das Buch als PDF-Datei (ca. 1.6 MB) - Mandative Demokratie
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26 <strong>Demokratie</strong> in schlechter Verfassung<br />
<br />
60 Jahre Grundgesetz: Erfolgsgeschichte oder Auslaufmodell? 27<br />
Menschenrechte eingefordert, wie in den 12 Artikeln von Memmingen<br />
1525. Schiller riß mit seinem Freiheitspathos Generationen mit. Auf Kant<br />
und seine Schrift „Zum ewigen Frieden“ kann sich die Charta der Vereinten<br />
Nationen berufen. Die Stein-Hardenbergschen Reformen, insbesondere<br />
die Gemeindereform, sind Teil der deutschen <strong>Demokratie</strong>geschichte.<br />
In der leider nicht in Kraft getretenen 1848er Reichsverfassung<br />
gab es einen Katalog von Grundrechten genauso wie in der preußischen<br />
Verfassung von 1850 – trotz Dreiklassenwahlrecht. Richtig ist nur, daß<br />
es in Deutschland keine ungebrochene demokratische Entwicklung<br />
gegeben hat. Die Brüche sind eine kennzeichnende Hypothek der deutschen<br />
Geschichte. 1945 jedenfalls brauchten die Alliierten <strong>Demokratie</strong><br />
nicht nach Deutschland zu exportieren. Selbst die Hunderttausende<br />
früherer Nazis waren, entgegen aller Behauptungen der 68er, in die<br />
nachkriegs-demokratischen Verhältnisse voll integriert.<br />
Der Glaube an <strong>das</strong> im Grundgesetz niedergeschriebene Wort sollte<br />
indes nicht überbewertet werden. Verfassungen stellten die Rahmenbedingungen<br />
dar, die von Politikern und Bevölkerung ausgefüllt werden<br />
müssen. Die junge Bundesrepublik hatte Glück mit einer Garde von<br />
Politikern, die <strong>Demokratie</strong> lebten und im Bewußtsein der Bevölkerung<br />
verkörperten: Es seien nur Theodor Heuss, Konrad Adenauer, Ludwig<br />
Erhard oder Kurt Schumacher genannt. Es kommt immer auf die handelnden<br />
Personen an und weniger auf die Gesetze. Gute Politiker können<br />
auch mit einer schlechten Verfassung noch Staat machen. Bei schlechten<br />
Politikern hilft dagegen auch keine gute Verfassung mehr.<br />
Das sog. Wirtschaftswunder war eine weitere unvergessene Leistung<br />
der jungen Bundesrepublik. Die Bezeichnung <strong>als</strong> „Wunder“ ist allerdings<br />
ärgerlich, denn der gewaltige wirtschaftliche Aufschwung kam keineswegs<br />
<strong>als</strong> Geschenk gütiger Mächte auf die Deutschen nieder, sondern<br />
beruhte einerseits auf der mutigen marktwirtschaftlichen Weichenstellung<br />
Ehrhards, zum anderen auf dem Aufbauwillen und dem Fleiß von<br />
Millionen bestens ausgebildeten Deutschen, ortsansässigen und aus dem<br />
Osten vertriebenen. Erhards System ließ Ungleichheit zu: Milliardenvermögen<br />
sind in dieser Zeit neu- oder wiedererstanden. Flick, Quandt,<br />
Krupp, Thyssen, Grundig, Schickedanz, Oetker, Mohn sind nur die<br />
spektakulären Spitzen. Und trotz Ungleichheit haben alle davon profitiert.<br />
Zwischen 1950 und 1975 stiegen die durchschnittlichen Netto-<br />
arbeitsentgelte auf mehr <strong>als</strong> <strong>das</strong> Dreifache, wir hatten Vollbeschäftigung<br />
und der Haushalt war – nach heutigen Maßstäben – ausgeglichen.16<br />
Die Marshallplan – Hilfe wird dagegen weit überschätzt. Deutschland<br />
flossen mit etwa 1,4 Mrd. Dollar weit weniger zu <strong>als</strong> beispielsweise Großbritannien<br />
mit 3,6 Mrd. oder Frankreich mit 3,1 Mrd. Dollar. Die Gelder<br />
insgesamt machten weniger <strong>als</strong> 3 % des Nationaleinkommens der sechzehn<br />
unterstützten europäischen Länder aus. Die Leistungen an<br />
Deutschland stellten im Übrigen nur einen Bruchteil des Vermögens<br />
dar, <strong>das</strong> deutschen Firmen durch Enteignung in den USA verlorengegangen<br />
war.<br />
Eine gar nicht hoch genug einzuschätzende Leistung war die Integration<br />
der Vertriebenen und Flüchtlinge aus den Ostgebieten und der<br />
DDR. Über 10 Mio. Menschen wurden ohne Konflikte in die Gesellschaft<br />
eingebunden. Die boomende Wirtschaft bot Arbeitsplätze für die gut<br />
ausgebildeten Menschen und entschärfte die Gefahr der Radikalisierung.<br />
Vom Verlust der Heimat waren Schuldige und Nichtschuldige betroffen.<br />
Das Bewußtsein der Ursache, die von Deutschland ausging, hat aber<br />
Aggressivität bei allen unterdrückt. Der von den Parteien während der<br />
ganzen Nachkriegszeit gepflegte Mythos von der angeblich offenen<br />
Grenzfrage mit Polen hat allerdings trickreich geholfen, die Gemüter zu<br />
beruhigen.<br />
Auch die föderale Struktur der Bundesrepublik gehörte in den<br />
Anfangsjahren sicherlich zu den Aktivposten der Erfolgsbilanz. Man<br />
hat viel die angeblich willkürliche Festlegung der Bundesländer nach<br />
Besatzungszonen und die Geschichtslosigkeit dieser Kunstgebilde kritisiert.<br />
Tatsächlich war es umgekehrt: Die Grenzen der Besatzungszonen<br />
folgten den Grenzen der früheren Länder und der alten preußischen<br />
Regierungsbezirke. Kleinstländer gingen in größeren Einheiten auf,17<br />
was nur von Vorteil war und dem föderalen Gedanken keineswegs<br />
widersprach. Vor allem aber war die dezentrale – föderale Ordnung tief<br />
im Bewußtsein der Bevölkerung verankert und hat sich erstaunlicherweise<br />
auch über den millionenfachen Bevölkerungstransfer durch Flucht<br />
16 Zum Wirtschaftswunder detailliert: Abelshauser: „Wirtschaftsgeschichte der Bundesrepublik<br />
Deutschland 1945–1980“<br />
17 Lippe-Detmold kam 1946/47 zu Nordrhein-Westfalen; Baden-Württemberg entstand<br />
<strong>als</strong> „Südwest-Staat“ und verleibte sich Hohenzollern-Sigmaringen ein; Oldenburg kam<br />
zu Niedersachsen.