1999-07 Hereditäres oder erworbenes Angioödem durch ...
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Schweiz Med Wochenschr <strong>1999</strong>;129:285–91<br />
Peer reviewed article<br />
B. Wüthrich a , J. Devay b , P. Späth c<br />
a<br />
Allergiestation, Dermatologische Klinik,<br />
Universitätsspital Zürich<br />
b<br />
Centeon Pharma AG, Zürich<br />
c<br />
ZLB, Zentrallaboratorium,<br />
Blutspendedienst SRK, Bern<br />
Fortbildung<br />
<strong>Hereditäres</strong> <strong>oder</strong> <strong>erworbenes</strong><br />
<strong>Angioödem</strong> <strong>durch</strong> funktionellen<br />
Mangel von C1-Inhibitor –<br />
ein immer noch zu wenig<br />
bekanntes Krankheitsbild<br />
Summary<br />
Hereditary or acquired functional deficiency<br />
of C1-inhibitor: a still too little known<br />
disease entity<br />
Hereditary angioneurotic oedema or hereditary<br />
angiooedema (HAE) and acquired angiooedema<br />
(AAE) are disorders of the C1-inhibitor<br />
(C1-INH) protein, caused by the lack,<br />
dysfunction or exhaustion of the C1-INH<br />
molecule. Inadequate function of C1-INH<br />
results in inappropriate control of various<br />
enzymes of the fibrinolytic, complement and<br />
kinin systems as well as of factor XII, being<br />
the initial enzyme of the kinin and contact coagulation<br />
systems. As C1-INH functional deficiency<br />
is rare and the clinical manifestation<br />
little known, even nowadays the most feared<br />
complication of the deficiency may evolve:<br />
death from acute airway obstruction. Patients<br />
deficient in C1-INH function whose clinical<br />
manifestations are misinterpreted as allergic<br />
angiooedema are most at risk for fatal laryngeal<br />
oedema. The therapy of allergic and C1-<br />
INH-related angiooedema is fundamentally<br />
different. The background for the hereditary<br />
form of inadequate C1-INH function is a gene<br />
defect. The predominant primary underlying<br />
disease of the acquired form of the deficiency<br />
(AAE) is a lymphoproliferative process.<br />
Keywords: hereditary angiooedema; acquired<br />
angiooedema; C1-inhibitor deficiency; laryngeal<br />
oedema<br />
Zusammenfassung<br />
Sowohl das hereditäre «hereditary angioneurotic<br />
oedema» <strong>oder</strong> heute «hereditary angiooedema»<br />
(HAE) wie auch das erworbene<br />
<strong>Angioödem</strong> «acquired angiooedema» (AAE)<br />
beruhen auf einer ungenügenden Funktion des<br />
C1-Inhibitor-Moleküls (C1-INH). Die ungenügende<br />
Funktion kann entstehen <strong>durch</strong><br />
Mangel, Funktionsstörung <strong>oder</strong> Erschöpfung<br />
von C1-INH. Die mangelnde Funktion führt<br />
dazu, dass verschiedene Enzyme im Kininsystem,<br />
im Fibrinolysesystem, im Komplementsystem<br />
und in den Faktor-XII-abhängigen<br />
Stufen des Gerinnungssystems nicht gehemmt<br />
werden. Weil das Krankheitsbild insgesamt selten<br />
und daher wenig bekannt ist, kann es auch<br />
heute noch zur gefürchtetsten Komplikation<br />
des Mangels kommen: Larynxödem-bedingtes<br />
Ersticken. Todesfälle betreffen vor allem diejenigen<br />
Patienten mit HAE, deren Symptome<br />
als allergische <strong>Angioödem</strong>e fehlgedeutet und<br />
nicht als <strong>Angioödem</strong>e <strong>durch</strong> C1-INH-Mangel<br />
erkannt werden. Letztere erfordern eine völlig<br />
andere Therapie. Neben der hereditären Form<br />
des C1-INH-Funktionsmangels, bedingt <strong>durch</strong><br />
einen Gendefekt, ist auch eine erworbene Form<br />
von C1-INH-Mangel bekannt (AAE). Dieser<br />
unterliegt häufig einem lymphoproliferativen<br />
Prozess.<br />
Keywords: hereditäres <strong>Angioödem</strong>; <strong>erworbenes</strong><br />
<strong>Angioödem</strong>; C1-Inhibitor-Mangel; Larynxödem<br />
Korrespondenz:<br />
Prof. Dr. med. B. Wüthrich,<br />
Allergiestation,<br />
Dermatologische Klinik,<br />
Universitätsspital Zürich,<br />
CH-8091 Zürich<br />
285
Fortbildung Schweiz Med Wochenschr <strong>1999</strong>;129: Nr 7<br />
Einleitung<br />
Das hereditäre <strong>Angioödem</strong> (heute «hereditary<br />
angiooedema» [HAE]) wurde erstmals 1888<br />
von Osler [1] beschrieben, nachdem 1882<br />
Quincke [2] über das akute umschriebene<br />
Hautödem berichtet hatte. Es ist das Verdienst<br />
amerikanischer Forscher in den 60er Jahren,<br />
gezeigt zu haben, dass diese dominant vererbte<br />
Form mit einem angeborenen Defekt des Eiweissstoffwechsels,<br />
nämlich im Serumkomplementsystem,<br />
verbunden ist [3–6].<br />
Die differentialdiagnostische Unterscheidung<br />
von den andersartig entstandenen und viel häufigeren<br />
<strong>Angioödem</strong>en ist aus therapeutischer<br />
Sicht von grösster Bedeutung (Tab. 1) [7, 8].<br />
Genaue Zahlen zur Inzidenz und Prävalenz des<br />
HAE gibt es nicht, es muss aber mit einer grossen<br />
Dunkelziffer gerechnet werden. In Italien<br />
wurden nur in einem von 3 HAE-Zentren<br />
bisher mehr als 235 Patienten ermittelt [9], und<br />
in einer Erhebung wurden die anamnestischen,<br />
klinischen und präklinischen Daten von 242<br />
Patienten mit HAE in 6 Zentren Deutschlands,<br />
der Schweiz und Österreichs ausgewertet [10].<br />
Die Zahlen verdeutlichen bereits, dass gegenüber<br />
der idiopathischen <strong>oder</strong> allergischen Form<br />
des <strong>Angioödem</strong>s die <strong>Angioödem</strong>e mit einem<br />
C1-INH-Mangel als Ursache ziemlich selten<br />
sind. [11].<br />
Nur in der Schweiz sind 145 Patienten mit<br />
funktionellem C1-INH-Defekt bekannt. Meist<br />
vergehen zwischen den ersten klinischen Symptomen<br />
des <strong>Angioödem</strong>s und der korrekten<br />
Diagnosestellung mehrere Jahre. Durch die<br />
Fehldiagnose sind die Patienten vital gefährdet,<br />
da bei Larynxödemen mit akuter Erstickungsgefahr<br />
mit der Unwirksamkeit <strong>oder</strong> mangelnden<br />
Wirksamkeit von Antihistaminika, Kortikosteroid-<br />
und Adrenalin-Injektionen nicht gerechnet<br />
wird [12]. Deshalb ist bei allen Patienten<br />
mit wiederholten <strong>Angioödem</strong>en unklarer<br />
Genese und bei allen Blutsverwandten von<br />
Patienten mit einem bekannten C1-Inhibitor-<br />
Mangel eine routinemässige Bestimmung der<br />
C1-Inhibitor-Aktivität und des C4-Spiegels zu<br />
empfehlen [8].<br />
Tabelle 1<br />
Einige Anhaltspunkte zur<br />
Differentialdiagnose und<br />
Therapie des hereditären<br />
<strong>Angioödem</strong>s und des «Mastzellmediatoren»-<strong>Angioödem</strong>s.<br />
hereditärer C1-INH-Mangel <strong>Angioödem</strong> anderer Ätiologie<br />
mit <strong>Angioödem</strong><br />
Grundkrankheit keine; Genmutation häufig Atopien<br />
(Neur<strong>oder</strong>mitis, Pollinosis)<br />
Anamnese Erkrankungen in der Familie, keine Familiarität, meist Erwachsene,<br />
Beginn in der Jugend <strong>oder</strong> Kindheit ohne jahrzehntelange Krankheitsdauer<br />
Prodromi zu 50% vorhanden, keine<br />
z.B. gyrierte Erytheme<br />
Auslöser meist keine Auslöser erkennbar, mögliche Allergene, Medikamente<br />
möglich: Traum, psychischer (ASS!), Druck, auch idiopathisch<br />
Stress, Antikonzeptiva,<br />
ACE-Hemmer<br />
Symptomatik <strong>Angioödem</strong>e im Gesicht, am Stamm diffuse Schwellungen, <strong>Angioödem</strong>e<br />
und an den Extremitäten,<br />
meise in Augen- und Mundregionen,<br />
keine Urtikaria in der Anamnese, oft Urtikaria in der Anamnese,<br />
abdominelle Koliken<br />
keine Koliken<br />
Labor C1-INH-Aktivität im Plasma normal<br />
vermindert<br />
C1-INH-Konzentration im Plasma<br />
vermindert (Typ I)<br />
normal<br />
normal bis erhöht (Typ II)<br />
normal<br />
Therapie reagiert auf C1-INH, Danazol, reagiert auf Kortikosteroide<br />
Tranexamsäure<br />
und Antihistaminika<br />
Ursache ist ein mutiertes C1-Esterase-Inhibitor-Allel<br />
Das HAE wird <strong>durch</strong> einen quantitativen <strong>oder</strong><br />
funktionellen Defekt des C1-Esterase-Inhibitors<br />
(C1-INH) verursacht. Es werden zwei genetisch<br />
bedingte Formen des HAE unterschieden,<br />
die autosomal dominant mit unterschiedlicher<br />
Penetranz vererbt werden. Die betroffenen<br />
Patienten sind heterozygot, d.h. sie besitzen<br />
ein normales und ein mutiertes Allel. So erklärt<br />
es sich auch, dass bei diesen Patienten ein<br />
intaktes C1-INH nie völlig fehlt. Das Produkt<br />
des mutierten Allels bei der klassischen Form<br />
des HAE (common form <strong>oder</strong> HAE Typ I) wird<br />
nicht <strong>oder</strong> in sehr geringen Mengen synthetisiert.<br />
Beim HAE Typ II, der seltenen Form des<br />
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Schweiz Med Wochenschr <strong>1999</strong>;129: Nr 7<br />
Fortbildung<br />
HAE (variant form, etwa 15% der Fälle) erscheint<br />
das Produkt des mutierten Allels in<br />
messbaren Mengen in der Zirkulation (Tab. 2).<br />
Bei symptomatischen HAE-Patienten mit der<br />
klassischen Form werden C1-INH-Konzentrationen<br />
gefunden, die nur 5–30% der üblichen<br />
Werte betragen. Unterhalb einer Konzentration<br />
von etwa 35% des Normalwerts aber ist<br />
die Wirkung des Inhibitors nicht mehr ausreichend<br />
[14]. Durch diesen Mangel kommt es zu<br />
einer ungesteuerten Aktivierung der Startphase<br />
des Kininsystems und des Komplementsystems.<br />
Das hierbei freigesetzte Bradykinin wird<br />
für die Ödembildung und die kolikartigen<br />
Schmerzen verantwortlich gemacht (Abb. 1)<br />
[15]. Es kommt zu episodischen lokalen<br />
Schwellungen der Haut, der Schleimhäute <strong>oder</strong><br />
der inneren Organe, die nicht selten fehldiagnostiziert<br />
werden (Appendizitis, akutes Abdomen,<br />
akute Porphyrie u.a.) [8–10, 16].<br />
Beim HAE Typ II besteht zwar trotz einer normalen<br />
bis erhöhten C1-INH-Konzentrationen<br />
ein Funktionsmangel (Tab. 2). Die Klinik unterscheidet<br />
sich in nichts von der Klinik des<br />
HAE Typ I [14].<br />
Tabelle 2<br />
Genotypen und Phänotypen<br />
des hereditären <strong>Angioödem</strong>s 1 .<br />
Genotyp: ein normales und ein Null-Allel des Strukturgens sind vorhanden<br />
(etwa 85% der Fälle)<br />
Phänotyp: Verminderung der C1-INH-Konzentration und Funktion im Serum auf 5–30%<br />
«common form» der Norm wegen unzureichender Synthese des intakten C1-INH<br />
Genotyp: ein normales und ein abnormales Allel des Strukturgens sind vorhanden<br />
(etwa 15% der Fälle)<br />
Phänotyp: funktionell gestörter C1-INH zirkuliert in meist normaler bis erhöhter<br />
«variant form» Konzentration, gleichzeitig liegt funktionell intakter C1-INH in niedriger<br />
Konzentration vor<br />
1<br />
Die Unterscheidungen, wie sie oben angegeben sind, sind <strong>durch</strong> molekularbiologische Studien<br />
verwischt worden, für die Klinik aber brauchbar.<br />
Abbildung 1<br />
Möglicher Pathomechanismus<br />
des hereditären <strong>Angioödem</strong>s<br />
und Angriffspunkte<br />
des C1-INH (↓).<br />
Ursache kann aber auch ein lymphoproliferativer Prozess <strong>oder</strong> ein Tumor sein<br />
Noch weniger bekannt als das HAE ist das<br />
erworbene <strong>Angioödem</strong> (AAE). Entgegen dem<br />
HAE liegt beim AAE kein verändertes Gen vor,<br />
sondern das C1-INH wird erschöpft. Eine verminderte<br />
C1-INH-Funktion entsteht entweder<br />
<strong>durch</strong> übermässige Aktivierung des klassischen<br />
Weges des Komplementsystems (massiv verminderte<br />
C1-INH-Konzentration und Funktion)<br />
<strong>oder</strong> wegen der Bindung eines autoaggressiven<br />
Antikörpers gegen das C1-INH-<br />
Molekül (C1-INH-Konzentration vermindert,<br />
Funktion massiv beeinträchtigt) [17]. Dem<br />
AAE können verschiedene Grunderkrankungen<br />
zugrundeliegen, wie chronisch lymphatische<br />
Leukämie, Morbus Waldenström, Myelome,<br />
Myelofibrose und Kryoglobulinämie<br />
[14, 17, 18]. Seltener ist ein AAE <strong>durch</strong> ein<br />
Adenokarzinom, ein Mammakarzinom <strong>oder</strong><br />
einen mit einer Neoplasie einhergehenden Anti-<br />
Phospholipid-Antikörper bedingt. Nicht neoplastische<br />
Erkrankungen, die mit einem AAE<br />
einhergehen können, sind: Echinococcus-<br />
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Fortbildung Schweiz Med Wochenschr <strong>1999</strong>;129: Nr 7<br />
granulosus-Infektion, Lupus erythematosus<br />
disseminatus, Churg-Strauss-Vaskulitis, Pankreatitis,<br />
Hepatitis-B-Infektion und plane<br />
Xanthome. Es sei besonders darauf hingewiesen,<br />
dass die Manifestation des C1-INH-<br />
Funktionsmangels der Manifestation eines<br />
lymphoproliferativen Syndroms um Jahre vorausgehen<br />
kann [14].<br />
Anfälle können sich Stunden <strong>oder</strong> Tage vorher ankündigen<br />
Abbildung 2<br />
Diskretes, girlandenförmiges<br />
Erythem als Prodrom eines<br />
HAE-Schubes. Im Gegensatz<br />
zu einem urtikariellen Exanthem<br />
sind die Hautveränderungen<br />
nicht erhaben (keine<br />
Quaddeln) und jucken in<br />
der Regel nicht.<br />
Abbildung 3<br />
Akuter Schub eines HAE,<br />
halbseitig im Gesichts-/Wangenbereich<br />
mit Spannungsgefühl<br />
ohne Juckreiz.<br />
Die klinische Manifestation des AAE unterscheidet<br />
sich jedoch nicht von der des HAE.<br />
Dem akuten <strong>Angioödem</strong>schub können Prodromi<br />
vorangehen. Die Anfälle können mit<br />
Prickeln in der Haut, gelegentlich mit einem<br />
diskreten, girlandenförmigen Erythem (Abb. 2)<br />
<strong>oder</strong> völlig ohne Vorwarnung einsetzen. In den<br />
meisten Fällen lassen sich die Auslöser eines<br />
Schubes nicht ermitteln. Beim HAE können<br />
Verletzungen, Druckeinwirkungen, psychische<br />
Belastungen, Infektionen und andere Faktoren<br />
Auslöser von Anfällen sein. Manche Patienten<br />
haben monatlich, andere nur alle paar Jahre<br />
einen Anfall. Bis zum 19. Lebensjahr hat die<br />
klinische Symptomatik bei über zwei Dritteln<br />
der Patienten eingesetzt.<br />
Das selbstlimitierende Ödem tritt akut auf<br />
und persistiert im Durchschnitt 1–3 Tage lang.<br />
<strong>Angioödem</strong>e der Haut jucken meist nicht, eher<br />
wird über ein Spannungsgefühl berichtet (Abb.<br />
3). Krampfartige, wiederkehrende Schmerzen<br />
des Abdomens können isoliert <strong>oder</strong> in Kombination<br />
mit einzelnen <strong>oder</strong> mehreren Hautschwellungen,<br />
also den <strong>Angioödem</strong>en der<br />
Haut, auftreten. In 70–80% der Fälle werden<br />
Schwellungen der Gliedmassen, des Gesichts<br />
<strong>oder</strong> abdominelle Beschwerden beobachtet.<br />
Bei 60% der Patienten findet sich eine Beteiligung<br />
der Mundschleimhaut bzw. der oberen<br />
Luftwege [9, 10, 19, 20].<br />
Beim AAE dürfte die Aktivität der unterliegenden<br />
Erkrankung das Ausmass des C1-INH-<br />
Verbrauchs beeinflussen und somit der Auslöser<br />
der Schwellungen sein. Tatsächlich kann<br />
eine Remission den C1-INH-Umsatz normalisieren<br />
und zum Verschwinden der Attacken<br />
führen.<br />
Ein Larynxödem <strong>oder</strong> eine grotesk geschwollene Zunge sind potentielle Todesursachen<br />
Abbildung 4<br />
Geschwollene Zunge mit<br />
Uvula-Ödem: bei Progredienz<br />
Gefahr einer akuten<br />
Erstickung.<br />
Todesursache bei nicht erkannter Krankheit ist<br />
das Ersticken infolge eines Glottis- bzw.<br />
Larynxödems [12, 19] <strong>oder</strong> einer grotesk geschwollenen<br />
Zunge (Abb. 4). Das Ersticken<br />
entsteht entweder spontan <strong>oder</strong> folgt einer<br />
Traumatisierung der Mundhöhle, z.B. bei<br />
Zahnoperationen bzw. Tonsillektomien. Meist<br />
vergehen Stunden bis zur Ausprägung des<br />
Larynxödems mit partieller <strong>oder</strong> kompletter<br />
Obstruktion der Luftwege. Der Verlauf ist im<br />
Einzelfall nicht vorhersehbar, so dass unverzüglich<br />
mit der Therapie begonnen werden<br />
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Fortbildung<br />
Abbildung 5<br />
Dauertracheotomie wegen<br />
rezidivierender Larynxödeme<br />
mit notfallmässigen Tracheotomien.<br />
Eine Substitutionstherapie<br />
mit den C1-Inhibitor-Präparat<br />
(Berinert ®<br />
HS) wurde im Anfall nicht<br />
<strong>durch</strong>geführt, ebenfalls<br />
erfolgte im Intervall keine<br />
Langzeitprophylaxe mit<br />
Danazol (Danatrol ® ).<br />
muss. Bei dieser Symptomatik ist wegen akuter<br />
Lebensgefahr eine stationäre Behandlung unbedingt<br />
ratsam. Auf dem Weg zur Klinik sollte<br />
ein Arzt in Intubations- bzw. Tracheotomiebereitschaft<br />
den Transport begleiten (Abb. 5).<br />
Bezeichnend ist, dass sowohl das HAE als auch<br />
das AAE nicht <strong>oder</strong> nicht ausreichend auf<br />
Medikamente anspricht, die bei einer Urtikaria<br />
bzw. ihrem Äquivalent tieferer Hautschichten,<br />
eben dem <strong>Angioödem</strong>, das nicht auf einem<br />
funktionellen C1-INH-Mangel beruht, wirksam<br />
sind, z.B. Antihistaminika, Kortikosteroide,<br />
Adrenalin, Noradrenalin, ACTH und<br />
Kalzium. Bei unbekannter Diagnose wird in<br />
Notfallsituationen kein Kunstfehler begangen,<br />
wenn primär Antihistaminika, Kortikoide und<br />
Adrenalin in korrekter Dosis und auf korrektem<br />
Verabreichungsweg gegeben werden.<br />
Diagnostisch richtungsweisend ist die Anamnese<br />
Oft ist der Anamnese zu entnehmen, dass beim<br />
HAE mehrere Familienmitglieder von unerklärlichen<br />
Erstickungsanfällen, Bauchschmerzen<br />
usw. betroffen sind <strong>oder</strong> waren. Eine Untersuchung<br />
auf Komplementdefekte ist auch<br />
bei nicht erkrankten Mitgliedern einer Familie<br />
erforderlich. Allerdings gehen 10% der Fälle<br />
auf spontane Mutationen zurück, und in seltenen<br />
Fällen handelt es sich um ein <strong>erworbenes</strong><br />
<strong>Angioödem</strong> <strong>durch</strong> Erschöpfung von C1-INH.<br />
Das AAE ist charakterisiert <strong>durch</strong> das Fehlen<br />
einer Familienanamnese. Im Unterschied zum<br />
HAE fällt die Erstmanifestation eines AAE ins<br />
vierte <strong>oder</strong> spätere Lebensjahrzehnt. Es ist aber<br />
zu beachten, dass wir einen Fall eines gesicherten<br />
HAE kennen, bei dem die Erstmanifestation<br />
mit 54 Jahren auftrat [8].<br />
Beim klinischen Verdacht auf HAE <strong>oder</strong> AAE<br />
eignen sich zur Labordiagnostik die Proteine<br />
des Komplementsystems. Als Basisdiagnostik<br />
sollten folgende Parameter gemessen werden:<br />
C1-Inhibitor (immunologisch und funktionell)<br />
sowie C4 (immer vermindert, auch im Intervall).<br />
Zu empfehlen ist die Absicherung der<br />
Befunde <strong>durch</strong> die Bestimmung von C2 und<br />
CH50. Als Spezialdiagnostik bietet sich die Bestimmung<br />
von C1 (C1q, C1r <strong>oder</strong> C1s) sowie<br />
der Autoantikörper gegen C1-INH an. Ein C1-<br />
INH-Mangel assoziiert mit einem tiefen C1 ist<br />
ein Hinweis auf ein AAE, und der Nachweis<br />
eines anti-C1-INH-Antikörpers ist schlüssig<br />
für die autoaggressive Form des AAE.<br />
Prinzipiell ergeben sich aus den Serumkonzentrationen<br />
des C1-INH im Intervall zwischen<br />
den akuten Anfällen keine Hinweise auf das<br />
Ausmass einer akuten Attacke.<br />
Langzeitprophylaxe<br />
Zur Langzeitprophylaxe des HAE werden<br />
heute in der Regel Androgenderivate (z.B. Danazol)<br />
eingesetzt [8, 20]. Aufgrund der zahlreichen<br />
Nebenwirkungen dieser Medikamente<br />
empfiehlt sich eine Langzeitprophylaxe allerdings<br />
nur bei Patienten mit Larynxödemen,<br />
Gesichtsschwellungen <strong>oder</strong> mit sehr häufigen<br />
Anfällen. Als mögliche Nebenwirkungen sind<br />
Gewichtszunahmen, Libidoverlust, Virilisierung<br />
<strong>oder</strong> Leberschäden beschrieben. Es geht<br />
darum, die minimale Einstellung (meist zwischen<br />
100–200 mg pro Tag) zu ermitteln. Dazu<br />
eignet sich die Kontrolle des C4-Spiegels. Bei<br />
Frauen im gebärfähigen Alter sind antikonzeptive<br />
Massnahmen während der Behandlung<br />
unbedingt notwendig, da eine Danazol-Anwendung<br />
fetale Schädigungen verursachen<br />
kann. Orale Antikonzeptiva führen allerdings<br />
bei den meisten Patientinnen zu einer Verstärkung<br />
der Symptomatik; deshalb ist ein mechanischer<br />
Schutz, z.B. Spirale, vorzuziehen. Beim<br />
Mann wurde eine mässige Reduktion der<br />
Spermatogenese beobachtet. Bei Kindern und<br />
bei Frauen mit Kinderwunsch sind Androgenderivate<br />
kontraindiziert.<br />
Die Langzeittherapie des AAE ist weniger gut<br />
belegt. Bei der Anwendung der attenuierten<br />
Androgene sollte man über die Natur der<br />
unterliegenden Erkrankung genau Bescheid<br />
wissen.<br />
Sind Androgenderivate kontraindiziert <strong>oder</strong><br />
werden sie vom Patienten abgelehnt, können<br />
Antifibrinolytika eingesetzt werden. Heute ist<br />
die ε-Aminocapronsäure weitgehend <strong>durch</strong> die<br />
289
Fortbildung Schweiz Med Wochenschr <strong>1999</strong>;129: Nr 7<br />
Tranexamsäure (Anvitoff ® ) verdrängt worden.<br />
Entgegen den Androgenderivaten können diese<br />
die C1-INH-Funktion nicht beeinflussen, hemmen<br />
aber die Funktion der Enzyme der verschiedenen<br />
Proteinsysteme wie Gerinnung, Fibrinolyse,<br />
Komplement- und Kinin-System.<br />
Therapie der Wahl im Notfall: C1-INH-Substitution<br />
Bei einem behandlungsbedürftigen akuten <strong>Angioödem</strong><br />
– akut behandlungsbedürftig sind<br />
Glottis-, Hals-, Zungen- und Gesichtsödeme,<br />
in schweren Fällen auch Abdominal-Attacken,<br />
nicht jedoch Hautschwellungen an Extremitäten<br />
– ist die Therapie der Wahl eine intravenöse<br />
Substitution von 500–1000 Einheiten C1-<br />
Esterase-Inhibitor als C1-INH-Konzentrat<br />
(Berinert ® HS) [16, 21]. Die Symptomatik bildet<br />
sich dann innerhalb von 2–3 Stunden<br />
zurück. Ist das Medikament im Notfall nicht<br />
greifbar, muss man sich mit Frischplasma-Infusionen<br />
(FFP) behelfen [22]. Heute sollte nur<br />
noch quarantänegelagertes <strong>oder</strong> virusinaktiviertes<br />
FFP zum Einsatz gelangen.<br />
Insbesondere bei Operationen im Mund- und<br />
Gaumenbereich (zahnärztlichen Eingriffen,<br />
Tonsillektomien) sollte als Kurzzeitprophylaxe<br />
eine halbe Stunde vor dem Eingriff C1-INH-<br />
Konzentrat verabreicht werden [23].<br />
Ausweise und Patientenorganisationen<br />
Patienten mit HAE <strong>oder</strong> AAE sollten einen<br />
Ausweis auf sich tragen, in dem die Diagnose<br />
bestätigt wird und die entsprechenden Notfallmassnahmen<br />
aufgelistet sind. Ein solcher Notfallausweis<br />
in vier Sprachen steht z.B. bei der<br />
Vertriebsfirma von Berinert ® HS zur Verfügung<br />
(Abb. 6). In Zusammenarbeit zwischen Spezialisten,<br />
behandelndem Arzt und der zum<br />
Wohnort des Patienten nächstliegenden Spitalapotheke<br />
sollte die Versorgung mit C1-INH-<br />
Konzentrat für den Notfall sichergestellt werden.<br />
In Ländern, in denen Patientenorganisationen<br />
existieren, wird der Spezialist die entsprechenden<br />
Adressen dem Patienten aushändigen.<br />
Abbildung 6<br />
Notfallausweis bei HAE<br />
<strong>oder</strong> AAE.<br />
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