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ger geht nicht, ein bisschen Freier Wille auch nicht“, höhnt der Hirnforscher Wolf<br />
Singer zwar gegen alle Versuche, Reste von Freiheit im determinierten Kosmos<br />
ausfindig zu machen, doch leitet er daraus ab, dass Kriminelle für ihr Verhalten<br />
nicht mehr verantwortlich gemacht werden könnten. Damit folgt er unverständlicherweise<br />
einer Moralvorstellung, die gerade die Ideologie vom Freien Willen<br />
ebenso unverständlicherweise seit Jahrhunderten in unser Rechts- und Wertesystem<br />
implantiert hat.<br />
LESEPROBE<br />
Selbst der selbstbewusste Glaube an bewusstes Handeln<br />
ist eine bewusste Selbsttäuschung unseres Bewusstseins<br />
Besonders vor Gericht spielt das eine besondere Rolle, denn dort geht man<br />
nach wie vor davon aus, dass nur der, der über sein Handeln frei bestimmt, zur<br />
Rechenschaft gezogen werden kann. Als Beispiele für Unfreiheit gelten ein Drogenrausch<br />
oder das Handeln im Affekt, aber immer mehr wird auch die persönliche<br />
Sozialisation als Entscheidungskriterium<br />
Anfang des 19. Jahrhunderts galt Verbrechen<br />
noch als Geisteskrankheit.<br />
herangezogen. Ausgehend vom Individuum,<br />
und noch dazu vom frei entscheidenden,<br />
könne nur der gesetzlich belangt werden, der sich über sein Verhalten bewusst sei.<br />
Das interessiert den Erschlagenen, Geschlagenen, Betrogenen, Beleidigten oder<br />
sonstwie in seiner persönlichen Entfaltung zu Unrecht Eingeschränkten natürlich<br />
kein bisschen. Er möchte von der Gemeinschaft, vom Staat geschützt werden, oder<br />
er schützt sich selber.<br />
Wie viel Selbstjustiz und Resignation, wie viele ausufernde Racheakte und<br />
wie viel perspektivlose Verzweiflung hätten vermieden werden können, wäre das<br />
Rechtssystem nicht verblendet von der Vorstellung einer für Strafe notwendigen<br />
Erkenntnis von Verantwortlichkeit durch den Übeltäter. Mildernde Umstände<br />
bei Übeltätern einzuführen ist so willkürlich, als wollte man künftig Fußballspiele<br />
nach Haltungsnoten entscheiden. Das ist so zielführend, wie sich die Decke über<br />
die Ohren zu ziehen, wenn die Einbrecher im Haus sind.<br />
Die Zeitungen sind voll von Beispielen perversen Verbiegens des natürlichen<br />
Rechtsverständnisses im Namen des Freien Willen. Im Mai 2004 vergewaltigte ein<br />
21-Jähriger in Rathenow eine 73-Jährige. Er bedrohte die Frau und rammte ihr die<br />
Faust in den Unterleib. Als er das Blut sah, flüchtete er. Eine Notoperation rettete<br />
der alten Frau das Leben. Ein halbes Jahr später gelang es der Polizei, den Täter<br />
zu fassen. Ein weiteres halbes Jahr später wurde er vom Landgericht Potsdam<br />
freigesprochen und erhielt eine Haftentschädigung. Die Staatsanwaltschaft legte<br />
keine Revision ein, weil das Urteil gut begründet sei. Eine Sachverständige hatte<br />
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