnischen Bodens für deutsche<br />

UNPF-Soldaten strikt verboten, erfüllen<br />

heute Soldaten der Bundeswehr<br />

aller Organisationsbereiche, Truppengattungen<br />

und Kräftekategorien auf<br />

dem Balkan mit Selbstverständlichkeit<br />

ihren Auftrag – von humanitärer Hilfe<br />

bis zum bewaffneten Einsatz.<br />

Martin Rink<br />

Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 31


NEUE PUBLIKATIONEN DES MGFA<br />

4<br />

4<br />

4<br />

4<br />

4<br />

4<br />

Beatrice Heuser,<br />

Clausewitz lesen!<br />

Eine Einführung, München: Oldenbourg 2005, XII, 269 S.<br />

(= Beiträge zur Militärgeschichte. Militärgeschichte kompakt, 1),<br />

19,80 Euro, ISBN 3-486-57743-3<br />

Entschieden für Frieden: 50 Jahre Bundeswehr 1955 bis 2005.<br />

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes<br />

herausgegeben von Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack<br />

und Martin Rink, Freiburg i.Br.: Rombach Verlag 2005,<br />

VIII, 672 S., 38,00 Euro, ISBN 3-7930-9438-3<br />

Bruno Thoß,<br />

NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung.<br />

Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen<br />

einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie (1952-1960),<br />

München: Oldenbourg 2006, IX, 774 S.<br />

(= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik<br />

Deutschland), 39,80 Euro, ISBN 3-486-57904-5<br />

Staatsgründung auf Raten? Auswirkungen des Volksaufstandes<br />

1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und<br />

Gesellschaft in der DDR. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen<br />

Forschungsamtes und der Bundesbeauftragten für die<br />

Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen<br />

DDR herausgegeben von Torsten Diedrich und Ilko-Sascha<br />

Kowalczuk, Berlin: Ch. Links Verlag 2005, XII, 435 S.<br />

(= Militärgeschichte der DDR, 11), 29,90 Euro,<br />

ISBN 3-86153-380-4<br />

Potsdamer Ge(h)schichte. Streifzüge ins 20. Jahrhundert.<br />

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und<br />

der Professur für Militärgeschichte der Universität Potsdam<br />

herausgegeben von Arnim Lang und Matthias Rogg, Berlin:<br />

edition q 2005, 120 S., 9,90 Euro, ISBN 3-86124-589-2<br />

Potsdamer Ge(h)schichte. Eine Stadt und ihr Militär.<br />

Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und<br />

der Professur für Militärgeschichte der Universität Potsdam<br />

herausgegeben von Nele Thomsen und Carmen Winkel, Berlin:<br />

edition q 2005, 120 S., 9,90 Euro, ISBN 3-86124-590-6

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