Zeitschrift "Militärgeschichte"
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Heft 4/2005<br />
Militärgeschichte<br />
<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />
C 21234 ISSN 0940 – 4163<br />
Militärgeschichte im Bild: UNPROFOR-Einsatz in Trogir bei Split in Kroatien, 1995<br />
Deutsche Luftwaffe<br />
Der Fall Löwen<br />
Nationale Volksarmee<br />
Westliche Verteidigungsstrategie<br />
Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />
MGFA
IMPRESSUM<br />
Militärgeschichte<br />
<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />
Editorial<br />
Herausgegeben<br />
vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />
durch Oberst Dr. Hans Ehlert und<br />
Oberst i.G. Dr. Hans-Hubertus Mack<br />
(V.i.S.d.P.)<br />
Produktionsredakteur der<br />
aktuellen Ausgabe:<br />
Mag. phil. Michael Thomae<br />
Redaktion:<br />
Major Heiner Bröckermann M.A. (hb)<br />
Hauptmann Agilolf Keßelring M.A. (aak)<br />
Hauptmann Thorsten Loch M.A. (tl)<br />
Mag. phil. Michael Thomae (mt)<br />
Bildredaktion:<br />
Dipl.-Phil. Marina Sandig<br />
Redaktionsassistenz:<br />
Richard Göbelt, Cand. Phil.<br />
Lektorat:<br />
Dr. Aleksandar-S. Vuletić<br />
Layout/Grafik:<br />
Maurice Woynoski<br />
Karten:<br />
Bernd Nogli<br />
Anschrift der Redaktion:<br />
Redaktion »Militärgeschichte«<br />
Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />
Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam<br />
Telefon: (03 31) 97 14 -569<br />
Telefax: (03 31) 97 14 -507<br />
Homepage: www.mgfa.de<br />
Technische Herstellung:<br />
MGFA, Schriftleitung<br />
Manuskripte für die Militärgeschichte werden<br />
an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt<br />
eingesandte Manuskripte wird nicht gehaftet.<br />
Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt<br />
der Herausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung,<br />
Übersetzung usw. Honorarabrechnung<br />
erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. Die<br />
Redaktion behält sich Kürzungen eingereichter<br />
Beiträge vor. Nachdrucke, auch auszugsweise,<br />
fotomechanische Wiedergabe und Übersetzung<br />
sind nur nach vorheriger schriftlicher<br />
Zustimmung durch die Redaktion und mit Quellenangaben<br />
erlaubt. Dies gilt auch für die Aufnahme<br />
in elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen<br />
auf CD-ROM. Die Redaktion hat<br />
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© 2005 für alle Beiträge beim<br />
Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA)<br />
Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber ermittelt<br />
worden sein, bitten wir ggf. um Mitteilung.<br />
Druck:<br />
SKN Druck und Verlag GmbH & Co., Norden<br />
ISSN 0940-4163<br />
in ruheloser Zeit, zu Beginn des 20. Jahrhunderts,<br />
wurden erstmals deutsche Luftstreitkräfte<br />
als Teil von Heer und Marine<br />
geschaffen; 1918, nach nur fünf Jahren Existenz,<br />
verboten die alliierten Siegermächte<br />
sie. Aber schon 1939 – bei der Entfesselung<br />
des Zweiten Weltkrieges – besaßen die Deutschen<br />
eine der stärksten Luftwaffen. Auch<br />
dieser war bloß ein kurzes Leben beschieden.<br />
Im Zuge der Wiederbewaffnungsdebatte<br />
Anfang der 50er Jahre gab es erste Überlegungen<br />
zur Gründung einer Luftwaffe der<br />
Bundeswehr. 1955, im Gründungsjahr des<br />
Bundesministeriums für Verteidigung, war<br />
das Ziel klar: eine Teilstreitkraft zu schaffen,<br />
die eine Einbindung in NATO-Kommandostrukturen<br />
ermöglichte. Auch die Bundesrepublik<br />
Deutschland sollte schließlich ihren<br />
Beitrag zur Bündnisverteidigung leisten. Seit<br />
Anfang der 60er Jahre war dann die Luftwaffe Teil der atomaren Planungen der<br />
NATO im Rahmen der so genannten Massiven Vergeltung. Mit der Übernahme<br />
einer neuen NATO-Strategie, der »Flexible Response«, stieg der Anteil der »konventionellen«<br />
Aufgaben der Luftwaffe sprunghaft an, die nukleare Einbindung in<br />
die NATO-Planungen nahm hingegen ab. Dieser Strategiewechsel der NATO im<br />
Jahre 1967 hatte weitreichende Auswirkungen auch auf die bundesrepublikanische<br />
Luftwaffe: Sie erlebte einen nachhaltigen Umbau, der bis 1991 in Kraft blieb.<br />
Das Jubiläum »50 Jahre Luftwaffe« der Bundeswehr am 3. Januar 2006 nimmt<br />
Bernd Lemke zum Anlass, die aufregenden Anfangsjahre dieser Teilstreitkraft zu<br />
beschreiben. Den Wandel von der Massiven Vergeltung zur Flexible Response und<br />
die Folgen für Westeuropa schildert Oliver Palkowitsch. Schließlich erinnert Heiner<br />
Bröckermann an einen weiteren Geburtstag: Am 1. März 1956 wurde offiziell<br />
die »Armee des Volkes« der DDR, die NVA, ins Leben gerufen.<br />
Eine gewinnbringende Lektüre beim vorliegenden Heft sowie viel Gesundheit<br />
und Erfolg im Jahr 2006 wünscht Ihnen<br />
Mag. phil. Michael Thomae<br />
Anmerkung in eigener Sache: Dem Heft liegt ein Jahreskalender 2006 bei.
D i e A u t o r e n<br />
Inhalt<br />
• Der Aufbau der deutschen<br />
Luftwaffe bis 1970<br />
4<br />
Dr. Bernd Lemke,<br />
geboren 1965 in Riedlingen/Donau,<br />
Wissenschaftlicher Rat z.A.<br />
und Wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter am MGFA,<br />
Potsdam<br />
Eine grimmige graue Horde ...<br />
• Der Fall Löwen<br />
25. August 1914<br />
10<br />
• Die Nationale Volksarmee<br />
Gedanken zum 50. Jahrestag ihrer Gründung<br />
14<br />
Dr. Klaus-Jürgen Bremm,<br />
geboren 1958 in Duisburg,<br />
Oberstleutnant d.R. und<br />
Lehrbeauftragter für Neuere<br />
Geschichte an der Universität<br />
Osnabrück<br />
Heiner Bröckermann M.A.,<br />
geboren 1966 in Bremerhaven,<br />
Major und Wissenschaftlicher<br />
Mitarbeiter am MGFA,<br />
Potsdam<br />
• Westliche Verteidigungsstrategie<br />
in der Gründungsphase der NATO<br />
• Service<br />
Das historische Stichwort:<br />
»Gleichberechtigung ist nicht Gleichmacherei«<br />
Medien online/digital<br />
Lesetipp<br />
Ausstellungen<br />
Geschichte kompakt<br />
• Militärgeschichte im Bild<br />
10 Jahre Balkaneinsätze – Blauhelme in Kroatien 1995<br />
18<br />
22<br />
22<br />
24<br />
26<br />
28<br />
30<br />
31<br />
Dipl. Politologe Oliver Palkowitsch,<br />
geboren 1976 in Mannheim,<br />
Hauptmann und Lehroffizier an der<br />
Sanitätsakademie der Bundeswehr,<br />
München<br />
Mit dem UNPROFOR-Einsatz<br />
begannen im Sommer 1995 die<br />
Einsätze auf dem Balkan. Im Bild:<br />
Parole des Kompaniefeldwebels der<br />
Sanitätskompanie GECONUNPF<br />
1. Kontingent im Oktober 1995,<br />
Feldlazarett Trogir.<br />
Foto: SKA/IMZBw/Detmar Modes<br />
Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe: Wissenschaftlicher Oberrat Dr. Torsten Diedrich, MGFA; Dr. Martin Rink, Potsdam;<br />
Oberstleutnant Dr. Matthias Rogg, MGFA; Oberstleutnant Dr. Wolfgang Schmidt, MGFA;<br />
Wissenschaftlicher Oberrat Dr. Rüdiger Wenzke, MGFA; Major John Zimmermann M.A.,<br />
Offizierschule der Luftwaffe Fürstenfeldbruck
Deutsche Luftwaffe<br />
Fotosammlung Görigk<br />
Der Aufbau der<br />
deutschen Luftwaffe<br />
bis 1970<br />
5 Die ersten Freiwilligen der Luftwaffe in Nörvenich 1955/56<br />
LwM Berlin-Gatow<br />
Luftstreitkräfte sind immer eingebunden<br />
in die Entwicklung von Staat<br />
und Gesellschaft ihrer jeweiligen Zeit.<br />
Dies gilt auch für die deutsche Luftwaffe.<br />
Ihr Weg war geprägt vom<br />
Wechsel zwischen Nichtexistenz und<br />
hektischem Aufbau bzw. Einsatz. Ab<br />
1914 als Teil von Heer und Marine aufgebaut,<br />
1918 verboten und offiziell<br />
nichtexistent, ab 1933/35 bis 1939 als<br />
eigene Teilstreitkraft quasi aus dem<br />
Boden gestampft und dann in den<br />
Eroberungskampf geworfen, in die<br />
Defensive gedrängt und dann vernichtet,<br />
nach 1945 wieder nichtexistent,<br />
wurde sie 1955/56 im Zuge der<br />
Wiederbewaffnung der Bundesrepublik<br />
als Instrument zur Verteidigung<br />
der jungen Demokratie gegründet.<br />
Konzeptionelle Anfänge im Zeichen des<br />
entstehenden Ost-West-Konflikts<br />
Die Grundlagen für den Wiederaufbau<br />
entstanden schon<br />
direkt nach dem Ende des Hitler-Regimes.<br />
Im Westen verbreitete sich<br />
nach dem Zerbrechen der Kriegsallianz<br />
zunehmend die Furcht vor der militärischen<br />
Macht der Sowjetunion, vor<br />
allem vor ihren Panzerarmeen. Nachdem<br />
die USA nach 1945 ihre Streitkräfte<br />
in Europa zunächst erheblich<br />
reduziert hatten, beschlossen sie eine<br />
Wiederaufrüstung, um im Konfliktfall<br />
die angenommene Gefahr aus dem<br />
Osten abwehren zu können.<br />
Europa erhielt in der strategischen<br />
Perspektive Washingtons ein zentrales<br />
Gewicht. Nun hatte man jedoch in<br />
Europa abgerüstet, und die europäischen<br />
Verbündeten waren nach 1945<br />
am Ende ihrer Kräfte. Briten und<br />
Franzosen belasteten sich zudem noch<br />
durch vergebliche Versuche, ihre Kolonialreiche<br />
durch militärische Interventionen<br />
zu retten.<br />
Zunächst gingen westliche Militärplaner<br />
davon aus, dass es bestenfalls<br />
gelingen würde, Stützpunkte an der<br />
westlichen Peripherie Europas zu halten.<br />
Als einziges Mittel für einen Gegenschlag<br />
standen, wie schon 1940–1944,<br />
die schweren Bomber der Briten und<br />
Amerikaner zur Verfügung, diese nun<br />
allerdings mit Nuklearwaffen ausgerüstet.<br />
In der 1949 gegründeten NATO<br />
glaubte man Anfang der 50er Jahre<br />
einen Angriff der sowjetischen Streit-<br />
4<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
3 Abschuss einer NIKE Hercules auf der<br />
NATO Missile Firing Installation (NAMFI)<br />
Kreta<br />
4 Tower-Besatzung eines Fliegerhorstes,<br />
Ende der 1950er Jahre<br />
kräfte im günstigsten Falle auf einer<br />
Linie Kaiser-Wilhelm-Kanal–Ijssel–<br />
Rhein stoppen zu können.<br />
Angesichts dieser Lage begann man<br />
über die Einbeziehung Westdeutschlands<br />
in die Verteidigungsanstrengungen<br />
nachzudenken. Akut wurde diese<br />
Option, als im Juni 1950 der Koreakrieg<br />
ausbrach und man auf westlicher<br />
Seite eine ähnliche Entwicklung<br />
in Europa befürchtete. Bundeskanzler<br />
Konrad Adenauer setzte nach einem<br />
Treffen der westlichen Außenminister<br />
eine Expertenkommission ein, die vom<br />
3. bis 6. Oktober 1950 im Eifelkloster<br />
Himmerod tagte. Dort stellten die Planer<br />
Überlegungen zur Aufstellung von<br />
zwölf Heeresdivisionen mit einer taktischen<br />
Heeresluftwaffe an, ohne ihr<br />
den Status einer eigenen Teilstreitkraft<br />
zuzubilligen. Dies geschah erst<br />
im Zuge der EVG-Verhandlungen bis<br />
1954, wobei die USA einen erheblichen<br />
Einfluss ausübten.<br />
Wehrtechnische Studiensammlung/BWB Koblenz, FA. P. Strack<br />
Startschuss<br />
Am 12. November 1955 erhielten die<br />
ersten 101 Soldaten, darunter auch<br />
Luftwaffensoldaten, ihre Ernennungsurkunden<br />
von Verteidigungsminister<br />
Theodor Blank. Die erste Einheit der<br />
Luftwaffe wurde zum Jahresbeginn<br />
1956 aufgestellt: die Luftwaffenlehrkompanie<br />
in Nörvenich. Die ersten<br />
Flugzeuge erhielt die Teilstreitkraft<br />
am 24. September 1956 in Fürstenfeldbruck.<br />
Diese Maschinen stammten wie alles<br />
Großgerät der Erstausstattung aus amerikanischen<br />
Beständen. Da sich der<br />
Westen einer starken Bedrohung durch<br />
den Warschauer Pakt ausgesetzt sah<br />
und die Bundesregierung die Verpflichtung<br />
eingegangen war, rasch aufzurüsten,<br />
hielt man es für das Beste, das<br />
von den USA bereits produzierte Material<br />
zu übernehmen, zumal es im Rahmen<br />
der »Nash-Liste« kostenlos zur<br />
Verfügung gestellt wurde und die USA<br />
auch die entsprechenden Kapazitäten<br />
für die notwendige Ausbildung der<br />
deutschen Piloten und Techniker bereit<br />
stellten. Infolgedessen war das Erschei-<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 5
Deutsche Luftwaffe<br />
nungsbild der Luftwaffe von Anfang<br />
an stark amerikanisch geprägt.<br />
Die ersten Planungen sahen den Aufbau<br />
von insgesamt 20 Geschwadern<br />
mit insgesamt höchstens 1326 Kampfflugzeugen<br />
vor (Obergrenze nach den<br />
EVG-Verhandlungen und dem WEU-<br />
Vertrag), dazu eine bodenständige<br />
Luftverteidigung mit Flugabwehrkanonen,<br />
später mit Fla-Raketen. Gedacht<br />
war die Luftwaffe zunächst als rein<br />
konventionelle Streitmacht zur Unterstützung<br />
der Heeresverbände und zur<br />
Heimatluftverteidigung.<br />
Im Ernstfall oblag der NATO und<br />
nicht deutschen Einsatzstäben die Führung<br />
sämtlicher Kampfverbände. Denn<br />
mit dem Übergang zur modernen<br />
Flugtechnologie mit Geschwindigkeiten<br />
von bis zu Mach 2 sanken die<br />
Reaktionszeiten. Dies galt vor allem im<br />
geografischen »Handtuch« Bundesrepublik,<br />
das – für den Kriegsfall ohnehin<br />
als »Schlachtfeld« definiert – von<br />
modernen Jets in wenigen Minuten<br />
überflogen werden konnte. Ein wesentlicher<br />
Grund für die Leitung der deutschen<br />
Verbände durch die NATO war<br />
jedoch auch die Tatsache, dass die<br />
Westalliierten den Deutschen nach den<br />
unheilvollen Erfahrungen des Zweiten<br />
Weltkrieges noch nicht recht trauten. So<br />
ersteckten sich die Befehlskompetenzen<br />
des Führungsstabes der Luftwaffe<br />
im Ernstfall lediglich auf die Bereiche<br />
Ausbildung, Nachschub, Logistik und<br />
Technik. Die Kampfverbände wurden<br />
ausschließlich von der NATO und<br />
ihren beiden taktischen Luftflotten in<br />
Deutschland (2. und 4. Allied Tactical<br />
Air Force, ATAF) eingesetzt.<br />
Die praktischen Aufstellungsplanungen<br />
der Luftwaffe wurden abgeschlossen<br />
und auch vom Bundestag genehmigt.<br />
Der Oberbefehlshaber der NATO,<br />
Lauris Norstad, ließ jedoch im Oktober<br />
1956 wissen, dass die Luftwaffe, stärker<br />
als zunächst von Josef Kammhuber<br />
vermutet, atomar auszurüsten sei.<br />
Aufbau und Ausrüstung der<br />
Luftwaffe vor dem Hintergrund<br />
der NATO-Nuklearstrategie<br />
Hintergrund für diese Entscheidung<br />
war die anhaltende konventionelle<br />
Schwäche der NATO in Europa. Anfang<br />
der 50er Jahre hatte man noch gehofft,<br />
mittels einer massiven Aufrüstung der<br />
Sowjetunion Paroli bieten zu können,<br />
musste dann aber einsehen, dass dies<br />
unmöglich war. Da nun aber die USA<br />
immense Fortschritte in der Atomtechnologie<br />
machten und kleine Atomwaffen,<br />
sogenannte taktische Nuklearwaffen,<br />
herzustellen begannen, sah man<br />
hier eine gangbare und vor allem auch<br />
preiswerte Lösung des Problems. Die<br />
Verfasser der entscheidenden Strategiepapiere<br />
der NATO MC 48/1 und<br />
MC 14/2 forderten die Bereitstellung<br />
von Kräften, die bei Bedarf in der Lage<br />
sein sollten, eine nukleare Zertrümmerung<br />
von den Rändern bis in die politischen<br />
und wirtschaftlichen Zentren<br />
hinein vorzunehmen (»massive retaliation«).<br />
Die schweren strategischen<br />
Bomber sollten die Fähigkeit besitzen,<br />
die zentralen Kraftquellen und die<br />
Regierungszentren des Gegners zu vernichten;<br />
die taktischen Luftwaffen in<br />
Europa sollten innerhalb ihrer Reichweite<br />
alle wichtigen militärischen Ziele,<br />
also Truppenansammlungen, Verkehrsknotenpunkte,<br />
Fernmeldezentren<br />
und vor allem auch feindliche Flugplätze<br />
zerschlagen oder zerstören können.<br />
Ungeachtet des dann zu erwartenden<br />
Massensterbens unter der Zivilbevölkerung<br />
auch in Deutschland – die<br />
NATO ging in ihren Planübungen zum<br />
Entsetzen des deutschen Militärbeobachters<br />
von einem Masseneinsatz der<br />
Atomwaffen beiderseits der Zonengrenze<br />
aus – kam es ab 1955 in einem rasanten<br />
Tempo zur allgemeinen atomaren<br />
Aufrüstung der NATO.<br />
Auch die deutsche Luftwaffe wurde<br />
in die Nuklearisierung einbezogen,<br />
dies nicht zuletzt auch aus politischen<br />
Gründen. Insbesondere Bundeskanzler<br />
Konrad Adenauer und Verteidigungsminister<br />
Franz Josef Strauß glaubten,<br />
dass die Bundesrepublik an den Atomwaffen<br />
beteiligt werden müsse, sollte<br />
sie innerhalb des Bündnisses nicht vollkommen<br />
in die Bedeutungslosigkeit<br />
versinken.<br />
Die nukleare Ausrüstung wurde,<br />
soweit sie die Luftwaffe betraf, ab 1958<br />
unter der Bezeichnung »Wagon Train«<br />
umgesetzt. Die erste Einheit der Luftwaffe,<br />
die unter dieses Programm fiel,<br />
war die 1. Staffel des Jagdbombergeschwaders<br />
(JaboG) 33 in Büchel. Die<br />
Atomwaffen trafen 1962/63 ein und<br />
standen unter strengster Bewachung<br />
der US-Begleitkommandos, der »Custodial<br />
Detachments«. Im Ernstfall hätten<br />
ausschließlich US-Soldaten die<br />
Sicherungen der Atombomben freigegeben.<br />
Für die Luftverteidigung der NATO<br />
installierte man auf dem Gebiet der<br />
Bundesrepublik ab 1958 zwei Verteidigungsgürtel,<br />
bestehend aus einem<br />
rückwärtigen Flugabwehrraketensystem<br />
für große Höhen (NIKE) und<br />
einem vorgelagerten System für tiefe<br />
und mittlere Höhen (HAWK). Daran<br />
beteiligten sich neben den USA alle<br />
europäischen NATO-Partner bis auf<br />
Großbritannien.<br />
Die NATO-Luftverteidigung in der<br />
Bundesrepublik und im übrigen Europa<br />
diente wegen der ungeheuren Zerstörungskraft<br />
der Atomwaffen nicht<br />
mehr dem direkten Schutz der Bevölkerung,<br />
sondern in erster Linie der<br />
Sicherung der Abschreckung, d.h. dem<br />
Schutz der eigenen Atomangriffsverbände.<br />
Dem Aggressor sollte klargemacht<br />
werden, dass er in keinem Falle<br />
die NATO-Verbände ausschalten konnte<br />
und somit bei einem Angriff der Vernichtung<br />
anheimfiele.<br />
Diese Strategie geriet jedoch immer<br />
mehr ins Wanken, je mehr die Sowjetunion<br />
atomar aufrüstete, dabei vor<br />
allem auch Interkontinentalraketen in<br />
großer Anzahl beschaffte. Das Erreichen<br />
eines Gleichstandes, das »nukleare<br />
Patt«, war abzusehen. Infolgedessen<br />
beschloss die NATO auf Initiative<br />
Washingtons nach jahrelanger kontroverser<br />
Debatte Anfang 1968 einen Strategiewechsel.<br />
Ziel war nun nicht mehr<br />
die Androhung der allgemeinen Vernichtung,<br />
sondern die Verhinderung<br />
oder zumindest die Hinauszögerung<br />
des Einsatzes atomarer Waffen im<br />
Kriegsfall, da dieser auch die Zerstörung<br />
der USA bedeutet hätte. Im Ernstfall<br />
sollte nicht mehr der sofortige<br />
Einsatz der Atomwaffen stehen, sondern<br />
die konventionelle Verteidigung,<br />
um den Angreifer zu stoppen, möglichst<br />
ohne eine nukleare Eskalation<br />
auszulösen. Als Wendemarke hin zur<br />
neuen Strategie, die man als »flexible<br />
response« bezeichnete, gilt der Beginn<br />
der Präsidentschaft von John F. Kennedy.<br />
Damit ging eine Art Bedeutungsverschiebung<br />
einher. Unter der bisherigen<br />
Strategie der massiven Vergeltung<br />
hatten die Luftstreitkräfte deutlich an<br />
Boden gewonnen, da es im Kriegsfall<br />
vor allem darum gegangen wäre, mög-<br />
6<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
lichst viel atomare Vernichtungsenergie<br />
zum Einsatz zu bringen. Auch<br />
die deutsche Luftwaffe, insbesondere<br />
Kammhuber, hatte gedacht, hiervon zu<br />
profitieren und zwischenzeitlich sogar<br />
die Anschaffung von Mittelstreckenraketen<br />
(Polaris) und damit den Aufstieg<br />
in die strategische Liga geplant.<br />
Dies änderte sich nun. Nach und nach<br />
wurden die schweren Jabo-Verbände,<br />
die man gerade erst komplett für den<br />
Atomeinsatz ausgestattet hatte, auf<br />
konventionelle Munition umgerüstet.<br />
Die »Strike«-Aufgabe, d.h. die Anwendung<br />
von Atomwaffen, blieb zwar<br />
erhalten, trat jedoch ins zweite Glied.<br />
LwM Berlin-Gatow<br />
Die Waffensysteme der<br />
Luftwaffe: Leistungen, Probleme<br />
und Grenzen<br />
Die Erstausstattung der neuen Luftwaffe,<br />
die man von den USA geschenkt<br />
bekommen hatte, bestand aus meist<br />
zuverlässigen, technologisch aber noch<br />
relativ bescheiden ausgestatteten Strahlflugzeugen<br />
vom Typ F-86 Sabre und<br />
F-84 Thunderstreak.<br />
Der Kampfwert dieser Ausstattung<br />
sank jedoch schnell angesichts der<br />
rasanten technologischen Entwicklung:<br />
Eine neue Generation mit bisher<br />
nicht gekannten Hochleistungseigenschaften<br />
entstand. Deren Ausrüstung<br />
erreichte einen hohen Grad an Komplexität:<br />
Trägheitsnavigation, Ausrüstung<br />
mit hitzeempfindlichen Luft-Luft-<br />
Raketen, Luft- und Zielradar und<br />
vieles andere mehr. Ihre Geschwindigkeit<br />
erreichte Mach 2, also doppelt<br />
so schnell wie der Schall. Damit erhöhte<br />
sich gleichzeitig aber auch der Aufwand<br />
für Logistik und Wartung, da<br />
diese Muster nicht mehr »nur« Flugzeuge,<br />
sondern empfindliche Waffensysteme<br />
darstellten.<br />
Vor diesem Hintergrund und angesichts<br />
der geringen geografischen Breite<br />
der Bundesrepublik benötigte die Luftwaffe<br />
zunächst einen Hochgeschwindigkeitsjäger.<br />
Das Verteidigungsministerium<br />
beschaffte nach rigoroser Intervention<br />
von Strauß und Kammhuber<br />
eines der schnellsten, aber auch problematischsten<br />
Muster, den F-104 Starfighter.<br />
Der Starfighter wurde von der<br />
US-Firma Lockheed gebaut und bedeutete<br />
für die US-Rüstungsindustrie ein<br />
umfangreiches Geschäft. Er war nicht<br />
nur für Abfangaufgaben geeignet, son-<br />
5 Die Canadair CL-13B Sabre (F-86)<br />
war der erste Jäger der neugegründeten<br />
Luftwaffe. Er war zwischen 1957 und<br />
1968 im Einsatz.<br />
4 Mehrzweckhubschrauber Bell UH-1D<br />
im Einsatz<br />
5 Die F-104 G »Starfighter« in der<br />
Frühphase der Luftwaffe<br />
4 »Starfighterkrise«: Trümmer einer<br />
F-104 G bei Köln am 22. Mai 1967<br />
Dornier GmbH<br />
ullstein - AP<br />
picture-alliance / dpa<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 7
Deutsche Luftwaffe<br />
4 Pilot einer Fiat G-91 im Cockpit Piloten<br />
Fotosammlung Rebhan<br />
Der Aufbau der deutschen Luftwaffe ab<br />
1955 setzte einen technologischen Amerikanisierungsprozess<br />
in Gang. Schon allein das<br />
Fehlen einer Rüstungsindustrie in der Bundesrepublik<br />
bedingte amerikanische Waffenlieferungen.<br />
Aber es stellte sich auch die<br />
Frage, ob in Deutschland genügend Personal<br />
zu finden sei, das dieses moderne Gerät<br />
überhaupt bedienen könne.<br />
Von den ehemaligen Wehrmachtpiloten<br />
kamen nur wenige in Frage. Die Technik<br />
hatte sich rasant weiterentwickelt, die Anforderungen<br />
an die Piloten waren somit gestiegen.<br />
Zudem hatten die meisten von ihnen<br />
seit Kriegsende nicht mehr im Cockpit einer<br />
Maschine, geschweige denn eines Strahlflugzeuges<br />
gesessen. Schon die körperlichen<br />
Voraussetzungen erfüllten die wenigsten.<br />
Zwangsläufig mussten ungediente Freiwillige<br />
eingestellt werden. Sie galt es mit amerikanischer<br />
Unterstützung auszubilden.<br />
Am 11. März 1956 traf die erste offizielle<br />
Gruppe von vierzehn bundesdeutschen Soldaten<br />
in New York ein, die in den USA<br />
ihre fliegerische oder technische Ausbildung<br />
erhielten. Allein in Luke Air Force Base<br />
(AFB) durchliefen 830 Piloten zwischen<br />
1957 und 1965 ihre Ausbildung für den<br />
Jagdbomber F-84. 1964–1983 wurden dort<br />
1868 bundesdeutsche Piloten auf dem Starfighter<br />
geschult. Seit 1966 begannen die<br />
meisten deutschen Soldaten ihre mehrjährige<br />
Ausbildung zum Strahlflugzeugführer mit<br />
einer Sprachausbildung in Lackland AFB; sie<br />
gingen danach zur fliegerischen Grundschulung<br />
auf die Basen Sheppard oder Williams,<br />
wo sie das deutsche und amerikanische Flugzeugführerabzeichen<br />
erwarben.<br />
So prägte nicht nur die US-amerikanische<br />
Ausrüstung das Gesicht der jungen bundesdeutschen<br />
Luftwaffe. Das täglich erlebte<br />
amerikanische Führungsdenken, die Organisation<br />
des Flugbetriebs und besonders das<br />
gesprochene Englisch übten Einfluss auf die<br />
deutschen Soldaten aus. Aber nicht nur die<br />
Piloten, sondern auch die in den USA stationierten<br />
Soldaten der Verbindungskommandos<br />
und deren Familien lernten über Jahre<br />
den »american way of life« kennen. Diese<br />
unmittelbare Verbindung schuf neben der<br />
Integration in die NATO in partnerschaftlicher<br />
Verbundenheit eine starke US-amerikanische<br />
Ausrichtung der deutschen Luftwaffe.<br />
Sie wirkt bis heute, ließ aber auch Platz für<br />
Eigenes.<br />
Thorsten Loch<br />
Wolfgang Schmidt<br />
8<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
5 Das leichte Erdkampfflugzeug Fiat G-91 auf der Flight. Die Dienstzeit der G-91 begann 1961<br />
und endete 1982.<br />
5 F-84 F Thunderstreak bei der Betankung (Feldtankwagen 1800 Ltr.), um 1960. Die F-84 wurde<br />
von der Luftwaffe von 1956 bis 1966 verwendet.<br />
dern auch für den Einsatz von Atombomben<br />
(Jagdbomber) und verschaffte<br />
so der Bundesrepublik die nötigen Voraussetzungen<br />
für die nukleare Teilhabe<br />
als Basis für die Festigung der politischen<br />
Position in der NATO. Man<br />
rüstete also die fünf schweren Jagdbombergeschwader<br />
ebenfalls mit dem<br />
Starfighter und nuklearen Trägermitteln<br />
aus. Gleichzeitig diente die F-104<br />
als Aufklärer.<br />
Aus einer Mischung von militärischer<br />
Notwendigkeit, technologischem<br />
Hochgefühl, Machtpolitik, Abhängigkeit<br />
von den USA und Hoffnung auf<br />
Kosteneffizienz entschied man sich für<br />
die Maschine, die eigentlich als Fliegende<br />
Rakete für den Abfang-Einsatz<br />
in großen Höhen konstruiert worden<br />
war, und setzte sie auch als Jagdbomber<br />
für Tiefflüge ein. Die Wahl<br />
dieses komplizierten und anspruchsvollen<br />
Musters führte zusammen mit<br />
dem teils erheblichen Mangel bei Personal,<br />
Ausbildung und Logistik ab 1961,<br />
der auf das rasche Aufstellungstempo<br />
zurückzuführen war, zur »Starfighterkrise«.<br />
Fast 300 Maschinen gingen verloren<br />
und 108 Piloten verunglückten<br />
tödlich. Den Höhepunkt erreichte die<br />
Krise in den Jahren 1965/66. Sie wurde<br />
schließlich zum Auslöser des Rücktritts<br />
von Werner Panitzki, dem Nachfolger<br />
Kammhubers als Inspekteur der Luftwaffe.<br />
Neuer Inspekteur wurde Johannes<br />
Steinhoff, der die Absturzserie in<br />
den Griff bekam und, gemessen an<br />
Wehrtechnische Studiensammlung/BWB Koblenz, FA. P. Strack<br />
Wehrtechnische Studiensammlung/BWB Koblenz, FA. P. Strack<br />
den Absturzzahlen anderer Flugzeugtypen,<br />
die Unfälle in erträglichen Grenzen<br />
halten konnte. Dazu wurde ein spezieller<br />
Systembeauftragter eingesetzt<br />
– ein richtungweisender Schritt zur<br />
Einführung moderner Managementmethoden<br />
in die Luftwaffe, der eigentlich<br />
nicht von Steinhoff, sondern bereits<br />
von Panitzki eingeleitet worden war.<br />
Als zweites bemanntes Hauptwaffensystem<br />
beschaffte das Verteidigungsministerium<br />
das leichte Erdkampfflugzeug<br />
Fiat G-91. Dieses sollte die<br />
Heerestruppen bei ihrem Kampf an der<br />
Front unterstützen und war vergleichsweise<br />
einfach ausgestattet. Damit wurden<br />
die leichen Kampfgeschwader<br />
(leKG) ausgestattet.<br />
Ergänzt wurde dieses Instrumentarium<br />
nach dem Scheitern der Pläne<br />
für eine Ausrüstung mit weitreichenden<br />
Mittelstrecken-Raketen (Polaris)<br />
durch die Boden-Boden-Rakete Pershing<br />
I (Reichweite ca. 740 km).<br />
Für die Luftverteidigung wurden<br />
sechs Bataillone NIKE und neun Bataillone<br />
HAWK angeschafft, die in die integrierte<br />
NATO-Luftverteidigung eingebunden<br />
wurden. Allerdings kosteten<br />
die Fla-Raketen so viel, dass sich<br />
die Bundesrepublik pro Raketenwerfer<br />
durchschnittlich nur zweieinhalb<br />
Schuss leisten konnte. Dies hieß wiederum,<br />
dass im Ernstfall die ganze<br />
Abwehr nur ca. 60 Minuten hätte feuern<br />
können. Dazu kam, dass man<br />
aufgrund technischer Beschränkungen<br />
Tiefflieger, die in Höhen von unter<br />
150 m anflogen, nicht bekämpfen konnte.<br />
Auch ballistische Raketen konnten<br />
nicht abgeschossen werden. Das ganze<br />
System war also »oben und unten«<br />
offen, dies vor allem auch, weil die<br />
Sowjets zunächst wohl Wellen alter<br />
Flugzeuge geschickt hätten, um die<br />
NATO-Luftverteidigung zu erschöpfen,<br />
und erst danach die modernen<br />
Atomträger eingesetzt hätten. Ergänzt<br />
wurde das Instrumentarium noch<br />
durch eine ganze Anzahl von Transport-<br />
(zunächst Noratlas 2501, dann<br />
Transall) sowie Trainer-, Verbindungsund<br />
Passagierflugzeugen. Ein komplettes<br />
Geschwader (HTG 64) rüstete man<br />
mit dem Hubschrauber Bell UH-1D<br />
aus.<br />
Fazit<br />
Der gesamte Aufbau der ersten 15<br />
Jahre stellte, gemessen an den ungeheuren<br />
Schwierigkeiten, eine respektable<br />
Leistung dar. Vielfach musste<br />
jedoch improvisiert werden. Da man<br />
sich infolge der Bedrohungsdefinition<br />
sehr stark auf die Kampfverbände konzentrierte,<br />
herrschten in den anderen<br />
Bereichen, vor allem auch in der Logistik,<br />
teilweise chaotische Verhältnisse.<br />
So lagerte die konventionelle Munition<br />
bei einigen Verbänden zeitweise in<br />
Behelfs-Verschlägen. Im Oktober 1967<br />
kam es zu einer spektakulären Aktion<br />
eines ehemaligen Starfighterpiloten,<br />
der beim Jagdgeschwader (JG)<br />
74 in Neuburg/Donau eine Sidewinder-Rakete<br />
entwendete und diese per<br />
Post nach Moskau schickte. Die Rakete<br />
lagerte nicht, wie von der NATO<br />
vorgeschrieben, im Bunker, sondern in<br />
einer Baracke.<br />
Große Schwierigkeiten ergaben sich<br />
auch auf dem Sektor der Personalrekrutierung<br />
und der Finanzierung. Erst<br />
nach und nach gelang eine Beruhigung<br />
und Konsolidierung. Die Teilstreitkraft<br />
schuf vor allem mit dem Einsatz der<br />
EDV und einem modernen Management<br />
die Grundlagen für ein wirkungsvolles<br />
Handeln bis zum Ende des Kalten<br />
Krieges und darüber hinaus.<br />
• Bernd Lemke<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 9
Der Fall Löwen<br />
Eine grimmige graue Horde ...<br />
00481046 / ullstein - ullstein bild<br />
Der Fall<br />
Löwen<br />
25. August 1914<br />
Die deutsche Invasion Belgiens<br />
Der 25. August 1914 versprach<br />
ein ruhiger Tag für die 45 000<br />
Bewohner der belgischen Universitätsstadt<br />
Löwen (Leuven) zu werden.<br />
Erst am 19. August hatten deutsche<br />
Truppen der 1. Armee auf ihrem<br />
Vormarsch die etwa 20 km östlich von<br />
Brüssel gelegene Stadt erreicht. Die belgische<br />
Armee, knapp 100 000 Mann,<br />
hatte sich kampflos zurückgezogen.<br />
Angesichts des Einmarsches der deutschen<br />
Truppen in die Stadt hatten die<br />
Stadtoberen und auch der einflussreiche<br />
Klerus die Bevölkerung mehrfach<br />
zur Besonnenheit aufgerufen. Außerdem<br />
nahmen die deutschen Truppen<br />
Geiseln, um befürchteten Anschlägen<br />
aus der Zivilbevölkerung vorzubeugen.<br />
Sie verhängten zudem eine Ausgangssperre<br />
ab 20.00 Uhr.<br />
Schon lange vor 1914 hatte der preußische<br />
Große Generalstab im Fall eines<br />
Krieges gegen Frankreich das neutrale<br />
Belgien zum Durchmarschgebiet Richtung<br />
Nordfrankreich erklärt. Obwohl<br />
Belgien bei Kriegsbeginn seine Neutralität<br />
bekräftigt hatte, waren seit<br />
dem 4. August 1914 drei deutsche Armeen<br />
mit rund einer Million Mann<br />
in das kleine Nachbarland eingedrungen.<br />
Zwischenfälle, bei denen belgische<br />
Zivilisten angeblich Widerstand<br />
gegen die Deutschen leisteten, hatten<br />
sich gehäuft. Über hundert Vorkommnisse<br />
mit mehr als 4200 Erschießungen<br />
von Zivilisten durch deutsche Truppen<br />
allein im ersten Kriegsmonat sind bislang<br />
registriert worden.<br />
Haben die Überfälle belgischer Zivilisten<br />
tatsächlich stattgefunden? Oder<br />
war es nur die Panik kriegsunerfahrener<br />
deutscher Truppen, die sie schon<br />
nach dem ersten Beschuss, erwiesenermaßen<br />
oft genug auch aus den eigenen<br />
Reihen, zu ungewöhnlich harten<br />
Repressalien greifen ließ? Die Deutschen,<br />
die der US-Botschafter in Brüssel,<br />
Brand Whitlock, als eine grimmige<br />
graue Horde mit wilden Liedern bezeichnet<br />
hatte, fürchteten seit dem<br />
Krieg von 1870/71 gegen Frankreich<br />
nichts so sehr wie die Überfälle von<br />
Heckenschützen, der so genannten<br />
Franctireurs. Belgien hatte erst im Jahre<br />
1909 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt.<br />
Bei Kriegsausbruch waren die<br />
meisten Männer in ihren Heimatorten<br />
geblieben: eine aus deutscher Sicht ungewohnte<br />
Situation, die immer wieder<br />
Anlass zu Verdächtigungen gab. In einer<br />
Warnung an seine Truppen hatte<br />
Generalstabschef Generaloberst Helmuth<br />
von Moltke d.J. am 12. August<br />
1914 von »Nichtuniformierten« gespro-<br />
10<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
3 August 1914: Infanteriekolonnen beim<br />
Vormarsch. Eine Ortschaft in Belgien wird<br />
passiert. Ein Ordensgeistlicher (Mönch)<br />
bietet den Soldaten Trinkwasser zur<br />
Erfrischung an.<br />
chen, die sich ohne deutlich erkennbare<br />
Abzeichen am Kampf beteiligten<br />
und daher als außerhalb des Völkerrechts<br />
stehend wie Franctireurs zu behandeln<br />
und sofort standrechtlich zu<br />
erschießen seien.<br />
In Löwen blieb zunächst<br />
alles friedlich<br />
In Löwen fühlten sich die Deutschen<br />
einigermaßen sicher. Bis zum 22. August<br />
hatte sich sogar vorübergehend<br />
das Hauptquartier der 1. Armee dort<br />
eingerichtet und drei Tage später, als<br />
die Ereignisse eskalierten, waren mindestens<br />
15 000 deutsche Soldaten in der<br />
Stadt einquartiert.<br />
Gegen Abend des 25. August, so<br />
heißt es übereinstimmend in Augenzeugenberichten<br />
beider Seiten, ertönten<br />
plötzlich zwischen 18.00 und 19.00<br />
Uhr Alarmsirenen. Eine Weile herrschte<br />
wieder Stille. Dann fielen gegen acht<br />
Uhr die ersten Schüsse. Der Schusswechsel<br />
griff sofort auf die ganze<br />
Stadt über. Ein Augenzeuge, der deutsche<br />
Kriegsberichterstatter Paul Grabein,<br />
hat seine Erlebnisse an diesem<br />
Abend nur wenige Tage später im Berliner<br />
Tageblatt vom 5. September 1914<br />
veröffentlicht. Nichts im Aussehen der<br />
Stadt habe, so Grabein, etwas Ungewöhnliches<br />
verraten. Auf dem Marsch<br />
zum Bahnhof hätten einige Bewohner<br />
die deutschen Soldaten noch freundlich<br />
gegrüßt und ihnen sogar Gläser<br />
mit Wein dargereicht:<br />
»Da aber plötzlich heulten die Glocken<br />
los, und im nächsten Augenblick ein<br />
Prasseln und Rattern, ein auf das Steinpflaster<br />
niederschmetternder Kugelregen,<br />
als ob alle Geister der Hölle auf<br />
einmal losgelassen seien. Ein eisiges Erstarren,<br />
ein Herzstocken bei unseren<br />
Soldaten, dann warf sich jeder instinktiv<br />
zu Boden. Aber dann riss der<br />
lähmende Bann des Entsetzens. Hoch<br />
sprang ein Oberleutnant und schrie in<br />
heißem Grimm: ›Auf, nun los!‹ Und<br />
da sprangen sie empor vom Pflaster, alles,<br />
was noch lebte. In rasendem Zorn<br />
00666733 / ullstein - Heinrich<br />
5 Propagandistische Darstellung des Überfalls von Franctireurs in Löwen auf durchziehende<br />
deutsche Truppen am 25. August 1914, colorierte Postkarte (Zeichnung) 1914/15<br />
6 Löwen nach Beendigung der Kampfhandlungen;<br />
rechts das gotische Rathaus<br />
wurden die Türen zerschmettert, und<br />
wehe, wer sich bewaffnet im Hause befand<br />
– er hatte nicht mehr die Zeit, ein<br />
Stoßgebet zum Himmel zu schicken.«<br />
Freischärlerüberfälle oder<br />
eigenes Feuer?<br />
Kurz nach den Vorkommnissen behauptete<br />
der Garnisonskommandant<br />
von Löwen, Major Walter von Manteuffel,<br />
gegenüber einem niederländischem<br />
Journalisten, dass belgische<br />
Soldaten in Zivilkleidung nach der<br />
Einnahme durch deutsche Truppen in<br />
ullstein bild / 00097463<br />
der Stadt zurückgeblieben seien, um<br />
die Deutschen im Rücken anzugreifen.<br />
Nach dem Krieg gab er jedoch vor dem<br />
Reichsgericht in Leipzig zu Protokoll,<br />
dass er weder Augenzeuge eines Überfalles<br />
belgischer Zivilisten gewesen sei<br />
noch Beweise für eine Teilnahme der<br />
Bewohner Löwens an Kampfhandlungen<br />
gegen deutsche Truppen anführen<br />
könne.<br />
Fest steht, dass am selben Abend die<br />
belgische Festungsbesatzung von Antwerpen<br />
einen Ausfall in Richtung Löwen<br />
unternahm und dass eine deutsche<br />
Kolonne bis in unmittelbare Nähe der<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 11
Der Fall Löwen<br />
Franctireurs<br />
Nach der Krise um Luxemburg 1867<br />
hatten sich in den nördlichen französischen<br />
Departements so genannte Schützenverbände<br />
gebildet. Sie blieben sehr<br />
auf ihre Unabhängigkeit von der kaiserlichen<br />
französischen Armee bedacht.<br />
Auch nach den schweren Niederlagen der<br />
kaiserlichen Truppen in der Eröffnungsphase<br />
des Deutsch-Französischen Krieges<br />
von 1870/71 ließen sich die nunmehr<br />
erstmals in Erscheinung tretenden<br />
Franctireurs nie vollständig in die Streitkräfte<br />
der neuen französischen Republik<br />
integrieren, sondern bekämpften auf eigene<br />
Faust vor allem die rückwärtigen<br />
Linien der Deutschen. Am 22. August<br />
1870 hatte der Chef des preußischen Generalstabes<br />
Helmuth von Moltke in einem<br />
Schreiben seine Armeekommandos<br />
erstmals vor diesen Freikorps gewarnt,<br />
die sich selbst »franc-tireurs« nannten<br />
und vereinzelt deutsche Soldaten überfielen.<br />
Sie seien daher, da selbst keine Soldaten,<br />
nach dem Kriegsrecht zu behandeln<br />
und mit dem Tode zu bestrafen.<br />
Der verlustreiche Kleinkrieg gegen einen<br />
Gegner, dessen Kombattanten von<br />
Zivilpersonen nur schwer zu unterscheiden<br />
waren, ließ auf deutscher Seite schon<br />
bald den Ruf nach drastischen Gegenmaßnahmen<br />
laut werden. Der preußische<br />
Ministerpräsident Otto von Bismarck beklagte<br />
sich am 14. Oktober 1870 über die<br />
eigene Truppe, die »fix beim Schießen,<br />
aber nicht beim Erschießen« sei. Nach<br />
seiner Ansicht sollte man »alle Dörfer, wo<br />
Verrat vorkommt, sofort ausbrennen und<br />
alle männlichen Einwohner hängen«.<br />
Oft war nicht zu unterscheiden, ob<br />
es sich um paramilitärische Freiheitskämpfer<br />
oder schlicht um marodierende<br />
»Banditen« handelte. Daher war wahrscheinlich<br />
auch das Verhältnis der französischen<br />
Bevölkerung zu den Franctireurs<br />
ambivalent. Moltke sprach in einem<br />
Brief vom 22. Dezember 1870 an seinen<br />
Bruder wohl nicht ganz zu Unrecht von<br />
dem »Schrecken aller Ortschaften«, die<br />
das Verderben über sie brächten. Das<br />
prominenteste Opfer der Franctireurs war<br />
der Schriftsteller Theodor Fontane, der<br />
als Kriegsberichterstatter am 5. Oktober<br />
1870 in ihre Hände fiel, später aber wieder<br />
freigelassen wurde.<br />
Stadt zurückgeschlagen wurde. Dies<br />
ging natürlich nicht ohne Gefechtslärm<br />
ab. Die Deutschen in Löwen glaubten<br />
sich jedoch von Freischärlern angegriffen.<br />
Häuser, aus denen angeblich<br />
geschossen worden war, wurden gestürmt<br />
und sofort angezündet, die Bewohner<br />
zusammengetrieben, die Männer<br />
zum Teil auf der Stelle erschossen.<br />
2000 Gebäude wurden zerstört und<br />
1500 Löwener Bürger, darunter auch<br />
100 Frauen, in Lager nach Deutschland<br />
deportiert.<br />
Die Besatzer nahmen offenbar bewusst<br />
in Kauf, dass Unschuldige ihren<br />
Repressalien zum Opfer fielen. So hatte<br />
der Kommandeur des 1. Bataillons<br />
des Landwehrinfanterieregimentes Nr.<br />
20, Major Georg von Stössel, wegen<br />
vermeintlicher Beschießung deutscher<br />
Soldaten am Abend des 28. August<br />
1914 in einem Löwener Vorort eine Reihe<br />
von Häusern »säubern« und die darin<br />
angetroffenen 54 Männer, unter ihnen<br />
auch katholische Geistliche, auf<br />
einen nahen Platz bringen lassen. Stössel<br />
wusste, dass sich viele seiner<br />
Soldaten im Laufe des Tages Spirituosen<br />
beschafft hatten. Am Abend war<br />
schließlich eine »wüste, planlose Schießerei«<br />
ausgebrochen, bei der 14 Soldaten<br />
verwundet wurden. Vieles, wenn<br />
nicht alles sprach dafür, dass sich seine<br />
Truppe selbst beschossen hatte, doch<br />
glaubte der Reserveoffizier ein Exempel<br />
statuieren zu müssen: Da bei Verdacht<br />
auf Waffengebrauch seitens belgischer<br />
Zivilisten der Armeebefehl ein<br />
»rücksichtslos scharfes Vorgehen« forderte,<br />
ließ Stössel die ergriffenen Männer<br />
in einer Reihe aufstellen und befahl,<br />
jeden siebten von ihnen zu erschießen.<br />
Diese Beschränkung wurde ihm nach<br />
dem Krieg vom Leipziger Reichsgericht<br />
als »besondere Humanität« ausgelegt.<br />
Den Höhepunkt der drei Tage anhaltenden<br />
deutschen Repressalien und<br />
Zerstörungen bildete der Brand der<br />
Löwener Universitätsbibliothek. Am<br />
Abend des 25. August 1914 waren<br />
deutsche Soldaten gegen 23.30 Uhr unter<br />
Beschimpfungen auf die »Pfaffen-<br />
Universität« in das Gebäude eingedrungen,<br />
hatten Feuer gelegt und alle<br />
Löschversuche des Bibliothekspersonals<br />
und der herbeigeeilten Löwener<br />
Bürger verhindert. Die Bibliothek mit<br />
ihren 300 000 Bänden und alten Schriften<br />
wurde ein Raub der Flammen. Bei<br />
den meisten Deutschen galt der katholische<br />
Klerus mit seinen angeblichen<br />
Hasspredigten gegen die protestantischen<br />
Invasoren als die treibende Kraft<br />
des belgischen Widerstandes. Das Vorurteil<br />
vom katholischen Priester, der<br />
von seinem Kirchturm auf die deutschen<br />
Eindringlinge schoss, hatte sich<br />
besonders bei protestantischen Deutschen<br />
schnell eingeprägt. Es taucht als<br />
Stereotyp in vielen Schilderungen auf.<br />
Am 27. August ließen die Besatzer<br />
die Stadt von noch 10 000 verbliebenen<br />
Bewohnern räumen. 400 Priester und<br />
Theologen trieb man auf einem Feld<br />
bei Brüssel zusammen, um sie nach<br />
Waffen zu durchsuchen. Bei einem jungen<br />
Jesuiten namens Dupierreux fanden<br />
die Deutschen eine Tagebuchnotiz,<br />
die sie in französischer und dann<br />
in deutscher Sprache laut verlesen ließen:<br />
»Ohne Frage, ich mag die Deutschen<br />
nicht. In meiner Jugend habe ich gelernt,<br />
dass es vor Jahrhunderten die<br />
Barbaren waren, die [...] die unschuldigen<br />
Bewohner der Städte ermordeten.<br />
Das und nichts anderes haben die Deutschen<br />
getan. Ich habe gelernt, dass vor<br />
langer Zeit [der Kalif] Omar die Bibliothek<br />
von Alexandria niedergebrannt<br />
hat; die Deutschen haben dasselbe in<br />
Leuven getan. Dieses Volk kann stolz<br />
sein auf seine Kultur.«<br />
Dupierreux erhielt noch die Gelegenheit<br />
zur Beichte, dann wurde er erschossen.<br />
Politische Reaktionen auf die<br />
deutschen Ausschreitungen<br />
Die Öffentlichkeit auf Seiten der Alliierten<br />
war empört. Aber auch die neutralen<br />
Mächte nahmen Anstoß an dem<br />
brutalen Vorgehen der Deutschen in<br />
Belgien. Am 16. September 1914 hatte<br />
eine belgische Delegation dem US-Präsidenten<br />
Woodrow Wilson über die<br />
Vorfälle in Löwen berichtet. Reichskanzler<br />
Theobald von Bethmann Hollweg<br />
bemühte sich um Schadensbegrenzung.<br />
Er besuchte im November die<br />
verwüstete Stadt, entschuldigte sich<br />
für die Vorfälle und versprach eine Untersuchung.<br />
Im Mai 1915 gab die deutsche<br />
Regierung ein so genanntes Weißbuch<br />
heraus, in dem sie die offiziellen<br />
Untersuchungsergebnisse präsentierte.<br />
12<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
akg-images<br />
5 Innenansicht der am 25. August 1914 ausgebrannten Bibliothek<br />
Viele die deutschen Truppen belastende<br />
Aussagen waren in der Schlussfassung<br />
jedoch wieder gestrichen worden.<br />
So hatten selbst Armeeangehörige<br />
übereinstimmend erklärt, dass die in<br />
Löwen einquartierten Soldaten bei den<br />
ersten Schüssen ans Fenster gelaufen<br />
seien und auf die Straße geschossen<br />
hätten. Ein deutscher Leutnant sagte<br />
aus, er sei bei Beginn des Schusswechsels<br />
in einem Café in Deckung geblieben,<br />
weil er nicht von den eigenen Leuten<br />
angeschossen werden wollte. Im<br />
Weißbuch erschien seine Aussage jedoch<br />
um den letzten Nebensatz gekürzt,<br />
da er kaum geeignet war, die<br />
deutsche Kernaussage zu bestätigen,<br />
nach der die Truppe in der Stadt von<br />
Zivilisten beschossen worden sei. Für<br />
die Vermutung, dass viele solcher Zwischenfälle<br />
im besetzten Belgien auf eigenes<br />
Feuer zurückzuführen waren,<br />
spricht auch, dass nur wenige Monate<br />
nach Kriegsbeginn die Zahl der Berichte<br />
über angebliche Überfälle belgischer<br />
Zivilisten rapide abnahm. Doch wer<br />
mochte schon auf deutscher Seite einräumen,<br />
dass man sich in derart fataler<br />
Weise geirrt hatte?<br />
Nach dem Krieg:<br />
Schadenersatz statt Sühne<br />
Nach Kriegsende wurden von den alliierten<br />
Siegermächten ernsthafte Versuche<br />
unternommen, die Täter von<br />
Löwen und andere der Kriegsverbrechen<br />
Beschuldigte zur Rechenschaft zu<br />
ziehen. Die Alliierten forderten von<br />
Deutschland die Auslieferung von zunächst<br />
rund 1580 Personen, darunter<br />
Militärs und Politiker. Im Februar 1920<br />
veröffentlichten sie dann eine Liste mit<br />
853 Verdächtigen.<br />
Ihr Vorgehen hatten sich die Alliierten<br />
im Versailler Vertrag legitimieren<br />
lassen (Strafbestimmungen, Artikel 227<br />
bis 230). Politiker und die Öffentlichkeit<br />
in Deutschland sprachen jedoch<br />
von einseitiger Siegerjustiz und plädierten<br />
dafür, Kriegsverbrechen in je<br />
eigener Zuständigkeit zu verhandeln.<br />
Auf amerikanischen und britischen<br />
Druck hin setzte sich dieser Gedanke<br />
durch. Schließlich wurden 1921 vor<br />
dem Leipziger Reichsgericht die so genannten<br />
Kriegsverbrecherprozesse eröffnet.<br />
Von den insgesamt 45 erhobenen<br />
Anklagen betrafen 15 die Vorfälle<br />
in Belgien, keiner befasste sich jedoch<br />
mit den Ereignissen in Löwen. Von der<br />
Staatsanwaltschaft wurde zwar eine<br />
Anklageschrift gegen Major a.D. Stössel<br />
wegen der Vorfälle vom 28. August<br />
1914 entworfen. Zu einer Anklage und<br />
einer Verhandlung vor dem Reichsgericht<br />
ist es aber nicht gekommen. Als<br />
einzige Sühne blieb letztlich nur der<br />
Artikel 247 des Versailler Vertrages,<br />
der Deutschland die Wiederbeschaffung<br />
der vernichteten Löwener Bibliotheksbestände<br />
auferlegte.<br />
• Klaus-Jürgen Bremm<br />
Literaturtipp:<br />
John Horne/Alan Kramer, Deutsche<br />
Kriegsgreuel 1914. Die umstrittene<br />
Wahrheit, Hamburg 2004<br />
Artikel 228 des<br />
Versailler Vertrages:<br />
»Die deutsche Regierung räumt den alliierten<br />
und assoziierten Mächten die Befugnis<br />
ein, die wegen eines Verstoßes gegen<br />
die Gesetze und Gebräuche des Krieges<br />
angeklagten Personen vor ihre Militärgerichte<br />
zu ziehen. Werden sie schuldig befunden,<br />
so finden die gesetzlich vorgesehenen<br />
Strafen auf sie Anwendung. Diese<br />
Bestimmung greift ohne Rücksicht auf ein<br />
etwaiges Verfahren oder eine etwaige Verfolgung<br />
vor einem Gerichte Deutschlands<br />
oder seiner Verbündeten Platz.<br />
Die deutsche Regierung hat den alliierten<br />
und assoziierten Mächten oder derjenigen<br />
Macht von ihnen, die einen entsprechenden<br />
Antrag stellt, alle Personen<br />
auszuliefern, die ihr auf Grund der Anklage,<br />
sich gegen die Gesetze und Gebräuche<br />
des Krieges vergangen zu haben,<br />
sei es namentlich, sei es nach ihrem<br />
Dienstgrade oder nach der ihnen von den<br />
deutschen Behörden übertragenen Dienststellung<br />
oder sonstigen Verwendung bezeichnet<br />
werden.«<br />
Im Namen der Bundesrepublik<br />
Deutschland ...<br />
87 Jahre nach den Repressalien deutscher<br />
Heereseinheiten in Löwen und anderen<br />
belgischen Orten entschuldigte sich am 6.<br />
Mai 2001 der Parlamentarische Staatssekretär<br />
im Bundesverteidigungsministerium,<br />
Walter Kolbow, im Namen der Bundesrepublik<br />
Deutschland für die Übergriffe<br />
deutscher Soldaten auf belgische Zivilisten<br />
im Ersten Weltkrieg. In seiner Rede<br />
sprach er ohne Umschweife von »sinnloser<br />
Grausamkeit« und von »Verbrechen«:<br />
»[E]s ist jetzt 87 Jahre her, dass in Belgien<br />
deutsche Soldaten Menschen ermordet,<br />
Kirchen geschändet und Wohnviertel<br />
niedergebrannt haben. Nun können einige<br />
sagen, dass dies alles doch schon so lange<br />
zurückliege. Das mag zwar sein. Aber<br />
es ist bis heute nicht vergeben. Und zwar<br />
auch deshalb nicht, weil niemand Sie bisher<br />
um Vergebung gebeten hat. Dies ist<br />
der Grund, warum ich heute hier bin. Ich<br />
möchte Sie alle bitten, das von Deutschen<br />
in ihrem Lande damals begangene Unrecht<br />
zu vergeben«.<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 13
Nationale Volksarmee<br />
5 Ein sowjetischer Soldat und ein Gefreiter der NVA beim<br />
Beladen einer Startrampe der Boden-Luft-Rakete S 125<br />
der Luftverteidigung<br />
Die Nationale Volksarmee<br />
Gedanken zum 50. Jahrestag ihrer Gründung<br />
ullstein - Willmann<br />
Die Nationale Volksarmee (NVA)<br />
ist heute, fünfzig Jahre nach<br />
ihrer Gründung, Teil der deutschen<br />
Militärgeschichte. Wenn sie auch<br />
kein Teil der Traditionspflege der Bundeswehr<br />
wurde, so ist sie doch als<br />
die »andere deutsche Armee« in den<br />
Medien, im historischen Unterricht<br />
und in persönlichen Gesprächen immer<br />
noch präsent. Einige inhaltliche Aspekte<br />
ihrer Geschichte sollen im Folgenden<br />
aufgezeigt werden und einen<br />
Beitrag in der Diskussion um die Erinnerung<br />
an die NVA leisten.<br />
Zu den »bewaffneten Kräften« der<br />
DDR gehörten neben der Nationalen<br />
Volksarmee (NVA) die Grenztruppen,<br />
die Verbände des Ministeriums für<br />
Staatssicherheit (MfS), die Volkspolizei<br />
(VP), die »Kampfgruppen der Arbeiterklasse«<br />
und die Zivilverteidigung<br />
(ZV). Die NVA und ihr Auftrag wurde<br />
1987 in einem Leitfaden zur Militärpolitik<br />
der DDR mit folgenden Worten<br />
beschrieben:<br />
»Die Nationale Volksarmee<br />
(NVA) ist das stärkste<br />
bewaffnete Machtorgan der<br />
DDR, das im Klassen- und<br />
Waffenbündnis der Streitkräfte<br />
der Teilnehmerstaaten<br />
des Warschauer Vertrages<br />
die sozialistische<br />
Ordnung und das friedliche<br />
Leben der Bürger der<br />
DDR und aller Staaten<br />
der sozialistischen Gemeinschaft<br />
gegen jegliche<br />
Angriffe der aggressiven<br />
Kräfte des Imperialismus<br />
und der Reaktion schützt<br />
und die Souveränität der<br />
DDR, ihre territoriale<br />
Integrität sowie die Unverletzlichkeit<br />
ihrer Grenzen<br />
und ihrer staatlichen<br />
Sicherheit gewährleistet.<br />
Sie ist der Kern der Landesverteidigung<br />
der DDR.«<br />
Landesverteidigung wurde aus DDR-<br />
Perspektive als Zusammenfassung aller<br />
Maßnahmen zur äußeren und inneren<br />
Sicherheit begriffen.<br />
Armee der DDR und der SED<br />
Die NVA gliederte sich in die Landstreitkräfte<br />
mit zwei Panzer- und vier<br />
Mot.-Schützen-Divisionen (1987 rund<br />
106 000 Mann), die Luftstreitkräfte/<br />
Luftverteidigung mit drei Divisionen<br />
(1987 rund 35 000 Mann) und die Volksmarine<br />
mit drei Flottillen (1987 rund<br />
14200 Mann). Seit ihrer Aufstellung 1961<br />
bis zur Reorganisation um 1971 waren<br />
auch die Grenztruppen Teil der NVA.<br />
In der Anfangszeit war die NVA<br />
eine Freiwilligenarmee. Erst durch den<br />
Mauerbau im August 1961 wurde<br />
die Voraussetzung für die Einführung<br />
der Wehrpflicht 1962 geschaffen. Ein<br />
Recht auf Verweigerung des 18-monatigen<br />
Grundwehrdienstes hatte man<br />
bis Anfang 1990 nicht, dafür gab es<br />
14<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
1. März 1956 – Gründung der NVA. Die offizielle Aufstellung einer existierenden Armee<br />
Am 18. Januar 1956 wurde das »Gesetz über die Schaffung der Nationalen Volksarmee und des Ministeriums für Nationale Verteidigung«<br />
kurzfristig auf die Tagesordnung der 10. DDR-Volkskammersitzung gesetzt. SED-Politbüromitglied und Verteidigungsminister Generaloberst<br />
Willi Stoph begründete den Gesetzentwurf mit der »Aufstellung einer westdeutschen Söldnerarmee und der Einbeziehung Westdeutschlands<br />
in den aggressiven Nordatlantikpakt«. Es genüge nicht mehr, nur Friedensbeteuerungen abzugeben, »die Verteidigungsfähigkeit«<br />
der DDR müsse hergestellt werden. Das Gesetz wurde einstimmig verabschiedet; es trat mit Verkündung in Kraft. Einen Tag später<br />
wurde Stoph »Minister für Nationale Verteidigung der DDR«. Warum aber zu diesem Zeitpunkt ein solcher Schritt, existierten doch unter<br />
zentraler Führung bereits zwei Armeekorps zu Lande, sowie Marine- und Luftwaffenformationen in einer Stärke von fast 100 000 Mann.<br />
Bereits seit 1952 war eine Armee – als Polizeiverbände getarnt (»Kasernierte Volkspolizei«, KVP) – aufgebaut worden.<br />
Im Mai 1955 trat die DDR dem Warschauer Pakt bei. Im September des Jahres wurden mit dem Staatsvertrag zwischen der DDR und<br />
der UdSSR und mit der Änderung der DDR-Verfassung die souveränitäts- und verfassungsrechtlichen Grundlagen für eine offizielle Armee<br />
gelegt. Die offene Verkündung der Aufstellung von Streitkräften war folglich nur eine Frage des politisch richtigen Zeitpunkts. Trotz Drängens<br />
der DDR sah Moskau diesen erst gekommen, nachdem die Aufstellung der Bundeswehr begonnen hatte. Nun sollte als Antwort auf<br />
die »Militarisierung der Bundesrepublik« die Gründung der »Nationalen Volksarmee« erfolgen. Der Begriff »National« war als Kontrapunkt<br />
zur »Amerikanisierung« der Bundeswehr gewählt worden, »Volksarmee« sollte für die neue Einheit zwischen Volk und Armee stehen. Die<br />
neue Uniform, die verdächtig an die der Wehrmacht erinnerte, sah die DDR-Führung in der Traditionslinie der »fortschrittlichen deutschen<br />
Militärgeschichte«. Mit ihr sollte sich die NVA auch optisch von der »Bundeswehr abheben, deren erste Uniformen denen der US-Streitkräfte<br />
ähnelten.<br />
Am 10. Februar 1956 unterzeichnete Stoph den ersten Grundsatzbefehl zum Aufbau der NVA in einer Gesamtstärke von 120000 Mann.<br />
Zuerst wurde das Ministerium für Nationale Verteidigung aus dem Stab der KVP in Strausberg bei Berlin gebildet. Aus den Territorialverwaltungen<br />
Nord und Süd entstanden die Stäbe der Militärbezirke V und III in Pasewalk bzw. Leipzig. Die Strukturen der in der Folgezeit<br />
aufgestellten Verbände der Landstreitkräfte zeigten gegenüber der KVP kaum Unterschiede. Am 1. März hatten alle Stäbe und Verwaltungen<br />
arbeitsfähig zu sein. Ein Jahr später erklärte das Präsidium<br />
des Ministerrats der DDR den 1. März 1956 zum »Gründungstag<br />
der NVA«.<br />
Torsten Diedrich<br />
3 Am 30. April 1956 überreichte Verteidigungsminister<br />
Generaloberst Willi Stoph dem Regimentskommandeur<br />
des 1. Mechanisierten Regiments die Truppenfahne in<br />
Oranienburg/Lehnitz. Am Nachmittag desselben Tages<br />
übergab Stoph auch die Truppenfahne an den Kommandeur<br />
der 1. Mechanisierten Division, Oberst Erich Jäckel, im<br />
Potsdamer Luftschiffhafen.<br />
ab 1964 einen waffenlosen Wehrdienst<br />
als Bausoldat, der im Warschauer Pakt<br />
eine Ausnahme darstellte.<br />
Durch die enge Ausrichtung am sowjetischen<br />
Vorbild, aber auch durch den<br />
starken Führungswillen der SED wurde<br />
die NVA von Beginn an zu einer Parteiarmee<br />
aufgebaut. Nahezu 100 Prozent<br />
der Offiziere waren Mitglieder der<br />
Staatspartei SED. Ein Netz von Politoffizieren<br />
und Mitarbeitern der Staatssicherheit<br />
sorgte für die geforderte politische<br />
Indoktrination und Kontrolle.<br />
MHM Dresden<br />
Aufrüstung im Schatten des<br />
Kalten Krieges<br />
Die Ausrüstung der NVA folgte den<br />
Empfehlungen des Kommandos der<br />
Vereinten Streitkräfte des Warschauer<br />
Paktes. Kalaschnikow-Sturmgewehre,<br />
sowjetische Panzer- und Schützenpanzermodelle<br />
prägten das Erscheinungsbild<br />
der Landstreitkräfte. Die NVA<br />
erhielt ab 1962 auch Kurzstreckenraketen<br />
vom Typ 8-K-11 (NATO-Bezeichung:<br />
SCUD-A) und 8-K-14 (SCUD-B)<br />
und ab 1967 Luna (FROG-5) und<br />
Luna-M (FROG-6). Sie verfügte zwar<br />
auch über nukleare Trägermittel, aber<br />
die Atomsprengköpfe verwahrte die<br />
GSSD (Gruppe der sowjetischen Streitkräfte<br />
in Deutschland).<br />
Die Luftstreitkräfte/Luftverteidigung<br />
waren seit 1962 Teil des einheitlichen<br />
Luftverteidigungssystems des Warschauer<br />
Paktes. Gleichzeitig erhielten<br />
sie die ersten MIG-21 (FISHBED) als<br />
Standardjäger. Durch Umstrukturierung<br />
und Ausrüstung mit sowjetischen<br />
Raketenschnellbooten und Landungsbooten<br />
wurde die Volksmarine<br />
in die Lage versetzt, offensive Operationen<br />
in der Ostsee zu unternehmen.<br />
Während des Prager Frühlings 1968<br />
(siehe Militärgeschichte Nr. 3/2003)<br />
standen im Süden der DDR zwei Divisionen<br />
der NVA zum Eingreifen bereit,<br />
sie wurden aber durch den Warschau-<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 15
Nationale Volksarmee<br />
Widerständiges Verhalten und Repression in der NVA<br />
Die NVA war als Institution zweifellos eine Parteiarmee – im Dienste und unter Führung<br />
der SED. Sie war aber damit noch längst nicht der damals mitunter in Ost und West<br />
gleichermaßen propagierte monolithische Block von parteihörigen Klassenkämpfern in<br />
Uniform. So musste man sich in der Führung von Partei, Staat und Armee immer wieder<br />
auch mit politisch abweichendem oder widerständigem Verhalten von Soldaten, Unteroffizieren<br />
und Offizieren auseinandersetzen. Die Formen dieser mutigen Verhaltensweisen<br />
waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von politisch motivierter Spionage über Fahnenflucht,<br />
Wehrdienst- und Waffendienstverweigerungen, die Ablehnung der Teilnahme an<br />
militärischen Einsätzen oder des Schießbefehls an der Grenze bis hin zu offenen Protestaktionen<br />
gegen das kommunistische System. Dennoch war das Militär in der DDR zu<br />
keinem Zeitpunkt ein Hort von Opposition und Widerstand. Dafür sorgte nicht zuletzt<br />
ein sich am sowjetischen Vorbild orientierender und extrem ausgebauter Überwachungs-,<br />
Kontroll- und Disziplinierungsapparat innerhalb der Streitkräfte, der in erster Linie der<br />
Sicherung der militärischen und politischen Zuverlässigkeit der Armee im Sinne der SED<br />
dienen sollte. Das Ministerium für Staatssicherheit in Gestalt seiner Hauptabteilung I, die<br />
Parteiorganisationen und Politorgane der SED, die NVA-Kommandeure sowie die Militärjustiz<br />
gingen mit geheimdienstlicher Überwachung, Partei- und Disziplinarverfahren<br />
sowie strafrechtlicher Verfolgung gegen Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere vor, die<br />
sich der geforderten politischen Norm widersetzten. Warf man Armeeangehörigen reale<br />
oder vorgebliche politische Straftaten vor, wurden jene anfangs vor zivilen Gerichten, ab<br />
1963 vor Militärgerichten verhandelt und die Beschuldigten zum Teil mit hohen Strafen<br />
bedacht. Allein der Tatbestand »staatsfeindliche Hetze« führte oftmals zu Verurteilungen<br />
mit mehrjährigen Haftstrafen. Nicht wenige Delinquenten mussten ihre Strafen im NVAeigenen<br />
»Knast« in Schwedt/Oder verbüßen. »Dafür kommst du nach Schwedt« war eine<br />
Drohung, die in den NVA-Kasernen Schrecken auslöste. So wurde der Mythos Schwedt<br />
geboren, der auch im System der politischen Disziplinierung und Repression von NVA-<br />
Angehörigen eine wichtige Rolle spielte.<br />
Rüdiger Wenzke<br />
er Pakt nicht angefordert; nur wenige<br />
Soldaten eines Verbindungskommandos<br />
der NVA waren im Hauptquartier<br />
der Warschauer-Pakt-Truppen in der<br />
Tschechoslowakei anwesend.<br />
Waffenbruder und Musterschüler<br />
Durch die Umsetzung der sowjetischen<br />
Vorgaben und das Verhalten<br />
innerhalb des Bündnisses erwarb sich<br />
die NVA den Ruf eines Musterschülers<br />
der Sowjetunion. 1970 wurde das Warschauer-Pakt-Manöver<br />
»Waffenbrüderschaft«<br />
unter der Leitung des DDR-Verteidigungsministers<br />
Heinz Hoffmann<br />
(1910–1985) auf dem Territorium der<br />
DDR zum Beweis für die erfolgreiche<br />
Integration in das Bündnis und die<br />
Leistungsfähigkeit der NVA.<br />
Unabhängig von der offiziellen Entspannungspolitik<br />
wurden in den 70er<br />
und 80er Jahren die Kampfkraft und<br />
Gefechtsbereitschaft weiter ausgebaut.<br />
Hierbei erfolgte immer wieder eine<br />
Angleichung an sowjetische Standards,<br />
vor allem im Bereich der Raketensysteme<br />
SS-21 (SCARAB)/SS-23 (SPIDER)<br />
und der Kampfpanzer T-72/T-72 M1.<br />
Ab 1984 wurden Armeefliegerkräfte<br />
neu eingeführt und mit den Kampfhubschraubern<br />
Mi-8 TB (HIP E) und<br />
Mi 24D (HIND D) ausgerüstet. Die<br />
Luftstreitkräfte führten neue Generationen<br />
von Jagd- und Bombenflugzeugen<br />
ein, wie die MIG-29 (FULCRUM)<br />
und SU-22 M4 (FITTER K). Die Luftverteidigung<br />
erhielt mit ANGARA (SA-10)<br />
sogar ein gegenüber dem NATO-System<br />
PATRIOT gleichwertiges System.<br />
Im Kriegsfall, der in offiziellen Verlautbarungen<br />
von einem Angriff der<br />
NATO ausging, wäre die NVA auf rund<br />
500 000 Mann aufgewachsen und ein<br />
Teil der 1. und 2. Front innerhalb der 1.<br />
Strategischen Staffel der Truppen des<br />
Warschauer Paktes geworden. Unter<br />
Führung der sowjetischen Hauptkräfte<br />
sollten Angriffe auf das Gebiet der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Dänemarks<br />
und der Benelux-Länder erfolgen. Eine<br />
besondere Gruppierung mit Unterstützung<br />
von Kampfgruppen, Grenztruppen<br />
und VP-Bereitschaften sollte West-<br />
Berlin einnehmen.<br />
Die unruhigen 80er Jahre<br />
Während der Unruhen in Polen von<br />
1980 bis 1982 hielt die NVA zeitweise<br />
Teile der 9. Panzer-Division zu einem<br />
Einsatz im Nachbarland bereit, der<br />
dann aufgrund der Entspannung der<br />
Lage ausblieb. Die wirtschaftlich prekäre<br />
Situation der DDR in den 80er Jahren<br />
ging auch an der NVA nicht spurlos<br />
vorüber. Trotzdem prägte eine hohe<br />
Einsatzbereitschaft die Armee, wenn<br />
auch ihre Infrastruktur nicht mehr im<br />
gleichen Maße wie bisher unterhalten<br />
werden konnte. Durch die Friedensbewegung<br />
der DDR und oppositionelle<br />
Gruppen war die NVA-Führung<br />
für die kommenden Ereignisse schon<br />
»sensibilisiert«. Infolge des ideologischen<br />
Wandels durch das »Neue Denken«<br />
in der Sowjetunion unter Gorbatschow<br />
war sie auch bereits mit<br />
ungewohnten taktischen operativen<br />
und strategischen Entwicklungen des<br />
Kriegsbildes konfrontiert worden.<br />
Dennoch wurde die NVA von der<br />
»friedlichen Revolution« in der DDR<br />
1989 völlig überrascht. Im Oktober und<br />
November 1989 bildete man während<br />
der innenpolitischen Krise »Hundertschaften«<br />
mit insgesamt 20 000 Soldaten<br />
zur Unterstützung der Polizeikräfte.<br />
Der Einsatz erfolgte zur<br />
Sicherung von Gebäuden und Institutionen.<br />
Jedoch war die NVA dabei<br />
nicht an gewaltsamen Auflösungen<br />
von Demonstrationen beteiligt. In der<br />
Zeit zwischen Maueröffnung und Wiedervereinigung<br />
kam es nach einer ersten<br />
Phase der Orientierungslosigkeit<br />
in über 40 Standorten zu Demonstrationen<br />
und Streiks von Soldaten. Es ging<br />
u.a. um Verkürzung der Dienstzeit,<br />
die Verbesserungen der Dienst- und<br />
Lebensbedingungen und ein stärkeres<br />
Mitspracherecht in sozialen Angelegenheiten.<br />
Die Führung der NVA stabilisierte<br />
durch Zugeständnisse die Lage<br />
und leitete erste Reformen ein.<br />
Die Auflösung des Politapparats<br />
innerhalb der Streitkräfte und die<br />
schrittweise Einführung demokratischrechtstaatlicher<br />
Strukturen waren nach<br />
den ersten freien Wahlen der DDR<br />
im März 1990 weitere Reformschritte.<br />
Alles geschah vor dem Hintergrund<br />
der noch ungeklärten Frage, ob es nach<br />
einer Wiedervereinigung zwei Armeen<br />
auf deutschem Boden geben würde<br />
oder nicht. Nachdem die Sowjetunion<br />
einer Mitgliedschaft der wiedervereinigten<br />
Bundesrepublik in der NATO<br />
zugestimmt hatte, war das Ende der<br />
NVA jedoch besiegelt. Am 24. September<br />
1990 wurde sie aus der Militärorganisation<br />
des Warschauer Paktes<br />
16<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
herausgelöst und am 2. Oktober 1990<br />
offiziell aufgelöst. Am Tag der Wiedervereinigung,<br />
dem 3. Oktober 1990,<br />
übernahm die Bundeswehr zunächst<br />
befristet rund 90 000 ehemalige Angehörige<br />
der NVA und 48 300 Zivilbeschäftigte.<br />
Was bleibt?<br />
Die NVA war eine Armee von hoher<br />
Professionalität und Einsatzbereitschaft.<br />
Die NVA war aber auch einer<br />
der Orte staatlicher Repression. Gerade<br />
aufgrund ihrer staatstragenden Rolle<br />
innerhalb der SED-Diktatur und<br />
ihrer hohen ideologischen Durchdringung<br />
hat die NVA in der Traditionspflege<br />
der Bundeswehr keinen Platz<br />
erhalten. Trotzdem zeigt die Phase der<br />
Reformen seit November 1989, dass in<br />
der NVA nicht wenige reformwillige<br />
und der Demokratie loyale Kräfte auszumachen<br />
waren. Äußerer Ausdruck<br />
dieses Wandels wurden im Sommer<br />
1990 ein neuer Eid und die Übernahme<br />
der Traditionen des Widerstands vom<br />
20. Juli 1944. Eine Vereinigung von<br />
Bundeswehr und NVA fand schließlich<br />
nicht statt, aber die Integration<br />
ehemaliger NVA-Soldaten und Zivilbediensteter<br />
in die Bundeswehr kann<br />
im Vergleich mit anderen Bereichen<br />
der Gesellschaft als gelungen betrachtet<br />
werden. Ende 1998 gab es noch<br />
9300 Soldaten in der Bundeswehr mit<br />
Vordienstzeiten in der NVA. Heute ist<br />
in Interviews mit Betroffenen oft zu<br />
hören, dass keine Unterschiede mehr<br />
auszumachen seien. Die »Armee im<br />
Einsatz« setzte für alle neue Maßstäbe.<br />
Die geistige Auseinandersetzung<br />
mit der historisch gewordenen NVA ist<br />
aber Teil der gesellschaftlichen Auseinandersetzung<br />
mit der DDR-Vergangenheit<br />
geblieben. »Ostalgie« oder Pauschalurteile<br />
sind dabei fehl am Platz.<br />
MHM Dresden<br />
»Armee des Volkes?« – Selbstverständnis, Inneres Gefüge und<br />
Fremdwahrnehmung der NVA<br />
Zu den Leitbildern der NVA gehörte die wechselseitige Bindung und Akzeptanz von Volk<br />
und Armee. Mit Hilfe der »Sozialistischen Wehrerziehung« sollte nach dem Willen der<br />
SED bereits in den Kindergärten, den Schulen und während der Berufsausbildung die<br />
systematische Heranführung an die Aufgaben der Landesverteidigung erfolgen. Später<br />
kamen noch die Hochschulen hinzu. Zur Legitimierung bediente man sich eines völlig<br />
überzogenen Bedrohungsbildes, das in der Forderung der »Erziehung zum Hass auf den<br />
Klassengegner« gipfelte. Als Gegenentwurf propagierte man das Ideal der »sozialistischen<br />
Soldatenpersönlichkeit«, die politisch überzeugt, menschlich und fachlich kompetent die<br />
Überlegenheit des eigenen Systems demonstrierte. Insgesamt konnte die NVA diesen<br />
hohen Idealen zu keiner Zeit entsprechen. Während praktisch keine Möglichkeit bestand,<br />
sich dem Wehrdienst zu entziehen, gab es nur eine geringe Bereitschaft, einen längeren<br />
Wehrdienst als Zeit- oder Berufssoldat zu leisten.<br />
Neuere NVA-Forschungen zeigen, dass die meisten Wehrpflichtigen und Reservisten<br />
von ihrer Dienstzeit bei der NVA und insbesondere von den Vorgesetzten enttäuscht<br />
waren. Ein als rigide empfundenes Disziplinar- und Strafsystem, Ohnmacht gegen die<br />
Willkür von Vorgesetzten, mangelnde Dienstaufsicht vor allem auf der unteren und mittleren<br />
Führungsebene und nicht zuletzt die unverhältnismäßig hohe Dienstzeitbelastung<br />
wirkten sich besonders demotivierend aus. Unbotmäßigkeiten gegenüber Vorgesetzten<br />
und Versuche, die Dienstverpflichtung vorzeitig zu kündigen, waren äußere Zeichen dieser<br />
Unzufriedenheit. Trotz eines strikten Alkoholverbots in den militärischen Einrichtungen<br />
gehörten der übermäßige Alkoholkonsum und seine Folgen zu den Dauerproblemen.<br />
Bei den Wehrpflichtigen und jüngeren Unteroffizieren entwickelte sich mit dem<br />
»EK-Wesen« eine informelle Hierarchie der Soldaten des letzten Diensthalbjahres (»Entlassungskandidaten«)<br />
gegenüber jüngeren Kameraden. Das System nahm zuweilen menschenverachtende<br />
Züge an. Diese Hackordnung wurde von vielen Vorgesetzten geduldet,<br />
teils aus mangelnder Autorität, teils aus Abhängigkeit von der Erfahrung der dienstälteren<br />
Soldaten. Die positiven Wahrnehmungen der NVA in der Öffentlichkeit, zum Beispiel bei<br />
Katastropheneinsätzen oder durch die Erfolge der Armeesportler bei großen Wettkämpfen,<br />
konnten das insgesamt negative Bild nicht ändern. Ihren eigenen Anspruch, eine<br />
»Armee des Volkes« zu sein, konnte die NVA als Ganzes zu keiner Zeit einlösen.<br />
Matthias Rogg<br />
• Heiner Bröckermann<br />
Literaturtipp:<br />
Hans Ehlert, Matthias Rogg (Hrsg.),<br />
Militär, Staat und Gesellschaft in der<br />
DDR. Forschungsfelder, Ergebnisse,<br />
Perspektiven, Berlin 2004.<br />
Torsten Diedrich, Hans Ehlert, Rüdiger<br />
Wenzke (Hrsg.), Im Dienste der Partei.<br />
Handbuch der bewaffneten Organe<br />
der DDR, Berlin 1998.<br />
5 Soldaten-Streik in Cottbus, um die Jahreswende 1989/90<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 17
Westliche Verteidigungsstrategie<br />
Westliche<br />
Verteidigungsstrategie<br />
in der Gründungsphase der NATO<br />
Logo der Reihe »Strategie« unter Verwendung eines Bildes von bpk/<br />
Antikensammlung; Foto: Jürgen Liepe; Gestaltung: MGFA<br />
Spätestens ab 1947 überwogen die<br />
Gegensätze zwischen den ehemaligen<br />
Verbündeten der Anti-<br />
Hitler-Koalition. Als Beginn des Kalten<br />
Krieges werden gemeinhin die<br />
Jahre 1946–1948 angesehen. Die Sowjetunion<br />
festigte ihren Einfluss in Osteuropa<br />
bis 1948 durch Schaffung von<br />
auf Moskau ausgerichteten Regimen.<br />
Die US-Wiederaufbauhilfe für Europa,<br />
der Marshallplan (European Recovery<br />
Program ERP), wurde auf Druck der<br />
Sowjetunion von den mittel- und osteuropäischen<br />
Staaten abgelehnt. In<br />
den USA wurde die Truman-Doktrin<br />
formuliert, die erstmals öffentlich<br />
den Systemgegensatz zwischen Sowjetkommunismus<br />
und dem westlichen<br />
demokratisch-freiheitlichen System<br />
formulierte. Die Außenpolitik der USA<br />
legte den Leitgedanken der Eindämmung<br />
(»containment«) des Kommunismus<br />
durch Stabilisierung der freiheitlich-demokratischen<br />
Gesellschaften<br />
fest. Ein erster Höhepunkt des<br />
Kalten Krieges begann mit der am<br />
24. Juni 1948 begonnenen Blockade<br />
West-Berlins und bereits 1950 führte<br />
der Ausbruch des Koreakrieges zur ersten<br />
heißen Phase des Kalten Krieges.<br />
Militärisch verließen sich die Westmächte<br />
vor allem auf das US-Nuklearmonopol.<br />
An konventionellen Streitkräften<br />
konnte der Westen der Sowjetunion<br />
nur wenig entgegensetzen.<br />
Gerade die am Ende des Zweiten<br />
Weltkrieges beeindruckende Militärmacht<br />
der USA wurde zugunsten des<br />
wirtschaftlichen Aufbaus bis 1947 von<br />
zwölf Millionen auf etwa anderthalb<br />
Millionen Soldaten reduziert.<br />
Die Planungen der USA:<br />
HALFMOON und OFFTACKLE<br />
Die militärstrategischen Überlegungen<br />
der westlichen Alliierten zeichneten<br />
ein pessimistisches Lagebild für die<br />
Verteidigungsmöglichkeiten des europäischen<br />
Kontinents und für Deutschland<br />
als Hauptgefechtsgebiet. Grundsätzlich<br />
wurde auf die abschreckende<br />
Wirkung des amerikanischen Atomwaffenmonopols<br />
vertraut. Mit dem<br />
HALFMOON-Konzept entwickelten<br />
die US-amerikanischen Joint Chiefs of<br />
Staff 1948 den ersten offiziellen Kriegsplan<br />
nach Beendigung des Zweiten<br />
Weltkrieges. Hierbei wurde der Krieg<br />
der Zukunft als Weltkrieg eingestuft.<br />
Das amerikanische Militär ging davon<br />
aus, dass die Sowjetunion über<br />
eine konventionelle Übermacht verfüge.<br />
Diese sei auf konventionellem Weg<br />
mit den geringen in Westeuropa stationierten<br />
Kräften nicht zum Stehen<br />
zu bringen. Den USA blieben im Falle<br />
eines Kriegsausbruchs in erster Linie<br />
die Mittel des strategischen Luftkriegs<br />
gegen die UdSSR. In Europa stand<br />
der Rückzug der Truppen vom europäischen<br />
Kontinent, »Evakuierung«<br />
genannt, im Vordergrund. Der Vormarsch<br />
der feindlichen Kräfte sollte<br />
entlang des Rheins zunächst nur durch<br />
Verzögerungsgefechte gebremst werden,<br />
um so den Widerstand der europäischen<br />
Staaten zu fördern. Jedoch<br />
wurde damit gerechnet, dass der »Brückenkopf<br />
Europa« nicht länger als<br />
drei Monate gehalten werden könne.<br />
Von einer Verstärkung der vorhandenen<br />
Truppen nahm man aufgrund dieser<br />
Lageeinschätzung von vornherein<br />
Abstand. Nur für Großbritannien wurde<br />
die Chance einer etwas längeren<br />
Verteidigung gesehen. Die Insel war<br />
für die USA als Stützpunkt besonders<br />
wichtig, weil die US Air Force von dort<br />
den strategischen Luftkrieg gegen das<br />
Hinterland der UdSSR führen konnte.<br />
Im zweiten Kriegsjahr sollten dann<br />
amerikanische Truppen mit der Rückeroberung<br />
der von der UdSSR und<br />
ihren Verbündeten eroberten Gebiete,<br />
zunächst im Mittleren Osten, beginnen.<br />
Im Zuge der Unterzeichnung des<br />
Nordatlantikvertrages 1949 wurde das<br />
HALFMOON-Konzept überarbeitet<br />
und durch das OFFTACKLE-Konzept<br />
ersetzt. Grundsätzlich entsprach es seinem<br />
Vorgänger, sah aber Detailänderungen<br />
vor. Diese konnten aber auch<br />
nicht darüber hinwegtäuschen, dass<br />
die politischen Forderungen insbesondere<br />
der Europäer sich an den militärischen<br />
Möglichkeiten und Bedrohungsszenarios<br />
messen lassen mussten.<br />
Geplant wurde die Verteidigung<br />
entlang der Linie Großbritannien–<br />
Rhein–Kairo–Suezkanal. Für die Eroberung<br />
Westeuropas durch die UdSSR<br />
wurden 70 Tage veranschlagt. Im<br />
Gegensatz zu HALFMOON sahen bei<br />
OFFTACKLE die amerikanischen Planer<br />
jetzt eine realistische Chance, die<br />
sowjetischen Truppen an den Pyrenäen<br />
zum Stehen zu bringen. Das neutrale,<br />
aber unter der Diktatur des Generalissimus<br />
Francisco Franco deutlich<br />
antikommunistische Spanien sollte als<br />
Festlandbrückenkopf gehalten werden.<br />
Die Rückeroberung Westeuropas war<br />
18<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
ullstein - histopics<br />
Michail Sawin, Sammlung Museum Berlin-Karlshorst<br />
5 Die militärischen Möglichkeiten des Westens basierten auf dem<br />
Nuklearmonopol der USA. Die massive Vergeltung sollte mittels<br />
Langstreckenbombern, hier B-29 Superfortress, erfolgen.<br />
5 Im Westen wurde die konventionelle gepanzerte Übermacht der<br />
Sowjetunion mit dem Hauptwaffensystem T-34 als die Bedrohung<br />
angesehen.<br />
wiederum erst für das zweite Kriegsjahr<br />
vorgesehen.<br />
Die amerikanischen Planungen konnten<br />
aufgrund des zu erwartenden Verlustes<br />
von fast ganz Europa für die<br />
europäischen Alliierten keine zufriedenstellende<br />
Lösung darstellen. Darum<br />
vermied man auf amerikanischer<br />
Seite bewusst, genaue Absichten für<br />
den Kriegsfall zu äußern. Nur mit<br />
den Vertretern des seit dem Zweiten<br />
Weltkrieg wichtigsten und vertrautesten<br />
Verbündeten Großbritannien<br />
diskutierten die Amerikaner diese<br />
Pläne im Zuge der militärstrategischen<br />
Beratungen der NATO im Herbst<br />
1949. Ansonsten blieben diese Verteidigungspläne<br />
den europäischen Partnern<br />
weitestgehend verborgen.<br />
Die europäischen Vorstellungen<br />
Die politischen Anfänge einer erfolgversprechenden<br />
europäischen Verteidigung<br />
des eigenen Territoriums fanden<br />
durch die Erneuerung der in<br />
der Vergangenheit erfolgreichen Beistandspakte<br />
statt. Großbritannien und<br />
Frankreich unterzeichneten im März<br />
1947 den Dünkirchener Allianz- und<br />
Beistandspakt, der im März 1948 durch<br />
den Beitritt der Benelux-Staaten zum<br />
Brüsseler Vertrag erweitert wurde.<br />
Das erklärte Ziel der so entstandenen<br />
Westunion war es, die Verteidigung am<br />
Rhein undurchdringlich zu machen.<br />
Es entsprach aber nicht dem offensichtlich<br />
mangelhaften Kräftepotential.<br />
Dies ist auch eine Erklärung für<br />
die Zurückhaltung der USA, einen<br />
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Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 19
Westliche Verteidigungsstrategie<br />
Massive Vergeltung (Massive Retaliation)<br />
Die von 1949 bis 1965 gültige NATO-Strategie der Massiven Vergeltung ging von zwei Voraussetzungen aus: Der Warschauer Pakt<br />
war dem westlichen Bündnis konventionell weit überlegen, was die NATO nicht durch Aufrüstung ausgleichen konnte.<br />
Die NATO verfügte jedoch über überlegene atomare Streitkräfte. Deshalb war vorgesehen, auf einen Angriff mit einem massiven<br />
atomaren Gegenschlag zu antworten.<br />
Führungsanspruch für die europäische<br />
Verteidigung zu erheben: »Wir<br />
wünschen nicht, dass ein amerikanischer<br />
Befehlshaber allzu eng mit<br />
den Anfangsoperationen [in Europa]<br />
in Verbindung kommt, die im Ganzen<br />
betrachtet nicht allzu erfolgreich sein<br />
dürften.« Die militärische Führungsrolle<br />
übernahm Großbritannien. Damit<br />
wurde Großbritannien enger in die<br />
kontinentale Verteidigung eingebunden,<br />
wenn auch die militärische Präsenz<br />
der Britischen Rheinarmee mit<br />
einer Infanteriedivision und drei selbstständigen<br />
Brigaden nur bescheiden<br />
ausfiel. Das nationale britische Verteidigungskonzept<br />
konzentrierte sich<br />
allerdings nicht ausschließlich auf<br />
die Bedrohung Westeuropas, sondern<br />
auch, dem eigenen Großmachtanspruch<br />
entsprechend, auf die Sicherung<br />
des britischen Kolonialreichs bzw. des<br />
Commonwealth weltweit. Daher setzte<br />
man auf britischer Seite verstärkt<br />
auf die anglo-amerikanischen Beziehungen,<br />
um insbesondere eine eigene<br />
nukleare Rüstung zu etablieren. Die<br />
enge Bindung an die Amerikaner führte<br />
zwangsläufig zu einer Kontroverse<br />
mit den europäischen Bündnispartnern,<br />
die von diesen internen Strategiegesprächen<br />
weitgehend ausgeschlossen<br />
blieben und dadurch nicht selten<br />
die europäischen Interessen gegenüber<br />
den USA als unzureichend vertreten<br />
sahen.<br />
Frankreich hingegen, dessen staatliche<br />
Existenz im Kriegsfall unmittelbar<br />
bedroht war, musste auf die Verteidigung<br />
der Rheinlinie bestehen. Aber<br />
gerade das wirtschaftlich geschwächte<br />
Frankreich war in einen heftigen Kolonialkrieg<br />
in Indochina verwickelt und<br />
deshalb nicht in der Lage, zur europäischen<br />
Verteidigung ausreichend Truppen<br />
aufzubieten. Daher war man auf<br />
französischer Seite besonders bemüht,<br />
die USA stärker in die Verteidigung<br />
Europas einzubinden.<br />
Auch die Gründung der NATO mit<br />
der Unterzeichnung des Nordatlantikvertrages<br />
am 4. April 1949 änderte<br />
zunächst nichts am Standpunkt der<br />
USA. Die Staaten der Westunion sollten<br />
weiterhin die Verteidigung Kontinentaleuropas<br />
sicherstellen. Weiterhin<br />
bestand eine Diskrepanz zwischen den<br />
hohen Forderungen der Westeuropäer<br />
an die USA und der Bereitschaft bzw.<br />
Fähigkeit, eigene (europäische) Leistungen<br />
bereitzustellen. Die Verteidigungsplanungen<br />
für 1949 sahen eine<br />
Mindeststärke von 34 präsenten und<br />
22 innerhalb eines Monats mobilisierbaren<br />
Divisionen vor – eine Zahl, die<br />
trotz schlechter Ausrüstung und unterbesetzten<br />
Verbänden nicht annähernd<br />
erreicht werden konnte.<br />
Die kurzfristigen Planungen<br />
der NATO<br />
In Wirklichkeit standen am 1. April<br />
1950 für die Verteidigung Westeuropas<br />
insgesamt 17 Divisionen sowie neun<br />
Brigaden respektive Regimenter (maximal<br />
drei zusätzliche Divisionen) zur<br />
Verfügung. Davon waren aber nur acht<br />
Divisionen direkt auf dem Kontinent<br />
stationiert, die restlichen wären erst<br />
frühestens fünfzehn Tage nach der<br />
Mobilmachung vor Ort gewesen. Man<br />
rechnete aber nicht damit, dass der<br />
Gegner diese Zeitspanne gewähren<br />
würde. Zusammen mit den zwei amerikanischen<br />
Besatzungsdivisionen in<br />
der Bundesrepublik und in Österreich<br />
musste sich die Anfangsverteidigung<br />
der NATO zu Lande auf ganze zehn<br />
Divisionen stützen. Diese hätten einen<br />
hoffnungslosen Stand gegen die Rote<br />
Armee gehabt, die alleine in Ostdeutschland<br />
und den angrenzenden<br />
Satellitenstaaten 31 Divisionen disloziert<br />
hatte. Dies war der Rahmen, innerhalb<br />
dessen die NATO planen musste.<br />
Bis 1954 sollten dann die mittelfristigen<br />
Ziele einer Aufrüstung Westeuropas<br />
realisiert sein. Das Grundkonzept<br />
sah daher zum einen den sofortigen<br />
strategischen Luftkrieg durch die USA<br />
vor, also in deren nationaler Verantwortung,<br />
während zum anderen die<br />
Abwehr der sowjetischen Landstreitkräfte<br />
in der Verantwortung der Europäer<br />
lag. Da die Westeuropäer die konventionelle<br />
Verteidigung übernahmen,<br />
konnten die Amerikaner zu wesentlichen<br />
Kompromissen bewegt werden:<br />
Erstens sollte im Sinne der europäischen<br />
Interessen die Verteidigung so<br />
weit wie möglich im Osten erfolgen.<br />
Zweitens konnten die Europäer, die<br />
in der Anfangsphase des Angriffs die<br />
Hauptlast der Verteidigung tragen sollten,<br />
durchsetzen, dass sie so schnell wie<br />
möglich Unterstützung durch die amerikanischen<br />
Streitkräfte erhalten würden.<br />
Mit anderen Worten: die USA<br />
erklärten sich bereit, auf ihr Evakuierungskonzept<br />
zu verzichten.<br />
Doch blieb die Kontroverse über die<br />
augenscheinliche Undurchführbarkeit<br />
der europäischen Strategie – Verteidigung<br />
am Rhein – mit den vorhandenen<br />
Mitteln weiterhin bestehen. Insbesondere<br />
Frankreich und die Benelux-Staaten<br />
beharrten auf Garantien ihrer<br />
territorialen Unversehrtheit. Feldmarschall<br />
Bernard L. Viscount Montgomery<br />
of Alamain and Hindhead, Vorsitzender<br />
im Verteidigungsstab des<br />
Brüsseler Paktes (ab 1949 Stellvertretender<br />
Oberster Alliierter Befehlshaber<br />
in Europa) kam zu dem Schluss,<br />
dass die Verteidigung am Rhein unrealistisch<br />
sei, und plädierte für »einen<br />
geordneten Rückzug als Alternative<br />
zur Vernichtung«.<br />
Da die Kontroverse nie gelöst wurde,<br />
muss festgestellt werden, dass es<br />
im eigentlichen Sinne ein kurzfristiges<br />
Verteidigungskonzept, zumindest ein<br />
erfolgversprechendes, gar nicht gab.<br />
Die Amerikaner zogen hieraus den<br />
Schluss, sich über ihre eigenen Konzepte<br />
weiterhin bedeckt zu halten.<br />
Verstärkungskräfte von acht Divisionen<br />
sollten erst sechs Monate später<br />
bereit gestellt werden. Vergleicht man<br />
dies mit den Einschätzungen von OFF-<br />
TACKLE – dort wurde mit einer Erobe-<br />
20<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
Strategie<br />
3<br />
Feldmarschall<br />
Bernard L. Montgomery<br />
verkörperte das europäische<br />
Verteidigungskonzept. Als<br />
Kriegsheld, hier in seinem mobilen<br />
Hauptquartier, stand er für die<br />
siegreiche Weltmacht Großbritannien<br />
im Zweiten Weltkrieg.<br />
rung Westeuropas bis zu den Pyrenäen<br />
innerhalb von 70 Tagen gerechnet –,<br />
wird deutlich, dass im Ernstfall die<br />
Rheinverteidigung vermutlich ohnehin<br />
obsolet gewesen wäre. Die gebilligte<br />
Sofortverstärkung, eine US-Luftlandedivision,<br />
muss demnach eher als<br />
politische Geste angesehen werden.<br />
Die mittelfristigen Planungen<br />
der NATO<br />
ullstein - ullstein bild<br />
Am 1. April 1950 wurde ein vierjähriges<br />
Aufstellungsprogramm vom<br />
Verteidigungsplanungsausschuss der<br />
NATO akzeptiert. Es bildete den mittelfristig<br />
angelegten Verteidigungsplan<br />
des Bündnisses bis 1954. Dieser<br />
sah vor, innerhalb von 90 Tagen die<br />
sowjetische Offensive am Rhein zum<br />
Stehen gebracht zu haben und den<br />
strategischen Luftkrieg vollständig zu<br />
beginnen. Dabei wurde mit der »Vorwärtsstrategie«<br />
angestrebt, möglichst<br />
wenig NATO-Territorium preiszugeben.<br />
Taktisch wollte man sich hier<br />
nicht auf reine Verteidigungsgefechte<br />
verlassen, sondern selbst die Initiative<br />
durch Defensiv-Offensiv-Operationen<br />
ergreifen. Ebenso von vitaler Bedeutung<br />
war das Offenhalten der Seewege<br />
über den Atlantik, um die amerikanische<br />
Verstärkung zu gewährleisten.<br />
Die militärischen Planer waren dafür<br />
bereit, alles auf eine Karte zu setzten<br />
und alle verfügbaren Kräfte zu nutzen.<br />
Entscheidend war es, in dieser<br />
90-Tage-Frist die Verteidigung aufrecht<br />
erhalten zu können, weil nur so die<br />
Voraussetzung für die erwartete Verstärkung<br />
geschaffen werden konnte.<br />
Die Diskrepanz zu amerikanischen Planungen,<br />
die eine relevante Verstärkung<br />
erst zwölf Monate nach der Mobilmachung<br />
vorsahen, blieb weiterhin bestehen.<br />
Damit wird deutlich, wie sehr<br />
sich ein militärischer Erfolg des westlichen<br />
Bündnisses auf den strategischen<br />
Luftkrieg der USA stützen musste.<br />
Die konkreten Truppenaufstellungen,<br />
die für eine erfolgversprechende Verteidigung<br />
als präsent vorgesehen wurden,<br />
hatten nach den Festlegungen<br />
des Verteidigungsplanungsausschusses<br />
der NATO vom 1. April 1950 den<br />
folgenden Umfang:<br />
• 90 Heeres-Divisionen<br />
• 1000 Kriegsschiffe und 107 U-Boote<br />
• 8000 Flugzeuge.<br />
Dabei ist zu berücksichtigen, dass dies<br />
die Gesamtstärke darstellte, die Zahlen<br />
also für das gesamte NATO-Gebiet<br />
galten. Für die direkte Verteidigung<br />
Westeuropas waren somit, abzüglich<br />
der Kontingente für die europäischen<br />
Flanken und der Verstärkungstruppen,<br />
nur 53 Divisionen – sowohl präsente<br />
Verbände als auch diejenigen, die von<br />
D + 30 (= Kriegsbeginn + 30 Tage)<br />
zu mobilisieren gewesen wären – und<br />
4200 Flugzeuge vorgesehen. Auch diese<br />
Zielvorgaben wurden weiterhin, insbesondere<br />
durch die USA, als besorgniserregend<br />
gering angesehen, dennoch<br />
sollten die Verteidigungsanstrengungen<br />
der Europäer nicht durch »utopische<br />
Planzahlen« im Keim erstickt werden.<br />
So war das Aufstellungskonzept<br />
von Anfang an nur zur Ermittlung der<br />
notwendigen, aber geringst möglichen<br />
Anzahl von Streitkräften ausgelegt.<br />
Um zudem die nun vorgesehene<br />
Vorneverteidigung (forward strategy)<br />
glaubhaft zu machen, mussten von<br />
dem veranschlagten Kräftepotential<br />
von 53 Divisionen gleich 32 Verbände<br />
schon direkt bei Kriegsbeginn präsent<br />
sein. Es gelang der NATO allerdings<br />
weder kurz- noch mittelfristig, dieses<br />
Ziel umzusetzen. Während die USA<br />
und Großbritannien ihren für 1954 vorgesehenen<br />
Anteil von zehn Divisionen<br />
bereits 1951 mit neun in Europa stationierten<br />
Verbänden nahezu erfüllt hatten<br />
und damit das Rückgrat der Verteidigungskräfte<br />
stellten, hinkten die<br />
Kontinentaleuropäer weiter hinterher.<br />
Bis Ende 1951 gelang es gerade, 20<br />
Divisionen bereit zu halten. Da absehbar<br />
war, dass sich an diesem Zustand<br />
auch in den folgenden Jahren, nichts<br />
ändern würde, klaffte weiterhin eine<br />
eklatante Lücke, die durch die Bündnispartner<br />
nicht geschlossen werden<br />
konnte.<br />
In diese Zeit fällt die Diskussion über<br />
den westdeutschen Verteidigungsbeitrag,<br />
der dem deutschen Konzept der<br />
Himmeroder Denkschrift mit zwölf<br />
Divisionen folgend die Lücke passgenau<br />
schließen sollte. Zuerst im Rahmen<br />
der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft<br />
(EVG), nach deren Scheitern<br />
am 30. August 1954 im Verbund<br />
mit der NATO, kam es schließlich auch<br />
zur Umsetzung dieser Vorstellungen.<br />
Die konventionelle Unterlegenheit und<br />
das absehbare Aufbrechen des Nuklearmonopols<br />
machte eine Einbindung<br />
der Bundesrepublik Deutschland in die<br />
westlichen Verteidigungsbemühungen<br />
unerlässlich. Dies führte zur Bewaffnung<br />
der Bundesrepublik und zum<br />
Rollenwechsel der alliierten Truppen<br />
in Westdeutschland von einer Besatzungs-<br />
zu einer Schutzmacht. Ein<br />
wesentlicher Schritt hin zu einer<br />
glaubhaften – auch konventionellen –<br />
Abschreckung wurde mit der Aufstellung<br />
der Bundeswehr vollzogen.<br />
• Oliver Palkowitsch<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 21
Service<br />
Das historische Stichwort<br />
Vor 30 Jahren:<br />
»Gleichberechtigung ist nicht<br />
Die ersten weiblichen<br />
Sanitätsoffiziere sind im<br />
Einsatz bei der Bundeswehr<br />
Gleichmacherei«<br />
3 In ihren Maßuniformen, vom bekannten Modeschöpfer Heinz Oestergaard entworfen und<br />
von der Bielefelder Firma Jobis produziert, glichen sie eher zivilen Stewardessen denn<br />
Bundeswehroffizieren. Uniformfarbe war – für Heer, Luftwaffe und Marine gleichermaßen<br />
– ein helles Blau. Die Schulterstücke mit den Hauptmannssternen und dem Äskulapstab sind<br />
kleiner und eleganter als auf der Männermontur. Frauen durften zu ihrer Uniform Tasche,<br />
Schuhe und Handschuhe nach freier Wahl tragen.<br />
SKA/IMZ<br />
F<br />
rauen im Soldatenrock. Ein<br />
nahezu absurder Gedanke für<br />
viele männliche Angehörige der<br />
Bundeswehr Mitte der 70er Jahre, die<br />
sich häufig noch mit »dem klassischen<br />
Bild eines männlichen Kriegers« identifizierten.<br />
Was die Soldaten vieler<br />
Armeen in der Welt längst gelernt hatten,<br />
begannen nun ihre Kameraden<br />
in der Bundesrepublik allmählich zu<br />
üben: Nämlich nicht zu staunen, wenn<br />
sie plötzlich einem Offizier gegenüberstanden,<br />
der eine Frau war. Ab dem<br />
1. Oktober 1975 konnten approbierte<br />
Ärztinnen, Zahnärztinnen, Tierärztinnen<br />
und Apothekerinnen als Sanitätsoffiziere<br />
aufgrund freiwilliger Verpflichtung<br />
in die Bundeswehr eingestellt<br />
werden.<br />
Der Einsatz von Frauen in den Streitkräften<br />
wurde in der Bundesrepublik,<br />
im Gegensatz zur DDR, zunächst völlig<br />
ausgeschlossen. Nach dem Zweiten<br />
Weltkrieg entstand die Bundesrepublik<br />
Deutschland als Staat ohne Armee<br />
und mit einem Grundgesetz ohne<br />
wehrrechtliche Bestimmungen. Als die<br />
Diskussion über die Wiederbewaffnung<br />
schließlich in der Aufstellung<br />
von Streitkräften in Form einer Wehrpflichtarmee<br />
mündete, wurde auch das<br />
Grundgesetz 1956 der neuen Lage<br />
angepasst. Frauen sollten keinen Dienst<br />
an der Waffe leisten. Im Spiegel<br />
der Erinnerung an die militärischen<br />
Dienste, in die deutsche Frauen in der<br />
damals jüngsten Vergangenheit verwickelt<br />
worden waren, erschien dies<br />
den Vätern und Müttern des Grundgesetzes<br />
als einzige konsequente Entscheidung.<br />
Mit der Einführung des<br />
Artikels 12a in das Grundgesetz im<br />
Rahmen der »Notstandsverfassung«<br />
von 1968 konnten Frauen im Verteidigungsfall<br />
zumindest zu zivilen Aufgaben<br />
herangezogen werden.<br />
Anfang der 70er Jahre zeichnete<br />
sich eine dramatische personelle Unterbesetzung<br />
im Stellenplan der Bundeswehr<br />
gerade im militärärztlichen<br />
Dienst ab. 2900 Sanitätsoffiziere, darunter<br />
2100 Ärzte, benötigte die Bundeswehr<br />
zu Beginn des Jahres 1975.<br />
Von den erforderlichen länger dienenden<br />
1400 Medizinern bei den Soldaten<br />
fehlten damals rund 600. Diese<br />
Posten wurden mit grundwehrdienstleistenden<br />
Jung-Medizinern oder mit<br />
so genannten Zwei-Jahres-Soldaten<br />
besetzt. Durch die ungünstige Altersstruktur<br />
der Bundeswehrärzte – das<br />
Durchschnittalter der Medizinalbeamten<br />
der Bundeswehr lag bei 56 Jahren,<br />
zwei Drittel der Musterungsärzte sollten<br />
bis 1985 aus dem aktiven Dienst<br />
ausscheiden – hatte sich der Bedarf<br />
noch vergrößert. Die Gesundheitsfürsorge<br />
in der Bundeswehr war so<br />
wesentlich beeinträchtigt. Im Hinblick<br />
auf diese Lage reiften auf der Bonner<br />
Hardthöhe ernsthafte Überlegungen,<br />
die Laufbahn der Sanitätsoffiziere auch<br />
für Ärztinnen zu öffnen. Der Leitgedanke<br />
bestand damals darin, dass »die<br />
Bundeswehr nur dann in der Lage<br />
sein wird, genügend tüchtige Ärzte zu<br />
gewinnen und zu halten, wenn das<br />
Berufsbild des Sanitätsoffiziers nicht<br />
weniger anziehend und lohnend ist als<br />
das des Krankenhaus- oder niedergelassenen<br />
Arztes im zivilen Bereich«.<br />
Für die Aufnahme weiblicher Sanitätsoffiziere<br />
als Berufssoldat oder Soldat<br />
auf Zeit wurde festgelegt, dass nur<br />
approbierte Medizinerinnen aufgrund<br />
freiwilliger Verpflichtung als Vorgesetzte<br />
mit Disziplinargewalt eingestellt<br />
würden. Im Sinne gleicher Rechte und<br />
Pflichten für männliche und weibliche<br />
Stabsoffiziere sollten sie hinsichtlich<br />
ihrer Verwendung wie männliche San-<br />
Offiziere behandelt werden.<br />
Nach Beginn des Gesetzgebungsverfahrens<br />
im Frühjahr 1975 traten bereits<br />
am 1. Oktober des Jahres die ersten<br />
fünf weiblichen Sanitätsoffiziere ihren<br />
Dienst als »Seiteneinsteigerinnen« in<br />
der Bundeswehr an. In einer schlichten<br />
Veranstaltung ohne Urkundenverleihungen,<br />
Blumen und Militärmarsch<br />
ernannte Verteidigungsminister Georg<br />
Leber Eva Neuland (Fernmeldeschule<br />
des Heeres, Feldafing), Dr. Angela von<br />
Porthan (Flugmedizinisches Institut<br />
der Luftwaffe, Fürstenfeldbruck), Dr.<br />
Doris von Rottkay (Hochschule der<br />
Bundeswehr, München) und Dr. Eva<br />
Seifert (Sanitätsamt der Bundeswehr,<br />
Bonn-Beuel) zum Stabsarzt. Zuvor hat-<br />
22<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
Die Journalistin Almut Lüder führte mit Generalarzt Dr. Verena von Weymarn im August 2005 kurz vor<br />
deren Pensionierung ein Interview, das wir mit freundlicher Genehmigung der Redaktion INTRANET<br />
aktuell in Auszügen wiedergeben.<br />
Generalarzt Dr. Verena<br />
von Weymarn wurde<br />
unter großer öffentlicher<br />
Beachtung am 1. April<br />
1994 zur ersten »Generalin«<br />
der Bundeswehr. In<br />
ihrer letzten Verwendung<br />
leitete sie als Chefärztin<br />
das Bundeswehrzentralkrankenhaus<br />
in Koblenz.<br />
te er als erste Frau Dr. Sigrid Fuchs<br />
(Flugmedizinisches Institut der Luftwaffe)<br />
zum Oberstabsarzt ernannt.<br />
Weitere 25 Frauen wurden am 1. Januar<br />
1976 vereidigt.<br />
Eine Änderung des Grundgesetzes<br />
als Voraussetzung für die Einstellung<br />
der Frauen wurde nicht notwendig, da<br />
nach dem Genfer Rot-Kreuz-Abkommen<br />
vom 12. August 1949 Angehörige<br />
des Sanitäts- und Militärmusikpersonals<br />
nicht zu den so genannten Kombattanten<br />
einer Armee gehörten und so<br />
auch grundsätzlich nicht an eventuellen<br />
Feindseligkeiten teilnehmen durften.<br />
Somit war lediglich eine entsprechende<br />
Änderung des Soldatengesetzes<br />
erforderlich, die am 9. August 1975 im<br />
Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurde.<br />
Die Einstellung weiblicher Sanitätsoffiziere<br />
gehört zu den großen Ereignissen<br />
»von hohem gesellschaftspolitischen<br />
und historischen Rang« (Verteidigungsminister<br />
Leber) in der Geschichte<br />
der alten Bundesrepublik.<br />
Erstmals hatte eine deutsche Streitmacht<br />
weibliche Offiziere einberufen.<br />
Mit den Entscheidungen des Jahres<br />
1975 hatte sich das Thema »Frauen in<br />
den Streitkräften« aber noch lange nicht<br />
erledigt. Der »Waffenrock« begann sich<br />
seiner rechtmäßigen verbalen Bedeutung<br />
bewusst zu werden. Seit Anfang<br />
der 90er Jahre wurden die Laufbahngruppen<br />
der Unteroffiziere und Mannschaften<br />
für Frauen im Sanitäts- und<br />
Musikdienst geöffnet und seit dem 1.<br />
Januar 2001 sind für Frauen alle Dienstbereiche<br />
der Streitkräfte frei zugänglich.<br />
Den Respekt und die Anerkennung<br />
verdienten sich die Soldatinnen<br />
dadurch, dass sie in all den 30 Jahren<br />
stets von neuem ihre hohe Motivation,<br />
einen ausgeprägten Arbeitswillen,<br />
Teamgeist und Einsatzbereitschaft<br />
unter Beweis stellen.<br />
Richard Göbelt<br />
SKA/IMZ<br />
Mittlerweile sind Frauen 30 Jahre im Sanitätsdienst der Bundeswehr. Sie sind seit 1976<br />
dabei. Wie haben Sie die Anfänge erlebt?<br />
von Weymarn: Ich habe sie eigentlich rein zufällig wahrgenommen. In einer Zeitung las ich,<br />
dass der damalige Verteidigungsminister Leber sich mit seinem Plan durchgesetzt habe, Frauen<br />
in die Bundeswehr aufzunehmen.<br />
Die Zeit war für mich gerade ein Entscheidungszeitraum. Was mache ich? Familie hatte ich,<br />
zwei Kinder, Examen, Dr.-Arbeit, alles war gelaufen. Die Frage stellte sich, gehe ich in die<br />
Praxis, gehe ich in die Klinik oder in den öffentlichen Gesundheitsdienst? Bei Praxis und Klinik<br />
zögerte ich. Dann hätte ich die Treffen mit meiner Familie in den Kalender eintragen müssen.<br />
Öffentlicher Gesundheitsdienst war mir nicht interessant genug. Eigentlich wollte ich, wie<br />
die meisten Mediziner, Patienten betreuen und begleiten.<br />
Ich las den ganzseitigen Artikel über Einstellungen von Frauen in der Bundeswehr. Dann habe<br />
ich meinen Mann angerufen, um ihn zu fragen, ob das was für mich sei. Nun muss man dazu<br />
sagen, dass Militär bei uns zu Hause kein Fremdwort war. Ich habe zwei Brüder, die gedient haben,<br />
mein Stiefvater war im ersten und zweiten Weltkrieg. Militär war ein Thema. Mein Mann und ich<br />
haben ein halbes Jahr nachgedacht und recherchiert. Im März 1976 habe ich mich beworben. Im<br />
Mai hatte ich die Stelle.<br />
Wurden Sie als eine der ersten Frauen als kleines Wunder in der Männerriege angesehen?<br />
von Weymarn: Wunder will ich nicht sagen. Schon zu meinen Studienzeiten waren ein Drittel<br />
aller ärztlichen Mitarbeiter Frauen. Neu waren Frauen in der Kaserne mit Dienstgrad. Ja, ich war<br />
die erste und einzige Frau, die zuständig war für Soldaten im weitesten Sinne.<br />
Das war mehr für die männlichen Kameraden eine Umstellung als für mich. Ein männlicher<br />
Patient ist für einen Mediziner auch kein Weltwunder, sondern irgendein Patient, der mit einem<br />
Anliegen kommt. Natürlich musste ich in den militärischen Gepflogenheiten sehr viel dazu lernen,<br />
aber das war alles im Rahmen des Machbaren.<br />
Inwiefern haben Frauen das Bild der Bundeswehr verändert?<br />
von Weymarn: Das müssten Sie eigentlich eher die Männer fragen, denn deren Welt ist ja verändert<br />
worden, nicht meine. Meine hat eine männlichere Variante gekriegt im beruflichen Umfeld.<br />
Die Bundeswehr ist eine flexible Institution, die sich Herausforderungen und Veränderungen sehr<br />
schnell stellt und versucht, sie zum normalen Alltag zu machen.<br />
Fühlten Sie sich unter Druck gesetzt?<br />
von Weymarn: Überhaupt nicht. In jedem Bereich, in dem geordnet gearbeitet werden muss, muss<br />
man seine Arbeitsabläufe ordnen oder es gibt Vorgaben von Vorgesetzten. Das ist in einer zivilen<br />
Klinik genauso wie beim Militär, nur die Rahmenbedingungen sind ein bisschen anders.<br />
Haben sich Ihre anfänglichen Erwartungen, die Sie an die Bundeswehr hatten, erfüllt?<br />
von Weymarn: Sonst wäre ich nicht Berufssoldat geworden. Ich habe doch schnell gemerkt, dass<br />
man verschiedene Felder abdecken muss: Menschen führen, anleiten und begleiten. Da man auch<br />
dafür sorgen muss, dass die Leute ausgebildet und fortgebildet werden, muss man sich um Menschen<br />
kümmern, damit sie ihren Weg innerhalb ihres Dienstgrades gehen können.<br />
Wenn man dann später selbst Chef einer Einheit ist, dann ist es erstaunlich, um was man sich da<br />
alles kümmern muss. In einer Klinik muss man sich nicht um Fahrzeuge und Munition kümmern.<br />
Letztlich ist man die Nummer 1 und verantwortlich für einen Haushalt mit sehr viel Geld.<br />
Warum hat sich die Bundeswehr generell so spät für Frauen geöffnet?<br />
von Weymarn: Es wäre ja nicht bereits ein Jahr nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs<br />
gekommen, wenn der Plan nicht schon in den Schubladen gelegen hätte. Wahrscheinlich wurde<br />
politisch auf den günstigsten Moment gewartet.<br />
Aber eben spät?<br />
von Weymarn: Der Sanitätsdienst wurde immer vorgeschickt, wir waren in Kambodscha die ersten,<br />
die in den Auslandsdienst geschickt wurden. Warum? Weil wir Nicht-Kombattanten waren.<br />
Warum hat man Soldaten Medizin studieren lassen? Nicht nur, weil man der Gesellschaft Gefallen<br />
tun wollte, sondern weil ein erheblicher Bedarf da war.<br />
Warum hat man Frauen im Sanitätsdienst der Bundeswehr zugelassen? Weil ein Drittel der Mediziner<br />
Frauen waren und man auf dieses Potential nicht verzichten konnte. Politisch lässt sich so<br />
ein Schritt gut verwerten, gleichgültig welcher Couleur die Regierung ist. Tatsache war, dass die<br />
Bundeswehr als eine der letzten Armeen war, die Frauen zuließ. Es war eine chronologische Folge,<br />
die durch äußere Umstände beschleunigt wurde.<br />
Wenn Sie eine Prognose wagen, wann wird es die erste Generalinspekteurin geben?<br />
von Weymarn: Bei uns dauert das noch lange. Da sind uns andere Länder weit voraus. Die Franzosen<br />
haben eine Verteidigungsministerin. Wir haben in der Truppe jetzt die ersten Frauen im Hauptmannsrang.<br />
Das ist noch ein gewaltiger Weg. Das dauert locker noch 20 Jahre. Und das ist auch gut<br />
so. Bitte jetzt keine Frauen zum Vorzeigen und »Dahinpushen«<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 23
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Und auch während der Umbrüche<br />
selbst, also in Zeiten von, modern ausgedrückt,<br />
»failed states«, gab es deutsches<br />
Militär oder zumindest militärische<br />
Erscheinungsformen: Bürgerkriegsverbände,<br />
ob revolutionär oder<br />
reaktionär, Bürgerwehren und Freikorps.<br />
Hinzu kommen – um die Dinge<br />
noch etwas zu komplizieren – teils nicht<br />
staatlich, teils regional, teils von ausländischen<br />
Besatzungsmächten organisierte<br />
(para)militärische Grenzschutzverbände<br />
und Milizen, beispielsweise<br />
Grenzwacht, Dienstgruppen, Bundesgrenzschutz,<br />
Kasernierte Volkspolizei.<br />
Die militärgeschichtlich relevante<br />
Archivlandschaft ist ein Spiegel dieser<br />
Entwicklungen. Sie ist anders als<br />
in anderen Ländern, etwa Frankreich,<br />
Spanien oder Großbritannien, weitestgehend<br />
dezentral organisiert. Dass<br />
man im Internet nicht einfach die<br />
Akten, beispielsweise als pdf-Datei,<br />
nline<br />
K<br />
ürzlich fragte ein Anrufer aus<br />
Australien, der sich mit bestimmten<br />
Aspekten deutscher<br />
Militärgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert<br />
beschäftigen wollte, welches<br />
Archiv er denn dazu besuchen müsse.<br />
Als ich erst einmal stutzte, fragte er entnervt:<br />
»Sie haben doch in Berlin sicher<br />
ein Nationalarchiv mit einer Kriegsabteilung?!«<br />
Das Gespräch wurde länger<br />
und vermutlich aus Australien auch<br />
recht teuer.<br />
Ein zentrales Archiv zur deutschen<br />
Militärgeschichte gibt es eben nicht.<br />
Das liegt nicht an den Archiven, sondern<br />
an der deutschen Militärgeschichte.<br />
Sie ist komplex, zumindest so komplex,<br />
wie die Geschichte der deutschen<br />
Staaten. Schließlich ist reguläres Militär<br />
an die jeweilige – im deutschen Fall<br />
höchst unterschiedliche – Staatsmacht<br />
gebunden. So finden sich in Deutschland<br />
die verschiedensten Spielarten<br />
von Militär: Diese reichen von den<br />
Heeren der deutschen Klein- und Mittelstaaten<br />
über gemeinsame Unternehmungen,<br />
wie die Marine des Deutschen<br />
Bundes, bis zu Kontingentsarmeen<br />
unter Führung eines<br />
gemeinsamen kaiserlichen<br />
Kommandos. Man findet<br />
Armeen im Stile einer levée<br />
en masse, aber auch kleine,<br />
hoch professionalisierte<br />
Kaderarmeen, wie das<br />
»100 000-Mann-Heer« der<br />
Reichswehr. Deutsche Soldaten<br />
findet man (betrachtet<br />
man selbst nur diejenigen<br />
deutschen Soldaten in deutschen<br />
Diensten) unter den denkbar un-<br />
terschiedlichsten Herrschaftsformen:<br />
Deutsche Soldaten dienten im Verlauf<br />
der Geschichte in absoluten und konstitutionellen<br />
Monarchien, in braunen<br />
und roten Diktaturen, in präsidialen<br />
und parlamentarischen Demokratien.<br />
Nach jedem Umbruch – ob in Folge<br />
eines verlorenen Krieges oder einer<br />
Revolution – musste sich das Militär in<br />
seinem Verhältnis zu Staat und Gesellschaft<br />
neu definieren oder anders ausgedrückt,<br />
sich erst im neuen politischen<br />
System verorten.<br />
abrufen kann, erklärt sich aus der<br />
Masse des Archivgutes, aber auch<br />
Gründe des Persönlichkeitsschutzes<br />
spielen hierbei eine Rolle. Was bieten<br />
also die Websites der Archive? Führt<br />
das World Wide Web wieder »zusammen,<br />
was zusammen gehört«? Wie<br />
sieht sie also aus, die deutsche militärgeschichtliche<br />
Archivlandschaft im<br />
World Wide Web?<br />
www.gsta.spk-berlin.de<br />
Erst 1867 wurde mit der Verfassung<br />
des Norddeutschen Bundes das Bundeskriegswesen<br />
ganz in die Hand des<br />
Königs von Preußen gelegt. Daher<br />
müssen wir uns zuerst in die regionalen<br />
Bereiche begeben. Wer an deutsches<br />
Militär denkt, denkt zuerst an Preußen.<br />
Unter www.gsta.spk-berlin.de findet<br />
man das Geheime Staatsarchiv Preußischer<br />
Kulturbesitz. Eine übersichtliche<br />
Navigation führt den militärgeschichtlich<br />
interessierten Nutzer schnell über<br />
den Menüpunkt »Bestände« zur Preußischen<br />
Armee. So finden sich beispielsweise<br />
unter »Militärverwaltung<br />
und Truppenführung« die Bestände<br />
des Großen Generalstabs. Angegeben<br />
sind laufende Aktenmeter, das entsprechende<br />
Findbuch sowie Verweise<br />
auf verwandtes Archivgut. Eine Suchfunktion<br />
führt mittels Schlagworten<br />
zur entsprechenden Bestandsbeschreibung.<br />
Von 1662 bis 1944 liegen die<br />
preußischen Militärkirchenbücher im<br />
Geheimen Staatsarchiv. Sucht man also<br />
nach Akten zu Militärpersonen, so ist<br />
das Geheime Staatsarchiv eine wichtige<br />
Anlaufstelle. Etwas versteckt kommt<br />
man über den Menüpunkt »Rückblick/<br />
Vorschau« zu »Literatur«. Dies ist eine<br />
wahre Fundgrube: Es sind hier nicht<br />
nur Titel aus dem Geheimen Staatsarchiv,<br />
sondern auch Arbeiten über<br />
Archivbestände zu finden. Ein sachlicher,<br />
aber angenehm moderner Auftritt.<br />
Leider ist jedoch die Bibliothek<br />
des Archivs noch nicht online.<br />
www.gda.bayern.de<br />
Zur bayerischen Militärgeschichte benötigt<br />
man Akten aus dem Bayerischen<br />
Hauptstaatsarchiv. Die Abteilung IV ist<br />
in München das Kriegsarchiv. Dessen<br />
Auftritt beschränkt sich leider auf nur<br />
drei Seiten: eine kurze Geschichte des<br />
Archivs und eine kurze Beschreibung<br />
der Bestände. Der Auftritt<br />
entspricht nicht neuesten<br />
Standards, eine Suchfunktion<br />
oder Literaturhinweise<br />
findet man nicht. Um<br />
so interessanter sind die<br />
Bestände vor Ort: Insbesondere<br />
die Truppenakten<br />
des Ersten Weltkrieges (die<br />
preußischen Truppenakten<br />
verbrannten größtenteils<br />
im Heeresarchiv bei der Bombardierung<br />
Potsdams 1944), die Akten des<br />
bayerischen Kriegsministeriums, die<br />
auch eine Parallelüberlieferung zu fehlenden<br />
preußischen Akten darstellen,<br />
und nicht zuletzt die Kriegsranglisten<br />
und -stammrollen mit über 22 790 Bänden<br />
bilden eine solide Grundlage für<br />
Militärhistoriker.<br />
www.sachsen.de<br />
Über www.sachsen.de findet man die<br />
Website des Sächsischen Hauptstaatsarchivs.<br />
Die Beständeübersicht erreicht<br />
24<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
man dort gut und komfortabel. Sie<br />
ist mit dem Bundesarchiv verlinkt. Es<br />
findet sich sowohl eine Suchfunktion<br />
als auch etwas versteckt unter dem<br />
Menüpunkt »2.3.8 Militär« ein Überblick<br />
über militärgeschichtlich relevante<br />
Findbücher. Das Archiv in Dresden<br />
beherbergt etwa Akten des Geheimen<br />
Kriegsrats, aber auch solche von Verbänden<br />
und Truppenteilen der Sächsischen<br />
Armee oder, für Personenrecherchen<br />
interessant, die Akten der<br />
sächsischen Militärkirchengemeinden<br />
von 1884 bis 1920.<br />
www.landesarchiv-bw.de<br />
Die Website des Landesarchivs Baden-<br />
Württemberg www.lad-bw.de führt<br />
zum Generallandesarchiv Karlsruhe.<br />
Hier finden sich die Bestände der Badischen<br />
Armee. Die badischen Regimenter<br />
können ab 1858 bearbeitet werden.<br />
Auch zu Personalia findet sich hier bis<br />
1870 einiges. Das Angebot der Seite ist<br />
sehr umfangreich, die Bestände sind<br />
genau<br />
digital<br />
beschrieben und teilweise sind<br />
hier sogar bereits Findbücher ins Netz<br />
gestellt worden. Ein Musterauftritt aus<br />
dem »Musterländle« – nur die Navigation<br />
ist noch gewöhnungsbedürftig, da<br />
etwas umständlich.<br />
www.bundesarchiv.de<br />
Für die Zeit ab 1867, spätestens ab<br />
der deutschen Nationalstaatsgründung<br />
1870, erreicht man auch bei den<br />
Archiven die nationale Ebene. Das<br />
Bundesarchiv-Militärarchiv (Freiburg<br />
i. Br.) präsentiert sich im Web unter<br />
www.bundesarchiv.de. Die Abteilung<br />
»MA«, wie Militärarchiv, ist der richtige<br />
virtuelle Ort für den Militärhistoriker.<br />
Im Bundesarchiv-Militärarchiv<br />
findet sich Archivgut zur Preußischen<br />
Armee ab 1867, zu den Sreitkräften<br />
des Norddeutschen Bundes, zur kaiserlichen<br />
Marine, zu den Schutztruppen<br />
und den Freikorps, zur Reichswehr,<br />
Wehrmacht und Waffen-SS, zu deutschen<br />
Arbeitseinheiten im Dienst der<br />
Alliiertensowie zur Nationalen Volksarmee<br />
und zur Bundeswehr. Oberfläche<br />
und Navigation sind sehr übersichtlich<br />
und nutzerfreundlich gestaltet. Die<br />
Suchfunktion ist schnell und effektiv.<br />
Zu den Beständen gibt es viele zusätzliche<br />
Informationen. Es wird über den<br />
Bestand selbst, dessen Überlieferung<br />
und Erschließungsstand informiert.<br />
Teilweise gibt es auch bereits Online-<br />
Findbücher. Der Bibliothekskatalog der<br />
Freiburger Archivsbibliothek ist ebenfalls<br />
per Internet nutzbar.<br />
www.dd-wast.de<br />
Geht es jedoch um Personenrecherchen,<br />
insbesondere zum Zweiten Weltkrieg,<br />
so sollte man sich an die Deutsche<br />
Dienststelle zur Benachrichtigung<br />
der nächsten Angehörigen von Gefallenen<br />
der ehemaligen deutschen Wehrmacht<br />
(WASt) wenden. Neben einer<br />
Zentralkartei mit über 18 000 000 Karteikarten<br />
von Teilnehmern des Zweiten<br />
Weltkriegs finden sich in Berlin die<br />
Erkennungsmarkenverzeichnisse, Personalunterlagen<br />
der deutschen Marine<br />
von 1871 bis 1947 (!) und auch Personalunterlagen<br />
der deutschen Wehrmacht.<br />
Wichtig ist auch die Zentralgräberkartei<br />
über Kriegssterbefälle mit Meldungen<br />
zu beiden Weltkriegen. Die<br />
WASt erreicht man im Internet über<br />
www.dd-wast.de. Die Seite ist dreisprachig<br />
(deutsch, englisch, französisch)<br />
und gut handhabbar. Suchanträge<br />
können über ein standardisiertes<br />
Formblatt unkompliziert erfolgen.<br />
Insgesamt bieten das Bundesarchiv<br />
und die Landesarchive sowie das<br />
Geheime Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz<br />
und die WASt gute Recherchemöglichkeiten<br />
über das World Wide<br />
Web. Lediglich das Bayerische Hauptstaatsarchiv<br />
hat hier noch Nachholbedarf.<br />
Der Gang ins Archiv wird aber<br />
nach wie vor zur Arbeit des Militärhistorikers<br />
gehören.<br />
aak<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 25
Service<br />
Lesetipp<br />
50 Jahre Bundeswehr<br />
Rolf Clement,<br />
Paul Elmar Jöris,<br />
50 Jahre Bundeswehr<br />
1955–2005.<br />
Hamburg, Berlin,<br />
Bonn 2005.<br />
ISBN 3-8132-0837-0;<br />
288 S.,<br />
29,00 €<br />
Was sich dem Leser auf den ersten<br />
Blick wie ein bunt bebildertes<br />
»Jubelbuch« zu 50 Jahren Bundeswehr<br />
präsentiert, entpuppt sich bei genauerem<br />
Hinsehen bald als mehr:<br />
Eingebettet in die Grundlinien der<br />
Sicherheitspolitik und die jeweiligen<br />
NATO-Strategien wird der Leser durch<br />
die Geschichte unserer Streitkräfte<br />
geführt. So zeichnen die Autoren im<br />
ersten Teil des Buches die »große«<br />
Entwicklung innerhalb des Bündnisses<br />
nach. Im zweiten Teil werden<br />
die Hauptwaffensysteme, die Teilstreitkräfte<br />
und Organisationsbereiche dargestellt.<br />
Die Bundeswehr wird als<br />
Teil der Gesellschaft der Bundesrepublik<br />
Deutschland betrachtet. Somit werden<br />
auch heiklere Themen wie Proteste<br />
gegen die »Wiederbewaffnung«,<br />
die Notstandsgesetzgebung, aber auch<br />
Affären in der Bundeswehr thematisiert.<br />
Dieser breite Ansatz ist wohltuend.<br />
Schließlich hebt doch gerade<br />
die Einbindung in ihre rechtlichen und<br />
politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
die Bundeswehr innerhalb<br />
der deutschen Streitkräfte heraus.<br />
aak<br />
Neben historischen Darstellungen<br />
zu den Teilstreitkräften und einzelnen<br />
Aspekten des Einsatzes im Inund<br />
Ausland kommen in den 36 Beiträgen<br />
des Buches Zeitzeugen sowie<br />
sachkundige Autoren aus Diplomatie,<br />
Politik, Militär, Verbänden, Wirtschaft<br />
und Industrie zu Wort. Für den historischen<br />
Überblick sorgt eine Zeitleiste,<br />
die am Textrand mitläuft. Angehörige<br />
fast aller heute im Deutschen<br />
Bundestag vertretenen Parteien ziehen<br />
Fazit anlässlich des 50. Geburtstages<br />
der Bundeswehr. Als »Geburtstagsgeschenk«<br />
wünscht einer der Autoren<br />
Rainer Huhle (Hrsg.),<br />
50 Jahre Bundeswehr. Bonn, 2004.<br />
ISBN 3-9809680-1-4;<br />
286 S., 32,00 €<br />
des Bandes der Bundeswehr das lange<br />
angekündigte Weißbuch. Und wird<br />
etwa im Beitrag über »Filzlaus und<br />
Affenjacke« die Geschichte der Uniformen<br />
beschrieben, bieten die folgenden<br />
Beiträge zum »modularen Bekleidungssystem«<br />
und zum »Infanterist<br />
der Zukunft« die zukunftsbezogene<br />
Anknüpfung. Interesse findet sicher<br />
auch ein Beitrag zu »Bundeswehr und<br />
Wirtschaft«, dessen Autor nach dem<br />
reduzierungsbedingten Verlust des Gewichts<br />
der Bundeswehr als »direkter<br />
Arbeitergeber« einen Ausgleich durch<br />
erhöhte Investitionen in die Privatwirtschaft<br />
sieht. Insgesamt erscheint<br />
der Band nicht aus einem Guss zu<br />
sein, kann aber durch die Auswahl der<br />
Autoren und viele Bezüge zur Zukunft<br />
der Bundeswehr überzeugen.<br />
hb<br />
In der Reihe der Jubiläumsbände fällt<br />
dieses Buch als reiner Bildband auf.<br />
Nach einer kurzen historischen Einleitung<br />
folgen die Kapitel zu den Teilstreitkräften,<br />
der Streitkräftebasis und<br />
dem Sanitätsdienst, zur Verwaltung,<br />
zur internationalen Zusammenarbeit,<br />
zu »Retten und Helfen« und den unterschiedlichen<br />
Bereichen des Einsatzes.<br />
Der Band kommt mit Bildern der Erinnerung<br />
an den Zweiten Weltkrieg und<br />
an den Widerstand gegen den Nationalsozialismus<br />
am Ende zum Gründungsmythos<br />
der Bundeswehr. Historische<br />
Abbildungen zur Bundeswehr<br />
sind wenige vorhanden. Im Vordergrund<br />
steht die »Armee im Einsatz«<br />
mit hervorragenden Bildern und drei-<br />
sprachigen Texterläuterungen. Heute<br />
ein Dokument der Bundeswehr im<br />
fünfzigsten Jahr ihres Bestehens und<br />
morgen eine historische Bildquelle von<br />
beeindruckender Qualität.<br />
hb<br />
Paul Carell<br />
Gerhard<br />
Hubatschek (Hrsg.),<br />
Bundeswehr.<br />
50 Jahre Einsatz<br />
für den Frieden,<br />
Bonn 2005.<br />
ISBN 3-932385-19-5;<br />
192 S.,<br />
38,00 €<br />
Wigbert Benz,<br />
Paul Carell. Ribbentrops<br />
Pressechef Paul Karl<br />
Schmidt vor und<br />
nach 1945,<br />
Berlin 2005.<br />
ISBN 3-86573-068-X;<br />
112 S.,<br />
16,80 €<br />
Paul Carell erscheint seriös wissenschaftlich<br />
Schaffenden wie engagiert<br />
Lehrenden gleichzeitig als jahrzehntelanges<br />
Ärgernis und Phänomen.<br />
Als Paul Karl Schmidt schaffte er einen<br />
kometenhaften Aufstieg im nationalsozialistischen<br />
Außenministerium. Trotz<br />
seiner NS-Vergangenheit avancierte er<br />
unter dem neuen Namen Carell zu<br />
einem bedeutenden Meinungsmacher<br />
der jungen Bundesrepublik. Redakteurstätigkeiten<br />
bei diversen westdeutschen<br />
Zeitungen und beste Beziehungen<br />
zu Medienzaren wie Axel Cäsar<br />
Springer ermöglichten es Schmidt/<br />
Carell zeitlebens, »Vergangenheitsbewältigung«<br />
zu betreiben, die auf die<br />
Reinwaschung und Rechtfertigung der<br />
Deutschen unter Hitler hinauslief. Mit<br />
Büchern über Stalingrad und die Wehrmacht<br />
erreicht(e) er eine Öffentlichkeit,<br />
die nicht viel wissen wollte von individueller<br />
Verantwortung im verbrecheri-<br />
26<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
schen nationalsozialistischen Regime,<br />
wohl aber von der scheinbaren individuellen<br />
Ausweglosigkeit unter der Diktatur.<br />
Dazu benutzte Schmidt/Carell<br />
Phrasen wie jene von der »Pflichterfüllung«<br />
gleichermaßen wie die von<br />
einem scheinbar noch zu findenden<br />
»Heldentum«. Benz deckt die skrupellose<br />
Infamie, mit der Schmidt/Carell<br />
seine Karriere betrieb, ebenso auf wie<br />
den bigotten Opportunismus, der<br />
durch das gesellschaftliche Umfeld<br />
ermöglicht wurde. Der Autor legt den<br />
Finger in die Wunde der angeblichen<br />
Vergangenheitsbewältigung in unserem<br />
Land, indem er die »Erfolgsgeschichte«<br />
von Schmidt/Carell in der<br />
braunen Diktatur ebenso wie in der<br />
Bonner/Berliner Republik kurz, aber<br />
präzise und lesenswert aufzeichnet.<br />
John Zimmermann<br />
Imperien<br />
Herfried Münkler,<br />
Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom<br />
Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten,<br />
Berlin 2005.<br />
ISBN 3- 871-34509-1;<br />
332 S., 19,90 €<br />
Die europäische Erfahrung des<br />
20. Jahrhunderts mit imperialer<br />
Macht und deren Verlust erinnert vor<br />
allem an sinnlosen Krieg, Massenvertreibung<br />
und Massenmord. Herfried<br />
Münkler leitet in seinem Buch aus<br />
dieser spezifisch europäischen imperiumskritischen<br />
Haltung allerdings keine<br />
allgemeingültige Position für imperiale<br />
Herrschaft ab. Die Kernfrage Münklers<br />
lautet: »Ist die Weltgemeinschaft zu<br />
ihrer eigenen Sicherheit auf eine imperiale<br />
Vormacht angewiesen? Oder stellt<br />
diese imperiale Vormacht eine gravierende<br />
Störung der Weltordnung dar,<br />
so dass es besser wäre, wenn es sie<br />
nicht gäbe?« Die Analyse des Autors<br />
zur inneren Logik imperialer Herrschaft<br />
zeichnet sich durch ihre historische<br />
Tiefe bei gleichzeitiger Diskussion<br />
möglicher Entwicklungen in der<br />
Zukunft aus. In sechs Kapiteln befasst<br />
sich Münkler zunächst mit der Definition<br />
des Begriffs Imperium und seiner<br />
Abgrenzung von Hegemonie und<br />
Imperialismus. Er teilt die Imperialherrschaft<br />
in verschiedene Typen ein<br />
(Steppenimperien, Seereiche, Handelsmächte),<br />
benennt dann die Zivilisierungsmission<br />
und die offenen Grenzen<br />
als Merkmale imperialer Ordnung und<br />
ergründet das regelmäßige Scheitern<br />
der Imperien an Überdehnung und an<br />
der »Macht der Schwachen«. Das Buch<br />
diskutiert am Ende das heutige imperiale<br />
Handeln der USA und die dadurch<br />
gestellten Herausforderungen für Europa.<br />
Karten, zahlreiche Anmerkungen<br />
und Literaturhinweise schließen<br />
die anspruchsvolle, aber immer spannende<br />
und anregende Lektüre ab.<br />
Richard Göbelt<br />
Südosteuropa<br />
Ausgewiesene Spezialisten präsentieren<br />
die Geschichte Südosteuropas<br />
in 544 Stichwörtern von A<br />
wie »Annexionskrise« über »Geheimbünde«<br />
und »Militärgrenze« bis Z wie<br />
»Zwangsmigration«. Wer wissen will,<br />
was es mit der »Knabenlese« oder der<br />
»Schwäbischen Türkei« auf sich hat,<br />
wird hier auf dem neuesten Stand der<br />
Forschung informiert. Neben Slowaken,<br />
Slowenen oder Serben findet der<br />
Leser auch oft vernachlässigte Völker.<br />
Wissen Sie z.B., wo die Aromunen<br />
oder die Ruthenen leben und haben<br />
Sie schon von den Pomaken in Südbulgarien<br />
und Nordgriechenland gehört?<br />
Ob als Soldat auf dem Balkan, als<br />
Student der europäischen Geschichte<br />
oder einfach als interessierter Zeitgenosse:<br />
Wer sich fundiert mit Südosteuropa<br />
beschäftigen möchte, dem hilft<br />
ein Blick in das Lexikon, sich in den<br />
»Schluchten des Balkan« zurechtzufinden.<br />
aak<br />
Belletristik<br />
Edgar Hösch,<br />
Karl Nehring,<br />
Holm Sundhaussen (Hrsg.),<br />
Lexikon zur Geschichte<br />
Südosteuropas,<br />
Wien, Köln, Weimar 2004.<br />
ISBN 3-8252-8270-8;<br />
770 S.,<br />
34,90 €<br />
In ihrem literarischen Debüt greift die<br />
Potsdamer Autorin eine bislang in<br />
der Belletristik zur sogenannten Wende<br />
eher ungewöhliche Facette auf. Erzählt<br />
wird die Geschichte der 19-jährigen<br />
Tilli, die mit anderen jungen Erwachsenen<br />
im Jahre 1990 ihr Abitur in einer<br />
Schule auf dem Gelände des NVA-<br />
Stützpunktes Lehnitz nachholen will;<br />
das Lehrpersonal hatte vor 1990 NVA-<br />
Zeitsoldaten auf die Höhere Reife vorbereitet.<br />
Die Protagonistin verliebt sich<br />
in den Klassenprimus Christian, den<br />
ein dunkles Geheimnis umgibt. Es<br />
hängt mit seiner Vergangenheit als<br />
Soldat bei den Grenztruppen zusammen.<br />
Da sich die jungen Zivilistinnen<br />
und Zivilisten auf noch-militärischem<br />
Gelände bewegen, kommt es zu einigen<br />
amüsanten Verwicklungen. Die<br />
Figuren nehmen überraschend wenig<br />
Anteil an den politischen Umwälzungen<br />
um sie herum. Trotzdem: Wer zwischen<br />
den Zeilen zu lesen vermag, wird<br />
auch in dem scheinbar unpolitischen<br />
Verhalten die Zeichen der Zeit erkennen.<br />
Der Roman ist spannend zu lesen,<br />
die Handlung schreitet rasch voran.<br />
Vielleicht zeichnet den Text noch ein<br />
Merkmal aus: Er trägt autobiographische<br />
Züge.<br />
mt<br />
Christine Anlauff,<br />
Good Morning, Lehnitz.<br />
Roman, Berlin 2005.<br />
ISBN 3-378-00661-7;<br />
366 S., 19,90 €<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 27
Service<br />
Ausstellungen<br />
• B e r l i n<br />
10 Jahre<br />
Luftwaffenmuseum<br />
der<br />
Bundeswehr in<br />
Berlin-Gatow<br />
Luftwaffenmuseum<br />
der Bundeswehr<br />
Kladower Damm 182<br />
14089 Berlin Gatow<br />
Telefon: (0 30) 36 87 26 01<br />
Telefax: (0 30) 36 87 26 10<br />
www.luftwaffenmuseum.de<br />
e-mail:<br />
LuftwaffenMuseumBwEingang@<br />
bundeswehr.org<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
9.00 bis 17.00 Uhr<br />
(letzter Einlass 16.00 Uhr)<br />
Eintritt frei<br />
23. September 2005 bis<br />
5. März 2006<br />
Eingang: Ritterfelddamm/<br />
Am Flugplatz Gatow<br />
Bernhard Heisig:<br />
Die Wut der Bilder<br />
Martin-Gropius-Bau Berlin<br />
Niederkirchner Str. 7<br />
10963 Berlin<br />
Telefon: (0 30) 25 48 60<br />
www.bernhard-heisig.de<br />
Mittwoch bis Montag<br />
10.00 bis 20.00 Uhr<br />
Eintritt: 5,00 €<br />
ermäßigt: 3,00 €<br />
noch bis 29. Januar 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
U-Bahn: U2<br />
(Station »Potsdamer Platz«);<br />
S-Bahn: S1, S2, S25<br />
(Stationen »Potsdamer Platz«<br />
oder »Anhalter Bahnhof«);<br />
Bus: M29<br />
(Haltestelle »S Anhalter<br />
Bahnhof«), 123 (Haltestelle<br />
»Abgeordnetenhaus«),<br />
M41<br />
Die Hugenotten<br />
Deutsches Historisches<br />
Museum - PEI Bau<br />
Hinter dem Gießhaus 3<br />
10117 Berlin<br />
Telefon: (0 30) 20 30 40<br />
Telefax: (0 30) 20 30 45 43<br />
www.dhm.de<br />
Täglich von<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
22. Oktober 2005 bis<br />
12. Februar 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
S-Bahn: Stationen<br />
»Hackescher Markt« und<br />
»Friedrichstraße«; U-Bahn:<br />
Stationen »Französische<br />
Straße«, »Hausvogteiplatz«<br />
und »Friedrichstraße«; Bus:<br />
Linien 100, 157, 200 und 348,<br />
Haltestellen »Staatsoper« oder<br />
»Lustgarten«<br />
Mit Adleraugen<br />
Sonderausstellung des<br />
Aufklärungsgeschwaders 51<br />
»Immelmann« im<br />
Luftwaffenmuseum der<br />
Bundeswehr<br />
25. November 2005 bis<br />
26. März 2006<br />
(siehe Plakat Seite 29)<br />
• D e t m o l d<br />
Entschieden für Frieden.<br />
50 Jahre Bundeswehr<br />
Kreishaus - Kreis Lippe<br />
Felix-Feschenbach-Straße 5<br />
32756 Detmold<br />
Telefon: (0 52 37) 91 20 28<br />
Montag bis Donnerstag<br />
8.00 bis 18.00 Uhr<br />
Freitag<br />
8.00 bis 15.00 Uhr<br />
30. Januar bis<br />
12. Februar 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Ab Hauptbahnhof Detmold<br />
Bus 702 bis Haltestelle<br />
»Kreishaus«<br />
• D o r t m u n d<br />
Aufbau West. Neubeginn<br />
zwischen Vertreibung und<br />
Wirtschaftswunder<br />
Westfälisches<br />
Industriemuseum<br />
Zeche Zollern II/IV<br />
Grubenweg 5<br />
44388 Dortmund<br />
Telefon: (02 31) 6 96 11 11<br />
Telefax: (02 31) 6 96 11 14<br />
www.industriemuseum.de<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
Eintritt: 5,00 €<br />
ermäßigt: 2,00 €<br />
18. September 2005 bis<br />
26. März 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
ÖPNV: U-Bahn-Linie 47<br />
bis Dortmund-Huckarde,<br />
Haltestelle »Bushof«, dann<br />
Bus-Linie 462 Richtung<br />
Dortmund-Marten bis<br />
Haltestelle »Industriemuseum<br />
Zollern«<br />
• E d e n k o b e n<br />
Liebesleid und<br />
Heldentod – Gemälde<br />
des Historismus aus<br />
dem Landesmuseum<br />
Mainz<br />
Schlossverwaltung Villa<br />
Ludwigshöhe<br />
Villastraße<br />
67480 Edenkoben<br />
Telefon: (0 63 23) 9 30 16<br />
Telefax: (0 63 23) 9 30 17<br />
www.landesmuseum-mainz.de<br />
e-Mail: villaludwigshoehe@burgen-rlp.de<br />
Täglich<br />
9.00 bis 17.00 Uhr<br />
geschlossen im<br />
Dezember und am<br />
ersten Werktag<br />
der Woche<br />
Eintritt: 2,60 €<br />
ermäßigt: 1,30 €<br />
9. Oktober 2005 bis<br />
12. Februar 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Pkw: A65, Ausfahrt<br />
Edenkoben. Im Ort der<br />
Beschilderung zur<br />
»Villa Ludwigshöhe«<br />
folgen<br />
• H a l l e (Saale)<br />
Saladin und die<br />
Kreuzfahrer<br />
Landesmuseum für<br />
Vorgeschichte Halle<br />
Richard-Wagner-Str. 9<br />
06114 Halle (Saale)<br />
Telefon: (03 45) 52 47 363<br />
Telefax: (03 45) 52 47 351<br />
www.archlsa.de/saladin<br />
e-mail:<br />
poststelle@lfa.mk.lsa-net.de<br />
Dienstag bis Sonntag,<br />
Feiertage<br />
9.00 bis 19.00 Uhr<br />
Montag nach<br />
Voranmeldung<br />
Eintritt: 6,00 €<br />
ermäßigt: 4,00 €<br />
21. Oktober 2005 bis<br />
12. Februar 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Straßenbahn: Vom Hauptbahnhof<br />
Halle (Saale) mit<br />
der Linie 7 Richtung<br />
Kröllwitz, Haltestelle<br />
»Mozartstraße«<br />
• I n g o l s t a d t<br />
Zerstörungen des<br />
2. Weltkriegs in Ingolstadt<br />
Bayerisches Armeemuseum<br />
– Neues Schloss<br />
Paradestraße 4<br />
85049 Ingolstadt<br />
Telefon: (08 41) 9 37 70<br />
Telefax: (08 41) 9 37 72 00<br />
www.bayerischesarmeemuseum.de<br />
e-mail:<br />
sekretariat@bayerischesarmeemuseum<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
8.45 bis 16.30 Uhr<br />
6. September 2005 bis<br />
2. April 2006<br />
28<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
Landkarten aus dem<br />
Bayerischen Armeemuseum<br />
– seltene Karten<br />
vom 17. bis<br />
20. Jahrhundert<br />
Bayerisches Armeemuseum<br />
- Neues Schloss<br />
Paradeplatz 4<br />
85049 Ingolstadt<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
8.45 bis 16.30 Uhr<br />
7. Juli 2005 bis<br />
26. März 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Mit Öffentlichen Verkehrsmitteln<br />
bis Reduit Tilly,<br />
Parkmöglichkeit in der<br />
Tillygarage<br />
• K a r l s r u h e<br />
Imperium Romanum.<br />
Römer, Christen,<br />
Alamannen – die<br />
Spätantike am Oberrhein<br />
Badisches Landesmuseum<br />
Karlsruhe<br />
Schloss<br />
76131 Karlsruhe<br />
Telefon: (07 21) 9 26 65 14<br />
Telefax: (07 21) 9 26 65 37<br />
www.landesmuseum.de<br />
mail: info@landesmuseum.de<br />
Dienstag bis Sonntag<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
Donnerstag<br />
10.00 bis 21.00 Uhr<br />
Eintritt: 4,00 €<br />
ermäßigt: 3,00 €<br />
22. Oktober 2005 bis<br />
26. Februar 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Vom Hauptbahnhof mit<br />
den Linien 2, S1, S4, S1 bis<br />
Haltestelle »Marktplatz«<br />
Montag geschlossen<br />
Eintritt: 3,50 €<br />
ermäßigt: 2,00 €<br />
11. September 2005 bis<br />
01. Mai 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Von den Kreisstädten<br />
Meiningen und Hildburghausen<br />
kommend, erreicht man<br />
Kloster Veßra über die B 89.<br />
Der Parkplatz für Museumsbesucher<br />
befindet sich in der<br />
Ortslage Kloster Veßra und ist<br />
ca. 150 m vom Eingang des<br />
Museums entfernt<br />
• K ö l n<br />
18. Januar 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Stadtbahn: Linien 6, 12, 13,<br />
15; Bus: Linien 121, 134, 137,<br />
Haltestelle »Neusser Str./<br />
Gürtel«<br />
• M a n n h e i m<br />
Freitag<br />
8.00 bis 12.00 Uhr<br />
23. Februar 2006 bis<br />
14. März 2006<br />
Verkehrsanbindungen:<br />
Stadtbahn: Linie 6, Haltestelle<br />
»Lucas-Cranach-Straße«<br />
• K l o s t e r V e ß r a<br />
Eine feste Burg – Wehrhafte<br />
Kirchen im Henneberger<br />
Land<br />
Hennebergisches Museum<br />
98660 Kloster Veßra<br />
Telefon: (03 68 73) 6 90 30<br />
Telefax: (03 68 73) 6 90 49<br />
www.museumklostervessra.de<br />
e-Mail:<br />
info@museumklostervessra.de<br />
Täglich<br />
10.00 bis 17.00 Uhr<br />
Entschieden für Frieden.<br />
50 Jahre Bundeswehr<br />
Bürgeramt Köln-Nippes<br />
Neusser Str. 450<br />
50733 Köln<br />
Telefon: (02 21) 22 10<br />
Telefax: (02 21) 22 19 54 47<br />
e-Mail: buergeramtnippes@stadt-koeln.de<br />
Montag bis Donnerstag<br />
8.00 bis 16.00 Uhr<br />
Freitag<br />
8.00 bis 12.00 Uhr<br />
21. Dezember 2005 bis<br />
Entschieden für Frieden.<br />
50 Jahre Bundeswehr<br />
Bundesakademie für<br />
Wehrverwaltung und<br />
Wehrtechnik<br />
Seckenheimer Landstraße 12<br />
68163 Mannheim-<br />
Neuostheim<br />
Tel: (06 21) 42 95-0<br />
Fax: (06 21) 42 95 -4 63<br />
e-Mail:<br />
BAkWVT@bundeswehr.org<br />
Montag bis Donnerstag<br />
8.00 bis 16.00 Uhr<br />
mt<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 29
Service<br />
Geschichte kompakt<br />
2. Januar 1956<br />
5. März 1931<br />
Das Einrücken der ersten 1000 Freiwilligen –<br />
die wahre Geburtsstunde der Bundeswehr?<br />
Am 2. Januar 1956 rücken die ersten 1000 Freiwilligen<br />
in drei Standorte der jungen bundesdeutschen<br />
Streitkräfte ein. Ihren Namen »Bundeswehr« erhalten<br />
diese erst im Verlauf politischer Auseinandersetzungen<br />
im Februar 1956. Die Freiwilligen verteilen<br />
sich auf die drei Lehrkompanien der Teilstreitkräfte<br />
von Heer, Luftwaffe und Marine. In Andernach, Nörvenich<br />
und Wilhelmshaven melden sie sich zum<br />
SKA/IMZBw Dienst.<br />
Diese Männer, überwiegend ehemalige Soldaten<br />
der Wehrmacht, sind der Kern für die Aufstellung der Bundeswehr. Nach ihrer<br />
Ausbildung werden sie selbst zu Ausbildern und Vorgesetzten in neu aufzustellenden<br />
Truppenteilen in der ganzen Bundesrepublik.<br />
Am 20. Januar treten die drei Lehrkompanien am Heeresstandort Andernach<br />
zu Ehren des Besuchs von Bundeskanzler Konrad Adenauer gemeinsam an<br />
(siehe Foto). Deswegen gilt Andernach in der öffentlichen Wahrnehmung als<br />
Keimzelle der Bundeswehr.<br />
Die ersten Unterkünfte sind Provisorien. Im Fall von Andernach handelt<br />
es sich um ein von den französischen Streitkräften übernommenes und noch<br />
nach frischer Farbe riechendes Barackenlager. Auch Ausbildungs- und Wehrmaterial<br />
fehlt noch. Waffen und Fahrzeuge werden von den Westmächten, vor<br />
allem den USA, übernommen. Aber auch die Sicherstellung des Bedarfs des<br />
täglichen Lebens funktioniert noch nicht reibungslos. So werden Klagen über<br />
eine nicht ausreichende Verpflegung laut. Ehefrauen von Soldaten beschweren<br />
sich darüber, dass Wehrsold nicht pünktlich bezahlt wird.<br />
Das Einrücken dieser ersten 1000 Freiwilligen bildet den Abschluss der Aufstellungsphase<br />
der Bundeswehr. Am 7. Juni 1955 war aus dem »Amt Blank«<br />
das Bundesministerium für Verteidigung geworden. Am 12. November 1955,<br />
dem 200. Geburtstag des preußischen Militärreformers Gerhard von Scharnhorst,<br />
wurden die ersten 101 Soldaten ernannt. Hierzu schrieb Generalleutnant<br />
Adolf Heusinger in das Diensttagebuch der militärischen Abteilung des Verteidigungsministeriums,<br />
dass diese schlichte Veranstaltung nicht als Geburtsstunde<br />
der neuen Streitkräfte anzusehen sei. Dies sollte aus seiner Sicht der<br />
2. Januar 1956 werden. tl<br />
akg images<br />
»Unterordnen – jewiß! Aber unter wat drunter?«<br />
Uraufführung des »Hauptmanns von Köpenick«<br />
Wenn durch Amtsanmaßung Gehorsam erzwungen wird, spricht<br />
man von »Köpenickiade«. Der Begriff leitet sich von jenem<br />
berühmten Ereignis des Jahres 1906 im Köpenicker Rathaus ab:<br />
Der arbeitslose Schuster Wilhelm Voigt, der bereits mehrere Jahre<br />
in Zuchthäusern zugebracht hatte, macht sich die Uniformgläubigkeit<br />
seiner Zeit zunutze. Als Garde-Offizier verkleidet<br />
und mit einer Abteilung Soldaten, die er unter Berufung auf<br />
allerhöchste Kabinettsorder seinem Befehl unterstellt hat, verhaftet<br />
er den Bürgermeister Köpenicks, lässt ihn nach Berlin<br />
bringen und erleichtert die Stadtkasse um 4000 Mark. Ganz<br />
Deutschland lacht! »Wer die Uniform trägt«, schreibt das Berliner Tageblatt,<br />
»der siegt nicht, weil er besser oder klüger oder vorsichtiger wäre als die<br />
andern, sondern weil er uniformiert ist.« Voigt wird zu vier Jahren Haft verurteilt,<br />
nach zweien jedoch begnadigt.<br />
1931, am 5. März, gelangt der Stoff in der Bearbeitung des Dramatikers Carl<br />
Zuckmayer in Berlin zu Uraufführung. Auch wenn das Stück in keinen Skandal<br />
ausgeartet ist – die nationalsozialistische Presse tobt. Im Jahr zuvor waren<br />
die Nationalsozialisten, die - so Zuckmayer - »die Nation in einen neuen Uniformtaumel<br />
versetzten«, als zweitstärkste Partei in den Reichstag eingezogen.<br />
Die Geschichte war für den Autor gerade zu dieser Zeit »wieder ein Spiegelbild,<br />
ein Eulenspiegel-Bild des Unfugs und der Gefahren, die in Deutschland<br />
heranwuchsen«. Noch 1931 wird das Zuckmayer-Stück als Film adaptiert.<br />
Wohl unvergessen ist jedoch die Verfilmung aus dem Jahre 1956 mit Heinz<br />
Rühmann (siehe Filmplakat) in einer seiner wohl bekanntesten Rollen. mt<br />
Heft 1/2006<br />
Militärgeschichte<br />
<strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung<br />
Ü Vorschau<br />
5 155-mm-Panzerhaubitze M 44 in Idar-Oberstein,<br />
der »Hauptstadt der deutschen Artillerie«<br />
WTS/BWB Koblenz<br />
Während die Jubiläumsfeierlichkeiten zum<br />
fünfzigsten Geburtstag der Bundeswehr gerade<br />
erst beendet sind, beginnen 2006 schon<br />
die nächsten Feiern. Die Jubilare sind die<br />
1956 aufgestellten Teilstreitkräfte: Heer, Luftwaffe<br />
und Marine. Die Redaktion der Militärgeschichte<br />
hat dies zum Anlass genommen,<br />
verstärkt Beiträge zur Geschichte der<br />
Bundeswehr und der Teilstreitkräfte anzubieten.<br />
Im nächsten Heft wird Oberstleutnant<br />
Dr. Hammerich die Geschichte des Heeres<br />
von den Anfängen 1956, von der Motorisierung<br />
über die Mechanisierung bis zur Entmechanisierung<br />
der 1990er Jahre behandeln.<br />
Das Heer ist vielseitig – die Soldaten wissen<br />
das. Effektiv ist es nur im Verbund der Waffen.<br />
Das Heer muss in erster Linie zum<br />
Kampf befähigt sein, daran hat sich nichts<br />
geändert. Daher steht und stand die Kampftruppe<br />
immer im Rampenlicht. General Klaus<br />
Naumann gab 1996 »seinen« Artilleristen<br />
beim Abschied als Generalinspekteur in Idar-<br />
Oberstein folgende Worte mit: »Denken Sie<br />
stets daran, Artillerie ist kein Selbstzweck.<br />
Sie hat immer eine dienende Funktion«. Dies<br />
gilt für alle Soldaten, im Mittelpunkt steht<br />
immer der Auftrag, keine Truppengattung<br />
und keine Teilstreitkraft kann diesen alleine<br />
bewältigen. Für Artilleristen gehört »Bescheidenheit,<br />
Stolz auf die dienende Funktion<br />
bei gleichzeitig größter Wirkung aus der<br />
Deckung« zum Selbstverständnis. Der gesamten<br />
Bundeswehr, die immer enger zusammenrückt<br />
und immer mehr »verzahnt« wird,<br />
steht solch ein Selbstverständnis gut an.<br />
aak<br />
30<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005
Militärgeschichte im Bild<br />
10 Jahre<br />
Balkaneinsätze<br />
Blauhelme<br />
in Kroatien<br />
1995<br />
SKA/IMZ<br />
Ab Juli 1995 begann für die Bundeswehr<br />
ein neues Kapitel der<br />
Einsatzgeschichte. Nachdem<br />
zwei Jahre zuvor schon beim Betreiben<br />
des »German Hospital« in Phnom<br />
Penh/Kambodscha (siehe Militärgeschichte<br />
4/2003) und beim Somalia-<br />
Einsatz die Bundeswehr »out of area«<br />
in buchstäblich »exotische« Regionen<br />
geführt hatte, begann nun der Auftakt<br />
für das deutsche Engagement auf dem<br />
Balkan. Mittlerweile währt es nun<br />
schon seit einem Jahrzehnt. Bei Kroatien<br />
handelte es sich im Sommer 1995<br />
nicht um ein Land in der Nachkriegsund<br />
Stabilisierungsphase. Das Land<br />
befand sich vielmehr mitten im Krieg.<br />
Im Mai 1995 tobten Kämpfe in Ostslawonien,<br />
die »Republika Srpska« in der<br />
Krajina hatte sich von Kroatien losgelöst<br />
und sich für unabhängig erklärt.<br />
Für das deutsche Einsatzkontingent<br />
bestand anfangs sogar eine theoretische<br />
Bedrohung durch Raketen aus der<br />
Krajina.<br />
Der Beschluss des Deutschen Bundestages<br />
vom 30. Juni 1995 legte die<br />
Grundlage für den Einsatz der Bundeswehr<br />
im Zusammenhang mit dem<br />
Konflikt im zerfallenden Jugoslawien.<br />
Dazu wurde zur Unterstützung der<br />
im Einsatzgebiet versammelten UNPF<br />
(United Nations Protection Force) ein<br />
deutsches Feldlazarett im Raum Split<br />
stationiert. Das Erkundungskommando<br />
dieses ersten Bundeswehr-Kontingents<br />
auf dem Balkan traf am 10. Juli<br />
auf dem Flughafen in Split ein. Währenddessen<br />
erreichte der Balkankonflikt<br />
am 11. Juli mit dem Massaker<br />
in Srebrenica einen traurigen Höhepunkt.<br />
Zur gleichen Zeit, ab dem 12.<br />
Juli, begann die Einsatzausbildung des<br />
deutschen Einsatzkontingents in Hammelburg.<br />
Von Anfang an war der Einsatz multinational<br />
ausgelegt. So befand sich eng<br />
an das Feldlazarett angekoppelt eine<br />
französische Einheit: »ATSA« (»Antenne<br />
de transit sanitaire aérien«). Soldaten<br />
des Sanitätsdienstes der französischen<br />
Luftwaffe hätten im Falle<br />
eines Massenanfalls an Verwundeten<br />
eine schnelle »Triage« vorzunehmen<br />
gehabt: zwischen Leichtverwundeten,<br />
die vor Ort bleiben konnten, und<br />
solchen Patienten, die mit Hilfe der<br />
Luftwaffe schnell in die Heimat zu<br />
»evakuieren« waren. Das Zauberwort<br />
»MEDEVAC« wurde viel erwähnt,<br />
doch blieb die Zerreißprobe aus. Zum<br />
Glück, denn zu einem Massenanfall<br />
von Verwundeten kam es nicht.<br />
Die Rapid Reaction Force der UNPF<br />
beschränkte sich weitgehend auf eine<br />
Rolle als Beobachtungstruppe mit politischem<br />
Drohpotential. Doch gab es<br />
auch Behandlungen von französischen<br />
Artilleriesoldaten, die mit einem Bandscheibenvorfall<br />
eingeliefert wurden –<br />
Rückenschaden vom Munitionsnachladen,<br />
denn auch UN-Soldaten schossen.<br />
Im August 1995 tobte die Operation<br />
»Sturm«. Die kroatische Armee unternahm<br />
einen letzten Großangriff auf die<br />
Krajina und die dortige »Republika<br />
Srpska«. Für die deutschen Soldaten<br />
5 Internist im Feldlazarett<br />
bot sich im Land das Bild eines grausamen<br />
Bürgerkrieges: herrenlos umherlaufendes<br />
Vieh, mitunter auch Kadaver<br />
und Zerstörung. Bis zum Abkommen<br />
von Dayton im Oktober 1995 ging der<br />
Krieg weiter. Die Notwendigkeit einer<br />
internationalen Stabilisierungstruppe<br />
auf lange Sicht war offenkundig.<br />
Die breite Palette des sanitätsdienstlichen<br />
Angebots wurde von den Soldaten<br />
der anderen Kontingente geschätzt<br />
und gerne genutzt. So mischte sich<br />
das Bild: Spanier beim Zahnarzt, Briten<br />
als Sportverletzte (Boxsport), Franzosen<br />
nach Verkehrsunfall. Auch zivile<br />
Notfallpatienten wurden behandelt<br />
wie ein britischer UN-Kraftfahrer, eine<br />
Krankenschwester der »Médecins sans<br />
frontières« oder kroatische Bürger mit<br />
lebensbedrohenden Krankheitsbildern.<br />
Für die Bundeswehr war es der Auftakt<br />
zur Einbindung in die internationale<br />
Verantwortung. Im Folgejahr, nach<br />
Ablauf des 2. UNPF-Kontingents, vertauschten<br />
die deutschen Soldaten ihr<br />
hellblaues UN-Barett mit den Kopfbedeckung<br />
ihrer Truppengattungen. War<br />
noch in der ersten Phase 1995 das Betreten<br />
bosnischen Bodens für deutsche<br />
UNPF-Soldaten strikt verboten, erfüllen<br />
heute Soldaten der Bundeswehr<br />
aller Organisationsbereiche, Truppengattungen<br />
und Kräftekategorien auf<br />
dem Balkan mit Selbstverständlichkeit<br />
ihren Auftrag – von humanitärer Hilfe<br />
bis zum bewaffneten Einsatz.<br />
Martin Rink<br />
Militärgeschichte · <strong>Zeitschrift</strong> für historische Bildung · Ausgabe 4/2005 31
NEUE PUBLIKATIONEN DES MGFA<br />
4<br />
4<br />
4<br />
4<br />
4<br />
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Beatrice Heuser,<br />
Clausewitz lesen!<br />
Eine Einführung, München: Oldenbourg 2005, XII, 269 S.<br />
(= Beiträge zur Militärgeschichte. Militärgeschichte kompakt, 1),<br />
19,80 Euro, ISBN 3-486-57743-3<br />
Entschieden für Frieden: 50 Jahre Bundeswehr 1955 bis 2005.<br />
Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes<br />
herausgegeben von Klaus-Jürgen Bremm, Hans-Hubertus Mack<br />
und Martin Rink, Freiburg i.Br.: Rombach Verlag 2005,<br />
VIII, 672 S., 38,00 Euro, ISBN 3-7930-9438-3<br />
Bruno Thoß,<br />
NATO-Strategie und nationale Verteidigungsplanung.<br />
Planung und Aufbau der Bundeswehr unter den Bedingungen<br />
einer massiven atomaren Vergeltungsstrategie (1952-1960),<br />
München: Oldenbourg 2006, IX, 774 S.<br />
(= Sicherheitspolitik und Streitkräfte der Bundesrepublik<br />
Deutschland), 39,80 Euro, ISBN 3-486-57904-5<br />
Staatsgründung auf Raten? Auswirkungen des Volksaufstandes<br />
1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und<br />
Gesellschaft in der DDR. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen<br />
Forschungsamtes und der Bundesbeauftragten für die<br />
Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen<br />
DDR herausgegeben von Torsten Diedrich und Ilko-Sascha<br />
Kowalczuk, Berlin: Ch. Links Verlag 2005, XII, 435 S.<br />
(= Militärgeschichte der DDR, 11), 29,90 Euro,<br />
ISBN 3-86153-380-4<br />
Potsdamer Ge(h)schichte. Streifzüge ins 20. Jahrhundert.<br />
Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und<br />
der Professur für Militärgeschichte der Universität Potsdam<br />
herausgegeben von Arnim Lang und Matthias Rogg, Berlin:<br />
edition q 2005, 120 S., 9,90 Euro, ISBN 3-86124-589-2<br />
Potsdamer Ge(h)schichte. Eine Stadt und ihr Militär.<br />
Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes und<br />
der Professur für Militärgeschichte der Universität Potsdam<br />
herausgegeben von Nele Thomsen und Carmen Winkel, Berlin:<br />
edition q 2005, 120 S., 9,90 Euro, ISBN 3-86124-590-6