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das Buch als PDF-Datei (ca. 1.6 MB) - Mandative Demokratie

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48 <strong>Demokratie</strong> in schlechter Verfassung<br />

Was vor allem schiefgelaufen ist 49<br />

nicht legitimierter Einfluß zugebilligt werde.49 Die Kritik geht so weit,<br />

daß manche bereits die Phase des Parlamentarismus <strong>als</strong> beendet ansehen.<br />

Was kommt danach? Nach Auffassung von Colin Crouch der „Post-<br />

Parlamentarismus“. Papier hält dagegen:50 Die geschilderte Entwicklung<br />

sei kein Zeichen dafür, daß der Parlamentarismus überholt wäre. Er appelliert<br />

allerdings dafür, die Politik wieder in die Parlamente zurückzuholen.<br />

Als selbst geschaffene Ursache für den Bedeutungsschwund des Parlaments<br />

sind schließlich Scheinkompromisse zu nennen, die in vollem<br />

Bewußtsein eingegangen werden, daß anschließend <strong>das</strong> Bundesverfassungsgericht<br />

<strong>als</strong> Ersatzgesetzgeber tätig werden wird. Die Selbstentmachtung<br />

wird verschleiert. Den späteren Spruch des Verfassungsgerichts<br />

braucht die unterlegene Partei ihrer Klientel gegenüber nicht zu rechtfertigen:<br />

Vor Gericht und auf hoher See …<br />

Im umgekehrt proportionalen Verhältnis zum Kompetenzverlust und<br />

der Selbstentmachtung steht der hektische Aktionismus der Parlamentarier.<br />

Wir erleben in Deutschland eine Reglementierungswut, die unter<br />

dem Stichwort Bürokratie jedem leidvoll bekannt ist. Allein auf Bundesebene<br />

gab es 2008 nach Recherchen der Insider Wolfgang Clement<br />

und Friedrich Merz <strong>ca</strong>. 80.000 Rechtsvorschriften.51 Hinzu kommt<br />

sicher eine noch größere Anzahl aus Ländern und Gemeinden.<br />

Mit Geboten und Verboten ist es nicht getan. Laut Normenkontrollrat<br />

gab es Ende 2008 bundesrechtlich über 10.000 Informations- und<br />

Auskunftspflichten. Die Bundesregierung beziffert selbst die dadurch<br />

jährlich für die Wirtschaft entstehenden Kosten auf rund 50 Mrd. Euro.52<br />

Für eine solche Gesetzgebungsmaschinerie braucht man entsprechende<br />

Manpower. Trotz eines sich beschleunigenden Aufgabenverlusts<br />

des Bundestages hat sich die Anzahl der Mitarbeiter aller Abgeordneten<br />

von 1970 = 663 auf 6784 in 2009 mehr <strong>als</strong> verzehnfacht.53 Die Bundestagsverwaltung<br />

stockte darüber hinaus ihr Personal von 1968 = 907 auf<br />

2.400 in 2009 auf, <strong>als</strong>o auch auf mehr <strong>als</strong> <strong>das</strong> Zweieinhalbfache. Bei der<br />

Ministerialbürokratie dürfte es ähnlich aussehen.<br />

49 Papier: „Reform an Haupt und Gliedern“, FAZ vom 31. Januar 2003<br />

50 Papier: „Überholte Verfassung?“ FAZ vom 27. November 2003<br />

51 Clement/Merz: „Was jetzt zu tun ist“, S. 93<br />

52 http://www.bundestag.de/presse/hib/2011_01/2011_012/02.html<br />

53 FOCUS 19/2011 vom 9. Mai 2011<br />

Das Ergebnis, die produzierten Gesetzestexte, sind für den Bürger kaum<br />

noch lesbar – nicht in erster Linie wegen ihrer lebensfremden Sprache,<br />

sondern wegen unzähliger Verschachtelungen und Verweisungen. Mit<br />

dem Ziel einer Einzelfallgerechtigkeit versucht der Gesetzgeber jede<br />

denkbare Fallgestaltung zu regeln. Schließlich enthält ein Gesetz eine<br />

Kaskade von Ausnahmen zur Ausnahme von der Ausnahme. Fraktionen,<br />

Arbeitskreise, Lobbyisten – alle haben ganze Arbeit geleistet und<br />

für jede Interessengruppe eine Sonderregelung durchgesetzt.<br />

Eigentlich ist spätestens seit den Erfahrungen mit dem Preußischen<br />

Allgemeinen Landrecht von 1794 bekannt, daß es sinnlos ist, jeden denkbaren<br />

Fall regeln zu wollen. Unter Friedrich dem Großen hatte man<br />

dam<strong>als</strong> versucht, <strong>das</strong> ganze Recht in einem Gesetzbuch zu kodifizieren.<br />

Es kamen über 19.000 Paragraphen heraus aber keine Klarheit, weil die<br />

Lebenswirklichkeit eben erfinderischer <strong>als</strong> der stets nachhinkende<br />

Gesetzgeber ist. Schon die alten Römer wußten: „Summum ius – summa<br />

iniuria.“54 Peter Gutjahr-Löser, Kanzler der Universität Leipzig, zieht<br />

den Vergleich zu den Fraktalen: Man kann den Maßstab verändern wie<br />

man will, die Abbildung verändert sich prinzipiell nicht. Der Versuch,<br />

allen Lebensumständen durch Vorschriften gerecht zu werden, ist eine<br />

unendliche und damit unlösbare Aufgabe.55<br />

Die gesetzgeberische Hyperaktivität ist nicht nur sinnlos, sondern<br />

auch schädlich. Jede Überregulierung verschüttet Freiräume und erstickt<br />

Chancen. Sie schränkt den „trial and error“-Prozeß ein, von dem nach<br />

Popper eine erfolgreiche Gesellschaft abhängt. Helmut Schmidt56 sieht<br />

in der Überregulierung sogar einen Grund für die Arbeitslosigkeit in<br />

Deutschland, Frankreich und in Italien!<br />

Der Aktionismus läuft nach festgelegtem Schema ab. Das soll an<br />

einem aktuellen Fall, dem Dioxin-Skandal demonstriert werden. Was<br />

war geschehen? Ein Futtermittelhersteller hatte Anfang 2011 Dioxinverseuchtes<br />

Futtermittel an Landwirte verkauft. Bei Geflügelzüchtern<br />

und Schweinemästern waren daraufhin Dioxinwerte gemessen worden,<br />

die die Grenzwerte überschritten. Soweit so schlecht. Niemand war zu<br />

Schaden gekommen. Ein Verbraucher hätte täglich vier Stück von ausgerechnet<br />

diesen Eiern verspeisen müssen, um in seinem Körper den<br />

54 Weiterführend: Scholz: „Deutschland – In guter Verfassung?“, S. 186<br />

55 Gutjahr-Löser: „Staatsinfarkt“, S. 189<br />

56 Aust u. a.: „Der Fall Deutschland, Abstieg eines Superstars“, S. 222

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