Politische Kommunikation in der digitalen Gesellschaft - Govermedia
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Bernt von zur Mühlen<br />
und Schädl<strong>in</strong>ge erkennen wollte. Und es<br />
stellt sich die Frage, ob es bloß e<strong>in</strong> Zufall<br />
war, dass sich diese bildungsfe<strong>in</strong>dliche<br />
Entwicklung nach den 68er-Stürmen<br />
unheilvoll wie<strong>der</strong>holte und zur völligen<br />
Abschaffung des alten Bildungskanons<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Oberstufenreform von 1977<br />
führte.<br />
Wie nun Bildung mit Wissen zusammenhängt,<br />
könnte wie e<strong>in</strong> Sprengsatz<br />
wirken. Denn Bildung ordnet das Wissen,<br />
ist nicht gleichbedeutend mit ihm. Nur<br />
<strong>der</strong> Gebildete pflegt e<strong>in</strong>en vernünftigen,<br />
fruchttragenden Umgang mit dem Wissen.<br />
Er ist ke<strong>in</strong> Spezialist wie <strong>der</strong> Fachwissenschaftler,<br />
<strong>der</strong> von jenem e<strong>in</strong>gesetzt<br />
und <strong>in</strong>spiriert werden sollte, nicht umgekehrt<br />
und wie das heute meistens Usus<br />
ist. Es ist nicht <strong>in</strong> Ordnung, wenn <strong>der</strong><br />
Wissenschaftler dem Dichterphilosophen<br />
e<strong>in</strong>en Maulkorb umhängen, ihn aus <strong>der</strong><br />
Universität ausgrenzen darf, weil dieser<br />
<strong>in</strong> Bil<strong>der</strong>n spreche, was wissenschaftlich<br />
aber nicht seriös, nicht statthaft sei. Nach<br />
diesen kruden Methodenzwängen hätte<br />
heute e<strong>in</strong> Nietzsche an e<strong>in</strong>er deutschen<br />
Universität nichts mehr zu suchen. Der<br />
Wissenschaftsbetrieb bedarf <strong>der</strong> grundlegenden<br />
Deregulierung. Solange den<br />
Mythen schaffenden Kräften <strong>der</strong> Rückweg<br />
<strong>in</strong> die Universität <strong>der</strong> Wissenschaften<br />
und Künste versagt bleibt, wird man<br />
die gegenwärtigen Bildungs- und Ausbildungsprobleme<br />
nicht lösen können.<br />
Hohe Ausbildungsziele konkurrieren<br />
unvermittelt mite<strong>in</strong>an<strong>der</strong> und machen<br />
sich gegenseitig – ähnlich wie im Quotenwesen<br />
<strong>der</strong> Medien – die Etatposten streitig.<br />
Da die Biochemie gegenwärtig <strong>der</strong><br />
Universität mehr <strong>in</strong>ternationales Prestige<br />
e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>ge, dürfe sie e<strong>in</strong> Vielfaches an<br />
Macht und Etat gegenüber jenen armen<br />
Fächern beanspruchen, die kaum Anziehungskraft<br />
verbuchen könnten.<br />
Das <strong>in</strong>dividuelle, auf Persönlichkeit<br />
zentrierte Wesen <strong>der</strong> Bildung muss wie<strong>der</strong><br />
gestärkt werden. Nicht nur Th<strong>in</strong>k<br />
Tanks und Experten, son<strong>der</strong>n reich begabte,<br />
rhetorisch brillante Menschen sollten<br />
sichtbar die Spitze <strong>der</strong> Bildungsreformen<br />
repräsentieren und das Internet<br />
als Plattform nutzen. „Geistesmenschen“,<br />
wie Thomas Bernhard die Gebildeten bezeichnete,<br />
s<strong>in</strong>d autonom und scheuen <strong>in</strong><br />
<strong>der</strong> Regel die rigide Verwaltungspolitik,<br />
die Metaphysikverbote ausspricht.<br />
E<strong>in</strong> atheistisches Europa zermürbt sich<br />
selbst und hat ke<strong>in</strong>e große Chancen gegen<br />
die von enormen mythologischen<br />
Schwungrä<strong>der</strong>n angetriebenen Zukunftsmächte<br />
wie Ch<strong>in</strong>a, Indien und die islamische<br />
Welt. Die Frage ist gegenwärtig also:<br />
Wie könnte dieses Bild des Ganzen heute<br />
aussehen? Wie f<strong>in</strong>den wir zu e<strong>in</strong>er uns<br />
alle beflügelnden Zukunftsmythologie?<br />
Durch welche neue Idee könnte man das<br />
antike Renaissanceideal heute ersetzen?<br />
Warum gel<strong>in</strong>gen uns solche für alle verb<strong>in</strong>dlichen<br />
Bil<strong>der</strong> des Ganzen gegenwärtig<br />
nicht mehr? Weil wir uns nicht genügend<br />
dessen bewusst s<strong>in</strong>d, wie nötig<br />
wir sie haben? Weil wir noch immer stolz<br />
auf unseren rationalen Ideologien und<br />
Dogmen beharren?<br />
Zukunft von Bildung und Wissen ist<br />
e<strong>in</strong>e mythologische Kategorie, ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong><br />
wissenschaftliche und schon gar ke<strong>in</strong>e<br />
pragmatische Angelegenheit. Es geht also<br />
nicht darum, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>maliges und geniales<br />
Bildungskonzept zu kopieren o<strong>der</strong> zu<br />
wie<strong>der</strong>holen. Aber wir sollten uns dennoch<br />
<strong>in</strong> unser klassisches Bildungsvorbild<br />
vertiefen und Lehren herausziehen<br />
aus se<strong>in</strong>en <strong>in</strong>nersten, ideellen Beweggründen;<br />
wir sollten begreifen, welche<br />
fruchtbaren Irrtümer und welche Glaubensgehalte<br />
und Ideen es zugleich waren,<br />
die zur höchsten Bildungsblüte und zu<br />
e<strong>in</strong>em absoluten zivilisatorischen Höhepunkt<br />
<strong>in</strong> Europa führten.<br />
Das Internet mit se<strong>in</strong>er neuen Def<strong>in</strong>ition<br />
von Sen<strong>der</strong> und Empfänger als<br />
dialogischem Medium ist dabei die neue<br />
Bildungs- und Wissensrampe.<br />
Seite 20 Nr. 484 · März 2010