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Leseproben Jane Austen E-Book - Reclam

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<strong>Leseproben</strong><br />

<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />

Die Romane<br />

Aus dem Englischen übersetzt von<br />

Ursula und Christian Grawe<br />

Nachwort und Anmerkungen<br />

von Christian Grawe<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© 2012 Philipp <strong>Reclam</strong> jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart<br />

Gesamtherstellung: <strong>Reclam</strong>, Ditzingen<br />

Made in Germany 2012<br />

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp <strong>Reclam</strong> jun. GmbH &<br />

Co. KG, Stuttgart<br />

www.reclam.de


Kapitel 1<br />

Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, dass ein Junggeselle<br />

im Besitz eines schönen Vermögens nichts dringender<br />

braucht als eine Frau.<br />

Zwar sind die Gefühle oder Ansichten eines solchen<br />

Mannes bei seinem Zuzug in eine neue Gegend meist unbekannt,<br />

aber diese Wahrheit sitzt in den Köpfen der ansässigen<br />

Familien so fest, dass er gleich als das rechtmäßige<br />

Eigentum der einen oder anderen ihrer Töchter gilt.<br />

»Mein lieber Mr. Bennet«, 1 sagte seine Gemahlin eines<br />

Tages zu ihm, »hast du schon gehört, dass Netherfield Park<br />

endlich vermietet ist?«<br />

Das habe er nicht, antwortete Mr. Bennet.<br />

»Doch, doch«, erwiderte sie, »Mrs. Long war nämlich<br />

gerade hier und hat es mir lang und breit erzählt.«<br />

Mr. Bennet gab keine Antwort.<br />

»Willst du denn gar nicht wissen, an wen?«, rief seine<br />

Frau ungeduldig.<br />

»Du willst es mir erzählen; ich habe nichts dagegen, es<br />

mir anzuhören.«<br />

Das genügte ihr als Aufforderung.<br />

»Stell dir vor, mein Lieber, Mrs. Long sagt, dass ein<br />

junger Mann aus dem Norden Englands mit großem Vermögen<br />

Netherfield gemietet hat; dass er am Montag in einem<br />

Vierspänner heruntergekommen ist, um sich den Besitz<br />

anzusehen, und so entzückt war, dass er mit Mr. Morris<br />

sofort einig geworden ist; noch vor Oktober will er angeb-


lich einziehen, und ein Teil seiner Dienerschaft soll schon<br />

Ende nächster Woche im Haus sein.«<br />

»Wie heißt er denn?«<br />

»Bingley.«<br />

»Ist er verheiratet oder ledig?«<br />

»Na, ledig natürlich! Ein Junggeselle mit großem Vermögen;<br />

vier- oder fünftausend pro Jahr. Ist das nicht schön<br />

für unsere Mädchen!«<br />

»Wieso? Was hat das mit ihnen zu tun?«<br />

»Mein lieber Mr. Bennet«, erwiderte seine Frau. »Wie<br />

kannst du nur so schwerfällig sein! Du musst dir doch<br />

denken können, dass er eine von ihnen heiraten soll.«<br />

»Ist er deshalb hierhergezogen?«<br />

»Deshalb! Unsinn, wie kannst du nur so etwas sagen!<br />

Aber es könnte doch gut sein, dass er sich in eine von ihnen<br />

verliebt, und darum musst du ihm einen Antrittsbesuch<br />

machen, sobald er kommt.«<br />

»Dazu sehe ich gar keine Veranlassung. Warum gehst<br />

du nicht mit den Mädchen hin, oder besser noch, schick sie<br />

allein, sonst wirft Mr. Bingley noch ein Auge auf dich; so<br />

hübsch wie sie bist du allemal.«<br />

»Du schmeichelst mir, mein Lieber. Meine Schönheit –<br />

das war einmal, aber jetzt halte ich mir darauf nicht mehr<br />

viel zugute. Wenn eine Frau fünf erwachsene Töchter hat,<br />

sollte sie nicht mehr von ihrer eigenen Schönheit reden.«<br />

»In solchen Fällen ist ihre Schönheit oft auch nicht<br />

mehr der Rede wert.«<br />

»Trotzdem, mein Lieber, du musst unbedingt Mr. Bingley<br />

besuchen, wenn er eingezogen ist.«<br />

»Das ist mehr, als ich versprechen kann.«<br />

»Aber denk doch an deine Töchter. Was für eine Partie<br />

wäre das für eine von ihnen. Sogar Sir William und Lady<br />

Lucas wollen bei ihm vorsprechen, und zwar nur deshalb,


denn im Allgemeinen machen sie neuen Nachbarn ja keine<br />

Besuche. Du musst einfach hingehen. Wie können wir ihn<br />

denn besuchen, wenn du nicht gehst.«<br />

»Du hast zu viele Bedenken. Ich bin überzeugt, Mr. Bingley<br />

freut sich über euren Besuch. Ich gebe dir ein paar<br />

Zeilen mit meiner herzlichen Zustimmung mit, diejenige<br />

meiner Töchter zu heiraten, die ihm am besten gefällt. Allerdings<br />

muss ich ein gutes Wort für meine kleine Lizzy<br />

einlegen.«<br />

»Das wirst du nicht tun. Lizzy ist keinen Deut besser<br />

als die anderen; wenn du mich fragst, ist sie bei weitem<br />

nicht so hübsch wie <strong>Jane</strong> und bei weitem nicht so vergnügt<br />

wie Lydia. Aber immer ziehst du sie vor.«<br />

»Keine von ihnen ist besonders empfehlenswert«, antwortete<br />

er; »sie sind alle genauso albern und dumm wie<br />

andere Mädchen. Nur begreift Lizzy etwas schneller als<br />

ihre Schwestern.«<br />

»Mr. Bennet, wie kannst du nur über deine eigenen Kinder<br />

so abfällig reden! Es macht dir Spaß, mich zu ärgern. Mit<br />

meinen armen Nerven hast du wohl gar kein Mitleid.«<br />

»Du missverstehst mich, meine Liebe. Ich habe großen<br />

Respekt vor deinen Nerven. Sie und ich sind alte Freunde.<br />

Seit mindestens zwanzig Jahren höre ich dich von ihnen<br />

mit großer Besorgnis sprechen.«<br />

»Oh, du ahnst ja nicht, was ich durchmache!«<br />

»Ich hoffe, du wirst es überleben und noch viele junge<br />

Männer mit viertausend pro Jahr hierherziehen sehen.«<br />

»Da du sie nicht besuchen willst, werden uns auch<br />

zwanzig nicht retten.«<br />

»Sei überzeugt, meine Liebe, wenn zwanzig da sind, besuche<br />

ich sie einen nach dem anderen.«<br />

In Mr. Bennet vereinigten sich Schlagfertigkeit, sarkastischer<br />

Humor, Gelassenheit und kauzige Einfälle zu einer


so merkwürdigen Mischung, dass es seiner Frau auch in<br />

dreiundzwanzig Ehejahren nicht gelungen war, ihn zu begreifen.<br />

Ihr Gemüt war leichter zu durchschauen. Sie war<br />

eine Frau von geringer Einsicht, wenig Weltkenntnis und<br />

vielen Launen. Wenn sie unzufrieden war, glaubte sie, nervöse<br />

Zustände zu haben. Ihre Lebensbeschäftigung war die<br />

Verheiratung ihrer Töchter, Besuche und Neuigkeiten waren<br />

ihr Lebenstrost.<br />

Kapitel 2<br />

Mr. Bennet war einer der Ersten, die Mr. Bingley ihre Aufwartung<br />

machten. Er hatte von Anfang an vorgehabt, ihn<br />

aufzusuchen, obwohl er seiner Frau bis zuletzt das Gegenteil<br />

versichert hatte; und bis zum Abend nach dem Besuch wusste<br />

sie auch nichts davon. Dann aber kam es folgendermaßen<br />

ans Licht: Mr. Bennet sah seiner zweiten Tochter beim Annähen<br />

eines Hutbandes zu und sagte plötzlich zu ihr:<br />

»Hoffentlich gefällt der Hut Mr. Bingley, Lizzy.«<br />

»Wie sollen wir denn wissen, was Mr. Bingley gefällt«,<br />

sagte ihre Mutter pikiert, »wenn wir ihn nicht besuchen<br />

dürfen.«<br />

»Aber vergiss nicht, Mama«, sagte Elizabeth, »dass wir<br />

ihm in Gesellschaft begegnen werden und Mrs. Long versprochen<br />

hat, ihn uns vorzustellen.«<br />

»Mrs. Long wird nichts dergleichen tun. Sie hat selbst<br />

zwei Nichten und ist eine egoistische Heuchlerin. Ich halte<br />

gar nichts von ihr.«<br />

»Ich auch nicht«, sagte Mr. Bennet, »und wie ich glücklicherweise<br />

sagen kann, werdet ihr auf die Gefälligkeit<br />

auch nicht angewiesen sein.«


Mrs. Bennet ließ sich zu keiner Antwort herab, aber da<br />

sie sich nicht beherrschen konnte, fing sie an, eine ihrer<br />

Töchter auszuschimpfen.<br />

»Hör auf zu husten, Kitty, um Himmels willen! Nimm<br />

ein bisschen Rücksicht auf meine Nerven. Du trampelst<br />

auf ihnen herum.«<br />

»Kittys Husten ist wirklich rücksichtslos«, sagte ihr Vater,<br />

»sie hustet zur falschen Zeit.«<br />

»Ich huste ja schließlich nicht zum Vergnügen«, antwortete<br />

Kitty ärgerlich.<br />

»Wann ist dein nächster Ball, Lizzy?«<br />

»Morgen in vierzehn Tagen.«<br />

»Ach, richtig«, rief ihre Mutter, »und Mrs. Long<br />

kommt erst am Tag vorher zurück, und deshalb kann sie<br />

ihn uns auch nicht vorstellen, denn sie kennt ihn selbst<br />

noch nicht.«<br />

»Dann, meine Liebe, wirst du deiner Freundin zuvorkommen<br />

und das Vergnügen haben, Mr. Bingley ihr vorzustellen.«<br />

»Ausgeschlossen, Mr. Bennet, ausgeschlossen, wenn ich<br />

ihn doch selbst nicht kenne. Du willst uns auf den Arm<br />

nehmen.«<br />

»Deine Umsicht ehrt dich. Eine vierzehntägige Bekanntschaft<br />

ist natürlich nicht viel. Nach vierzehn Tagen<br />

kennt man einen Menschen ja kaum. Aber wenn wir es<br />

nicht wagen, wird es jemand anders tun; schließlich müssen<br />

auch Mrs. Long und ihre Nichten ihre Chance wahrnehmen,<br />

und deshalb wäre sie dir für diesen Liebesdienst<br />

sicher dankbar. Wenn du es also ablehnst, werde ich es in<br />

die Hand nehmen.«<br />

Die Mädchen starrten ihren Vater an. Mrs. Bennet sagte<br />

nur: »Unsinn, Unsinn!«<br />

»Darf ich auch den Sinn dieser so entschiedenen Ableh-


nung erfahren?«, rief er. »Hältst du die gesellschaftlichen<br />

Umgangsformen für Unsinn? Legst du gar keinen Wert<br />

auf eine korrekte Vorstellung? Da kann ich dir nicht ganz<br />

zustimmen. Was meinst du, Mary? Du bist doch eine<br />

grundgescheite junge Dame, liest gewichtige Bücher und<br />

machst dir Auszüge daraus.«<br />

Mary hätte gerne etwas Tiefsinniges gesagt, aber es fiel<br />

ihr nichts ein.<br />

»Wir wollen«, fuhr er fort, »während Mary ihre Gedanken<br />

zurechtlegt, zu Mr. Bingley zurückkehren.«<br />

»Ich habe genug von Mr. Bingley!«, rief seine Frau.<br />

»Das zu hören, bedaure ich. Aber warum hast du mir<br />

das nicht vorher gesagt? Wenn ich das heute Morgen gewusst<br />

hätte, hätte ich ihm meine Aufwartung gar nicht<br />

erst gemacht. Eine unglückliche Situation, aber da ich ihn<br />

nun schon einmal aufgesucht habe, lässt sich die Bekanntschaft<br />

nicht mehr umgehen.«<br />

Das Erstaunen der Damen war ganz nach seinem<br />

Wunsch. Mrs. Bennets Überraschung war vielleicht am<br />

größten, aber als der erste Freudentaumel vorüber war, erklärte<br />

sie, genau das habe sie die ganze Zeit erwartet.<br />

»Wie nett von dir, mein lieber Mr. Bennet. Aber ich<br />

wusste, ich würde dich zu guter Letzt herumkriegen. Ich<br />

habe mir gleich gedacht, dass du deine Töchter zu sehr<br />

liebst, um dir solche Bekanntschaft entgehen zu lassen.<br />

Nein, wie mich das freut! Und es ist ein köstlicher Witz,<br />

dass du heute Morgen hingegangen bist und uns bis eben<br />

nichts davon gesagt hast.«<br />

»Jetzt kannst du so viel husten, wie du willst, Kitty«,<br />

sagte Mr. Bennet und, erschöpft von den Gefühlsausbrüchen<br />

seiner Frau, verließ er mit diesen Worten das Zimmer.<br />

»Was habt ihr doch für einen großartigen Vater, ihr<br />

Mädchen!«, sagte sie, als die Tür wieder geschlossen war.


»Ich weiß gar nicht, wie ihr ihm seine Fürsorge je vergelten<br />

wollt – von meiner ganz zu schweigen. In unserem<br />

Alter ist es weiß Gott kein Vergnügen, jeden Tag neue<br />

Bekanntschaften zu machen; aber für euch tun wir ja alles.<br />

Lydia, mein Kind, du bist zwar die Jüngste, aber Mr. Bingley<br />

wird bestimmt auf dem nächsten Ball mit dir tanzen.«<br />

»Na und!«, sagte Lydia beherzt, »davor habe ich gar<br />

keine Angst; ich bin zwar die Jüngste, aber auch die Größte.«<br />

Den Rest des Abends verbrachten sie mit Überlegungen,<br />

wie bald er wohl Mr. Bennets Besuch erwidern würde<br />

und wann sie ihn zum Essen einladen sollten.<br />

Kapitel 3<br />

Trotz aller Fragen, die Mrs. Bennet mit Unterstützung ihrer<br />

fünf Töchter zu diesem Thema stellte, ließ sich ihr<br />

Mann keine befriedigende Beschreibung von Mr. Bingley<br />

entlocken. Dabei versuchten sie es mit allen Mitteln: Sie<br />

überfielen ihn mit unverhohlenen Fragen, mit listigen<br />

Unterstellungen und mit weit hergeholten Vermutungen.<br />

Aber er ließ sich trotz all ihrer Geschicklichkeit nicht in<br />

die Falle locken, und so mussten sie zu guter Letzt dankbar<br />

für die Informationen aus zweiter Hand sein, die ihnen<br />

ihre Nachbarin, Lady Lucas, gab. Ihr Bericht fiel ausgesprochen<br />

günstig aus. Sir William war entzückt von Mr.<br />

Bingley gewesen. Er war jung, sah hinreißend aus, war äußerst<br />

umgänglich, und, um allem die Krone aufzusetzen,<br />

er hatte vor, zum nächsten Ball mit großer Gesellschaft<br />

zu kommen. Nichts hätte vielversprechender sein können.<br />

Gerne tanzen hieß schon halb verliebt sein; und so machte


Nachwort<br />

»Of all great writers she is the most<br />

difficult to catch in the act of greatness.«<br />

Virginia Woolf über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />

1<br />

»Pride and Prejudice. Ein Roman. In drei Bänden. Von der<br />

Autorin von Sense and Sensibility« erschien anonym zum<br />

Preise von 18 Shilling und in 1500 Exemplaren Ende Januar<br />

1813 in London. Das Buch war innerhalb von sechs Monaten<br />

ausverkauft, so dass noch im selben Jahr eine zweite<br />

Auflage herausgebracht werden konnte – bei Publikum<br />

und Kritik, soweit sie damals Romane zur Kenntnis nahmen,<br />

durchaus ein Erfolg für die Autorin. Aber wer war<br />

sie? Auch auf dem Titelblatt ihres ersten, zwei Jahre vorher<br />

erschienenen Romans hatte es nur geheißen: »by a<br />

lady«, von einer Dame. Und sie genoss ihre Anonymität.<br />

Es traf sich nämlich, dass bei der Ankunft ihrer Belegexemplare<br />

von Pride and Prejudice eine Nachbarin zu Besuch<br />

war, der die Autorin und ihre Mutter das Geheimnis<br />

nicht verrieten, aber aus dem brandneuen Roman vorlasen:<br />

»Sie fand es ganz witzig, die arme Seele. Das konnte sie<br />

denn doch nicht verhindern bei zwei Leuten, die sie so zum<br />

Lachen anregten, aber Elizabeth gefällt ihr anscheinend<br />

wirklich gut. Ich muss selbst sagen, ich finde sie eine der<br />

hinreißendsten Gestalten, die je gedruckt erschienen sind,<br />

und ich habe keine Ahnung, wie ich mit denen gnädig sein<br />

soll, die nicht wenigstens sie leiden mögen.«<br />

Aber zu dieser Befürchtung war wenig Anlass. Elizabeth<br />

Bennet – so meint <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Biographin E. Jenkins –


»hat vielleicht mehr Verehrer als jede andere Heldin in der<br />

englischen Literatur«. R. L. Stevenson ging sogar so weit<br />

zu sagen, jedes Mal wenn Elizabeth Bennet den Mund aufmache,<br />

würde er am liebsten vor ihr niederknien. Dabei<br />

war schon zur Zeit ihres Erscheinens die Konkurrenz groß:<br />

Es wimmelte von Damen, die Romane schrieben, und<br />

von Heldinnen mit den atemberaubendsten Schicksalen<br />

und so exotischen Namen wie Belinda, Evelina, Cecilia und<br />

Emmeline. Aber schon ein Teil der Zeitgenossen spürte,<br />

dass Elizabeth Bennets Geschichte nicht einer der gängigen<br />

Frauenromane der Zeit war, und kein Geringerer als Walter<br />

Scott hat es 1816 als Erster ausgesprochen: »Statt der großartigen<br />

Szenen einer Phantasiewelt eine nicht übertriebene<br />

und treffende Darstellung dessen, was Tag für Tag um [den<br />

Leser] vorgeht.« Das Sensationelle in <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Romanen<br />

war, dass darin nichts Sensationelles geschah. Schon<br />

die alltäglichen Namen ihrer Heldinnen sind Teil dieses<br />

Protests gegen die artifizielle Welt des Romans der Zeit. Er<br />

brachte den Lesern oder eher Leserinnen das Gruseln bei<br />

oder ließ sie sentimentale Frauenschicksale miterleben –<br />

oder beides zugleich.<br />

Die ›Gothic Novel‹, der gotische Roman, war im<br />

Schwange. Grauenhaftes widerfuhr darin unschuldigen<br />

jungen Damen von grausamen Verwandten oder frustrierten<br />

Liebhabern in unheimlichen alten Schlössern, auf<br />

Friedhöfen oder in finsteren Wäldern. Anne Radcliffe war<br />

die erfolgreiche Meisterin des Genres, und unsere Autorin<br />

hat sie in Northanger Abbey köstlich parodiert: Die arglose<br />

junge Catherine Morland liest gerade Mysteries of Udolpho<br />

(1794) der Anne Radcliffe und hofft, bei ihrem Besuch<br />

auf einem alten Herrensitz ebenso schreckliche Familiengeheimnisse<br />

zu entdecken wie in dem Buch – hat der Hausherr<br />

seine Frau ermordet, oder hält er sie in einem dunklen


Verlies gefangen? –, aber der zweite Sohn des Hauses heilt<br />

sie von ihrem Wahn, gotische Romane für Wirklichkeit zu<br />

halten und – heiratet sie. Es ist die Autorin selbst, die mit<br />

der Heldin denkt: »So reizend all die Werke von Mrs. Radcliffe<br />

und so reizend sogar die Werke all ihrer Nachahmer<br />

waren, nach der Wirklichkeitstreue der Charaktere (›human<br />

nature‹) durfte man darin nicht fragen.«<br />

Nicht minder beliebt war der sentimentale Frauenroman<br />

in der Nachfolge der für uns heute so langatmigen<br />

Briefromane Samuel Richardsons. Ein armes Mädchen,<br />

wenn möglich Waise, wird darin meist in die große Welt<br />

eingeführt und entpuppt sich gern als reiche Erbin. Die populären<br />

Vertreterinnen dieses Genres waren die melodramatische<br />

Elizabeth Inchbald, Fanny Burney, die von der<br />

Autorin von Pride and Prejudice geschätzt wurde, und Maria<br />

Edgeworth, deren Anerkennung sie suchte und nicht<br />

fand und die das Verdienst hat, mit Castle Rackrent (1800)<br />

das irische Lokalkolorit – wie Scott das schottische – für die<br />

Literatur entdeckt zu haben, was etwa bei Charles Maturins<br />

Melmouth the Wanderer (1820) und William Thackerays<br />

Barry Lyndon (1844) weiterwirkt. Die Frivolität des städtischen<br />

Lebens wird darin mit leichtem Schaudern ausgemalt,<br />

zarte Gefühle werden ausgiebig beschrieben, und Damen<br />

brechen gern in Tränen aus oder fallen in Ohnmacht.<br />

Die sanfte und naive Heldin begegnet dem charmanten Bösewicht<br />

und der raffinierten Dame von Welt, ist aber keineswegs<br />

korrumpierbar und findet schließlich ihr Glück.<br />

Mrs. Burneys Evelina (1778) heißt schon im Untertitel<br />

»Geschichte einer jungen Dame beim Eintritt in die Gesellschaft«,<br />

und auch M. Edgeworths Belinda (1801) wird im<br />

Laufe der Handlung »eine junge Dame, die gerade in die<br />

Gesellschaft eintritt« genannt. Die kühle Elizabeth Bennet<br />

ist auch hier ein Gegentyp.


Die drei erfolgreichen Schreiberinnen solcher Romane<br />

waren in aller Munde, aber wer war die Verfasserin von<br />

Pride and Prejudice? Mr. Clarke, der Bibliothekar des<br />

Prinzregenten, wusste es durch ihren Bruder. Er war wie<br />

sein Herr ein Bewunderer ihrer Romane und schrieb ihr,<br />

nachdem er sie kurz vorher bei ihrem Besuch in London<br />

auf ausdrücklichen Wunsch Seiner Königlichen Hoheit<br />

durch deren Bibliothek geführt hatte, im Herbst 1815, ob<br />

sie nicht einen Roman ȟber die Lebensgewohnheiten, den<br />

Charakter und den beruflichen Enthusiasmus eines Geistlichen«<br />

schreiben könne? Die englische Literatur habe es<br />

bisher versäumt, diesem Berufsstand den ihm gebührenden<br />

Tribut zu zollen. – (Trotz Goldsmiths The Vicar of<br />

Wakefield, Mr. Clarke?) – Die Autorin antwortete ihm auf<br />

diesen Brief, dem J. B. Priestley »wegen seines pompösen<br />

Schwachsinns« Unsterblichkeit gewünscht hat, dazu sei sie<br />

nicht imstande: »Eine humanistische Bildung oder wenigstens<br />

eine ausgedehnte Kenntnis der älteren und neueren<br />

englischen Literatur erscheint mir unerlässlich für die Romangestalt,<br />

die Ihrem Geistlichen gerecht würde […]. Ich<br />

aber kann mich in aller Eitelkeit rühmen, die ungebildetste<br />

und unwissendste Frau zu sein, die sich je ans Romanschreiben<br />

gewagt hat.«<br />

Das war übertrieben; und Mr. Clarke hatte wohl das<br />

1814 erschienene Mansfield Park nicht sorgsam genug gelesen,<br />

denn darin ist in der Gestalt Edmund Bertrams die<br />

Würdigung des Geistlichen schon enthalten. Oder forderte<br />

er, der selber Geistlicher war, Wiedergutmachung für die<br />

groteske Figur des Mr. Collins? Jedenfalls gab er nicht auf.<br />

Unterdessen mit dem neuesten Roman der Autorin, Emma,<br />

vertraut, der Seiner Königlichen Hoheit auf deren eigenen<br />

Wunsch gewidmet war, und seit kurzem Privatsekretär des<br />

Prinzen Leopold von Sachsen-Coburg, dessen Hochzeit mit


der Tochter des Regenten bevorstand, wandte er sich noch<br />

einmal an die Autorin und riet ihr zu einem historischen<br />

Liebesroman (›historic romance‹), der dem Hause Coburg<br />

Ehre antue und diesmal dem Prinzen gewidmet sein dürfe.<br />

Nun musste die zurückhaltende Schriftstellerin deutlicher<br />

werden: »Ich glaube schon«, schrieb sie ihm im Frühjahr<br />

1816, »dass ein historischer Liebesroman über das<br />

Haus Coburg profitabler und populärer wäre als die häuslichen<br />

Szenen auf dem Lande, mit denen ich mich beschäftige.<br />

Aber ich könnte einen Liebesroman ebenso wenig<br />

schreiben wie ein Versepos […]. Nein, ich muss bei meinem<br />

Metier bleiben und meinen eigenen Weg gehen, auch<br />

wenn mir Erfolg dabei nie wieder zuteilwird; auf jede andere<br />

Weise würde ich meiner Meinung nach unweigerlich<br />

scheitern.«<br />

Die häuslichen Szenen auf dem Lande – »Drei oder vier<br />

Familien in einem Dorf auf dem Lande, das ist der ideale<br />

Romanstoff (›the very thing to work on‹)« –, die heute zu<br />

den Höhepunkten der englischen Prosaliteratur gehören,<br />

wurden in der Hand der Autorin zu sublimen Kunstwerken.<br />

Wie gut, dass sie auf Mr. Clarkes Vorschläge nicht einging,<br />

dass sie ihren literarischen Weg unbeirrt verfolgte.<br />

Aber wer war sie? Die Öffentlichkeit erfuhr es offiziell<br />

erst ein halbes Jahr nach ihrem Tode, als ihr Bruder ihre<br />

beiden vollendeten nachgelassenen Romane publizierte und<br />

mit einer biographischen Notiz versah. Alle vier zu ihren<br />

Lebzeiten veröffentlichten Bücher erschienen anonym, obwohl<br />

ihr Name ein offenes Geheimnis zu werden begann,<br />

als <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> 1817 im Alter von 42 Jahren starb.


Kapitel 1<br />

Sir Walter Elliot von Kellynch Hall in Somersetshire 1 war<br />

ein Mann, der außer dem Adelskalender nie ein Buch zum<br />

Vergnügen in die Hand nahm; dabei aber fand er Beschäftigung<br />

in müßigen und Trost in trübsinnigen Stunden; dabei<br />

erregte der Gedanke an den ausgesuchten Kreis der<br />

noch überlebenden ältesten Adelsfamilien Bewunderung<br />

und Ehrfurcht in ihm; dabei verwandelten sich alle unangenehmen<br />

Empfindungen, die wohl mit seinen häuslichen<br />

Umständen zusammenhingen, unweigerlich in Mitleid und<br />

Verachtung, wenn er die schier endlosen Adelsverleihungen<br />

des letzten Jahrhunderts durchblätterte; und dabei las<br />

er, wenn alle anderen Seiten des Buches ihre Wirkung verfehlten,<br />

mit nie versagendem Interesse seine eigene Geschichte.<br />

Dies war die Stelle, an der sich sein Lieblingsbuch<br />

unterdessen ganz von selbst aufschlug.<br />

Elliot von Kellynch Hall<br />

»Walter Elliot, geb. 1. März 1760, verh. 15. Juli 1784<br />

mit Elizabeth, Tochter von James Stevenson, wohlgeb.,<br />

von Southpark in der Grafschaft Gloucester.<br />

Seine Gemahlin (die 1800 starb) gebar ihm folgende<br />

Kinder: Elizabeth (1. Juni 1785), Anne (9. August<br />

1787), einen totgeborenen Sohn (5. November<br />

1789), Mary (20. November 1791).«<br />

Genau so war der Absatz ursprünglich aus den Händen<br />

des Druckers gekommen, aber Sir Walter hatte ihn da-


durch verbessert, dass er zu seiner eigenen Information<br />

und zu der seiner Familie hinter Marys Geburtsdatum die<br />

Worte »verh. 16. Dezember 1810 mit Charles, Sohn und<br />

Erbe von Charles Musgrove, wohlgeb., von Uppercross in<br />

der Grafschaft Somerset« ergänzt und präzise Tag und<br />

Monat eingetragen hatte, an dem ihm seine Frau gestorben<br />

war.<br />

Dann folgten in den üblichen Formulierungen Geschichte<br />

und Aufstieg der alten und angesehenen Familie:<br />

wie sie sich ursprünglich in Cheshire niedergelassen hatten,<br />

wie sie in Dugdale als höchste königliche Beamte der<br />

Grafschaft und als Abgeordnete in drei aufeinanderfolgenden<br />

Parlamenten mit ihrem Eifer im Dienst der Krone und<br />

der Verleihung der Baronatswürde im ersten Jahr der<br />

Herrschaft Karls II. und all den Marys und Elizabeths, die<br />

sie geheiratet hatten, erwähnt wurden – was alles in allem<br />

zwei eindrucksvolle Duodezseiten füllte und nach dem<br />

Wappen und dem Wahlspruch abschloss mit: »Hauptsitz:<br />

Kellynch Hall in der Grafschaft Somerset«, und dem folgenden<br />

Zusatz, wieder in Sir Walters eigener Handschrift:<br />

»Erbe: William Walter Elliot, hochwohlgeb., Urenkel des<br />

zweiten Sir Walter.«<br />

Eitelkeit war das A und O von Sir Walters Charakter –<br />

persönliche und gesellschaftliche Eitelkeit. Er hatte in seiner<br />

Jugend bemerkenswert gut ausgesehen und war mit<br />

vierundfünfzig noch immer ein ausgesprochen ansehnlicher<br />

Mann. Nur wenige Frauen verschwendeten wohl<br />

mehr Gedanken an ihre äußere Erscheinung als er, und<br />

nicht einmal der Kammerdiener irgendeines gerade geadelten<br />

Lords hätte begeisterter über seine Stellung in der Gesellschaft<br />

sein können. Seiner Meinung nach wurde der<br />

Segen der Schönheit nur vom Segen eines Baronats übertroffen,<br />

und der Sir Walter, der diese Gaben in sich ver-


einigte, war der ständige Gegenstand seiner tiefsten Ehrfurcht<br />

und Anbetung.<br />

In einer Hinsicht war sein Stolz auf sein gutes Aussehen<br />

und seinen Rang berechtigt, denn nur ihnen verdankte er<br />

wohl eine Frau, die charakterlich allen Ansprüchen, die er<br />

diesbezüglich stellen durfte, unendlich überlegen war. Lady<br />

Elliot war eine großartige Frau gewesen, vernünftig und liebenswert;<br />

und wenn man ihr die jugendliche Verblendung<br />

vergeben kann, durch die sie Lady Elliot wurde, so waren<br />

ihr Urteil und ihre Haltung später auf Nachsicht keineswegs<br />

angewiesen. Sie hatte die Schwächen ihres Mannes<br />

hingenommen oder gemildert oder zugedeckt und siebzehn<br />

Jahre lang zu seinem Ansehen beigetragen; und obwohl sie<br />

in ihrem Leben nicht gerade glücklich gewesen war, hatten<br />

ihre Pflichten, ihre Freunde und ihre Kinder ihr das Leben<br />

lebenswert und keineswegs gleichgültig erscheinen lassen,<br />

als die Abschiedsstunde nahte. Drei Mädchen zu hinterlassen,<br />

die älteren sechzehn und vierzehn, war ein furchtbares<br />

Vermächtnis für eine Mutter, ja mehr, es war eine furchtbare<br />

Belastung, sie der Autorität und dem Schutz eines eitlen,<br />

oberflächlichen Vaters anzuvertrauen. Sie hatte allerdings<br />

eine enge Freundin, eine vernünftige, verdienstvolle Frau,<br />

die sich aus Anhänglichkeit zu ihr ganz in ihrer Nähe, im<br />

Dorf Kellynch, niedergelassen hatte und auf deren Verständnis<br />

und Rat bei der Verwirklichung all der soliden<br />

Grundsätze und Anordnungen, auf die sie bei ihren Töchtern<br />

solchen Wert gelegt hatte, sie sich vor allem verließ.<br />

Diese Freundin und Sir Walter heirateten aber trotz allem,<br />

was ihre Bekannten in dieser Hinsicht vorausgesagt<br />

hatten, nicht. Dreizehn Jahre waren seit Lady Elliots Tod<br />

vergangen, und sie waren immer noch enge Nachbarn und<br />

gute Freunde, und der eine blieb Witwer und die andere<br />

Witwe.


Dass Lady Russell bei ihrem gefestigten Alter und Charakter<br />

und ihrer finanziellen Unabhängigkeit an eine zweite<br />

Ehe nicht dachte, bedarf keiner Entschuldigung in den<br />

Augen der Öffentlichkeit, die eher dazu neigt, unvernünftige<br />

Entrüstung zu zeigen, wenn eine Frau tatsächlich wieder<br />

heiratet, als wenn sie es nicht tut; aber dass Sir Walter<br />

weiter allein blieb, verlangt eine Erklärung. Es sei deshalb<br />

angemerkt, dass Sir Walter (nachdem er bei sehr unvernünftigen<br />

Heiratsanträgen ein oder zwei persönliche Enttäuschungen<br />

erfahren hatte) wie jeder gute Vater stolz darauf<br />

war, um seiner lieben Töchter willen unverheiratet zu<br />

bleiben. Für eine Tochter, für seine älteste, hätte er wirklich<br />

auf alles verzichtet – ein Gedanke, der ihm sonst gar<br />

nicht nahelag. Elizabeth hatte mit sechzehn, soweit irgend<br />

möglich, die Rechte und die gesellschaftliche Stellung ihrer<br />

Mutter übernommen; und da sie sehr schön und ihm selbst<br />

sehr ähnlich war, war ihr Einfluss auf ihn immer groß gewesen,<br />

und sie hatten sich immer glänzend verstanden.<br />

Seine beiden anderen Kinder bedeuteten ihm sehr viel weniger.<br />

Mary hatte sich auf Umwegen ein bisschen Bedeutung<br />

erworben, indem sie Mrs. Charles Musgrove geworden<br />

war, aber Anne mit ihrer geistigen Überlegenheit und<br />

ihrem ausgeglichenen Charakter, die ihr die Achtung aller<br />

wirklich einsichtigen Menschen einbringen mussten, bedeutete<br />

weder ihrem Vater noch ihrer Schwester etwas; ihr<br />

Wort zählte nicht, auf ihre Bequemlichkeit kam es nicht<br />

an; sie war nur Anne.<br />

Aber sie war Lady Russells geliebte und hochgeschätzte<br />

Patentochter, Favoritin und Freundin. Lady Russell liebte<br />

sie alle, aber nur in Anne sah sie das leibhaftige Ebenbild<br />

ihrer Mutter.<br />

Vor ein paar Jahren war Anne Elliot ein sehr hübsches<br />

Mädchen gewesen, aber ihre Schönheit war früh vergan-


gen; und da sie für ihren Vater auch in ihrer vollen Blüte<br />

wenig Bewundernswertes gehabt hatte (so völlig verschieden<br />

waren ihre feinen Züge und freundlichen dunklen Augen<br />

von seinen eigenen), besaß sie jetzt, wo sie verwelkt<br />

und dünn war, nichts mehr, was seinen Beifall fand. Er hatte<br />

sich nie großen Hoffnungen hingegeben und hegte jetzt<br />

gar keine mehr, ihren Namen je auf einer weiteren Seite<br />

seines Lieblingsbuches zu sehen. Eine ebenbürtige Heirat<br />

kam nur für Elizabeth in Frage, denn Mary hatte lediglich<br />

in eine alteingesessene Gutsbesitzerfamilie von Ansehen<br />

und großem Vermögen eingeheiratet und war deshalb<br />

durch ihre Heirat nicht im Rang gestiegen, sondern gesunken.<br />

Elizabeth würde irgendwann einmal angemessen heiraten.<br />

Es kommt manchmal vor, dass eine Frau mit neunundzwanzig<br />

hübscher ist als zehn Jahre zuvor; und wenn sie<br />

nicht unter Krankheit oder Kummer gelitten hat, handelt<br />

es sich im Allgemeinen um einen Zeitpunkt im Leben, an<br />

dem sie kaum an Charme eingebüßt hat. So war es mit Elizabeth<br />

– immer noch dieselbe schöne Miss Elliot, zu der sie<br />

vor dreizehn Jahren herangewachsen war, und man konnte<br />

es Sir Walter deshalb verzeihen, dass er ihr Alter vergaß,<br />

oder ihn jedenfalls nicht für ganz so naiv halten, wenn er<br />

sich und Elizabeth, während das gute Aussehen aller anderen<br />

dahin war, blühend fand wie eh und je, denn er konnte<br />

deutlich sehen, wie der Rest seiner Familie und seiner Bekanntschaft<br />

alterte. Anne hager, Mary gewöhnlich, jedes<br />

Gesicht in der Nachbarschaft heruntergekommen, und die<br />

rapide Vermehrung von Krähenfüßen in Lady Russells<br />

Augenwinkeln beobachtete er seit langem mit Beklommenheit.<br />

Elizabeth besaß nicht ganz die Selbstgefälligkeit ihres<br />

Vaters. Seit dreizehn Jahren war sie Herrin von Kellynch


Hall und herrschte und lenkte mit einer Besonnenheit und<br />

Entschiedenheit, die niemals den Gedanken nahelegten, sie<br />

sei jünger, als sie tatsächlich war. Dreizehn Jahre lang hatte<br />

sie die Rolle der Gastgeberin gespielt und die häusliche<br />

Ordnung bestimmt und war zur vierspännigen Kutsche<br />

vorausgeschritten und hatte unmittelbar hinter Lady Russell<br />

alle Wohnzimmer und Esszimmer in der Gegend verlassen.<br />

Dreizehnmal hatte der wiederkehrende Winterfrost<br />

sie jeden standesgemäßen Ball eröffnen sehen, den eine<br />

dünngesäte Nachbarschaft zustande brachte; und dreizehnmal<br />

hatte der Frühling seine Blüten gezeigt, wenn sie mit<br />

ihrem Vater nach London reiste, um jährlich ein paar Wochen<br />

die große Welt zu genießen. Sie lebte in der Erinnerung<br />

daran. Sie lebte in dem Bewusstsein, neunundzwanzig<br />

zu sein; und beides verursachte ihr ein gewisses Bedauern<br />

und eine gewisse Beklemmung. Sie war durchaus<br />

überzeugt, dass sie immer noch so schön war wie eh und<br />

je, aber sie spürte, dass sie sich den gefährlichen Jahren näherte;<br />

und die Gewissheit, dass jemand von Adel im Laufe<br />

der nächsten ein oder zwei Jahre förmlich um ihre Hand<br />

anhalten würde, hätte sie unendlich erleichtert. Dann<br />

könnte sie das Buch der Bücher wieder mit der gleichen<br />

Freude in die Hand nehmen wie in Kindertagen. Aber jetzt<br />

hatte sie eine Abneigung dagegen. Immer mit dem eigenen<br />

Geburtsdatum konfrontiert zu werden und keine Heirat<br />

folgen zu sehen als die ihrer jüngsten Schwester verleidete<br />

ihr das Buch; und wenn ihr Vater es offen in ihrer Nähe<br />

auf dem Tisch liegengelassen hatte, hatte sie es mehr als<br />

einmal mit abgewandtem Blick zugeklappt und von sich<br />

geschoben.<br />

Sie hatte darüber hinaus eine Enttäuschung erlebt, deren<br />

Erinnerung das Buch und besonders die Geschichte ihrer<br />

eigenen Familie immer wachhalten würden. Der Erbe,


genau jener William Walter Elliot, hochwohlgeb., dessen<br />

Ansprüche so großzügig von ihrem Vater unterstützt worden<br />

waren, hatte sie enttäuscht.<br />

Schon als sehr junges Mädchen, sobald sie wusste, dass<br />

er der zukünftige Baron sein würde, wenn sie keinen Bruder<br />

haben sollte, hatte sie beschlossen, ihn zu heiraten; und<br />

ihr Vater hatte sie in diesem Entschluss immer bestärkt.<br />

Sie hatten ihn als Jungen nicht gekannt, aber bald nach<br />

Lady Elliots Tod hatte Sir Walter sich um die Bekanntschaft<br />

seines Neffen bemüht; und obwohl seine Annäherungsversuche<br />

nicht auf Begeisterung gestoßen waren,<br />

hatte er seine Bemühungen fortgesetzt, wobei er ihm die<br />

bescheidene Zurückhaltung der Jugend zugutehielt; und<br />

bei einem ihrer Frühjahrsausflüge nach London, als Elizabeth<br />

in ihrer ersten Blüte war, hatten sie Mr. Elliot ihre<br />

Bekanntschaft aufgezwungen.<br />

Er war zu der Zeit noch ein sehr junger Mann, der gerade<br />

sein Jurastudium absolvierte. Elizabeth fand ihn ungewöhnlich<br />

anziehend, und sein persönlicher Eindruck bestätigte<br />

sie in ihren Absichten. Er wurde nach Kellynch Hall<br />

eingeladen. Man sprach von ihm und erwartete ihn für den<br />

Rest des Jahres, aber er kam nie. Im folgenden Frühjahr<br />

traf man ihn wieder in London, fand ihn nicht minder anziehend,<br />

ermutigte ihn, lud ihn ein und erwartete ihn, und<br />

wieder kam er nicht; und als Nächstes kam die Nachricht,<br />

dass er verheiratet war. Statt sein Glück auf dem Wege zu<br />

suchen, der für den Erben des Hauses Elliot vorgezeichnet<br />

war, hatte er sich seine Unabhängigkeit durch eine Verbindung<br />

mit einer reichen Frau von niederer Herkunft erkauft.<br />

Sir Walter hatte es ihm verübelt. Als Haupt der Familie<br />

fand er, man hätte seinen Rat einholen sollen, besonders<br />

nachdem er sich mit dem jungen Mann in aller Öffentlich-


keit gezeigt hatte. Denn man müsse sie zusammen gesehen<br />

gaben, bemerkte er, einmal bei Tattersall 2 und zweimal in<br />

der Vorhalle des Unterhauses. Er gab seiner Missbilligung<br />

Ausdruck, aber offenbar ohne jeden Erfolg. Mr. Elliot hatte<br />

sich zu keiner Entschuldigung veranlasst gesehen und sich<br />

so wenig an weiteren Aufmerksamkeiten von Seiten der<br />

Familie interessiert gezeigt, wie Sir Walter ihn für ihrer<br />

unwürdig hielt; jeder Verkehr zwischen ihnen wurde eingestellt.<br />

Diese sehr peinliche Geschichte mit Mr. Elliot erfüllte<br />

Elizabeth, die den jungen Mann um seiner selbst willen<br />

und mehr noch, weil er der Erbe ihres Vaters war, gemocht<br />

hatte und deren ausgeprägter Familienstolz nur in ihm<br />

eine angemessene Partie für Sir Walters älteste Tochter sehen<br />

konnte, noch nach Ablauf mehrerer Jahre mit Ärger.<br />

Es gab von A bis Z keinen Baron, den sie so bereitwillig als<br />

gleichberechtigt empfunden hätte. Aber er hatte sich so<br />

schäbig benommen, dass sie sich trotz der Trauerbinde, die<br />

sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt (im Sommer 1814) um<br />

seiner Frau willen trug, nicht gestatten konnte, ihn noch<br />

einmal in Erwägung zu ziehen. Die Schande seiner ersten<br />

Ehe hätte man, da kein Grund zu der Annahme bestand,<br />

dass sie durch Nachkommen fortgesetzt worden war, verschmerzt,<br />

wäre es nicht noch schlimmer gekommen. Aber<br />

er hatte, wie sie durch die übliche Einmischung wohlmeinender<br />

Freunde erfahren hatten, sehr abfällig von ihnen<br />

allen, sehr beleidigend von dem Blut, zu dem er gehörte,<br />

und dem Titel gesprochen, der später auf ihn übergehen<br />

würde. So etwas war unverzeihlich.<br />

Das waren Elizabeths Gesinnungen und Gefühle. Das<br />

waren die Sorgen und Aufregungen, die Eintönigkeit und<br />

Vornehmheit, Luxus und Nichtigkeit ihres alltäglichen Lebens<br />

erträglicher und abwechslungsreicher machen sollten.


Das waren die Empfindungen, die einem langen, ereignislosen<br />

Aufenthalt in dem immer gleichen ländlichen Zirkel<br />

Interesse geben, die Leere beseitigen sollten, wo nützliche<br />

Tätigkeiten außerhalb, Begabungen und Talente innerhalb<br />

des Hauses fehlten, um sie zu füllen.<br />

Aber jetzt begann eine neue Aufgabe und Sorge ihre<br />

Gedanken zu beschäftigen. Ihr Vater geriet immer mehr in<br />

finanzielle Schwierigkeiten. Sie wusste, dass er den Adelskalender<br />

nur noch in die Hand nahm, um die hohen Rechnungen<br />

seiner Lieferanten und die unangenehmen Anspielungen<br />

von Mr. Shepherd, seinem Rechtsanwalt, darüber<br />

zu vergessen. Der Besitz von Kellynch war ertragreich,<br />

aber den Ansprüchen, die Sir Walter an den Lebensstil seines<br />

Besitzers stellte, nicht gewachsen. Solange Lady Elliot<br />

lebte, hatten Überlegung, Bescheidenheit und Sparsamkeit<br />

geherrscht, so dass er mit seinen Einkünften gerade auskam.<br />

Aber mit ihr war auch alle Rechtschaffenheit dahingegangen,<br />

und seit der Zeit hatte er ständig über seine<br />

Verhältnisse gelebt. Er hatte es nicht fertiggebracht, weniger<br />

auszugeben; er hatte nur getan, wozu Sir Walter Elliot<br />

unbedingt verpflichtet war. Aber schuldlos, wie er war, geriet<br />

er nicht nur immer tiefer in Schulden, sondern bekam<br />

es auch so oft zu hören, dass es aussichtslos wurde, es auch<br />

nur teilweise länger vor seiner Tochter zu verheimlichen.<br />

Er hatte ihr gegenüber im letzten Frühjahr in London einige<br />

Andeutungen gemacht. Er war sogar so weit gegangen<br />

zu fragen: »Können wir uns einschränken? Meinst du, dass<br />

wir uns irgendwo einschränken können?« – und Elizabeth,<br />

das muss man ihr lassen, hatte im ersten Eifer weiblicher<br />

Panik ernsthaft darüber nachgedacht, was zu tun sei, und<br />

schließlich die beiden folgenden Sparmaßnahmen vorgeschlagen:<br />

einige unnötige Wohltätigkeitsspenden zu streichen<br />

und von einer Neumöblierung des Wohnzimmers ab-


zusehen, wozu ihr später noch der glückliche Einfall kam,<br />

Anne diesmal, wie es sonst ihr jährlicher Brauch gewesen<br />

war, kein Geschenk mitzubringen. Aber diese Maßnahmen,<br />

so sinnvoll sie auch sein mochten, wurden dem tatsächlichen<br />

Ausmaß des Übels, das in seiner ganzen Tragweite<br />

ihr zu gestehen Sir Walter sich bald danach genötigt<br />

sah, bei weitem nicht gerecht. Elizabeth hatte keine tiefergreifenden<br />

Hilfsmittel vorzuschlagen. Sie fühlte sich genau<br />

wie ihr Vater missbraucht und unglücklich; und sie<br />

waren beide außerstande, Wege zu finden, ihre Ausgaben<br />

einzuschränken, ohne auf unerträgliche Weise ihre Würde<br />

zu beeinträchtigen oder auf ihre Bequemlichkeit zu verzichten.<br />

Es gab nur einen kleinen Teil seines Besitzes, den Sir<br />

Walter veräußern konnte. Aber hätte er sich von jedem<br />

Stückchen Erde trennen können, es hätte nichts genutzt.<br />

Er hatte sich, soweit es in seiner Macht stand, zu Hypotheken<br />

herabgelassen, aber er würde sich nie dazu herablassen<br />

zu verkaufen. Nein, so weit würde er den Familiennamen<br />

nicht entehren. Der Besitz von Kellynch würde heil und<br />

ganz, so wie er ihn übernommen hatte, weitergegeben<br />

werden.<br />

Ihre beiden engsten Freunde, Mr. Shepherd, der in der<br />

nächsten Kleinstadt wohnte, und Lady Russell, wurden<br />

um ihren Rat gebeten, und sowohl Vater als auch Tochter<br />

erwarteten anscheinend, dass einer von beiden einen Einfall<br />

haben würde, wie man ihnen aus der Verlegenheit helfen<br />

und ihre Ausgaben verringern könne, ohne dass ihre<br />

Ansprüche an Geschmack oder Stolz Abbruch erleiden<br />

würden.


Nachwort<br />

»Her circle may be restricted, but it is complete.<br />

Her world is a perfect orb, and vital.«<br />

George H. Lewes (1817–1878) über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />

1<br />

Persuasion ist der letzte von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s sechs Romanen.<br />

Sie schrieb daran von Mitte 1815 bis Mitte 1816, glättete<br />

dann den Text, arbeitete den Schluss völlig um (s. Abschn. 4)<br />

und konnte im März 1817 einer ihrer Nichten berichten, sie<br />

habe etwas zur Veröffentlichung fertig, was in etwa einem<br />

Jahr erscheinen solle. Aber als die Autorin diesen Brief<br />

schrieb, war sie schon unheilbar krank und hatte nur noch<br />

vier Monate zu leben. Das Erscheinen des Romans hat sie<br />

nicht mehr erlebt. Sie starb am 27. Juli 1817 im Alter von<br />

nur 42 Jahren. Persuasion wurde zusammen mit Northanger<br />

Abbey postum erst 1818 herausgegeben.<br />

Die Heldin des Buches, Anne Elliot, hat in den letzten<br />

Jahrzehnten in der englischen und amerikanischen Literaturforschung<br />

unter anderem deshalb viel Aufmerksamkeit<br />

gefunden, weil sie so anders ist als die weiblichen Hauptgestalten<br />

der fünf früheren Romane <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s. Während<br />

Anne und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice, Elinor<br />

und Marianne Dashwood in Sense and Sensibility, Fanny<br />

Price in Mansfield Park, Emma Woodhouse in Emma und<br />

Catherine Morland in Northanger Abbey um die zwanzig,<br />

zum Teil sogar erst siebzehn Jahre alt sind, geht Anne Elliot<br />

auf die Dreißig zu. Sie ist siebenundzwanzig Jahre alt,<br />

hat ihren jugendlichen Charme verloren und resigniert.<br />

Während in den anderen Romanen das Handlungszentrum


die erste und einzige große Liebe der Heldin bildet, hat<br />

Anne diese schon lange hinter sich. Die vor acht Jahren<br />

eingegangene Verlobung hat sie nach wenigen Monaten<br />

aufgelöst, weil ihre adelsstolze Familie und ihre mütterliche<br />

Freundin Lady Russell, die ebenfalls »Vorurteile in<br />

Fragen des Standes« (Kap. 2) hat, den unvermögenden bürgerlichen<br />

jungen Marineoffizier Wentworth für eine Tochter<br />

von Sir Walter Elliot aus altem englischen Adel nicht<br />

akzeptierten und mit ihrer »unbilligen Überredung« (im<br />

Original unübersetzbar over-persuasion), den geliebten<br />

Mann aufzugeben – worauf sich der Titel des Buches vor<br />

allem bezieht – Erfolg hatten. Anne hat sich ihrem Urteil<br />

gebeugt, aber die ihrer Überzeugung und ihrer Liebe widersprechende<br />

Nachgiebigkeit bitter bereut. Sie hat einen<br />

ihr zwei Jahre später von einem anderen Mann gemachten<br />

Heiratsantrag abgelehnt, sich schweren Herzens mit ihrem<br />

Schicksal abgefunden und geht nun einem trostlosen, einsamen<br />

Alter entgegen.<br />

Während also die anderen Heldinnen <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s das<br />

Leben vor sich haben, scheint es hinter Anne Elliot zu liegen.<br />

An einer Kleinigkeit wird dieser Unterschied besonders<br />

greifbar. Die jungen Protagonistinnen der anderen fünf Romane<br />

tanzen liebend gern, wobei eine ältere Dame die Musik<br />

macht; ja, der Tanz hat für die Begegnung mit dem geliebten<br />

Mann in mehreren Werken eine besondere Bedeutung,<br />

so der Ball zu Ehren von Fanny Price in Mansfield<br />

Park (Kap. 28), Elizabeth Bennets ironisches Wortgeplänkel<br />

mit Darcy beim Tanz in Pride and Prejudice (Kap. 18) oder<br />

Catherine Morlands erster Tanz mit Henry Tilney, der sie<br />

mit seiner gespielten Geckenhaftigkeit verwirrt, in Northanger<br />

Abbey (Kap. 3). In Persuasion aber ist es Anne Elliot,<br />

die am Klavier sitzt und spielt, während ihre Schwester und<br />

ihre Schwägerinnen sich beim Tanzen amüsieren:


»Der Abend endete mit Tanz. Als der Vorschlag gemacht<br />

wurde, bot Anne wie üblich ihre Dienste an, und<br />

obwohl sich ihre Augen gelegentlich mit Tränen füllten,<br />

als sie am Instrument saß, war sie erleichtert, beschäftigt<br />

zu sein, und wünschte sich zur Belohnung<br />

nichts, als unbeobachtet zu bleiben.« (Kap. 8)<br />

Anne weint, weil der immer noch geliebte Kapitän Wentworth,<br />

von dem sie annehmen muss, dass sie seine Achtung<br />

verloren hat, mit unter den Tanzenden ist. Er fragt<br />

seine Partnerin, ob Anne denn nie tanze, und muss hören,<br />

dass sie es ganz aufgegeben habe – sie wird nicht mehr zur<br />

Jugend gezählt und zählt sich selbst nicht mehr dazu.<br />

Anders als die anderen Romane beginnt Persuasion also<br />

damit, dass die Heldin intensiv leidet. Sie ist um ihre Liebe<br />

betrogen, ihre Schönheit ist früh verblüht, und ihr Vater<br />

und ihre ältere Schwester betrachten sie nur als unliebsames<br />

Anhängsel, weil sie einem Schönheitskult huldigen und<br />

Menschen geringschätzen, deren Äußeres ihrem überkritischen<br />

Auge nicht standhält. Da die Elliot-Schwestern anders<br />

als <strong>Jane</strong> und Elizabeth Bennet in Pride and Prejudice und<br />

Elinor und Marianne Dashwood in Sense and Sensibility<br />

sich nicht gut verstehen, ist Anne zudem mit ihrem Kummer<br />

ganz allein. Ihre ältere Schwester ist kalt und hochmütig<br />

und ihre jüngere egoistisch und wehleidig. Die eine zieht<br />

eine recht ordinäre und durchtriebene geschiedene Frau ihrer<br />

eigenen Schwester vor, und die andere benutzt sie nur<br />

als eine Art Haushaltshilfe und Kindermädchen. Anne hat<br />

allen Grund, ihre Schwägerinnen Henrietta und Louisa<br />

Musgrove um ihr ungetrübtes Einvernehmen zu beneiden.<br />

A. W. Letz (s. Literaturhinweise: Southam) hat in der<br />

Einsamkeit Anne Elliots einen dem modernen Leser besonders<br />

zugänglichen Aspekt von Persuasion gesehen:


»Man könnte aus Persuasion eine Liste von Begriffen<br />

zusammenstellen, die den Roman wie ein Lehrbuch der<br />

modernen Soziologie klingen lassen: Sich Auseinanderleben,<br />

Gefangensein, Entfremdung, Entfernung.«<br />

Der Ton dieses Romans ist daher insgesamt, bedingt durch<br />

die melancholische Stimmung, die Anne Elliot umgibt, gedämpfter.<br />

Die Wehmut der unerfüllten Liebe liegt über<br />

dem größeren Teil des Buches, aber das bedeutet nicht,<br />

dass die Autorin darauf verzichtet, menschliche und gesellschaftliche<br />

Schwächen mit gewohnt spitzer Feder dem Gelächter<br />

oder dem Schmunzeln des Lesers preiszugeben. Es<br />

wimmelt von grotesken Charakteren und Situationen.<br />

Das schönste Beispiel für dieses Karikieren scheint mir<br />

die Geschichte vom toten Sohn der Musgroves zu sein, der<br />

als Taugenichts, solange er lebte, ein Alptraum der Familie<br />

war, aber nach seinem Tod von seiner korpulenten Mutter<br />

zu einem Helden verklärt wird. Vor allem die Szene, in der<br />

sich Mrs. Musgrove bei Williams früherem Kommandanten<br />

Wentworth ausweint, zeigt <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> von ihrer bissigsten<br />

Seite, wobei sie aber zugleich Annes Unbehagen<br />

über die Nähe des Kapitäns einfängt:<br />

»Sie saßen tatsächlich beide auf demselben Sofa, denn<br />

Mrs. Musgrove hatte bereitwillig Platz für ihn gemacht<br />

– sie waren nur durch Mrs. Musgrove getrennt. Es war<br />

allerdings keine unerhebliche Barriere. Mrs. Musgrove<br />

war von gemütlichem, beträchtlichem Umfang, von der<br />

Natur viel eher dazu bestimmt, Heiterkeit und gute<br />

Laune auszustrahlen als Zärtlichkeit und Gefühl; und<br />

da man darauf vertrauen darf, dass die Erregung in Annes<br />

schlanker Gestalt und nachdenklichem Gesicht dadurch<br />

vollständig abgeschirmt war, muss man Kapitän


Wentworth etwas zugutehalten für die Selbstbeherrschung,<br />

mit der er ihren herzzerreißenden, fetten Seufzern<br />

über das Schicksal eines Sohnes zuhörte, für den<br />

sich zu seinen Lebzeiten niemand interessiert hatte.<br />

Körperlicher Umfang und seelischer Schmerz stehen<br />

natürlich nicht unbedingt in einem bestimmten Verhältnis<br />

zueinander. Eine umfangreiche, üppige Figur<br />

hat das gleiche Recht auf tiefen Seelenschmerz wie das<br />

graziöseste Ensemble von Gliedern. Aber, ob recht und<br />

billig oder nicht, es gibt unvorteilhafte Kombinationen,<br />

für die sich der Verstand vergeblich einsetzt – die der<br />

Geschmack nicht dulden kann – die der Lächerlichkeit<br />

zum Opfer fallen.« (Kap. 8)<br />

Dem melancholischen Seelenzustand Annes zu Anfang des<br />

Buches entsprechen die herbstliche Stimmung in der Natur,<br />

der »Anblick des letzten herbstlichen Lächelns, das<br />

auf rostbraunen Blättern und verwelkten Hecken liegt«,<br />

und der traurige Abschied von Kellynch, dem stolzen alten<br />

Familiensitz, der der Verschwendungssucht Sir Walters<br />

zum Opfer fällt. Anne selbst spricht »von der passenden<br />

Analogie zwischen dem sich neigenden Jahr und dem<br />

sich neigenden Glück«, als sie in Gedanken Herbstgedichte<br />

rezitiert.<br />

Der Umzug der Familie nach Bath, der Anne traurig<br />

stimmt und dem sie ohne jedes Gefühl der Erwartung, ja<br />

mit Widerwillen entgegenblickt, auch wenn sie die finanzielle<br />

Notwendigkeit dazu einsieht, spiegelt offenbar <strong>Jane</strong><br />

<strong>Austen</strong>s eigene Vorbehalte gegen die Übersiedlung ihrer<br />

eigenen Familie in den modischen Kurort, wo die Autorin<br />

von 1802 bis 1806 ungern lebte.


Kapitel 1<br />

Die Familie Dashwood war seit langem in Sussex ansässig.<br />

Ihr Besitz war ausgedehnt, und ihr Herrenhaus lag in Norland<br />

Park, im Zentrum ihrer Ländereien, wo sie viele Generationen<br />

lang auf so achtbare Weise gelebt hatten, dass<br />

sie bei den Bekannten in der Umgebung allgemein in hohem<br />

Ansehen standen. Der vorherige Eigentümer des Besitzes<br />

war ein Junggeselle, der ein sehr hohes Alter erreicht<br />

und in seiner Schwester viele Jahre lang eine ständige<br />

Gefährtin und Haushälterin gehabt hatte. Aber ihr Tod,<br />

der zehn Jahre vor seinem eigenen eintrat, brachte große<br />

Veränderungen in seinem Haus mit sich, denn um ihren<br />

Verlust zu ersetzen, lud er die Familie seines Neffen Mr.<br />

Henry Dashwood ein, des gesetzlichen Erben von Norland,<br />

dem er den Besitz ohnehin vermachen wollte, in seinem<br />

Haus zu leben. In der Gesellschaft seines Neffen und seiner<br />

Nichte und ihrer Kinder verbrachte der alte Herr seine<br />

Tage in großer Behaglichkeit. Alle wuchsen sie ihm mehr<br />

und mehr ans Herz. Die ständige Sorge von Mr. und Mrs.<br />

Henry Dashwood um sein Wohlergehen, die nicht bloßem<br />

Eigennutz, sondern echter Herzensgüte entsprang, gewährte<br />

ihm all die Bequemlichkeit, die er in seinem Alter<br />

brauchte, und die Ausgelassenheit der Kinder gab seinem<br />

Leben einen zusätzlichen Reiz.<br />

Aus einer früheren Ehe hatte Mr. Henry Dashwood einen<br />

Sohn, von seiner jetzigen Gemahlin drei Töchter. Der<br />

Sohn, ein zuverlässiger, angesehener junger Mann, war


durch das beträchtliche Vermögen seiner Mutter, das bei<br />

seiner Volljährigkeit zur Hälfte in seinen Besitz gekommen<br />

war, großzügig versorgt. Durch seine eigene Heirat, die<br />

kurz darauf stattfand, vergrößerte er sein Vermögen noch<br />

weiter. Die Nachfolge auf Norland war also für ihn nicht so<br />

unbedingt wichtig wie für seine Schwestern, denn ihr Vermögen<br />

würde ohne das, was ihnen durch den Anspruch ihres<br />

Vaters auf den Besitz zufallen würde, nur gering sein.<br />

Ihre Mutter hatte nichts, und ihr Vater nur siebentausend<br />

Pfund zu seiner eigenen Verfügung, denn die restliche<br />

Hälfte des Vermögens seiner ersten Frau sollte ebenfalls an<br />

ihren Sohn übergehen, und er verfügte darüber nur zu seinen<br />

Lebzeiten.<br />

Der alte Herr starb, sein Testament wurde eröffnet und<br />

gab wie fast alle Testamente ebenso Anlass zu Enttäuschung<br />

wie zu Freude. Er war weder so ungerecht noch so<br />

undankbar, seinem Neffen den Besitz vorzuenthalten, aber<br />

er vermachte ihn ihm unter Bedingungen, die das Erbe zur<br />

Hälfte wieder entwerteten. Mr. Dashwood war daran mehr<br />

um seiner Frau und seiner Töchter willen als seinet- und<br />

seines Sohnes wegen gelegen gewesen, aber eben an diesen<br />

Sohn und dessen Sohn, ein Kind von vier Jahren, ging der<br />

Besitz über, und zwar so, dass der Vater keine Möglichkeit<br />

hatte, durch eine finanzielle Belastung des Grundbesitzes<br />

oder durch den Verkauf seines wertvollen Holzbestandes<br />

für die zu sorgen, die ihm am nächsten standen und die<br />

seine Fürsorge am dringlichsten brauchten. Alles sollte eines<br />

Tages diesem Kind zugutekommen, das bei den gelegentlichen<br />

Besuchen mit seinem Vater und seiner Mutter<br />

durch Reize, die bei zwei- oder dreijährigen Kindern<br />

durchaus nicht ungewöhnlich sind, wie eine kindliche Aussprache,<br />

den unbeirrbaren Wunsch, seinen Willen durchzusetzen,<br />

viele ausgelassene Streiche und eine Menge


Krach, die Zuneigung seines Großonkels so weit gewonnen<br />

hatte, dass all die Fürsorge, die dieser jahrelang von seiner<br />

Nichte und ihren Töchtern empfangen hatte, sie nicht aufwogen.<br />

Er hatte allerdings nicht die Absicht, lieblos zu<br />

sein, und als Beweis seiner Zuneigung zu den drei Mädchen<br />

hinterließ er jeder eintausend Pfund.<br />

Mr. Dashwoods Enttäuschung war zuerst empfindlich.<br />

Aber er war von Natur heiter und optimistisch und hatte<br />

allen Grund zu der Hoffnung, noch viele Jahre zu leben<br />

und durch sparsames Wirtschaften eine erhebliche Summe<br />

aus dem Ertrag eines Besitzes beiseitezulegen, der ohnehin<br />

schon ergiebig war und fast von heute auf morgen noch<br />

ertragreicher gemacht werden konnte. Aber der Reichtum,<br />

der so lange auf sich hatte warten lassen, sollte ihm nur<br />

ein Jahr lang zugutekommen. Länger überlebte er seinen<br />

Onkel nicht, und zehntausend Pfund, einschließlich der<br />

Summe an die Mädchen, war alles, was für seine Witwe<br />

und seine Töchter übrig blieb.<br />

Sobald sein Gesundheitszustand erkannt war, wurde<br />

sein Sohn gerufen, und mit all der Überzeugungskraft und<br />

Eindringlichkeit, die er bei seiner Krankheit aufbringen<br />

konnte, legte ihm Mr. Dashwood die Sorge um seine Stiefmutter<br />

und seine Schwestern ans Herz.<br />

Mr. John Dashwood ließ sich nicht so von Gefühlen leiten<br />

wie der Rest der Familie. Aber ein solcher Wunsch zu<br />

einer solchen Zeit verfehlte seine Wirkung auf ihn nicht,<br />

und er versprach, alles in seiner Macht Stehende zu tun,<br />

um ihnen das Leben zu erleichtern. Sein Vater fühlte sich<br />

durch diese Versicherung von einer Last befreit, und Mr.<br />

John Dashwood hatte nun Muße, darüber nachzudenken,<br />

wie weit er bei aller Vorsicht in seiner Hilfsbereitschaft gehen<br />

konnte.<br />

Er hatte keinen schlechten Charakter, es sei denn, man


hielte eine gewisse Gefühlskälte und einen gewissen Egoismus<br />

für einen Mangel an Charakter, aber er war im Allgemeinen<br />

recht angesehen, denn er ließ es bei der Erfüllung<br />

seiner alltäglichen Pflichten an Anstand nicht fehlen. Hätte<br />

er eine liebenswürdigere Frau geheiratet, hätte er sich vielleicht<br />

zu einem noch angeseheneren, hätte er sich vielleicht<br />

sogar zu einem liebenswürdigen Menschen entwickelt,<br />

denn er war noch sehr jung, als er heiratete, und<br />

hing sehr an seiner Frau. Aber Mrs. John Dashwood war<br />

eine ausgesprochene Karikatur seiner selbst: nur noch engstirniger<br />

und egoistischer.<br />

Als er seinem Vater sein Versprechen gab, dachte er<br />

daran, das Vermögen seiner Schwestern durch ein Geschenk<br />

von je eintausend Pfund zu vergrößern. Er glaubte<br />

damals selbst, es über sich bringen zu können. Die Aussicht<br />

auf viertausend Pfund pro Jahr zusätzlich zu seinem<br />

gegenwärtigen Einkommen, dazu die restliche Hälfte aus<br />

dem Vermögen seiner Mutter, erwärmte ihm das Herz und<br />

gab ihm das Gefühl, er könne sich Großzügigkeit leisten.<br />

Ja, er würde ihnen dreitausend Pfund geben, das wäre generös<br />

und nobel! Es wäre genug, um sie aller Sorgen zu<br />

entheben. Dreitausend Pfund! Er könnte eine so erhebliche<br />

Summe ohne große Einschränkungen entbehren. Er dachte<br />

den ganzen Tag und noch viele weitere Tage darüber nach<br />

und bereute nichts.<br />

Kaum war das Begräbnis seines Vaters vorüber, als Mrs.<br />

John Dashwood, ohne ihre Schwiegermutter vorher von<br />

ihrer Absicht in Kenntnis zu setzen, mit ihrem Kind und<br />

ihrem Personal eintraf. Niemand konnte ihr das Recht zu<br />

kommen streitig machen; das Haus gehörte unmittelbar<br />

mit dem Tod seines Vaters ihrem Mann. Die Ungehörigkeit<br />

ihres Benehmens wurde außerordentlich stark empfunden<br />

und wäre für jede Frau in Mrs. Dashwoods Lage,


die auch nur ein Fünkchen Zartgefühl gehabt hätte, äußerst<br />

unangenehm gewesen. Aber sie selbst besaß ein so<br />

ausgeprägtes Ehrgefühl, eine so romantische Großzügigkeit,<br />

dass eine derartige Beleidigung, gleichgültig, wer sie<br />

verursachte oder wem sie zugefügt wurde, sie mit unüberwindlicher<br />

Abscheu erfüllte. Mrs. John Dashwood war bei<br />

der Familie ihres Mannes nie sehr beliebt gewesen. Aber<br />

sie hatte bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine Gelegenheit<br />

gehabt, ihnen zu zeigen, mit wie wenig Rücksicht auf<br />

das Wohlergehen anderer sie handeln konnte, wenn die<br />

Umstände es erforderten.<br />

So empfindlich traf Mrs. Dashwood dieses unfreundliche<br />

Verhalten und so gründlich verachtete sie ihre Schwiegertochter<br />

dafür, dass sie bei ihrer Ankunft auf der Stelle<br />

ausgezogen wäre, wenn das Zureden ihrer ältesten Tochter<br />

sie nicht veranlasst hätte, erst noch einmal über die Richtigkeit<br />

ihrer Abreise nachzudenken, und wenn ihre eigene<br />

zärtliche Liebe für alle drei Kinder sie anschließend nicht<br />

bewogen hätte, zu bleiben und um ihretwillen den Bruch<br />

mit ihrem Stiefsohn zu vermeiden.<br />

Elinor, die älteste Tochter, deren Rat befolgt wurde, besaß<br />

einen so klaren Verstand und ein so nüchternes Urteilsvermögen,<br />

die sie trotz ihrer neunzehn Jahre zur Ratgeberin<br />

ihrer Mutter machten und es ihr häufig erlaubten,<br />

zum Vorteil aller, der Impulsivität von Mrs. Dashwood<br />

entgegenzuwirken, die sonst zu vorschnellem Handeln geführt<br />

hätte. Sie war ein hochherziger Mensch, liebevoll<br />

von Natur, mit starken Empfindungen, aber sie wusste sich<br />

zu beherrschen – eine Kunst, die ihre Mutter noch lernen<br />

musste und die eine ihrer Schwestern entschlossen war,<br />

sich niemals beibringen zu lassen.<br />

Mariannes Fähigkeiten standen denen Elinors keineswegs<br />

nach. Sie war gefühlvoll und gescheit, aber in allem


überspannt. Ihr Schmerz und ihre Freude kannten kein<br />

Maß. Sie war großzügig, liebenswürdig, interessant, sie<br />

war alles – außer besonnen. Die Ähnlichkeit zwischen ihr<br />

und ihrer Mutter war auffallend groß.<br />

Elinor betrachtete das Übermaß von Empfindsamkeit<br />

bei ihrer Schwester mit Sorge. Aber von Mrs. Dashwood<br />

wurde es geschätzt und ermutigt. Die beiden bestärkten<br />

sich nun gegenseitig in ihrem heftigen Schmerz. Der grenzenlose<br />

Jammer, der sie zuerst überwältigt hatte, wurde<br />

neu belebt, absichtlich erneuert, wurde immer wieder aufgerührt.<br />

Sie gaben sich ihrem Kummer völlig hin, suchten<br />

ihr Elend durch jedes Thema zu steigern, das sich dazu anbot,<br />

und waren entschlossen, auch in Zukunft für keinen<br />

Trost empfänglich zu sein. Auch Elinor litt sehr, aber sie<br />

konnte sich wehren, sie konnte sich überwinden. Sie konnte<br />

Beratungen mit ihrem Bruder führen, ihre Schwägerin<br />

bei ihrer Ankunft empfangen und mit der nötigen Aufmerksamkeit<br />

behandeln, ihre Mutter zu ähnlicher Selbstüberwindung<br />

aufrütteln und zu ähnlicher Nachsicht ermuntern.<br />

Margaret, die dritte Schwester, war ein gutmütiges,<br />

zugängliches Mädchen. Aber da bereits eine Menge von<br />

Mariannes Schwärmerei auf sie abgefärbt hatte, ohne dass<br />

sie deren Einsicht besaß, waren mit dreizehn ihre Aussichten,<br />

es später im Leben mit ihren Schwestern aufnehmen<br />

zu können, gering.


Kapitel 2<br />

Mrs. John Dashwood ließ sich nun als Hausherrin in Norland<br />

nieder, und ihre Schwiegermutter und Schwägerinnen<br />

wurden zu bloßen Besuchern herabgesetzt. Als solche wurden<br />

sie von ihr allerdings mit reservierter Höflichkeit und<br />

von ihrem Mann mit so viel Wohlwollen behandelt, wie er<br />

für Menschen außer sich selbst, seiner Frau und seinem<br />

Kind aufzubringen vermochte. Er drang sogar mit einer<br />

gewissen Ehrlichkeit in sie, Norland als ihr Zuhause zu betrachten,<br />

und da sich Mrs. Dashwood keine bessere Möglichkeit<br />

bot, als zu bleiben, bis sie ein Haus in der Nachbarschaft<br />

gefunden hatte, wurde seine Einladung angenommen.<br />

Weiter an einem Ort zu leben, wo alles sie an früheres<br />

Glück erinnerte, war genau das, was sie in ihrer Gemütsverfassung<br />

brauchte. An heiteren Tagen strahlte niemand so<br />

viel Heiterkeit aus wie sie oder war in solchem Maße von jener<br />

unerschütterlichen Glückserwartung erfüllt, die schon<br />

das Glück selbst bedeutet. Aber im Schmerz ließ sie sich<br />

ebenso von ihrer Einbildungskraft hinreißen und war für<br />

Trost so unzugänglich, wie sie im Glück unbeirrbar war.<br />

Mrs. John Dashwood billigte ganz und gar nicht, was<br />

ihr Mann für seine Schwestern zu tun beabsichtigte. Das<br />

Vermögen ihres lieben kleinen Jungen um dreitausend<br />

Pfund zu schmälern, würde ihn auf den trostlosesten Grad<br />

von Armut reduzieren! Sie drang in ihren Mann, sich die<br />

Sache noch einmal zu überlegen. Wie konnte er es vor sich<br />

selbst verantworten, sein Kind, und noch dazu sein einziges<br />

Kind, einer solchen riesigen Summe zu berauben? Und<br />

welchen Anspruch an seine Großzügigkeit auf eine so große<br />

Summe hatten denn die Miss Dashwood überhaupt, die<br />

doch nur seine Stiefschwestern waren, was sie als Ver-


wandtschaftsbeziehung gar nicht gelten ließ? Alle Welt<br />

wusste doch, dass von Anhänglichkeit zwischen den Kindern<br />

eines Mannes aus verschiedenen Ehen keine Rede<br />

sein konnte, und warum wollte er sich und ihren armen<br />

kleinen Harry ruinieren und all sein Geld an seine Stiefschwestern<br />

verschenken?<br />

»Es war meines Vaters letzter Wunsch an mich«, erwiderte<br />

ihr Mann, »dass ich seiner Witwe und seinen Töchtern<br />

beistehe.«<br />

»Er wusste doch gar nicht, was er sagt. Zehn zu eins, er<br />

war zu der Zeit gar nicht mehr zurechnungsfähig. Wäre er<br />

bei Sinnen gewesen, dann wäre er gar nicht darauf gekommen,<br />

dir zuzumuten, das halbe Vermögen deines eigenen<br />

Kindes zu verschenken.«<br />

»Er hat auf keiner bestimmten Summe bestanden, meine<br />

liebe Fanny, er hat mich nur ganz allgemein gebeten,<br />

ihnen beizustehen und ihnen das Leben angenehmer zu<br />

machen, als er es vermochte. Vielleicht hätte er die Angelegenheit<br />

lieber ganz und gar mir überlassen sollen. Er<br />

konnte sich ja denken, dass ich sie nicht zu kurz kommen<br />

lassen würde. Aber da er auf dem Versprechen bestand,<br />

konnte ich es ihm schlecht abschlagen – jedenfalls schien<br />

es mir damals so. Nun ist das Versprechen einmal gegeben<br />

und muss gehalten werden. Es muss etwas für sie getan<br />

werden, wenn sie Norland einmal verlassen und sich in einem<br />

neuen Haus einrichten sollten.«<br />

»Also gut, dann soll eben etwas für sie getan werden,<br />

aber dieses Etwas braucht doch keine dreitausend Pfund zu<br />

sein. Bedenke doch«, fügte sie hinzu, »wenn man sich erst<br />

einmal von dem Geld getrennt hat, ist es ein für allemal<br />

verloren. Deine Schwestern werden heiraten, und dann bist<br />

du es für immer los. Wenn man es allerdings unserem armen<br />

kleinen Jungen wieder zukommen lassen könnte …«


»Allerdings«, sagte ihr Mann sehr nachdenklich, »dann<br />

sähe die Sache ganz anders aus. Vielleicht kommt einmal<br />

der Zeitpunkt, wo Harry es bedauert, dass wir uns von einer<br />

so großen Summe getrennt haben. Sollte er zum Beispiel<br />

eine zahlreiche Familie haben, dann wäre dieses Geld<br />

eine sehr willkommene Ergänzung.«<br />

»Allerdings.«<br />

»Vielleicht wäre es dann für alle Beteiligten besser,<br />

wenn man die Summe um die Hälfte verringerte. Fünfhundert<br />

Pfund wären ein beträchtlicher Zuwachs ihres<br />

Vermögens.«<br />

»Oh, über alle Maßen! Welcher Bruder würde auch nur<br />

halb so viel für seine Schwestern tun, selbst wenn sie seine<br />

richtigen Schwestern wären! Und wie die Dinge liegen –<br />

nur Stiefschwestern! Aber du bist von Natur so großzügig.«<br />

»Ich möchte auf keinen Fall kleinlich sein«, entgegnete<br />

er. »Man tut bei solchen Gelegenheiten lieber zu viel als<br />

zu wenig. Wenigstens kann niemand behaupten, ich hätte<br />

nicht genug für sie getan. Sogar sie selbst können kaum<br />

mehr erwarten.«<br />

»Was sie erwarten, das weiß man nie«, sagte die Gemahlin,<br />

»aber über ihre Erwartungen brauchen wir uns<br />

nicht den Kopf zu zerbrechen. Die Frage ist, was du erübrigen<br />

kannst.«<br />

»Natürlich, und ich glaube, ich kann fünfhundert<br />

Pfund für jede erübrigen. Wie die Dinge liegen, wird jede<br />

ohne meine Unterstützung beim Tod ihrer Mutter mehr<br />

als dreitausend Pfund haben – ein sehr anständiges Vermögen<br />

für eine junge Frau.«<br />

»Allerdings, und wenn ich es recht bedenke, dann finde<br />

ich, dass sie deine Unterstützung gar nicht brauchen. Sie<br />

besitzen gemeinsam zehntausend Pfund. Wenn sie heiraten,<br />

machen sie bestimmt eine gute Partie, und wenn nicht,


dann können sie alle zusammen sehr anständig von den<br />

Zinsen ihrer zehntausend Pfund leben.«<br />

»Eigentlich hast du recht, und deshalb weiß ich nicht,<br />

ob es alles in allem nicht ratsamer wäre, etwas für die<br />

Mutter zu ihren Lebzeiten statt für die Mädchen zu tun –<br />

ich denke an so etwas wie eine Leibrente. Das käme meinen<br />

Schwestern genauso zugute wie ihr selbst. Mit einhundert<br />

Pfund pro Jahr hätten sie ein ausgesprochen anständiges<br />

Auskommen.«<br />

Seine Frau zögerte jedoch ein wenig, diesem Plan ihre<br />

Zustimmung zu geben.<br />

»Allerdings«, sagte sie, »ist das besser, als sich auf einmal<br />

von fünfzehnhundert Pfund zu trennen. Aber was,<br />

wenn Mrs. Dashwood noch fünfzehn Jahre lebt, dann sind<br />

wir ganz und gar die Dummen.«<br />

»Fünfzehn Jahre! Meine liebe Fanny, ihr Leben kann<br />

doch höchstens halb so lange dauern.«<br />

»Sicher, aber achte einmal darauf: Leute leben immer<br />

ewig, wenn es darum geht, ihnen eine Leibrente zu zahlen.<br />

Und sie ist sehr robust und gesund und noch keine vierzig.<br />

Eine Leibrente ist eine ernste Angelegenheit, sie will Jahr<br />

für Jahr gezahlt sein, und man wird sie nie wieder los. Du<br />

ahnst ja nicht, worauf du dich da einlässt. Ich habe eine<br />

Menge Ärger mit Leibrenten erlebt, denn für meine Mutter<br />

war die im Testament meines Vaters festgelegte Zahlung<br />

an drei alte, arbeitsunfähige Diener ein wahrer Klotz<br />

am Bein, und du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lästig<br />

ihr das war. Zweimal im Jahr mussten die Leibrenten gezahlt<br />

werden, und dann wusste man nicht, wie man ihnen<br />

das Geld zukommen lassen sollte, und dann war angeblich<br />

einer gestorben, und hinterher stellte sich heraus, dass es<br />

gar nicht stimmte. Meine Mutter war die Sache gründlich<br />

leid. Bei diesen ständigen Forderungen, sagte sie, war sie


nicht Herr über ihr eigenes Geld. Und es war um so rücksichtsloser<br />

von meinem Vater, als das Geld meiner Mutter<br />

sonst ausschließlich zur Verfügung gestanden hätte, ohne<br />

irgendwelche Einschränkungen. Ich habe seitdem einen<br />

solchen Horror vor Leibrenten, dass ich mich um nichts in<br />

der Welt auf eine solche Zahlung festnageln lassen würde.«<br />

»Es ist zweifellos eine unangenehme Sache«, erwiderte<br />

Mr. Dashwood, »sein jährliches Einkommen auf diese Weise<br />

zu belasten. Wie deine Mutter ganz richtig sagt, ist man<br />

nicht Herr über sein eigenes Vermögen. Zur regelmäßigen<br />

Zahlung einer solchen Summe verpflichtet zu sein, an jedem<br />

Zahltag, ist nicht gerade wünschenswert. Es raubt<br />

einem die Unabhängigkeit.«<br />

»Zweifellos, und man erntet noch nicht einmal Dank<br />

dafür. Sie haben ausgesorgt, du hast ja nur deine Pflicht<br />

getan, und von Dankbarkeit kann keine Rede sein. Wenn<br />

ich du wäre, würde ich mir bei allem, was ich täte, völlige<br />

Handlungsfreiheit bewahren. Ich würde mich nicht darauf<br />

festlegen, ihnen jährlich etwas zukommen zu lassen. Es<br />

mögen Jahre kommen, wo uns die Ausgabe von hundert, ja<br />

sogar fünfzig Pfund von unserem eigenen Geld sehr ungelegen<br />

kommt.«<br />

»Ich glaube, du hast recht, mein Schatz. Es ist wohl<br />

besser, wenn von einer Leibrente gar nicht die Rede ist.<br />

Wenn ich ihnen von Zeit zu Zeit etwas gebe, kommt ihnen<br />

das mehr zugute als eine jährliche Rente, denn ihr Lebensstil<br />

würde nur aufwendiger werden, wenn sie sich auf ein<br />

größeres Einkommen verlassen könnten, und am Ende des<br />

Jahres wären sie keinen Pfennig reicher. Das ist auf jeden<br />

Fall die beste Lösung. Hin und wieder ein Geschenk von<br />

fünfzig Pfund wird sie, glaube ich, vor allen Geldsorgen<br />

bewahren und das Versprechen meinem Vater gegenüber<br />

voll und ganz erfüllen.«


»Allerdings. Ja, um die Wahrheit zu gestehen, ich bin<br />

innerlich davon überzeugt, dass dein Vater gar nicht daran<br />

gedacht hat, dass du ihnen überhaupt Geld gibst. Die Unterstützung,<br />

die er im Sinn hatte, bezog sich bestimmt nur<br />

auf das, was im Rahmen des Vernünftigen von dir erwartet<br />

werden kann. Zum Beispiel, sich nach einem kleinen Haus<br />

für sie umzusehen, ihnen beim Umzug zu helfen und Fisch<br />

und Wild und so weiter als Geschenk zu schicken, wann<br />

immer sie verfügbar sind. Ich lege meine Hand dafür ins<br />

Feuer, dass er weiter nichts im Sinn hatte, ja, es wäre sehr<br />

merkwürdig und unvernünftig, wenn es anders wäre. Bedenke<br />

doch nur, mein lieber Mr. Dashwood, wie überaus<br />

anständig deine Stiefmutter und ihre Töchter von den Zinsen<br />

der siebentausend Pfund leben können, abgesehen von<br />

den eintausend Pfund der einzelnen Mädchen, die ihnen je<br />

fünfzig Pfund pro Jahr einbringen und wovon sie ihrer<br />

Mutter natürlich den Unterhalt bezahlen. Alles in allem<br />

haben sie gemeinsam fünfhundert Pfund pro Jahr, und<br />

wozu um alles in der Welt brauchen vier Frauen mehr? Sie<br />

haben doch keine Ausgaben. Ihr Lebensunterhalt ist nicht<br />

der Rede wert. Sie haben keine Kutsche, keine Pferde und<br />

kaum Personal; sie haben keine gesellschaftlichen Verpflichtungen<br />

und können deshalb keinerlei Ausgaben haben.<br />

Denk doch nur, wie anständig sie leben können! Fünfhundert<br />

pro Jahr! Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie sie<br />

auch nur die Hälfte davon ausgeben wollen. Und was den<br />

Zuschuss von dir angeht, so ist der Gedanke daran absurd.<br />

Viel eher könnten sie dir etwas abgeben.«<br />

»Tatsächlich«, sagte Mr. Dashwood, »ich glaube, du<br />

hast völlig recht. Mein Vater hatte mit seinem Wunsch bestimmt<br />

nichts anderes im Sinn, als du sagst. Mir ist es jetzt<br />

völlig klar, und ich werde meine Verpflichtungen Punkt<br />

für Punkt erfüllen, indem ich ihnen mit hilfreichen und


freundlichen Gesten, wie du sie beschrieben hast, unter die<br />

Arme greife. Wenn meine Mutter umzieht, will ich ihr, soweit<br />

ich kann, bereitwillig zur Seite stehen. Vielleicht ist<br />

dann auch das eine oder andere Möbelstück als Geschenk<br />

angebracht.«<br />

»Natürlich«, entgegnete Mrs. John Dashwood. »Aber<br />

wie auch immer, eins darf man nicht vergessen. Als dein<br />

Vater und deine Mutter nach Norland zogen, wurden zwar<br />

die Möbel von Stanhill verkauft, aber das ganze Geschirr,<br />

Silber und die ganze Tisch- und Bettwäsche wurden behalten,<br />

und nun hat sie deine Mutter geerbt. Ihr Haus<br />

wird deshalb fast vollständig eingerichtet sein, sobald sie<br />

einzieht.«<br />

»Das ist zweifellos ein wesentlicher Gesichtspunkt.<br />

Eine wahrhaft wertvolle Erbschaft! Und einiges von dem<br />

Silber wäre eine sehr erfreuliche Ergänzung unserer eigenen<br />

Sammlung hier gewesen.«<br />

»Ja, und das Frühstücksgeschirr ist zweimal so hübsch<br />

wie das, was in dieses Haus gehört. Meiner Meinung nach<br />

bei weitem zu hübsch für die Häuser, die sie sich je werden<br />

leisten können. Aber wie auch immer, so ist es nun einmal.<br />

Dein Vater hat nur an sie gedacht. Und eins muss ich noch<br />

betonen: Du brauchst ihm weder besonders dankbar zu<br />

sein noch auf seine Wünsche Rücksicht zu nehmen, denn<br />

wir wissen genau, wenn er gekonnt hätte, hätte er fast<br />

alles, was er hatte, ihnen hinterlassen.«<br />

Dieses Argument war unwiderlegbar. Es gab seinen Absichten<br />

die Entschlossenheit, die ihnen bisher noch gefehlt<br />

hatte, und er war schließlich überzeugt, dass es völlig unnötig,<br />

wenn nicht höchst ungehörig war, der Witwe und<br />

den Kindern seines Vaters mehr zu helfen als durch solche<br />

Gesten nachbarlichen Wohlwollens, wie seine eigene Frau<br />

sie angedeutet hatte.


Nachwort<br />

»She cannot be said to have created or invented;<br />

<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> had an infinitely rarer gift – she saw.«<br />

Julia Kavanagh (1824–1877) über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />

1<br />

Zusammen mit Pride and Prejudice und Northanger Abbey<br />

bildet Sense and Sensibility das Trio der frühen Romane<br />

<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s. Sie wurden alle zwischen 1795 und 1798<br />

von der gut Zwanzigjährigen geschrieben, aber vor ihrer<br />

Veröffentlichung etwa 15 bis 20 Jahre später umgearbeitet,<br />

Sense and Sensibility sogar zweimal. Wie bei allen <strong>Austen</strong>-Romanen<br />

sind allerdings die früheren Fassungen auch<br />

hier verloren. Das Buch hieß ursprünglich Elinor and Marianne<br />

und war ein Briefroman. Aus der Kenntnis der endgültigen<br />

Fassung klingt das recht unwahrscheinlich, denn<br />

die beiden Schwestern, die doch den Hauptteil der Briefe<br />

hätten schreiben müssen, weil nur sie ihre Empfindungen<br />

mitteilen können, sind dort niemals getrennt. Vermutlich<br />

schon 1797 wurde diese früheste Version in die jetzige Erzählform<br />

umgegossen, die dann aber etwa 1809 bis 1810<br />

noch einmal revidiert wurde, bevor das Buch 1811 anonym<br />

– »by a lady« – und auf eigene Kosten der Autorin in London<br />

erschien. Als einziger Roman <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s wurde<br />

Sense and Sensibility dann zu ihren Lebzeiten nach der<br />

Erstausgabe noch einmal bearbeitet. 1813 kam nach der<br />

Veröffentlichung von Pride and Prejudice eine zweite Auflage<br />

heraus, die einige, wenn auch nicht tiefgreifende Änderungen<br />

vornahm. Wie die meisten englischen Ausgaben<br />

– auch Chapmans autoritative – bietet die vorliegende


Übersetzung, von geringfügigen Korrekturen abgesehen,<br />

den Text der zweiten Auflage, gewissermaßen der »Ausgabe<br />

letzter Hand«.<br />

Mit den beiden anderen frühen Romanen verbindet<br />

Sense and Sensibility aber mehr als die äußere Entstehungsgeschichte.<br />

Es ist wie Northanger Abbey aus der Parodie<br />

einer zeitgenössischen Mode hervorgegangen, in diesem<br />

Falle der Empfindsamkeit, einem in der Literatur und<br />

im Leben zur Schau getragenen Gefühlsüberschwang, der<br />

das eigene Lieben und Leiden zum Mittelpunkt der Welt<br />

macht. Der deutsche Leser braucht nur an Goethes Die Leiden<br />

des jungen Werthers erinnert zu werden, wo das Thema<br />

mit höchster geistiger Durchdringung behandelt wird.<br />

Während aber Northanger Abbey den Roman im Wesentlichen<br />

um die parodistischen Elemente baut, vor allem um<br />

die Mode des »Gotischen«, und den humoristischen Ton<br />

weitgehend wahrt, entwickelt Sense and Sensibility nicht so<br />

sehr die komödiantischen Züge, sondern erfasst in der an<br />

Marianne kritisierten Empfindsamkeit, die sie blind für alles<br />

außer ihrer von Illusionen genährten Liebe macht, Haltungen<br />

und Einstellungen zum Leben und setzt die Heldinnen<br />

einem intensiven Leiden aus, das sich in Mariannes Fall<br />

in einer beinahe tödlichen körperlichen Krankheit äußert.<br />

Diese ernstere Entwicklung des Themas nun wieder<br />

verbindet diesen Roman mit Pride and Prejudice, mit dem<br />

es schon den alliterierenden Titel gemeinsam hat, dessen<br />

Begriffe auf menschliche Verhaltensweisen und damit auf<br />

Tugenden oder Verfehlungen der Romanfiguren hinweisen.<br />

Im Zentrum beider Romane steht im Gegensatz zu<br />

Northanger Abbey auch ein Schwesternpaar, dessen Liebeserwartung,<br />

-enttäuschung und -erfüllung die eigentliche<br />

Handlung bildet. In Sense and Sensibility lässt sich das<br />

schon aus dem Aufbau des Buches ablesen. Der Roman er-


schien, wie das damals üblich war, in mehreren Bänden,<br />

und zwar in diesem Fall in drei, deren Kapitel einzeln gezählt<br />

wurden (Kap. 1–22 = 1. Band, Kap. 1–22; Kap. 23–37<br />

= 2. Band, Kap. 1–14; Kap. 38–51 = 3. Band, Kap. 1–14),<br />

und die oben angegebenen Stichwörter für die Entwicklung<br />

der Liebesgeschichte entsprechen den einzelnen Bänden:<br />

Im ersten Band lernen Elinor und Marianne ihre Verehrer<br />

kennen und erhoffen sich die Heirat. Um die Handlungsspannung<br />

zu erhalten, erscheint dabei Willoughby erst, als<br />

Edward vorübergehend von der Bildfläche verschwunden<br />

ist, so dass die so gegensätzlichen Liebeserlebnisse der<br />

Mädchen nacheinander berichtet werden. Als Willoughby<br />

dann abreist, taucht Edward wieder auf. Im zweiten Band,<br />

der vor allem in London spielt, verlieren beide Schwestern<br />

vorübergehend ihren Geliebten an andere Frauen und erleben<br />

ihre Krise. Im dritten Band gewinnt Elinor ihren Edward<br />

wieder, und Marianne heiratet ausgerechnet Brandon<br />

statt Willoughby – ein Zeichen, dass sie von ihren Gefühlsillusionen<br />

geheilt ist, denn wie er für sie, ist sie für<br />

ihn eine zweite Liebe, also etwas, was nach Mariannes ursprünglicher<br />

Einstellung gar nicht existieren kann. Sie verbindet<br />

sich nun mit dem Mann, von dem sie behauptet hat,<br />

er sei seines Alters wegen unfähig, tief zu empfinden, sei<br />

überhaupt zu alt zum Heiraten, habe Rheumatismus und<br />

trage Wollwesten – mit dem Mann also, der den Träumen<br />

einer Siebzehnjährigen so ganz und gar nicht entspricht.<br />

Während aber in Sense and Sensibility die beiden<br />

Schwestern die in den Titelbegriffen angesprochenen Eigenschaften<br />

repräsentieren und sich damit beide gleichgewichtig<br />

als Protagonistinnen gegenüberstehen, hat Pride<br />

and Prejudice trotz der zwei liebenden Schwestern nur<br />

eine Heldin, Elizabeth Bennet, und die Titelbegriffe beziehen<br />

sich auf sie und die Spannungen mit ihrem Verehrer


Darcy. Erst dieser zweite Roman entwickelt also die dann<br />

für alle weiteren Romane von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> typische Erzählperspektive,<br />

bei der der Leser die Welt durch die Augen<br />

und mit dem Herzen der Heldin erlebt und nur mit ihr<br />

empfindet. Wohl identifiziert sich die Autorin in Sense and<br />

Sensibility deutlich mit Elinor und nicht mit Marianne, die<br />

ja von ihren Irrtümern geheilt werden muss, aber die Erzählperspektive<br />

schwankt noch.<br />

Man hat das als Mangel betrachtet, und überhaupt wird<br />

von der Literaturwissenschaft Sense and Sensibility öfter<br />

als das schwächste der Bücher <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s angesehen:<br />

»Keiner würde dies als seinen Lieblingsroman von <strong>Jane</strong><br />

<strong>Austen</strong> wählen, während jeder andere seine Fanatiker hat,<br />

die gerade ihn allen anderen vorziehen.« (F. Farren, 1917,<br />

in: B. C. Southam, vgl. Literaturhinweise, S. 444.) Zu diesen<br />

künstlerischen Schwächen kann man etwa die gelegentlich<br />

gouvernantenhaft moralisierende Art Elinors, die<br />

funktionslose Blässe der jüngsten Dashwood-Schwester<br />

Margaret oder den unerklärlichen Wandel zählen, den<br />

Mrs. Jennings im Laufe des Buches durchmacht, die zu<br />

Anfang der Handlung eine unausstehlich penetrante<br />

Klatschbase ist, sich später aber als mutige, kritische und<br />

gütige ältere Dame entpuppt.<br />

2<br />

Andererseits sollte man über den künstlerischen Mängeln<br />

aus heutiger sozialkritisch geschulter Sicht nicht übersehen,<br />

dass Sense and Sensibility das mutigste und enthüllendste<br />

Buch <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s, ihre gnadenloseste Darstellung<br />

von gewissen sozialen Sünden ist. In keinem ihrer anderen<br />

Romane wird menschliches Fehlverhalten mit so distan-


Kapitel 1<br />

Wer Catherine Morland als Kind gesehen hatte, wäre nie<br />

auf den Gedanken gekommen, dass sie zur Romanheldin<br />

bestimmt war. Ihre Lebensumstände, der Charakter ihres<br />

Vaters und ihrer Mutter, ihre äußere Erscheinung und ihr<br />

Naturell – alles sprach gleichermaßen gegen sie. Ihr Vater<br />

war Pfarrer, dabei aber durchaus nicht zu kurz gekommen<br />

oder verarmt, sondern ein sehr angesehener Mann, obwohl<br />

er Richard hieß 1 – und eine Schönheit war er auch nie gewesen.<br />

Er besaß neben seinen beiden einträglichen Pfarrstellen<br />

ein beträchtliches Vermögen und hatte ganz und<br />

gar nicht die Angewohnheit, seine Töchter hinter Schloss<br />

und Riegel zu sperren. Ihre Mutter war eine schlichte, lebenstüchtige<br />

Frau von gleichmäßiger Freundlichkeit und –<br />

man höre und staune – unverwüstlicher Konstitution. Sie<br />

hatte schon drei Söhne, als Catherine zur Welt kam, und<br />

anstatt, wie man doch wohl erwarten durfte, bei ihrer Geburt<br />

zu sterben, lebte sie einfach weiter – lebte weiter und<br />

gebar sechs weitere Kinder, sah sie alle um sich herum aufwachsen<br />

und erfreute sich dabei selbst auch noch bester<br />

Gesundheit. Eine Familie mit zehn Kindern kann immer<br />

Anspruch auf das Wort »stattlich« erheben; dafür sorgt<br />

schließlich schon die Zahl der Köpfe und Arme und Beine,<br />

aber bei den Morlands gründete sich das Anrecht auf diese<br />

Auszeichnung auf wenig anderes, denn sie waren im Großen<br />

und Ganzen recht bieder, und ausgesprochen bieder<br />

war viele Jahre lang auch Catherine. Sie war mager und


ungelenk, hatte einen blassen, glanzlosen Teint, glattes,<br />

dunkles Haar und ausgeprägte Züge. Soweit ihre äußere<br />

Erscheinung; ihre geistigen Gaben ließen die zukünftige<br />

Romanheldin auch nicht gerade ahnen. Sie liebte alle Jungenspiele<br />

und zog Cricket bei weitem nicht nur Puppen,<br />

sondern auch den Kindheitsvergnügen vor, mit denen sich<br />

Romanheldinnen im Allgemeinen die Zeit vertreiben, wie<br />

der Pflege einer kleinen Hausmaus, dem Füttern eines Kanarienvogels<br />

oder dem Gießen eines Rosenstrauchs. Ohnehin<br />

hatte sie mit Gärten nichts im Sinn, und wenn sie<br />

überhaupt Blumen pflückte, dann hauptsächlich aus Schabernack<br />

– jedenfalls musste man das daraus schließen, dass<br />

sie immer gerade die aussuchte, die sie auf keinen Fall nehmen<br />

sollte. So stand es um ihre Neigungen; um ihre Talente<br />

war es nicht minder vielversprechend bestellt. Sie lernte<br />

oder verstand nie etwas, bevor man es ihr erklärte – und<br />

manchmal nicht einmal dann, denn sie war oft unaufmerksam<br />

und gelegentlich sogar begriffsstutzig. Ihre Mutter<br />

brauchte volle drei Monate dazu, ihr »Des Bettlers Bitte«<br />

beizubringen, und sogar dann konnte ihre nächstjüngere<br />

Schwester Sally es immer noch besser als sie. Aber nicht,<br />

dass Catherine durchweg begriffsstutzig war, keineswegs;<br />

sie lernte die Fabel vom »Hasen und seinen vielen Freunden«<br />

im Handumdrehen. 2 Ihre Mutter wollte, dass sie Klavierspielen<br />

lerne, und Catherine war Feuer und Flamme,<br />

denn es machte ihr großen Spaß, auf dem alten, unbenutzt<br />

herumstehenden Spinett zu klimpern, und so fing sie mit<br />

acht Jahren an. Nach einem Jahr war’s mit der Lust vorbei,<br />

und Mrs. Morland, die nicht darauf bestand, dass ihre<br />

Töchter sich trotz mangelnder Begabung und mangelndem<br />

Geschmack Bildung aneigneten, erlaubte ihr, damit aufzuhören.<br />

Der Tag, an dem ihr Klavierlehrer entlassen wurde,<br />

war einer der glücklichsten in Catherines Leben. Auch ihr


Talent zum Zeichnen war nicht überragend, obwohl sie<br />

sich damit alle Mühe gab und mehr oder minder gleich<br />

aussehende Häuser und Bäume, Hühner und Küken zeichnete,<br />

wenn sie der Rückseite eines Briefes ihrer Mutter<br />

habhaft werden oder irgendein anderes Stück Papier erwischen<br />

konnte. Schreiben und Rechnen lernte sie von ihrem<br />

Vater, Französisch von ihrer Mutter, aber in keinem waren<br />

ihre Kenntnisse überwältigend, und sie schwänzte die Stunden,<br />

wann immer sie konnte. Was für ein sonderbarer, unergründlicher<br />

Charakter! Denn trotz all dieser Anzeichen<br />

von Verworfenheit im zarten Alter von zehn Jahren hatte<br />

sie weder ein schlechtes Herz noch einen schlechten Charakter,<br />

war selten bockig, fast nie unverträglich und trotz<br />

gelegentlicher tyrannischer Anfälle rührend zu den Kleinen;<br />

obendrein war sie laut und wild, hasste Stubenarrest<br />

und Sauberkeit und liebte es über alle Maßen, den grünen<br />

Abhang hinter dem Haus hinunterzurollen.<br />

So war Catherine Morland mit zehn. Mit fünfzehn<br />

wuchs sie sich zurecht; sie fing an, sich Locken zu drehen<br />

und für Bälle zu interessieren; ihr Teint wurde klarer; Fülle<br />

und Farbe machten ihre Züge weicher; ihre Augen wurden<br />

lebhafter und ihre Figur betonter. Ihre Vorliebe für<br />

Schmutz wich der Freude an Samt und Seide, und mit dem<br />

Verstand kam auch die Sauberkeit. Mit Vergnügen hörte<br />

sie nun manchmal ihre Eltern sagen, wie sehr sie sich zu<br />

ihrem Vorteil verändert habe. »Catherine wird ein richtig<br />

gutaussehendes Mädchen. Heute sieht sie beinahe hübsch<br />

aus«, fing sie jetzt von Zeit zu Zeit auf, und solche Sätze<br />

waren Musik in ihren Ohren. Beinahe hübsch zu sein, bereitet<br />

einem Mädchen, das die ersten fünfzehn Jahre ihres<br />

Lebens unscheinbar war, größeres Entzücken als jemandem,<br />

der schon in der Wiege als Schönheit galt.<br />

Mrs. Morland war eine herzensgute Frau und hatte die


esten Absichten mit ihren Kindern, aber sie war so völlig<br />

mit ihrem Wochenbett und der Beschäftigung mit den<br />

Kleinen ausgelastet, dass ihre älteren Töchter notgedrungen<br />

allein zurechtkommen mussten, und daher war es<br />

auch nicht verwunderlich, dass Catherine, die von Natur so<br />

gar nichts von einer Heldin hatte, im Alter von vierzehn<br />

Jahren Cricket, Baseball, Reiten und Herumstromern den<br />

Büchern vorzog – oder wenigstens den Büchern, aus denen<br />

man etwas lernen konnte, denn vorausgesetzt, dass sich ihnen<br />

keinerlei nützliches Wissen entnehmen ließ, vorausgesetzt,<br />

dass sie nichts Theoretisches, sondern nur Handlung<br />

enthielten, hatte sie gegen Bücher gar nichts einzuwenden.<br />

Aber zwischen fünfzehn und siebzehn bereitete sie sich auf<br />

ihre Rolle als Romanheldin vor; sie las all die Werke, die<br />

Heldinnen gelesen haben müssen, um sich die Zitate einprägen<br />

zu können, die in den Wechselfällen ihres ereignisreichen<br />

Lebens so brauchbar und tröstlich sind.<br />

Von Pope lernte sie, die zu verurteilen, die<br />

»Scherz treiben mit dem Schmerz der andern«;<br />

von Gray, dass<br />

»Manch Blume muss verblühn in Einsamkeit<br />

Und ihren Duft im Wüstensand verströmen«;<br />

von Thompson, dass<br />

»Es ist ein köstliches Bemühen,<br />

Des Geistes jungen Trieb zu ziehen«;<br />

und Shakespeare versorgte sie mit einem großen Vorrat an<br />

Wissen, unter anderem, dass<br />

»Dinge, leicht wie Luft,<br />

Sind für die Eifersucht Beweise, stark<br />

Wie Bibelsprüche«;


dass<br />

»Der arme Käfer, den dein Fuß zertritt,<br />

Fühlt körperlich ein Leiden, ganz so groß,<br />

Als wenn ein Riese stirbt«;<br />

und dass eine verliebte junge Frau immer aussieht<br />

»Wie die Geduld auf einer Gruft<br />

Dem Grame lächelnd«. 3<br />

So weit hatte sie also zufriedenstellende Fortschritte gemacht,<br />

und in manch anderer Hinsicht war sie auf dem besten<br />

Wege, denn obwohl sie keine Sonette schreiben konnte,<br />

zwang sie sich dazu, welche zu lesen, und obwohl anscheinend<br />

keine Aussicht für sie bestand, eine ganze Gesellschaft<br />

mit der Darbietung eines eigenen Préludes auf dem Klavier<br />

in Verzückung zu versetzen, konnte sie dem Spiel anderer<br />

zuhören, ohne merklich zu ermüden. Nur mit dem Zeichenstift<br />

wusste sie ganz und gar nicht umzugehen – sie<br />

hatte zum Zeichnen einfach kein Talent; es langte nicht einmal<br />

dazu, das Profil ihres Verehrers so zu skizzieren, dass<br />

ihre künstlerische Handschrift darin zu erkennen war. Hier<br />

blieb sie kläglich hinter der wahren Größe einer Romanheldin<br />

zurück. Aber vorläufig ahnte sie nichts von ihrer Unzulänglichkeit,<br />

denn sie hatte gar keinen Verehrer, den<br />

sie hätte porträtieren können. Sie hatte das Alter von siebzehn<br />

erreicht, ohne einen einzigen liebenswürdigen jungen<br />

Mann gesehen zu haben, der ihre Gefühle geweckt hätte,<br />

ohne eine einzige wahre Leidenschaft hervorgerufen zu haben,<br />

ja, ohne mehr als höchst mäßige und flüchtige Bewunderung<br />

erregt zu haben. Das war wirklich sonderbar! Aber<br />

sonderbare Dinge hören auf, es zu sein, wenn man ihnen<br />

auf den Grund geht. Es gab keinen einzigen Lord in der<br />

Nachbarschaft, ja, nicht einmal einen Baron. In ihrem ge-


samten Bekanntenkreis hatte nicht eine einzige Familie einen<br />

Jungen großzuziehen, den sie zufällig vor ihrer Tür gefunden<br />

hatte – nicht einen einzigen jungen Mann, dessen<br />

Herkunft unbekannt war. Ihr Vater hatte kein Mündel und<br />

der reichste Mann der Gegend keine Kinder.<br />

Aber wenn eine junge Dame dazu bestimmt ist, Romanheldin<br />

zu werden, können auch die widrigsten Umstände<br />

in noch so vielen Familien der Umgebung sie nicht<br />

davon abhalten. Etwas muss und wird geschehen, damit ihr<br />

der Held über den Weg läuft.<br />

Mr. Allen, dem die Ländereien um Fullerton – das Dorf<br />

in Wiltshire, wo die Morlands wohnten – zum größeren<br />

Teil gehörten, wurde wegen seiner Gichtanfälle ein Aufenthalt<br />

in Bath verschrieben, und seine Gattin, eine gutmütige<br />

Dame, die an Miss Morland Gefallen fand und sich<br />

vermutlich darüber im Klaren war, dass eine junge Dame<br />

Abenteuer anderswo suchen muss, wenn sie diese in ihrem<br />

eigenen Dorf nicht findet, lud sie ein, sie zu begleiten. Mr.<br />

und Mrs. Morland war es eine große Ehre und Catherine<br />

eine große Freude.<br />

Kapitel 2<br />

Zu allem, was über Catherine Morlands äußere und innere<br />

Gaben bereits gesagt worden ist, darf angesichts der bevorstehenden<br />

Schwierigkeiten und Gefahren eines sechswöchigen<br />

Aufenthalts in Bath zur genaueren Information des<br />

Lesers, und da die folgenden Seiten sonst ihr Ziel verfehlen<br />

würden, ein angemessenes Bild ihres Charakters zu geben,<br />

noch hinzugefügt werden, dass sie ein liebevolles Herz besaß,<br />

ein heiteres, offenes Gemüt ohne alle Einbildung oder


so auffällig wie möglich zu ändern) in diesem Alter als ihre<br />

nächstjüngere Schwester ihre enge Freundin und Vertraute<br />

ist. Wie eigenartig aber, dass sie weder darauf bestand, Catherine<br />

solle mit jeder Post schreiben, noch ihr das Versprechen<br />

abrang, ihr ein Bild der Persönlichkeit jedes neuen<br />

Bekannten oder die Einzelheiten jeder interessanten Unterhaltung,<br />

die sich in Bath ergeben mochte, mitzuteilen.<br />

Überhaupt wurde von Seiten der Morlands alles, was diese<br />

bedeutsame Reise anging, mit einem Grad von Mäßigung<br />

und Gefasstheit getan, die eher den alltäglichen Empfindungen<br />

alltäglicher Menschen entsprach als den hochgespannten<br />

Erwartungen, den zärtlichen Gefühlen, die die<br />

erste Trennung einer Romanheldin von ihrer Familie eigentlich<br />

auslösen sollte, und anstatt ihr bei seiner Bank<br />

unbeschränkte Verfügungsgewalt über sein Konto zu geben<br />

oder gar eine Hundertpfundnote in die Hand zu drücken,<br />

überreichte der Vater ihr nur zehn Guineen und versprach<br />

ihr mehr, wenn sie mehr brauchen sollte.<br />

Unter diesen nicht gerade vielversprechenden Auspizien<br />

fand die Trennung statt, begann die Reise. Sie ging<br />

mit angemessener Ruhe und eintöniger Gefahrlosigkeit<br />

vonstatten. Kein Räuber, kein Unwetter suchte sie heim,<br />

und kein segensreicher Wagenbruch führte sie mit dem<br />

Helden zusammen. Nichts Schrecklicheres passierte, als<br />

dass Mrs. Allen fürchtete, ihre Pantoffeln in einem Gasthaus<br />

zurückgelassen zu haben, und auch diese Befürchtung<br />

erwies sich glücklicherweise als grundlos.<br />

So kamen sie in Bath an; Catherine war voll gespannter<br />

Erwartung, ihre Augen waren hier und dort und überall,<br />

als sie sich der gepflegten, eindrucksvollen Umgebung von<br />

Bath näherten und anschließend durch die Straßen fuhren,<br />

die sie zum Hotel führten. Sie war gekommen, um glücklich<br />

zu sein, und fühlte sich schon jetzt glücklich.


Bald waren sie in bequemen Räumlichkeiten in der Pulteney<br />

Street 4 untergebracht.<br />

Es ist an dieser Stelle angebracht, eine ungefähre Beschreibung<br />

von Mrs. Allen zu geben, damit der Leser beurteilen<br />

kann, auf welche Weise ihre Handlungen später zur<br />

unglückseligen Wendung des Buches beitragen und inwiefern<br />

sie voraussichtlich – sei es durch ihre Unklugheit, Gewöhnlichkeit<br />

oder Eifersucht, sei es, indem sie die Briefe<br />

der armen Catherine abfängt, ihren Charakter verdirbt<br />

oder sie aus dem Hause weist – für all das verzweiflungsvolle<br />

Elend, das im letzten Band 5 auf den Leser zukommt,<br />

mitverantwortlich ist.<br />

Mrs. Allen war eine der zahlreichen Frauen, in deren<br />

Gesellschaft man nichts anderes empfindet als Erstaunen<br />

darüber, dass es auf dieser Welt sage und schreibe Männer<br />

gibt, die genug Sympathie für sie aufbringen, sie zu heiraten.<br />

Sie besaß weder Schönheit noch Geist, Bildung oder<br />

Geschmack. Damenhaftes Auftreten, eine gehörige Portion<br />

von unaufdringlicher, passiver Gutmütigkeit und ein Hang<br />

zur Oberflächlichkeit waren alles, was sie dazu berechtigte,<br />

dass die Wahl eines so vernünftigen, intelligenten Mannes<br />

wie Mr. Allen auf sie gefallen war. In einer Hinsicht allerdings<br />

war sie vorzüglich geeignet, eine junge Dame in die<br />

Gesellschaft einzuführen, denn es machte ihr selbst ebensoviel<br />

Spaß, überall hinzugehen und alles anzusehen wie<br />

den jungen Damen selbst. Kleider waren ihre Leidenschaft;<br />

ihr ganzer harmloser Lebensinhalt bestand darin, sich herauszuputzen,<br />

und das gesellschaftliche Debüt unserer Heldin<br />

konnte erst stattfinden, als die beiden drei oder vier<br />

Tage damit verbracht hatten, herauszufinden, was man<br />

denn trug, und Catherines mütterliche Begleiterin sich ein<br />

Kleid nach der neuesten Mode zugelegt hatte. Catherine<br />

machte ebenfalls einige Einkäufe, und als all dies erledigt


war, nahte der bedeutende Abend, der sie in die Oberen<br />

Gesellschaftsräume 6 führen sollte. Ihr Haar war vom ersten<br />

Friseur am Platze geschnitten und gelegt, ihre Toilette<br />

mit Sorgfalt arrangiert, und sowohl Mrs. Allen als auch<br />

ihre Zofe erklärten, sie könne gar nicht besser aussehen.<br />

Bei solchem Zuspruch hoffte Catherine, vor den Augen der<br />

Menge bestehen zu können. Wenn sie Bewunderung erregte,<br />

war es ihr sehr recht, aber sie suchte sie nicht und<br />

war nicht darauf angewiesen.<br />

Mrs. Allen brauchte so lange zum Anziehen, dass sie<br />

den Ballsaal erst sehr spät betraten. Die Saison war auf<br />

dem Höhepunkt, der Saal überfüllt, und die beiden Damen<br />

drängten sich hinein, so gut es ging. Was Mr. Allen betraf,<br />

so begab er sich direkt ins Kartenzimmer und überließ es<br />

ihnen, allein an dem Gewimmel ihren Spaß zu haben.<br />

Mehr um die Sicherheit ihres neuen Kleides als um<br />

das Wohlbefinden ihres Schützlings besorgt, bahnte sich<br />

Mrs. Allen, so schnell es die nötige Vorsicht erlaubte, einen<br />

Weg durch die Traube von Männern an der Tür, aber<br />

Catherine hielt sich dicht an ihrer Seite und hakte sich so<br />

fest bei ihrer Freundin ein, dass auch die vereinte Anstrengung<br />

einer wogenden Menge sie nicht auseinanderreißen<br />

konnte. Zu ihrer größten Verblüffung musste sie jedoch<br />

feststellen, dass bei weiterem Vordringen in den Saal das<br />

Gedränge keineswegs abnahm; es schien eher schlimmer<br />

zu werden, je weiter sie vorankamen, während Catherine<br />

sich vorgestellt hatte, dass sie mühelos Platz finden und<br />

den Tänzen in aller Bequemlichkeit zusehen könnten, sobald<br />

sie erst einmal die Tür hinter sich gelassen hätten.<br />

Aber das Gegenteil war der Fall, und obwohl sie dank unermüdlichem<br />

Eifer sogar das obere Ende des Saales erreichten,<br />

war ihre Lage unverändert. Von den Tänzern sahen sie<br />

nichts als den herausragenden Kopfputz einiger Damen.


Sie drangen trotzdem weiter vor; etwas Besseres stand in<br />

Aussicht, und unter Aufbietung aller Energie und Findigkeit<br />

gelangten sie schließlich in den Gang hinter der<br />

höchsten Bank. Hier war das Gedränge etwas weniger<br />

dicht als unten, und deshalb hatte Miss Morland einen<br />

umfassenden Überblick über die Gesellschaft unter sich<br />

und die soeben überstandenen Gefahren in ihrer Mitte. Es<br />

war ein großartiger Anblick, und zum erstenmal an diesem<br />

Abend hatte sie das Gefühl, auf einem Ball zu sein; sie hätte<br />

für ihr Leben gern getanzt, aber sie kannte nicht einen<br />

einzigen Menschen im ganzen Saal. Mrs. Allen tat alles,<br />

was sich in einem solchen Fall tun ließ, indem sie von Zeit<br />

zu Zeit ungerührt sagte: »Schade, dass Sie nicht tanzen<br />

können, mein Kind! Schade, dass Sie keinen Partner haben!«<br />

Eine Zeitlang fühlte ihre junge Freundin sich ihr zu<br />

Dank verpflichtet für die guten Wünsche, aber sie wurden<br />

so oft wiederholt und erwiesen sich als so völlig wirkungslos,<br />

dass Catherine ihrer schließlich überdrüssig wurde und<br />

aufhörte, sich zu bedanken.<br />

Allerdings durften sie ihren erhöhten Zufluchtsort, den<br />

sie sich so mühsam erkämpft hatten, nicht lange genießen.<br />

Bald setzten sich alle zum Teebüfett in Bewegung, und<br />

auch sie mussten sich mit den anderen hinausdrängen.<br />

Catherine überkam allmählich ein Gefühl der Enttäuschung;<br />

sie war es leid, ständig von Leuten herumgestoßen<br />

zu werden, deren Gesichtern sie im Großen und Ganzen<br />

nicht das mindeste Interesse abgewinnen konnte und die<br />

ihr alle so gänzlich unbekannt waren, dass sie die lästige<br />

Gefangenschaft nicht einmal durch ein freundliches Wort<br />

mit einem ihrer Mitgefangenen lindern konnte; und als sie<br />

schließlich das Teezimmer erreichten, kam ihr der Umstand,<br />

dass sie sich keiner Gruppe, keinem bekannten Gesicht<br />

anschließen konnten, dass keiner der Herren sich um


sie kümmerte, noch peinlicher zum Bewusstsein. Mr. Allen<br />

war nirgendwo zu sehen, und nachdem sie vergeblich nach<br />

einem geeigneten Platz Ausschau gehalten hatten, blieb ihnen<br />

nichts anderes übrig, als am Ende eines Tisches Platz<br />

zu nehmen, an dem bereits eine größere Gruppe saß und<br />

wo sie nichts verloren hatten und sich mit niemandem unterhalten<br />

konnten als miteinander.<br />

Mrs. Allen beglückwünschte sich, sobald sie saßen, ihr<br />

Kleid vor Schaden bewahrt zu haben. »Wie schrecklich,<br />

wenn es zerrissen worden wäre«, sagte sie, »finden Sie<br />

nicht? Es ist ein so empfindlicher Musselin. Was mich betrifft,<br />

ich habe im ganzen Saal nichts gesehen, was mir so<br />

gut gefallen hat, das können Sie mir glauben.«<br />

»Wie lästig«, flüsterte Catherine, »nicht einen einzigen<br />

Bekannten hier zu haben.«<br />

»Ja, mein Kind«, erwiderte Mrs. Allen, ohne sich sonderlich<br />

dafür zu interessieren, »das ist wirklich sehr lästig.«<br />

»Was machen wir denn nun? Die Herrschaften an diesem<br />

Tisch sehen auch aus, als ob sie sich fragten, was wir<br />

hier wollen. Wir drängen uns ihnen förmlich auf.«<br />

»Ja, das stimmt. Es ist sehr unangenehm. Ich wünschte,<br />

wir hätten eine Menge Bekannte hier.«<br />

»Ich wünschte, wir hätten überhaupt welche hier. Dann<br />

könnten wir uns wenigstens jemandem anschließen.«<br />

»Ganz richtig, mein Kind, und wenn wir Bekannte hätten,<br />

würden wir uns gleich zu ihnen setzen. Letztes Jahr<br />

waren die Skinners hier. Schade, dass sie jetzt nicht hier<br />

sind.«<br />

»Sollten wir nicht lieber aufbrechen? Für uns ist hier<br />

sowieso nicht gedeckt.«<br />

»Tatsächlich, Sie haben ganz recht. Das ist ja unerhört!<br />

Aber ich finde, wir sollten lieber still sitzenbleiben, denn<br />

man wird in dem Gedränge so herumgestoßen. Wie sieht


meine Frisur aus, mein Kind? Jemand hat mir einen<br />

Schubs gegeben und dabei ist sie, fürchte ich, ganz verrutscht.«<br />

»Nein, gar nicht, sie sitzt sehr gut. Aber liebe Mrs. Allen,<br />

sind Sie ganz sicher, dass Sie in dieser riesigen Menschenmenge<br />

keine Menschenseele kennen? Sie müssen<br />

doch irgend jemanden kennen.«<br />

»Beim besten Willen nicht, schade. Wirklich jammerschade,<br />

dass ich nicht mehr Bekannte hier habe, sonst würde<br />

ich Ihnen einen Tanzpartner besorgen. Ich wäre so froh,<br />

wenn Sie tanzen könnten. Da geht eine merkwürdig aussehende<br />

Frau! Was für ein komisches Kleid sie anhat! Wie<br />

altmodisch! Sehen Sie nur den Rücken!«<br />

Nach einer Weile wurde ihnen von einem ihrer Nachbarn<br />

Tee angeboten; er wurde dankbar akzeptiert, und daraus<br />

entspann sich eine kurze Unterhaltung mit dem Herrn,<br />

und das war das einzige Mal während des ganzen Abends,<br />

dass irgendjemand mit ihnen sprach, bis Mr. Allen sie nach<br />

Beendigung des Tanzes entdeckte und sich zu ihnen gesellte.<br />

»Nun, Miss Morland«, sagte er gleich zu ihr, »ich hoffe,<br />

Sie haben einen unterhaltsamen Abend verbracht.«<br />

»Sehr unterhaltsam«, antwortete sie und versuchte<br />

vergeblich, ein herzhaftes Gähnen zu unterdrücken.<br />

»Schade, dass sie nicht tanzen konnte«, sagte seine<br />

Frau, »schade, dass ich keinen Partner für sie hatte. Ich<br />

sagte schon zu Miss Morland, wie froh ich wäre, wenn die<br />

Skinners diesen und nicht letzten Winter hiergewesen wären,<br />

oder wenn die Parrys gekommen wären, wie sie einmal<br />

angedeutet haben, dann hätte sie mit George Parry<br />

tanzen können. Es tut mir so leid, dass sie keinen Partner<br />

hatte.«<br />

»Ein andermal haben Sie mehr Glück, hoffe ich«, war<br />

Mr. Allens ganzer Trost.


Als der Tanz zu Ende war, begann sich die Gesellschaft<br />

zu zerstreuen, was den Zurückbleibenden genügend Platz<br />

ließ, um in einiger Bequemlichkeit umherzuwandern, und<br />

jetzt war der Augenblick gekommen, wo es sich für jede<br />

Romanheldin gehört, die im Laufe des Abends noch keine<br />

hervorragende Rolle gespielt hat, bemerkt und bewundert<br />

zu werden. Alle fünf Minuten verringerte sich die Menge<br />

und gab Catherine mehr Spielraum, ihren Charme zu entfalten.<br />

Das Auge vieler junger Männer fiel nun auf sie, die<br />

vorher nicht in ihre Nähe gekommen waren. Nicht einer<br />

allerdings blieb, von sprachlosem Entzücken hingerissen,<br />

bei ihrem Anblick stehen, kein neugieriges, fragendes Flüstern<br />

machte die Runde im Saale, auch wurde sie kein einziges<br />

Mal eine göttliche Schönheit genannt. Und doch sah<br />

Catherine sehr gut aus, und hätte die Gesellschaft sie drei<br />

Jahre früher gesehen, dann hätte man sie jetzt für ungewöhnlich<br />

hübsch gehalten.<br />

Sie wurde allerdings betrachtet, und zwar mit einiger<br />

Bewunderung, denn wie sie selbst mit anhörte, erklärten<br />

zwei Herren sie für ein hübsches Mädchen. Solche Worte<br />

verfehlten ihre Wirkung nicht; der Abend erschien ihr auf<br />

der Stelle erfreulicher als vorher, ihre anspruchslose Eitelkeit<br />

war befriedigt. Sie war den beiden jungen Männern<br />

dankbarer für dieses bescheidene Kompliment als eine<br />

wahre Heldin für fünfzehn Sonette zur Feier ihrer Reize<br />

und ging versöhnt mit aller Welt und vollkommen zufrieden<br />

mit ihrem Anteil an allgemeiner Aufmerksamkeit zu<br />

ihrer Sänfte.


Nachwort<br />

»That young lady had a talent for describing<br />

the involvement and feelings and characters of<br />

ordinary life which is to me the most wunderful<br />

I ever met with.«<br />

Walter Scott über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />

1<br />

Northanger Abbey hat von allen Romanen <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s<br />

die ungewöhnlichste Textgeschichte. Das Buch wird zwischen<br />

1797 und 1803 von der erst gut Zwanzigjährigen geschrieben,<br />

begonnen aber möglicherweise schon 1790 und<br />

heißt Susan. Dass der erste, in Bath spielende Teil die Spuren<br />

von <strong>Jane</strong>s eigenem dortigen Leben zwischen 1801 und<br />

1806 trägt, wird in der genauen Schilderung der Örtlichkeiten<br />

deutlich. Wie alle frühen Manuskripte der Autorin<br />

erlebt es seine »Uraufführung« wohl im Familienkreis,<br />

dem <strong>Jane</strong> mit dem Vorlesen ihrer witzigen und parodistischen<br />

Geschichten viel Vergnügen bereitet. Über eine Mittelsperson<br />

ihres Bruders Henry wird das Manuskript im<br />

Frühjahr 1803 an den Verleger Crosby für zehn Pfund zur<br />

unmittelbaren Veröffentlichung verkauft. Es muss ein stolzer<br />

Augenblick für die junge Dame gewesen sein, der sich<br />

mit der Publikation dieses ersten Buches binnen Jahresfrist<br />

eine literarische Karriere zu eröffnen scheint. Aber obwohl<br />

der Verleger das Autorenhonorar bezahlt hat, unternimmt<br />

er weiter nichts; er kündigt den Band an, ohne ihn je erscheinen<br />

zu lassen. Sechs Jahre später schreibt <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />

anonym an Crosby und erkundigt sich nach dem Manuskript.<br />

Sie könne nur vermuten, dass es verlorengegangen


sei, da es entgegen der Absprache nicht veröffentlicht wurde,<br />

und sie erklärt sich bereit, ein zweites Exemplar zu<br />

übersenden, falls das sonst unerklärliche Nichterscheinen<br />

darauf zurückzuführen sei. Crosby antwortet mit dem Angebot,<br />

ihr das Manuskript zum selben Preis wieder zu<br />

überlassen. Eine Erklärung gibt er nicht, nur verbittet er<br />

sich die anderweitige Veröffentlichung, solange er rechtmäßig<br />

im Besitz des Manuskriptes sei. Erst 1816, als <strong>Jane</strong><br />

<strong>Austen</strong> schon mehrere Romane publiziert hat und sich ihre<br />

Anonymität langsam zu lüften beginnt, macht sie von dem<br />

Angebot des Rückkaufs Gebrauch. Dass die geachtete Autorin<br />

von Sense and Sensibility, Pride and Prejudice,<br />

Mansfield Park und Emma die Verfasserin des Buches ist,<br />

das er so vernachlässigt hat, erfährt Crosby erst, als er die<br />

Rechte daran wieder abgetreten hat.<br />

<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> bearbeitet das unterdessen gut fünfzehn<br />

Jahre alte Manuskript, legt es dann aber zunächst zugunsten<br />

ihres neuen Romans Persuasion vorläufig wieder zur<br />

Seite. Daher kommt es wieder nicht zur unmittelbaren Publikation<br />

und diesmal mit tragischen Folgen: 1817 stirbt<br />

<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> im Alter von zweiundvierzig Jahren. Ihr Bruder<br />

nimmt sich ihrer beiden noch unveröffentlichten Romane<br />

an, und so erscheinen 1818 ihr frühes und ihr letztes<br />

Werk postum und mit einer biographischen Notiz, aus der<br />

die Öffentlichkeit zum erstenmal erfährt, wer sich hinter<br />

den immer größere Aufmerksamkeit findenden Romanen<br />

verbirgt, die ohne Autorennamen, nur mit dem Hinweis<br />

»by a lady« erschienen sind. »Ihr der Nützlichkeit, Literatur<br />

und Religion gewidmetes Leben«, schreibt Henry <strong>Austen</strong>,<br />

»war keineswegs ein ereignisreiches Leben.« Warum<br />

Crosby das Manuskript zurückgehalten hat, lässt sich nur<br />

vermuten. Fürchtete er einen finanziellen Misserfolg? Passte<br />

es nicht in sein Verlagsprogramm? War die »gothic no-


vel«, der gotische Schauerroman der Zeit, ihm noch zu populär,<br />

als dass er es riskieren wollte, mit einer offensichtlichen<br />

Parodie dieses in den neunziger Jahren unglaublich<br />

beliebten und erfolgreichen Romantyps ans Licht zu treten?<br />

Jedenfalls raubte die verspätete Publikation dem Buch<br />

einen Teil seiner unmittelbaren Aktualität, denn 1818 war<br />

die große Zeit des gotischen Romans vorüber, obwohl gerade<br />

in dieser Zeit noch zwei späte Meisterwerke der Gattung<br />

erschienen: Frankenstein or the Modern Prometheus (1818)<br />

von Mary Shelley (1797–1851) und Melmouth the Wanderer<br />

(1820) von Charles Maturin (1780–1824). In diesen späteren<br />

Werken des Genres fällt auf, dass in ihrem Mittelpunkt<br />

nicht mehr das beschützenswerte junge Mädchen<br />

steht, sondern der »romantische« Held, von seinen Begierden<br />

getrieben, dem Teufel verfallen oder dem Wissensdurst<br />

hingegeben. Der gotische Roman ist noch heute weitgehend<br />

tot, oder, anders gesagt: paradoxerweise lebt er heute<br />

am intensivsten gerade in <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Parodie. Henry<br />

<strong>Austen</strong> hat recht gehabt, als er in seiner biographischen<br />

Notiz auch bemerkte: »Aber vielleicht leben ja die Werke<br />

der Autorin ebensolange wie die, die mit mehr éclat über<br />

die Welt hereingebrochen sind.«<br />

Während Northanger Abbey durch die Verzögerungen<br />

unzeitgemäß spät erscheint, macht gerade diese Verspätung<br />

deutlich, dass <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s literarische Produktion<br />

enger mit dem Beginn des realistischen englischen Romans<br />

im 19. Jahrhundert zusammengehört. Nicht der Schauerroman<br />

erregt um 1820 die Gemüter; das Interesse hat sich<br />

anderen Romantypen zugewandt, in denen die genaue, detaillierte<br />

und unsensationelle Beschreibung der tatsächlich<br />

gelebten und erlebten Wirklichkeit eine größere Rolle<br />

spielt und für die der Name Walter Scott repräsentativ ist.<br />

In seinen Romanen verbindet sich die Vorliebe für die nun


nicht mehr so phantastisch übersteigerte und entwirklichte<br />

Historie mit dem Gefallen an der unverwechselbaren Eigenart<br />

einzelner britischer Regionen: Waverley, die Darstellung<br />

des letzten Versuchs der Stuarts, in der Mitte des<br />

18. Jahrhunderts den englischen Thron von Schottland aus<br />

zurückzuerobern, erscheint 1814 und Ivanhoe, die Geschichte<br />

des edlen Ritters zur Zeit von Richard Löwenherz<br />

und Robin Hood, 1819. Bei Scott oder in Susan Ferriers<br />

(1782–1854) Roman Marriage, der im selben Jahr wie<br />

Northanger Abbey herauskommt und öfter mit <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s<br />

Büchern verglichen worden ist, gibt Schottland den literarischen<br />

Reiz her.<br />

Fast programmatisch weist <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> den Leser schon<br />

im zweiten Kapitel darauf hin, dass sie vorhat, seine aufs<br />

Unwahrscheinlich-Phantastische gerichteten Erwartungen<br />

zu enttäuschen, indem sie das Märchenhafte im Leben einer<br />

Heldin ausmalt, aber dann als nicht wirklich entlarvt.<br />

In diesem Fall beschreibt sie Catherines Abschied, wie er<br />

nach den Romankonventionen der Zeit stattfinden müsste<br />

und wie er sich wirklich abgespielt hat, und dabei betont sie<br />

den eben skizzierten Gegensatz zwischen dem alten und<br />

dem neuen Typ von Roman: Ȇberhaupt wurde von Seiten<br />

der Morlands alles, was diese bedeutsame Reise anging, mit<br />

einem Grad von Mäßigung und Gefasstheit getan, die eher<br />

den alltäglichen Empfindungen alltäglicher Menschen entsprach<br />

als den hochgespannten Erwartungen, den zärtlichen<br />

Gefühlen, die die erste Trennung einer Romanheldin<br />

von ihrer Familie eigentlich auslösen sollte […].«<br />

Und so erscheint denn letztlich der Publikationstermin<br />

von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s verspätetem Jugendwerk doch als recht<br />

glücklich: Ihr Buch braucht den Abstand zum gotischen<br />

Roman, damit erkennbar wird, wie sie ihn im Bewusstsein<br />

neuerer Entwicklungen kritisiert, zu denen sie selbst beige-


tragen hat. Aber außerdem erscheint es nun im selben Jahr<br />

wie die andere glänzende, wenn auch intellektuellere und<br />

mehr auf die Romantik zielende Parodie des gotischen<br />

Romans, Nightmare Abbey von William Love Peacock<br />

(1785– 1866), das mit der ironischen Beschreibung eines<br />

mittelalterlichen Familiensitzes beginnt, wie ihn Catherine<br />

Morland erst im zweiten Teil von Northanger Abbey zu sehen<br />

bekommt: »Kloster Alptraum, ein ehrwürdiger Familiensitz<br />

im höchst malerischen Zustand von Halbverfallenheit<br />

[…].«<br />

2<br />

Die für die Entwicklung der gotischen Mode im England<br />

des 18. Jahrhunderts wichtigste Gestalt, die freilich auf<br />

früheren Ansätzen aufbauen kann, ist Horace Walpole<br />

(1717–97), vierter Earl of Oxford und langjähriges Mitglied<br />

des Parlaments. Er lässt sich in den sechziger Jahren<br />

sein Landhaus Strawberry Hill in gotischem Stil und mit<br />

unregelmäßigem Grundriss bauen und veröffentlicht 1764<br />

den ersten gotischen Roman: The Castle of Otranto. Auch<br />

in Deutschland beginnt ja etwa um diese Zeit die Mittelalter-Begeisterung,<br />

für die Goethes Kult des Straßburger<br />

Münsters und sein Götz von Berlichingen (1773) frühe<br />

und bekannte Beispiele sind. Aber während sich in<br />

Deutschland diese gotischen Elemente erst in der Romantik<br />

wirklich durchsetzen und Teil einer Weltanschauung<br />

werden, bestimmen sie in England schon in den letzten<br />

dreißig Jahren des 18. Jahrhunderts die Mode. Man baut<br />

gotische Gebäude oder lässt sich seine Bibliothek mit gotischen<br />

Ornamenten verzieren, zimmert gotisches Mobiliar<br />

oder malt gotische Bilder mit pittoresk verfallenen Burgen,<br />

schreibt Friedhofsdichtung oder gotische Romane, die in


Kapitel 1<br />

Schön, aufgeweckt und reich, bei einem sorgenfreien Zuhause<br />

und einem glücklichen Naturell war Emma Woodhouse<br />

offenbar mit einigen der erfreulichsten Vorzüge des<br />

Daseins gesegnet und hatte beinahe einundzwanzig Jahre<br />

fast ohne jeden Anlass zu Kummer und Verdruss auf dieser<br />

Welt verbracht.<br />

Sie war die jüngere von zwei Töchtern eines höchst zärtlichen<br />

und nachsichtigen Vaters und durch die Heirat ihrer<br />

Schwester schon recht früh Herrin seines Hauses geworden.<br />

Ihre Mutter war schon zu lange tot, als dass sich für Emma<br />

mit der Erinnerung an sie mehr als unbestimmte Vorstellungen<br />

von Zärtlichkeit verbunden hätten, und ihren Platz<br />

hatte eine ausgezeichnete Erzieherin eingenommen, deren<br />

liebende Zuneigung der einer Mutter kaum nachstand.<br />

Sechzehn Jahre hatte Miss Taylor in Mr. Woodhouses<br />

Familie mehr als Freundin denn als Erzieherin verbracht<br />

und zu beiden Töchtern, besonders aber zu Emma ein enges<br />

Verhältnis gehabt. Zwischen ihnen herrschte eher die<br />

Vertrautheit von Schwestern. Schon lange bevor Miss Taylor<br />

aufgehört hatte, ihr Amt als Erzieherin auszuüben, hatte<br />

sie in ihrer Nachsicht Emma fast immer gewähren lassen,<br />

und da auch der bloße Schatten von Autorität längst<br />

verschwunden war, lebten sie als unzertrennliche Freundinnen<br />

miteinander, wobei Emma tat, was sie wollte: Zwar<br />

schätzte sie Miss Taylors Urteil sehr, aber sie folgte im<br />

Wesentlichen ihrem eigenen.


Das eigentliche Problem bestand deshalb darin, dass<br />

Emma zu leicht ihren Willen bekam und dazu neigte, eher<br />

zu viel von sich zu halten. Hier lauerten Gefahren, die ihrem<br />

ungetrübten Dasein drohten. Vorläufig allerdings war<br />

sie sich ihrer so wenig bewusst, dass sie sie durchaus nicht<br />

als Verhängnis empfand.<br />

Und doch stand ihr Kummer bevor, gelinder Kummer<br />

allerdings und keineswegs in Gestalt von unliebsamer<br />

Selbsterkenntnis. Miss Taylor heiratete. Der Abschied von<br />

Miss Taylor brachte Emma den ersten seelischen Schmerz.<br />

Am Hochzeitstag ihrer geliebten Freundin hing sie zum<br />

ersten Mal längere Zeit trüben Gedanken nach. Die Feier<br />

war vorüber, das Brautpaar fort, und ihr Vater und sie<br />

mussten sich allein und ohne Aussicht auf Gesellschaft, die<br />

ihnen den langen Abend verkürzen half, zum Dinner 1 niedersetzen.<br />

Ihr Vater legte sich wie üblich nach dem Essen<br />

hin, und ihr blieb nichts übrig, als dazusitzen und über ihren<br />

Verlust nachzudenken.<br />

Ihrer Freundin versprach die Heirat alle Aussicht auf<br />

dauerhaftes Glück. Mr. Weston war ein Mann von vortrefflichem<br />

Charakter, beträchtlichem Vermögen, passendem<br />

Alter und angenehmen Umgangsformen, und es lag<br />

ein gewisser Trost darin, dass sie aus Freundschaft die Partie<br />

uneigennützig und großzügig immer selbst gewünscht<br />

und gefördert hatte; aber leicht fiel es ihr nicht. Tagtäglich<br />

und von morgens bis abends würde ihnen Miss Taylor fehlen.<br />

Sie rief sich ihre Herzlichkeit ins Gedächtnis zurück,<br />

die Herzlichkeit und Zuneigung von sechzehn Jahren: wie<br />

sie sie seit ihrem fünften Lebensjahr unterrichtet und mit<br />

ihr gespielt hatte; wie sie alles getan hatte, um sie anzuregen<br />

und zu unterhalten, wenn sie gesund war, und sie bei<br />

den verschiedenen Kinderkrankheiten gepflegt hatte. Sie<br />

war ihr zu großem Dank verpflichtet, aber das Beisammen-


sein der letzten sieben Jahre, der Umgang auf gleichem<br />

Fuß und das völlige gegenseitige Vertrauen, das sich eingestellt<br />

hatte, als sie nach Isabellas Heirat noch mehr aufeinander<br />

angewiesen waren, war ihr in der Erinnerung noch<br />

teurer und lieber. Sie war eine Freundin und Gefährtin gewesen,<br />

wie nur wenige sie besaßen, lebensklug, gebildet,<br />

unentbehrlich, gleichmäßig freundlich, mit allen Familienangelegenheiten<br />

vertraut, an allen familiären Problemen<br />

interessiert und besonders an ihr, an all ihren Vergnügungen<br />

und Plänen. Mit ihr konnte sie alles besprechen, was<br />

ihr in den Sinn kam, und Miss Taylor liebte sie zu sehr, als<br />

dass sie an ihr jemals etwas auszusetzen gehabt hätte.<br />

Wie sollte sie diese Umstellung nur ertragen? Es<br />

stimmte zwar, dass ihre Freundin nicht mehr als eine halbe<br />

Meile entfernt wohnte, aber Emma wusste nur zu gut,<br />

welcher Unterschied zwischen einer Mrs. Weston, nicht<br />

mehr als eine halbe Meile entfernt, und einer Miss Taylor<br />

im Haus bestehen würde, und bei all ihren natürlichen Gaben<br />

und häuslichen Möglichkeiten war sie nun in Gefahr,<br />

geistig zu verkümmern. Sie liebte ihren Vater herzlich,<br />

aber er war keine Gesellschaft für sie. Er war ihr im ernsten<br />

und scherzhaften Gespräch nicht gewachsen.<br />

Ihr unglückseliger Altersunterschied (und Mr. Woodhouse<br />

hatte nicht gerade früh geheiratet) wurde noch wesentlich<br />

durch seinen Gesundheitszustand und seine Gewohnheiten<br />

vergrößert, denn da er in seiner geistigen und<br />

körperlichen Unbeweglichkeit sein Leben lang ein kränkelnder<br />

Mann gewesen war, wirkte er älter, als er war; und<br />

wenn er auch wegen seiner Herzensgüte und seiner immer<br />

gleichbleibenden Freundlichkeit überall sehr beliebt war,<br />

hatte er doch nie durch Talente geglänzt.<br />

Obwohl Emmas Schwester nur sechzehn Meilen entfernt<br />

in London wohnte, also durch die Heirat nicht ei-


gentlich von ihrer Familie getrennt war, war sie natürlich<br />

für den täglichen Umgang zu weit weg, und man musste in<br />

Hartfield viele lange Oktober- und Novemberabende überstehen,<br />

bevor Isabella und ihr Mann mit ihren kleinen<br />

Kindern zu Weihnachten zu Besuch kamen, um das Haus<br />

endlich wieder mit ihrer unterhaltsamen Gesellschaft zu<br />

füllen.<br />

Highbury, das große und seiner Einwohnerzahl nach<br />

fast städtische Dorf, zu dem Hartfield trotz seines eigenen<br />

Namens und seines getrennten Grund und Bodens eigentlich<br />

gehörte, konnte ihr keine ebenbürtige Gesellschaft bieten.<br />

Die Woodhouses waren dort die angesehenste Familie.<br />

Man sah allgemein zu ihnen auf. Sie hatten zwar viele Bekannte,<br />

denn ihr Vater war zuvorkommend zu jedermann,<br />

aber es gab niemand unter ihnen, den sie anstelle von Miss<br />

Taylor auch nur einen halben Tag akzeptiert hätte. Es war<br />

schon eine trostlose Umstellung, und Emma konnte darüber<br />

nur seufzen und sich Unerfüllbares wünschen, bis<br />

ihr Vater erwachte und sie wieder Heiterkeit ausstrahlen<br />

musste, denn er brauchte Aufmunterung. Er war kein ausgeglichener<br />

Mensch, sondern neigte zu Depressionen; er<br />

hing an Menschen, an die er gewöhnt war, und ließ sie ungern<br />

gehen, denn jeder Wechsel war ihm zuwider. Die Ehe<br />

als Quelle der Veränderung war immer eine leidige Sache,<br />

und er hatte sich noch nicht einmal mit der Heirat seiner<br />

eigenen Tochter abgefunden und sprach von ihr immer in<br />

mitleidigem Ton, obwohl es doch ganz und gar eine Liebesheirat<br />

gewesen war, als er sich nun auch noch von Miss<br />

Taylor trennen sollte. Da er auf seine leise Art zum Egoismus<br />

neigte und sich nicht vorstellen konnte, dass andere<br />

Menschen nicht seiner Meinung waren, zweifelte er nicht<br />

daran, dass Miss Taylor sich selbst und ihnen einen<br />

schlechten Dienst erwiesen hatte und viel glücklicher ge-


wesen wäre, wenn sie den Rest ihres Lebens in Hartfield<br />

verbracht hätte. Emma lächelte und plauderte, so heiter sie<br />

nur konnte, damit er nicht auf solche trüben Gedanken<br />

verfiel, aber als der Tee serviert wurde, konnte er sich nicht<br />

enthalten zu wiederholen, was er schon bei Tisch gesagt<br />

hatte:<br />

»Arme Miss Taylor! Wenn sie nur wieder hier wäre. Es<br />

ist ein wahrer Jammer, dass Mr. Weston ausgerechnet auf<br />

sie verfallen musste.«<br />

»Ich kann dir nicht zustimmen, Papa, das weißt du genau.<br />

Mr. Weston ist ein so umgänglicher, angenehmer und<br />

ausgezeichneter Mann, dass er eine gute Frau von Herzen<br />

verdient, und du kannst doch nicht wollen, dass Miss Taylor<br />

ihr Leben bei uns verbringt und meine Launen über<br />

sich ergehen lässt, wenn sie ein eigenes Haus haben kann.«<br />

»Ein eigenes Haus! Wo ist der Vorteil bei einem eigenen<br />

Haus? Unseres ist dreimal so groß, und du hast doch<br />

gar keine Launen, mein Kind.«<br />

»Und wie oft wir uns gegenseitig besuchen werden!<br />

Wir werden uns ständig sehen! Wir müssen den Anfang<br />

machen, wir müssen ihnen möglichst bald einen Hochzeitsbesuch<br />

machen.«<br />

»Mein Kind, wie soll ich denn zu ihnen hinkommen?<br />

Randalls ist doch viel zu weit. Wie soll ich denn zu Fuß zu<br />

ihnen hinkommen?«<br />

»Nein, Papa, wer denkt denn an zu Fuß gehen? Wir<br />

fahren natürlich mit der Kutsche.«<br />

»Mit der Kutsche! Aber es ist James bestimmt nicht<br />

recht, für einen so kurzen Weg die Pferde anzuspannen,<br />

und wo sollen die armen Pferde bleiben, während wir den<br />

Besuch machen?«<br />

»In Mr. Westons Stall natürlich, Papa. Das haben wir<br />

doch alles schon besprochen. Wir haben alles gestern


Abend mit Mr. Weston verabredet. Und was James betrifft,<br />

so kannst du sicher sein, dass er immer gerne nach Randalls<br />

fährt, weil seine Tochter dort Dienstmädchen ist. Ich bezweifle<br />

höchstens, dass er uns noch irgendwo anders hinfahren<br />

will. Dafür hast du gesorgt, Papa. Du hast Hannah<br />

die gute Stelle besorgt. Niemand hat an Hannah gedacht,<br />

bis du darauf gekommen bist. James ist dir so dankbar.«<br />

»Ich bin froh, dass ich daran gedacht habe. Es ist ein<br />

Glück, denn ich möchte auf keinen Fall, dass der arme<br />

James denkt, wir übergehen ihn, und außerdem bin ich<br />

überzeugt, dass sie ein sehr adrettes Hausmädchen ist. Sie<br />

ist ein höfliches Kind und weiß sich nett auszudrücken. Ich<br />

halte viel von ihr. Immer wenn ich sie sehe, knickst sie und<br />

fragt mich sehr adrett, wie es mir geht, und wenn sie zum<br />

Handarbeiten hier ist, dann fällt mir immer auf, dass sie<br />

den Türknopf richtig dreht und nicht mit der Tür knallt.<br />

Sie wird bestimmt ein ausgezeichnetes Stubenmädchen,<br />

und es ist eine Wohltat für die arme Miss Taylor, jemanden<br />

um sich zu haben, den sie schon kennt. Immer wenn<br />

James seine Tochter besucht, hört Miss Taylor dann auch<br />

gleich von uns. Er kann ihr erzählen, wie es uns allen<br />

geht.«<br />

Emma gab sich alle Mühe, das Gespräch in diesem erfreulicheren<br />

Fahrwasser zu halten, und hoffte, mit Hilfe<br />

von Backgammon ihren Vater einigermaßen durch den<br />

Abend zu schleusen, so dass sie nur mit ihrer eigenen Niedergeschlagenheit<br />

zu kämpfen hatte. Aber kaum war der<br />

Spieltisch aufgestellt, da trat ein Besucher ins Zimmer und<br />

machte diese Mühe überflüssig.<br />

Mr. Knightley, ein Mann von Charakter, etwa siebenoder<br />

achtunddreißig Jahre alt, war nicht nur ein sehr alter<br />

und enger Freund der Familie, sondern ihr als älterer Bruder<br />

von Isabellas Mann noch besonders verbunden. Er


wohnte ungefähr eine Meile von Highbury entfernt und<br />

war ein ständiger, immer willkommener Besucher – heute<br />

mehr denn je, da er gerade von ihren gemeinsamen Verwandten<br />

aus London zurückkam. Er war einige Tage fort<br />

gewesen und hatte, zu einem späten Dinner heimgekehrt,<br />

nun einen Spaziergang nach Hartfield gemacht, um zu berichten,<br />

am Brunswick Square 2 gehe es allen gut. Es war<br />

ein glücklicher Umstand, und er hielt Mr. Woodhouse eine<br />

Zeitlang bei guter Laune. Mr. Knightley wirkte anregend,<br />

was Emmas Vater immer guttat, und seine vielen Fragen<br />

nach der »armen Isabella« und ihren Kindern wurden zu<br />

seiner vollen Zufriedenheit beantwortet. Als seine Neugier<br />

gestillt war, bemerkte Mr. Woodhouse dankbar: »Wie nett<br />

von Ihnen, Mr. Knightley, noch zu dieser späten Stunde<br />

herüberzukommen. Es muss ein scheußlicher Gang gewesen<br />

sein.«<br />

»Keineswegs, Sir 3 , es ist eine wunderschöne Mondnacht<br />

und so milde, dass ich weiter von Ihrem großen Kaminfeuer<br />

wegrücken muss.«<br />

»Aber es muss doch nasskalt und schmutzig draußen<br />

sein. Hoffentlich haben Sie sich keine Erkältung geholt.«<br />

»Schmutzig, Sir! Sehen Sie meine Schuhe an. Nicht ein<br />

Spritzer!«<br />

»Nanu, das ist ja eigenartig, denn hier hat es richtig gegossen.<br />

Beim Frühstück hat es eine halbe Stunde lang<br />

furchtbar gegossen. Ich wollte sogar die Hochzeit verschieben<br />

lassen.«<br />

»Apropos, ich habe Ihnen noch gar nicht zu dem freudigen<br />

Ereignis gratuliert. Aber da ich ja weiß, wie Sie beide<br />

sich bei dem freudigen Ereignis fühlen, war es mir mit den<br />

Glückwünschen nicht eilig. Ich hoffe, es ist alles gut verlaufen?<br />

Wie war Ihnen allen zumute? Wer hat am meisten<br />

geschluchzt?«


»Ach, die arme Miss Taylor! Was für eine traurige Geschichte!«<br />

»Die armen Woodhouses, wenn ich bitten darf, denn<br />

›die arme Miss Taylor‹ kann ich beim besten Willen nicht<br />

sagen. Ich schätze Emma und Sie sehr, aber wenn es um<br />

Abhängigkeit und Unabhängigkeit geht, kein Zweifel, man<br />

dient lieber einem Herrn als zweien.«<br />

»Besonders, wenn einer von beiden ein so launisches,<br />

anspruchsvolles Geschöpf ist«, rief Emma halb im Scherz.<br />

»Das wollten Sie doch damit sagen, nicht wahr? Und Sie<br />

hätten es auch gesagt, wenn mein Vater nicht hier wäre.«<br />

»Ich glaube, er hat völlig recht, mein Kind«, sagte<br />

Mr. Woodhouse mit einem Seufzer. »Ich fürchte, manchmal<br />

bin ich wirklich launisch und anspruchsvoll.«<br />

»Aber liebster Papa! Du glaubst doch nicht im Ernst,<br />

Mr. Knightley oder ich hätten dich gemeint. Was für ein<br />

haarsträubender Gedanke! Nein, nein, ich habe nur mich<br />

gemeint. Mr. Knightley hat immer etwas an mir auszusetzen,<br />

im Spaß natürlich, alles nur im Spaß. Wir sagen uns<br />

immer offen die Meinung.«<br />

Mr. Knightley war tatsächlich einer der wenigen Menschen,<br />

die an Emma Woodhouse etwas auszusetzen hatten,<br />

und der einzige, der es ihr auch sagte; und wenn schon<br />

Emma selbst das nicht besonders schätzte, ihrem Vater gefiel<br />

es, wie sie wusste, so ganz und gar nicht, dass er auf<br />

keinen Fall Verdacht schöpfen sollte, sie werde nicht von<br />

jedermann für vollkommen gehalten.<br />

»Emma weiß genau, dass ich ihr niemals schmeichle«,<br />

sagte Mr. Knightley, »aber ich hatte an niemanden im Besonderen<br />

gedacht. Miss Taylor war daran gewöhnt, zwei<br />

Herren zu dienen; jetzt hat sie nur noch einen. Dabei kann<br />

sie doch nur gewinnen.«<br />

»Gut«, sagte Emma, geneigt, den Fall auf sich beruhen


zu lassen. »Sie wollten von der Hochzeit hören, und ich<br />

berichte Ihnen gern davon, denn wir haben uns alle ganz<br />

reizend benommen. Alle waren pünktlich, zeigten sich von<br />

ihrer besten Seite, keine Tränen, kaum lange Gesichter.<br />

Nein, nein, wir wussten ja alle, dass wir auch nur eine halbe<br />

Meile voneinander entfernt sein und uns natürlich täglich<br />

sehen würden.«<br />

»Die liebe Emma, sie trägt alles so gefasst«, sagte ihr<br />

Vater, »aber in Wirklichkeit, Mr. Knightley, geht ihr der<br />

Verlust Miss Taylors sehr nahe, und ich bin sicher, sie wird<br />

ihr viel mehr fehlen, als sie ahnt.«<br />

Emma wandte sich, zwischen Lachen und Weinen<br />

schwankend, ab.<br />

»Es ist ganz ausgeschlossen, dass eine solche Freundin<br />

Emma nicht fehlen sollte«, sagte Mr. Knightley. »Wenn wir<br />

das annehmen müssten, Sir, würden wir sie weniger gernhaben.<br />

Aber sie weiß auch, wie vorteilhaft die Heirat für<br />

Miss Taylor ist; sie weiß, wie erfreulich es für Miss Taylor<br />

sein muss, in ihrem Alter Herrin eines eigenen Zuhause<br />

und unter so günstigen Bedingungen für ihr Leben versorgt<br />

zu sein, und daher muss ihre Freude ihren Schmerz überwiegen.<br />

Alle wahren Freunde von Miss Taylor können nur<br />

froh sein, dass sie sich so glücklich verheiratet hat.«<br />

»Und einen Anlass zur Freude für mich haben Sie noch<br />

vergessen«, sagte Emma, »und zwar einen ganz besonderen:<br />

dass ich die Ehe zustande gebracht habe. Ich habe die<br />

Ehe nämlich vor vier Jahren zustande gebracht; und sie tatsächlich<br />

stattfinden zu sehen und recht zu behalten, obwohl<br />

so viele Leute überzeugt waren, Mr. Weston werde<br />

nicht wieder heiraten, ist Entschädigung genug für mich.«<br />

Mr. Knightley sah sie kopfschüttelnd an. Ihr Vater antwortete<br />

liebevoll: »Ach, mein Kind, wenn du nur nicht<br />

immer Heiratspläne schmieden und Voraussagen machen


würdest, denn alles, was du sagst, geht in Erfüllung. Lass<br />

bitte die Finger davon.«<br />

»Für mich selbst will ich das gern versprechen, Papa,<br />

aber für andere Leute muss ich unbedingt weiter Heiratspläne<br />

schmieden. Das ist das größte Vergnügen der Welt!<br />

Und dann noch nach diesem Erfolg! Alle waren überzeugt,<br />

Mr. Weston werde nicht wieder heiraten. Um Gottes willen,<br />

nein, Mr. Weston, der schon so lange Witwer war und<br />

anscheinend ohne Frau so vollkommen zufrieden, ständig<br />

mit seinen Geschäften in London befasst und immer gut<br />

gelaunt, Mr. Weston brauchte doch nicht einen einzigen<br />

Abend im Jahr alleine zu Hause zu verbringen, wenn er<br />

nicht wollte. O nein, Mr. Weston würde bestimmt nicht<br />

wieder heiraten. Einige Leute wollten sogar von einem<br />

Versprechen wissen, das er seiner Frau auf dem Totenbett<br />

gegeben, und andere davon, dass sein Sohn und dessen<br />

Onkel es ihm verboten hatten. Aller möglicher Unsinn<br />

wurde verkündet, aber ich hielt kein Wort davon für wahr.<br />

Seit dem Tag (vor ungefähr vier Jahren), als Miss Taylor<br />

und ich ihn auf der Broadway Lane trafen und er, weil es<br />

zu nieseln anfing, mit so viel Galanterie davonschoss und<br />

für uns zwei Regenschirme von Bauer Mitchell lieh, war es<br />

für mich beschlossene Sache. Von dem Augenblick an habe<br />

ich die Ehe sorgfältig geplant, und jetzt, wo mein Werk<br />

von solchem Erfolg gekrönt worden ist, lieber Papa, soll ich<br />

das Heiratspläneschmieden aufgeben?«<br />

»Ich verstehe nicht, was du mit ›Erfolg‹ meinst«, sagte<br />

Mr. Knightley. »Erfolg setzt Bemühung voraus. Du hast<br />

deine Zeit wahrlich sinnvoll und angemessen verbracht,<br />

wenn du dich die letzten vier Jahre bemüht hast, diese Ehe<br />

zustande zu bringen. Eine würdige Beschäftigung für eine<br />

junge Dame! Aber wenn, was ich fast vermute, dein Heiratspläneschmieden,<br />

wie du es nennst, nur heißen soll,


dass du sie geplant hast, indem du eines schönen Tages zu<br />

dir gesagt hast: ›Ich glaube, Mr. Weston wäre eine gute<br />

Partie für Miss Taylor‹, und wenn du dir das lang genug<br />

eingeredet hast, warum sprichst du dann von Erfolg? Wo<br />

ist dein Verdienst? Worauf bist du stolz? Du hast richtig<br />

geraten, das ist alles.«<br />

»Und kennen Sie nicht das Vergnügen und den Triumph,<br />

richtig geraten zu haben? Dann tun Sie mir leid. Ich<br />

hatte Sie für klüger gehalten, denn verlassen Sie sich darauf,<br />

richtig zu raten ist niemals bloßes Glück. Eine gewisse<br />

Begabung gehört immer dazu, und was mein unglückliches<br />

Wort ›Erfolg‹ angeht, um das Sie sich zanken wollen, so<br />

glaube ich nicht, dass ich keinerlei Anspruch darauf habe.<br />

Sie haben zwei hübsche Standpunkte formuliert, aber ich<br />

finde, es gibt noch einen dritten, eine Möglichkeit zwischen<br />

Nichtstun und Allestun. Wenn ich Mr. Westons Besuche<br />

bei uns nicht ermutigt und hier und da ein bisschen nachgeholfen<br />

und allerlei Unebenheiten geglättet hätte, wäre<br />

aus allem vielleicht gar nichts geworden. Sie kennen ja<br />

Hartfield gut genug, um zu wissen, was ich meine.«<br />

»Ein aufrichtiger und offener Mann wie Mr. Weston<br />

und eine vernünftige und unaffektierte Frau wie Miss Taylor<br />

kann man getrost sich selbst überlassen. Wahrscheinlich<br />

hast du mit deinem Eingreifen eher dir selbst geschadet<br />

als ihnen genützt.«<br />

»Emma denkt nie an sich selbst, wenn sie anderen helfen<br />

kann«, mischte sich Mr. Woodhouse wieder ein, der<br />

nur die Hälfte verstand. »Aber, Kind, tu mir den Gefallen,<br />

schmiede keine Heiratspläne mehr. Ehen sind Unsinn. Es<br />

ist traurig, wie sie die häusliche Gemütlichkeit zerstören.«<br />

»Nur eine Ehe noch, Papa, nur Mr. Eltons. Der arme<br />

Mr. Elton! Du magst ihn gern, Papa. Ich muss mich nach<br />

einer Frau für ihn umsehen. In Highbury gibt es niemand,


der ihn verdient. Er ist nun schon ein ganzes Jahr hier und<br />

hat sein Haus so gemütlich eingerichtet, dass es ein Jammer<br />

wäre, wenn er nicht bald heiratete. Und als er heute<br />

die Hände des Brautpaars zusammentat, sah er aus, als ließe<br />

er sich diesen freundlichen Dienst auch nicht ungern<br />

gefallen.«<br />

»Mr. Elton ist ein adretter junger Mann, ohne Frage,<br />

und ein ausgezeichneter junger Mann, und ich mag ihn<br />

wirklich gern. Aber wenn du ihm einen Gefallen tun<br />

willst, mein Kind, lade ihn eines Tages zum Essen bei uns<br />

ein. Das scheint mir sinnvoller. Mr. Knightley ist sicher so<br />

freundlich, auch zu kommen.«<br />

»Mit dem größten Vergnügen, Sir, jederzeit«, sagte<br />

Mr. Knightley lachend, »und ich bin völlig Ihrer Meinung,<br />

dass es viel sinnvoller wäre. Lade ihn zum Essen ein,<br />

Emma, setz ihm einen schönen Braten vor, aber um eine<br />

Frau lass ihn sich selber kümmern. Verlass dich darauf, ein<br />

Mann von sechsundzwanzig oder siebenundzwanzig Jahren<br />

kann für sich selber sorgen.«<br />

Kapitel 2<br />

Mr. Weston stammte aus einer angesehenen Familie in<br />

Highbury, die seit zwei oder drei Generationen immer<br />

mehr zu Ansehen und Wohlstand gelangt war. Er hatte<br />

eine gute Erziehung erhalten, aber da er schon früh zu finanzieller<br />

Unabhängigkeit gekommen war, hatte er sich<br />

für die solide berufliche Laufbahn seiner Brüder nicht<br />

interessiert und seinen lebendigen, aufgeschlossenen Geist<br />

und sein Bedürfnis nach Geselligkeit dadurch befriedigt,<br />

dass er Offizier geworden war.


Nachwort<br />

»The balance of her gifts was singularly perfect.«<br />

Virginia Woolf über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />

1<br />

»Emma. Ein Roman. In drei Bänden. Von der Autorin von Pride<br />

and Prejudice etc. etc.« erschien – mit dem Druckdatum 1816 –<br />

im Dezember 1815 und bildet in jeder Hinsicht den Höhepunkt<br />

von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s (1775–1817) Karriere. Schon der Name des<br />

Verlegers deutet darauf hin, denn John Murray, der zusammen<br />

mit den Rechten an Emma auch die der Neuauflagen der schon<br />

erschienenen Werke der Schriftstellerin erwarb, war der berühmteste<br />

Londoner Verleger seiner Zeit und betreute solche literarischen<br />

Zelebritäten wie Lord Byron und Walter Scott. Wenn man<br />

sich erinnert, dass <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> 1803 ihr erstes Romanmanuskript,<br />

das spätere Northanger Abbey, für zehn Pfund an den<br />

Verleger Crosby verkaufte, ohne dass dieser es je veröffentlichte,<br />

und sie es 1816 zum selben Preis wieder zurückerwarb, dann wird<br />

der literarische Aufstieg der Autorin deutlich, deren Bücher von<br />

nun an bei Murray erschienen.<br />

Emma verschaffte <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> allerdings auch außerhalb der<br />

literarischen Welt ein Ansehen, wie sie es vorher nicht gekannt<br />

hatte: Der Prinzregent, der spätere König Georg IV., lud sie für<br />

den 13. November 1815 zu einer Besichtigung der Bibliothek seiner<br />

Londoner Residenz Carlton House ein und ließ ihr durch seinen<br />

Bibliothekar ausrichten, dass ihm eine Widmung ihres<br />

nächsten Romans willkommen sein würde. So erschien Emma<br />

einen Monat später mit einer Widmung an den Regenten »von<br />

seiner königlichen Hoheit pflichtbewusster und gehorsamer, untertäniger<br />

Dienerin«, und die Autorin ließ drei Tage vor dem eigentlichen<br />

Erscheinungstermin ein in rotes Leder gebundenes<br />

Exemplar nach Carlton House schicken.<br />

Aber sie erhielt nicht nur ein solches Zeichen königlicher<br />

Huld; auch die angesehenste Autorität des Landes im Hinblick<br />

auf den Roman richtete ihre Aufmerksamkeit wohlwollend auf<br />

sie. Im März 1816 erschien in der Quarterly Review, die aller-


dings wiederum der Verleger Murray herausgab, ein anonymer<br />

Artikel von Walter Scott, der sich mit Emma beschäftigte und mit<br />

seinem Umfang von über zehn Seiten als Kritik eines einzelnen<br />

Romans ungewöhnlich lang war, denn dieser eher als minderwertig<br />

geltenden literarischen Gattung – Scott selbst hob durch seine<br />

Werke ihr Ansehen beträchtlich – wurden im Allgemeinen nur<br />

kurze, halbseitige Rezensionen zugebilligt. Der schottische Romancier<br />

erkannte das im literarischen Kontext der Zeit Charakteristische<br />

und Neue an <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Romanen außerordentlich<br />

klar. Er schreibt:<br />

»<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Werke gehören zu einem Typ von Roman, der beinahe<br />

erst in unserer eigenen Zeit entstanden ist und der die darin vorkommenden<br />

Charaktere und Ereignisse in stärkerem Maße dem alltäglichen<br />

Leben entnimmt, als die Regeln des Romans das bisher gestatteten.<br />

[…] Wir machen der Autorin deshalb kein kleines Kompliment,<br />

wenn wir sagen: Indem sie sich eng an alltägliche Ereignisse und an<br />

Charaktere hält, die ein Durchschnittsleben führen [occupy the ordinary<br />

walks of life], hat sie Skizzen von solcher Lebendigkeit und Originalität<br />

geschaffen, dass wir auf den Reiz gar nicht angewiesen sind,<br />

den uns eine Erzählung voller außergewöhnlicher Ereignisse verschafft,<br />

indem sie uns die Begegnung mit Menschen vermittelt, die<br />

uns an Geist, Gefühl und Lebensart weit überlegen sind. Diesen neuen<br />

Typ vertritt sie nahezu allein. [Es folgt die Inhaltsangabe.] Das ist<br />

die einfache Handlung der Geschichte, die wir mit Vergnügen, wenn<br />

nicht mit tieferer Anteilnahme durchlesen und die wir vielleicht lieber<br />

wieder in die Hand nehmen als eine der Erzählungen, wo wir<br />

beim ersten Lesen durch starke Neugier aufgeregt und gefesselt werden.<br />

[…] Die Weltkenntnis der Autorin und der bemerkenswerte<br />

Takt, mit dem sie die Charaktere darstellt, die der Leser nicht umhinkann,<br />

wiederzuerkennen, erinnert uns an die malerischen Verdienste<br />

der holländischen Schule. Die Schilderungen sind nicht vornehm und<br />

gewiss niemals grandios, aber sie sind vollkommen lebensgetreu und<br />

mit einer Genauigkeit gezeichnet, die den Leser entzückt.«<br />

Das war zweifellos der Beginn des Ruhms, der großen öffentlichen<br />

und literarischen Anerkennung, und keiner konnte ahnen,<br />

dass Emma <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s letzter zu Lebzeiten erscheinender Roman<br />

bleiben, dass sie gut ein Jahr später sterben würde. Selten<br />

hat der Tod ein Künstlerleben zu einem unglücklicheren Zeitpunkt<br />

beendet.<br />

Die spätere Kritik hat Scotts Eindruck bestätigt, dass Emma


eine der größten, wenn nicht die größte Leistung <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s,<br />

ihre komplexeste Schöpfung ist: »Das Buch der Bücher […]<br />

Emma ist der Gipfel von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Werk; die richtige Würdigung<br />

von Emma ist die entscheidende Prüfung für die Anerkennung<br />

als Bürger in ihrem Königreich« (R. Farrer, 1917); »<strong>Jane</strong><br />

<strong>Austen</strong>s tiefsinnigste Komödie« (D. Cecil, 1935); »Emma bildet<br />

den Höhepunkt ihrer literarischen Leistungen. […] Hier ist ihr<br />

Können am größten, ihre Beherrschung der Materie am sichersten«<br />

(M. Shorer, 1959); »Gerade in Emma, wo die Chancen zum<br />

Scheitern aus technischen Gründen besonders groß sind, haben<br />

wir es mit einem der unbezweifelbaren Meister der Erzählkunst<br />

zu tun« (W. Booth, 1961); »ihr vollkommenstes und repräsentativstes<br />

Werk« (D. Lodge, 1968).<br />

So wie Pride and Prejudice den Höhepunkt von <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s<br />

früher literarischer Entwicklung darstellt, bildet Emma den Gipfel<br />

ihrer reifen Zeit. Der nur dreijährige Abstand bei der Veröffentlichung<br />

beider Werke täuscht darüber hinweg, denn ihrer<br />

Entstehungszeit nach zerfallen die sechs vollendeten Romane<br />

<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s in zwei Gruppen: Sense and Sensibility, Pride and<br />

Prejudice und Northanger Abbey sind eigentlich Jugendwerke.<br />

Auch wenn sie 15 bis 20 Jahre später und zum Teil erheblich umgearbeitet<br />

erschienen, wurden sie doch in den neunziger Jahren<br />

des 18. Jahrhunderts entworfen und zum Teil auch ausgeführt.<br />

Dann folgten Fragmente, die nie vollendet wurden (Lady Susan,<br />

The Watsons), und dann die drei späten Romane: Mansfield Park,<br />

im Wesentlichen 1813 geschrieben, erschien 1814; Emma, 1814<br />

geschaffen, kam 1815 heraus; und Persuasion (Entstehungszeit<br />

1815/16) wurde 1818, also nach dem Tod der Autorin publiziert.<br />

2<br />

<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s früher Tod und das Erscheinen aller ihrer Romane<br />

innerhalb eines Zeitraums von nur sieben Jahren verführen dazu,<br />

die Unterschiede zwischen den früh konzipierten Werken und<br />

den späteren Romanen zu übersehen. Wenn man aber etwa<br />

Emma neben Pride and Prejudice hält, sind durchaus Entwicklungen<br />

zu erkennen. Eine recht oberflächliche besteht schon darin,<br />

dass sich die Einstellung der Autorin zu ihrer Heldin – im Zentrum<br />

aller Romane <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s steht eine Heldin, aus deren


Kapitel 1<br />

Vor ungefähr dreißig Jahren hatte Miss Maria Ward aus<br />

Huntingdon mit nur 7000 Pfund Vermögen das große<br />

Glück, Sir Thomas Bertram von Mansfield Park in der<br />

Grafschaft Northampton zu erobern und dadurch mit all<br />

den Annehmlichkeiten und gesellschaftlichen Vorteilen eines<br />

stattlichen Hauses und eines ansehnlichen Einkommens<br />

in den Rang einer Baronin aufzusteigen. Ganz Huntingdon<br />

wusste sich über diese großartige Partie nicht zu<br />

lassen, und sogar ihr eigener Onkel, der Rechtsanwalt, gab<br />

zu, dass ihr mindestens 3000 Pfund fehlten, um solche Ansprüche<br />

stellen zu können. Sie hatte zwei Schwestern, denen<br />

diese Standeserhöhung nur zugutekommen konnte,<br />

und alle die Bekannten, die Miss Ward und Miss Frances<br />

für mindestens so hübsch wie Miss Maria 1 hielten, scheuten<br />

sich nicht, ihnen eine beinahe ebenso vorteilhafte Heirat<br />

vorauszusagen. Aber natürlich gibt es auf der Welt<br />

nicht so viele Männer mit ansehnlichem Vermögen, wie es<br />

hübsche Frauen gibt, die sie verdienen. Miss Ward sah sich<br />

deshalb nach einem halben Dutzend Jahren genötigt, sich<br />

mit dem Pastor Mr. Norris zu verbinden, einem Freund ihres<br />

Schwagers, fast ohne eigenes Vermögen, und Miss<br />

Frances erging es noch schlechter. Ja, Miss Wards Verbindung<br />

erwies sich, als es soweit war, als durchaus nicht zu<br />

verachten, da Sir Thomas zum Glück imstande war, seinen<br />

Freund durch die Pfarre von Mansfield mit einem Einkommen<br />

zu versorgen, und so begannen Mr. und Mrs. Norris


den Werdegang ihres ehelichen Glücks mit kaum weniger<br />

als 1000 Pfund im Jahr. Aber Miss Frances enttäuschte<br />

durch ihre Heirat – wie man so schön sagt – die Erwartungen<br />

ihrer Familie, und sie tat das, indem sie einen Marineleutnant<br />

ohne Erziehung, Vermögen oder Verbindungen<br />

wählte, ausgesprochen gründlich. Sie hätte kaum eine unvorteilhaftere<br />

Wahl treffen können.<br />

Sir Thomas hatte Beziehungen, die er ebenso aus Prinzip<br />

wie aus Ehrgefühl, aus einem generellen Wunsch, das<br />

Rechte zu tun, und aus dem Bedürfnis, alle, die mit ihm<br />

verwandt waren, in angemessenen Positionen zu sehen,<br />

gerne zugunsten von Lady Bertrams Schwester hätte spielen<br />

lassen, aber bei dem Beruf ihres Mannes war mit seinen<br />

Beziehungen nichts zu erreichen; und bevor er Zeit<br />

hatte, sich andere Möglichkeiten der Unterstützung auszudenken,<br />

hatte ein endgültiges Zerwürfnis zwischen den<br />

Schwestern stattgefunden. Es ergab sich ganz zwangsläufig<br />

aus dem Verhalten beider Parteien und war bei einer so unklugen<br />

Heirat auch kaum anders zu erwarten. Um sich unnötige<br />

Vorwürfe zu ersparen, erwähnte Mrs. Price in den<br />

Briefen an ihre Familie das Thema nie, bevor die Heirat<br />

tatsächlich stattgefunden hatte. Lady Bertram, die eine<br />

Frau von ausgesprochen friedfertigem Naturell und bemerkenswert<br />

ausgeglichenem Temperament war, hätte sich damit<br />

begnügt, ihre Schwester einfach aufzugeben und nicht<br />

weiter an die Sache zu denken; aber Mrs. Norris hatte viel<br />

Unternehmungsgeist, der ihr keine Ruhe ließ, bis sie<br />

Frances einen langen und empörten Brief geschrieben hatte,<br />

um ihr die Torheit ihres Schrittes vor Augen zu führen<br />

und ihr alle seine möglichen üblen Folgen anzudrohen.<br />

Mrs. Price ihrerseits war gekränkt und empört; und ihre<br />

Antwort, die beide Schwestern mit Vorwürfen bedachte<br />

und so ausgesprochen abfällige Bemerkungen über Sir


Thomas’ Ehrgefühl enthielt, dass Mrs. Norris sie auf keinen<br />

Fall für sich behalten konnte, machte allem Umgang<br />

zwischen ihnen auf Jahre hinaus ein Ende.<br />

Sie wohnten so weit auseinander und bewegten sich in<br />

so verschiedenen Kreisen, dass während der folgenden elf<br />

Jahre jede Möglichkeit, voneinander zu hören, beinahe<br />

ausgeschlossen war oder es jedenfalls Sir Thomas als ein<br />

Wunder erscheinen ließ, dass Mrs. Norris überhaupt imstande<br />

war, ihnen von Zeit zu Zeit mit empörter Stimme<br />

zu erzählen, dass Frances schon wieder ein Kind bekommen<br />

habe. Nach Ablauf von elf Jahren allerdings konnte<br />

Mrs. Price es sich nicht länger leisten, sich Stolz oder Gekränktheit<br />

hinzugeben oder auf eine Verbindung zu verzichten,<br />

von der sie womöglich Hilfe zu erwarten hatte.<br />

Eine große und immer noch wachsende Familie, ein Ehemann,<br />

untauglich zu aktivem Dienst, aber Gesellschaft und<br />

teurem Alkohol durchaus nicht abgeneigt, und ein zu geringes<br />

Einkommen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen,<br />

ließen es ihr geraten erscheinen, die Freunde wiederzugewinnen,<br />

die sie so unbekümmert geopfert hatte, und sie<br />

wandte sich in einem Brief an Lady Bertram, aus dem so<br />

viel Zerknirschung und Verzweiflung sprach, ein solcher<br />

Überfluss an Kindern und ein solcher Mangel an fast allem<br />

anderen, dass eine Versöhnung ihnen allen unerlässlich erschien.<br />

Ihr neuntes Kindbett stand bevor, und als sie darüber<br />

gejammert und sie um ihre Unterstützung bei der Erziehung<br />

des erwarteten Kindes gebeten hatte, ließ sie<br />

durchblicken, wie unentbehrlich sie ihr in Zukunft beim<br />

Unterhalt ihrer acht schon vorhandenen Kinder waren. Ihr<br />

Ältester war ein Junge von zehn Jahren, ein vielversprechender,<br />

lebhafter Bursche, der unbedingt in die Welt hinaus<br />

wollte – aber was konnte sie tun? Bestand die Möglichkeit,<br />

dass er sich Sir Thomas bei der Verwaltung seiner


Besitzungen in der Karibik nützlich machen konnte? Er<br />

wäre sich für keine Arbeit zu schade? Oder was hielt Sir<br />

Thomas von Woolwich 2 ? Oder wie fing man es an, einen<br />

Jungen in den Orient zu schicken?<br />

Der Brief verfehlte seine Wirkung nicht. Er stellte Frieden<br />

und Einvernehmen wieder her. Sir Thomas sandte gutgemeinte<br />

Ratschläge und Versicherungen, Lady Bertram<br />

schickte Geld und Babywäsche, und Mrs. Norris schrieb die<br />

Briefe.<br />

Darin bestand der unmittelbare Erfolg, und innerhalb<br />

eines Jahres ergab sich daraus ein noch wesentlicherer Vorteil<br />

für Mrs. Price. Mrs. Norris bemerkte oft zu den anderen,<br />

dass ihr ihre arme Schwester und deren Familie nicht<br />

aus dem Kopf ging; soviel sie alle auch für sie getan hatten,<br />

sie wollte anscheinend noch mehr tun; und zu guter Letzt<br />

konnte sie nicht umhin, offen zuzugeben, dass es ihr<br />

Wunsch war, die arme Mrs. Price von der Verantwortung<br />

und den Kosten für eins aus der großen Schar ihrer Kinder<br />

gänzlich zu befreien. Wie nun, wenn sie gemeinsam die<br />

Sorge für die Erziehung ihrer ältesten Tochter übernähmen,<br />

eines Mädchens von jetzt neun Jahren, einem Alter<br />

also, in dem sie mehr Aufmerksamkeit erfordere, als ihre<br />

Mutter ihr auch beim besten Willen geben könne? Die<br />

Mühe und die Kosten für sie fielen im Verhältnis zu der<br />

dadurch bewirkten Wohltat gar nicht ins Gewicht. Lady<br />

Bertram stimmte ihr auf der Stelle zu: »Ich finde, wir können<br />

nichts Besseres tun«, sagte sie. »Wir wollen das Kind<br />

holen lassen.«<br />

Sir Thomas konnte seine Zustimmung nicht so spontan<br />

und ohne weiteres geben. Er widersprach und zögerte. Es<br />

sei eine schwere Verantwortung; wenn man ein Mädchen<br />

aufziehe, müsse man auch später angemessen für sie sorgen,<br />

sonst wäre es Grausamkeit und nicht Freundlichkeit,


sie ihrer Familie wegzunehmen. Er denke an seine eigenen<br />

vier Kinder, an seine beiden Söhne, an verliebte Vettern<br />

usw. Aber kaum hatte er begonnen, seine Einwände im<br />

Einzelnen vorzutragen, da unterbrach ihn Mrs. Norris mit<br />

einer Antwort, die alle seine Argumente widerlegte – unabhängig<br />

davon, ob er sie vorgetragen hatte oder nicht.<br />

»Mein lieber Sir Thomas, ich verstehe Sie vollkommen<br />

und ehre die Großzügigkeit und das Zartgefühl ihrer Empfindungen,<br />

die ja auch ganz Ihren sonstigen Einstellungen<br />

entsprechen, und ich stimme in der Hauptsache völlig mit<br />

Ihnen überein, dass es nämlich angebracht ist, alles zu tun,<br />

was man kann, um für ein Kind zu sorgen, für das man auf<br />

diese Weise die Verantwortung übernommen hat, und ich<br />

bin gewiss die Letzte, die bei solcher Gelegenheit nicht ihr<br />

Scherflein beisteuern würde. Da ich selbst keine Kinder<br />

habe, wem soll ich denn das Bisschen hinterlassen, das ich<br />

eines Tages zu vererben habe, wenn nicht den Kindern<br />

meiner Schwestern? Und Mr. Norris ist bestimmt zu großzügig<br />

… aber Sie wissen ja, ich bin eine Frau, die nicht<br />

gern große Worte und Bekenntnisse macht. Wir wollen<br />

uns nicht durch eine Kleinigkeit von einer guten Sache abschrecken<br />

lassen. Geben Sie einem Mädchen eine Erziehung<br />

und führen Sie sie richtig in die Gesellschaft ein, und<br />

ich wette zehn zu eins, dass sie die besten Voraussetzungen<br />

hat, sich gut zu verheiraten, ohne irgendjemandem weitere<br />

Ausgaben zu machen. Eine Nichte von uns, Sir Thomas,<br />

das darf ich wohl sagen, oder wenigstens von Ihnen, würde<br />

nicht ohne wesentliche Vorteile in unserer Gegend aufwachsen<br />

… Ich behaupte ja nicht, dass sie so vollkommen<br />

würde wie ihre Kusinen. Das will ich denn doch nicht behaupten,<br />

aber sie würde unter so ungewöhnlich günstigen<br />

Umständen in das gesellschaftliche Leben unserer Nachbarschaft<br />

eingeführt, dass sie nach menschlichem Ermessen


dadurch eine passende Verbindung finden müsste. Sie denken<br />

an Ihre Söhne … aber wissen Sie denn nicht, dass das<br />

von allen Möglichkeiten die unwahrscheinlichste ist – so<br />

wie sie aufwachsen würden, immer zusammen wie Geschwister?<br />

Es ist nahezu ausgeschlossen. So etwas habe ich<br />

noch nie gehört. Ja, es ist die einzig sichere Methode, die<br />

Verbindung zu verhindern. Angenommen, sie ist ein hübsches<br />

Mädchen, und Tom oder Edmund würden sie in sieben<br />

Jahren zum ersten Mal sehen, dann gäbe es bestimmt<br />

Ärger. Der bloße Gedanke, dass sie so weit entfernt von<br />

uns allen arm und vernachlässigt aufwachsen musste, würde<br />

schon genügen, um einen der beiden lieben, zartfühlenden<br />

Jungen für sie entflammen zu lassen. Aber sorgen Sie<br />

dafür, dass sie mit ihnen gemeinsam aufwächst, und angenommen<br />

sogar, sie ist schön wie ein Engel, dann wird sie<br />

ihnen niemals mehr sein als eine Schwester.«<br />

»Es steckt viel Wahrheit in dem, was Sie sagen«, erwiderte<br />

Sir Thomas, »und es liegt mir denkbar fern, gegen einen<br />

Plan, der den Lebensumständen beider Parteien so entspräche,<br />

irgendwelche weit hergeholten Einwände zu erheben.<br />

Ich wollte nur darauf hinweisen, dass man sich nicht<br />

leichtfertig darauf einlassen sollte und wir, wenn Mrs. Price<br />

es später nicht bereuen und wir uns vor uns selbst nicht<br />

schämen sollen, für das Kind sorgen oder uns für verpflichtet<br />

halten müssen, für sie unter Umständen wie für eine<br />

junge Dame von Stand zu sorgen, wenn sich die Heirat, auf<br />

die Sie so optimistisch vertrauen, nicht anbietet.«<br />

»Ich verstehe Sie voll und ganz«, rief Mrs. Norris, »Sie<br />

sind die Großzügigkeit und Güte selbst, und in diesem<br />

Punkt wird es zwischen uns bestimmt keine Meinungsverschiedenheiten<br />

geben. Wenn ich denen, die ich liebe, etwas<br />

Gutes tun kann, tue ich es von Herzen; das wissen Sie ja;<br />

und obwohl ich für dieses kleine Mädchen nie auch nur ei-


nen Bruchteil dessen empfinden könnte, was ich an Zuneigung<br />

für Ihre eigenen lieben Kinder aufbringe, oder sie<br />

ebenso wie sie für mein eigen Fleisch und Blut halten<br />

könnte, würde ich es mir doch nie verzeihen, wenn ich imstande<br />

wäre, sie zu vernachlässigen. Schließlich ist sie eine<br />

Tochter meiner Schwester, und wie könnte ich es mit ansehen,<br />

dass sie Mangel leidet, solange ich noch ein Stück Brot<br />

mit ihr teilen kann? Mein lieber Sir Thomas, bei all meinen<br />

Fehlern habe ich doch ein empfindsames Herz; und arm<br />

wie ich bin, würde ich mir lieber das Nötigste vom Munde<br />

absparen, als selbstsüchtig zu handeln. Wenn Sie also<br />

nichts dagegen haben, schreibe ich gleich morgen an meine<br />

arme Schwester und mache ihr den Vorschlag, und sobald<br />

die Angelegenheit geregelt ist, sorge ich dafür, dass das<br />

Kind nach Mansfield kommt; Sie brauchen sich damit keine<br />

Mühe zu machen, und meine eigene Mühe fällt ja niemals<br />

ins Gewicht. Ich werde Nanny deswegen nach London<br />

schicken, und sie kann bei ihrem Vetter, dem Sattler, übernachten,<br />

und das Kind soll beauftragt werden, sie dort zu<br />

treffen. Von Portsmouth nach London kann man es unter<br />

der Obhut irgendeiner verlässlichen Person, die zufällig<br />

auch dorthin fährt, ohne weiteres mit der Postkutsche schicken.<br />

Die eine oder andere achtbare Kaufmannsfrau fährt<br />

immer nach London.«<br />

Außer gegen den Überfall auf Nannys Vetter erhob Sir<br />

Thomas keine weiteren Einwände; und als man sich dementsprechend<br />

für einen respektableren, wenn auch weniger<br />

preisgünstigen Treffpunkt entschieden hatte, galt die Sache<br />

als abgemacht, und man gab sich schon der Vorfreude über<br />

einen so menschenfreundlichen Plan hin. Strenggenommen<br />

hätten die Gefühle der Genugtuung nicht gleich verteilt<br />

sein dürfen, denn Sir Thomas war fest entschlossen,<br />

der eigentliche und ständige Wohltäter des erwählten Kin-


des zu sein, und Mrs. Norris hatte nicht die geringste Absicht,<br />

sich für seinen Unterhalt auch nur im mindesten in<br />

Unkosten zu stürzen. Solange es ans Planen, Mahnen und<br />

Organisieren ging, war sie die Menschenfreundlichkeit<br />

selbst, und niemand wusste besser, wie man andere zu Freigebigkeit<br />

zwingen konnte; aber ihre Liebe zum Geld hielt<br />

ihrer Liebe zum Kommandieren durchaus die Waage, und<br />

sie verstand es ganz genauso gut, ihr eigenes zu sparen, wie<br />

das ihrer Freunde auszugeben. Da das Einkommen ihres<br />

Mannes eigentlich ihren Erwartungen nicht entsprach, hatte<br />

sie von Anfang an eine sehr strikte Sparsamkeit für<br />

angebracht gehalten, und was als Vorsichtsmaßnahme begonnen<br />

hatte, entwickelte sich, obwohl die Kinder als Begründung<br />

der ständigen Sorge fehlten, bald zu einer lieben<br />

Gewohnheit. Hätte sie eine Familie zu versorgen gehabt,<br />

hätte Mrs. Norris ihr Geld vielleicht nie gespart; da sie<br />

Sorgen dieser Art aber nicht hatte, gab es nichts, was ihre<br />

Sparsamkeit gebremst oder ihr die angenehme Aussicht<br />

gemindert hätte, ihr Einkommen, das sie ohnehin nie aufbrauchte,<br />

jedes Jahr weiter zu vergrößern. Mit dieser herzerwärmenden<br />

Einstellung, die von keiner echten Zuneigung<br />

zu ihrer Schwester erschüttert wurde, konnte sie unmöglich<br />

mehr für sich in Anspruch nehmen als das Verdienst,<br />

eine so kostspielige gute Tat geplant und arrangiert zu haben,<br />

obwohl sie sich womöglich so wenig kannte, dass sie<br />

nach dieser Unterhaltung in dem beglückenden Glauben<br />

nach Hause ins Pfarrhaus zurückging, die großzügigste<br />

Schwester und Tante der Welt zu sein.<br />

Als das Thema zum zweiten Mal erörtert wurde, drückte<br />

sie ihre Ansichten deutlicher aus, und Sir Thomas hörte<br />

in Erwiderung auf Lady Bertrams ruhige Frage »Bei wem<br />

soll das Kind zuerst bleiben, Schwester, bei euch oder bei<br />

uns?« mit einiger Überraschung, dass Mrs. Norris völlig


außerstande sei, irgendwelche persönliche Verantwortung<br />

für den Schützling zu übernehmen. Er hatte immer angenommen,<br />

sie würde als Familienmitglied, als erwünschte<br />

Gefährtin einer Tante, die keine eigenen Kinder hatte, im<br />

Pfarrhaus besonders willkommen sein – aber da hatte er<br />

sich gründlich getäuscht. Mrs. Norris bedauerte sagen zu<br />

müssen, es sei völlig ausgeschlossen, dass das kleine Mädchen,<br />

jedenfalls so wie die Dinge augenblicklich lägen, zu<br />

ihnen komme. Der arme Mr. Norris und sein bedenklicher<br />

Gesundheitszustand machten es ganz unmöglich; eher<br />

könne er sich in die Luft erheben als Kinderlärm ertragen.<br />

Wenn er sich aber eines Tages von seiner Gicht erholt habe,<br />

lasse sich natürlich darüber reden. Dann werde sie sie gern<br />

eine Zeitlang übernehmen und die Mühe nicht scheuen;<br />

aber gerade jetzt, wo der arme Mr. Norris ihre ganze freie<br />

Zeit beanspruche … die bloße Erwähnung von so etwas<br />

würde für seine Nerven bestimmt zu viel sein.<br />

»Dann kommt sie wohl besser zu uns«, sagte Lady<br />

Bertram mit äußerster Gefasstheit. Sir Thomas fügte nach<br />

einer kurzen Pause würdevoll hinzu: »Ja, in diesem Haus<br />

soll sie ihre Heimat finden. Wir werden uns bemühen, unsere<br />

Pflicht ihr gegenüber zu erfüllen; und hier hat sie wenigstens<br />

den Vorteil, gleichaltrige Gefährten und eine ständige<br />

Gouvernante zu haben.«<br />

»Ganz recht«, rief Mrs. Norris, »beides sind entscheidende<br />

Argumente, und für Miss Lee ist es doch schließlich<br />

ganz gleich, ob sie drei Mädchen zu unterrichten hat oder<br />

nur zwei – das spielt doch keine Rolle für sie. Ich wünschte<br />

nur, dass ich mich nützlicher machen könnte, aber ich tue<br />

wirklich alles, was in meiner Macht steht. Ich gehöre, weiß<br />

Gott, nicht zu denen, die irgendwelche Mühe scheuen, und<br />

Nanny soll sie abholen, auch wenn ich eigentlich meine einzige<br />

Stütze im Haus drei Tage gar nicht entbehren kann. Ich


nehme an, Schwester, du wirst das Kind in der kleinen weißen<br />

Bodenkammer unterbringen, dicht bei den alten Kinderzimmern.<br />

Das ist bei weitem der beste Platz für sie, so<br />

dicht bei Miss Lee und nicht weit von euren Töchtern und<br />

in der Nähe der Hausmädchen, die ihr ja beide beim Anziehen<br />

helfen und sich um ihre Kleidung kümmern können,<br />

denn ich nehme nicht an, du hältst es für angebracht, dass<br />

Ellis sie ebenso wie eure Mädchen bedient. Ja, ich wüsste<br />

wirklich gar nicht, wo du sie sonst unterbringen könntest.«<br />

Lady Bertram erhob keine Einwände.<br />

»Ich hoffe, sie erweist sich als gutmütig veranlagtes<br />

Mädchen«, fuhr Mrs. Norris fort, »und weiß das ungewöhnliche<br />

Glück zu schätzen, dass sie solche Freunde hat.«<br />

»Sollte sie wirklich eine schlechte Veranlagung haben«,<br />

sagte Sir Thomas, »dann dürfen wir sie um unserer eigenen<br />

Kinder willen nicht in der Familie behalten; aber es<br />

gibt keinen Grund, ein so großes Übel zu befürchten. Wir<br />

werden sicher vieles an ihr ändern wollen und müssen auf<br />

haarsträubende Unbedarftheit, recht einfältige Ansichten<br />

und eine bestürzende Gewöhnlichkeit ihrer Umgangsformen<br />

gefasst sein; aber das sind keine unkorrigierbaren Fehler,<br />

und auch für ihre Gefährtinnen sind sie bestimmt keine<br />

Gefahr. Wären meine Töchter jünger als sie, dann hätte ich<br />

ihren Umgang mit einer solchen Hausgenossin als sehr bedenklich<br />

angesehen, aber wie die Dinge liegen, hoffe ich,<br />

gibt es von dem Umgang für sie nichts zu befürchten und<br />

für das Kind alles zu hoffen.«<br />

»Da bin ich völlig Ihrer Meinung«, rief Mrs. Norris,<br />

»und das habe ich meinem Mann heute Vormittag auch gesagt.<br />

›Schon das bloße Zusammensein mit ihren Kusinen‹,<br />

hab’ ich gesagt, ›wird eine gute Schule für das Kind sein;<br />

wenn Miss Lee ihr nichts beibrächte, würde sie von ihnen<br />

lernen, gut und geschickt zu sein‹.«


»Ich hoffe nur, dass sie meinen armen Mops nicht ärgert«,<br />

sagte Lady Bertram, »ich habe Julia gerade erst soweit,<br />

dass sie ihn in Ruhe lässt.«<br />

»Wir werden im Hinblick auf den angemessenen Standesunterschied,<br />

den man zwischen den Mädchen machen<br />

muss, wenn sie zusammen aufwachsen, mit einigen<br />

Schwierigkeiten rechnen müssen, Mrs. Norris«, sagte Sir<br />

Thomas, »wie man bei meinen Töchtern das Bewusstsein,<br />

wer sie sind, erhalten kann, ohne dass sie deshalb zu gering<br />

von ihrer Kusine denken, und wie man diese, ohne sie<br />

zu sehr zu entmutigen, daran erinnert, dass sie keine Miss<br />

Bertram ist. Ich sähe es gern, wenn sie gute Freundinnen<br />

würden, und möchte meinen Mädchen auf keinen Fall erlauben,<br />

ihrer Verwandten gegenüber auch nur den geringsten<br />

Hochmut zu zeigen; und doch können sie nicht<br />

ebenbürtig sein. Ihr Rang, Vermögen, ihre Rechte und Erwartungen<br />

werden immer verschieden sein. Es ist ein äußerst<br />

heikler Punkt, und Sie müssen uns bei unseren Versuchen<br />

unterstützen, genau den richtigen Umgangston zu<br />

finden.«<br />

Mrs. Norris war ihm gern zu Diensten, und obwohl sie<br />

völlig mit ihm einer Meinung war, dass es sich dabei<br />

um eine äußerst delikate Sache handle, bestärkte sie seine<br />

Hoffnung, dass man es gemeinsam schon schaffen<br />

werde.<br />

Man kann sich leicht vorstellen, dass Mrs. Norris nicht<br />

vergeblich an ihre Schwester schrieb. Mrs. Price schien<br />

eher überrascht, dass man sich auf ein Mädchen geeinigt<br />

hatte, wo sie doch so viele vielversprechende Jungen hatte,<br />

aber sie nahm das Angebot äußerst dankbar an, versicherte<br />

ihnen, dass ihre Tochter ein sehr gutmütig veranlagtes,<br />

umgängliches Mädchen sei, und war überzeugt, dass sie<br />

keinen Anlass haben würden, sie zurückzuschicken. Sie


eschrieb sie dann als ein bisschen empfindlich und zart,<br />

war aber zuversichtlich, dass ihr die Luftveränderung entschieden<br />

guttun würde. Die arme Frau! Sie dachte wahrscheinlich,<br />

dass Luftveränderung vielen ihrer Kinder guttun<br />

würde.<br />

Kapitel 2<br />

Das kleine Mädchen überstand die Reise wohlbehalten und<br />

wurde in Northampton von Mrs. Norris abgeholt, die sich<br />

in dem Verdienst, sie als Erste willkommen zu heißen, und<br />

in der Würde sonnte, sie den anderen zuzuführen und ihrer<br />

Güte zu empfehlen.<br />

Fanny Price war zu dieser Zeit gerade zehn Jahre alt,<br />

und obwohl es auf den ersten Blick nichts an ihr gab, was<br />

besonders einnehmend war, so gab es andererseits doch<br />

auch nichts, was den Widerwillen ihrer Verwandten erregte.<br />

Sie war klein für ihr Alter, ohne leuchtenden Teint oder<br />

sonst wie auffallende Schönheit, übermäßig ängstlich und<br />

schüchtern und darauf bedacht, sich jeder Aufmerksamkeit<br />

zu entziehen; und obwohl unbeholfen, hatte ihre Erscheinung<br />

doch nichts Gewöhnliches; ihre Stimme war lieblich,<br />

und wenn sie sprach, war ihr Gesichtsausdruck hübsch. Sir<br />

Thomas und Lady Bertram empfingen sie sehr freundlich,<br />

und da Sir Thomas sah, wie sehr sie Ermutigung nötig hatte,<br />

versuchte er ganz besonders entgegenkommend zu sein,<br />

aber dabei war ihm sein äußerst würdevolles Benehmen im<br />

Wege, so dass Lady Bertram, ohne sich halb soviel Mühe<br />

zu geben oder ein Wort zu sagen, wo er zehn sagte, nur mit<br />

Hilfe eines gutmütigen Lächelns sofort die weniger furchterregende<br />

Gestalt von beiden wurde.


Nachwort<br />

»She has given us a multitude of characters, all<br />

in a certain sense, common place, all such as we<br />

meet every day. Yet they are all as perfectly<br />

discriminated from each other as if they were<br />

the most eccentric of human beings.«<br />

Thomas Macauley (1800–59) über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong><br />

1<br />

Mansfield Park ist der dritte der sechs Romane <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s<br />

(1775–1817), die von 1811 bis 1818, also innerhalb<br />

von nur sieben Jahren in London erschienen und, abgesehen<br />

von kurzen satirischen Jugenddichtungen und drei Romanfragmenten<br />

(Lady Susan, The Watsons, Sanditon), das<br />

gesamte Œuvre dieser Schriftstellerin ausmachen. Seinem<br />

geringen Umfang nach steht es in keinem Verhältnis zu<br />

seiner weltweiten Beliebtheit in der englischsprachigen<br />

Welt und zu der unendlich zahlreichen Sekundärliteratur,<br />

die darüber geschrieben wurde und wird. <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> bildet<br />

das Musterbeispiel eines Klassikertyps, wie er in der<br />

deutschen Literatur allzu selten ist, ja, wie ihn eigentlich<br />

nur Theodor Fontane darstellt: Sie befriedigt zugleich das<br />

elementare Lesevergnügen eines riesigen Publikums und<br />

die Forschungsbedürfnisse der Literaturwissenschaft. Die<br />

eine Seite wird repräsentiert durch J. B. Priestleys Beurteilung,<br />

<strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> »hat wahrscheinlich mehr englischsprachigen<br />

Menschen Entzücken bereitet als irgendeine andere<br />

Frau, die je gelebt hat«, die andere durch den Vergleich mit<br />

Shakespeare, der öfter in den Studien über <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>


auftaucht – zum ersten Mal übrigens bei dem oben zitierten<br />

Thomas Macauley in der Mitte des 19. Jahrhunderts.<br />

Innerhalb der sechs Romane stellen Mansfield Park und<br />

der darauf folgende, Emma (1815), insofern eine eigene<br />

Gruppe dar, als nur sie von der Autorin unmittelbar in<br />

Druck gegeben wurden, nachdem sie konzipiert und geschrieben<br />

waren. Die beiden früheren Werke (Sense and<br />

Sensibility, 1811, und Pride and Prejudice, 1813) sind umgearbeitete<br />

Jugendwerke, und die beiden folgenden (Persuasion<br />

und Northanger Abbey, 1818, letzteres ebenfalls eine<br />

Jugendarbeit) wurden nicht mehr von der Schriftstellerin<br />

selbst, die inzwischen gestorben war, sondern von ihrem<br />

Bruder herausgegeben. Mansfield Park und Emma bilden<br />

daher die eigentlichen Werke der Reifezeit <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s,<br />

und vielleicht ist schon ihr größerer Umfang ein Zeichen<br />

dafür, dass die etwa vierzigjährige Autorin sich bei ihnen<br />

ganz auf der Höhe ihres literarischen Könnens fühlte.<br />

Die erste Auflage von Mansfield Park, das 1814 anonym,<br />

aber mit dem Zusatz »von der Autorin von Sense<br />

and Sensibility und Pride and Prejudice« erschien, war, wie<br />

aus einem Brief <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s an ihre Lieblingsnichte Fanny<br />

Knight – die sich später aristokratisch verheiratete und<br />

in viktorianischer Engstirnigkeit auf ihre früher so geliebte<br />

Tante und deren Familie mit einer gewissen Geringschätzung<br />

zurückblickte – hervorgeht, schon im November desselben<br />

Jahres vergriffen. <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong> freute sich darüber<br />

unter anderem deshalb, weil sie bei einer Neuauflage wieder<br />

Geld verdienen konnte. (»Ich bin schrecklich habgierig<br />

und möchte das meiste herausholen.«) Eine zweite Auflage<br />

wurde tatsächlich 1816 veranstaltet, und die Verfasserin<br />

nahm die Gelegenheit wahr, Druckfehler der ersten zu berichtigen<br />

und geringfügige Änderungen am Text anzubringen.<br />

(Die vorliegende Übersetzung folgt der Penguin-Aus-


gabe von Tony Tanner, die mit ganz wenigen Ausnahmen<br />

den Text dieser zweiten Auflage wiedergibt, nimmt allerdings<br />

eine Textkorrektur vor; vgl. Anm. 19.)<br />

Alle Romane <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s haben die vielfältigsten<br />

Deutungen erfahren, alle sind vielfach miteinander verglichen<br />

und gegeneinander abgewogen worden, alle haben<br />

ihre leidenschaftlichen Anhänger und Kritiker, ja, für gewisse<br />

Experten und Leser ist die Welt geradezu in »Janites«<br />

und »Anti-Janites«, in <strong>Austen</strong>-Liebhaber und <strong>Austen</strong>-Gegner<br />

aufgeteilt. Mansfield Park hat dabei eher im Schatten<br />

des vorausgehenden und des nachfolgenden Werks gestanden.<br />

Dafür ist zu einem guten Teil die unscheinbare Heldin<br />

Fanny Price verantwortlich, die den Vergleich mit der<br />

geistreichen Elizabeth Bennet aus Pride and Prejudice und<br />

der naiv-raffinierten Emma Woodhouse aus Emma nicht<br />

aushält und öfter als bigott, rechthaberisch oder gar dünkelhaft<br />

empfunden worden ist. So bemerkte der amerikanische<br />

Literaturwissenschaftler Lionel Trilling 1954:<br />

»Niemandem, glaube ich, ist es je gelungen, die Heldin<br />

von Mansfield Park zu mögen.«<br />

Und 1957 schrieb der englische Romancier Kingsley<br />

Amis unter dem provozierenden Titel »Was ist aus <strong>Jane</strong><br />

<strong>Austen</strong> in Mansfield Park geworden?« eine Einleitung zu<br />

dem Buch, in der er nach mancherlei Lob das seiner Meinung<br />

nach konventionelle und langweilige Heldenpaar mit<br />

dem Satz charakterisierte:<br />

»Zu einer Abendeinladung an Mr. und Mrs. Edmund<br />

Bertram würde man sich wohl nur schweren Herzens entschließen.«<br />

Andererseits pries die englische Kritikerin Q. D. Leavis<br />

gerade Mansfield Park im selben Jahr mit folgenden Worten:


»In Technik, Thema, Prosastil und in der behutsamen<br />

Erforschung menschlicher Beziehungen deutet Mansfield<br />

Park auf George Eliot und Henry James voraus; Mansfield<br />

Park ist daher der erste moderne Roman Englands.« (Zu<br />

den drei Aufsätzen vgl. die Literaturhinweise: Southam.)<br />

An Esprit, Präzision der Figurencharakterisierung, Lebensechtheit<br />

der Situationen, Lebendigkeit des Dialogs und<br />

Geschick der Szenengestaltung steht Mansfield Park den anderen<br />

Romanen sicher nicht nach. Mrs. Norris etwa gebührt<br />

ein Ehrenplatz in <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s Galerie der satirisch gezeichneten<br />

komischen Charaktere. Ist aber das Heldenpaar Fanny<br />

Price und Edmund Bertram misslungen? Zu ihrem Verständnis<br />

muss man sich die Thematik des Buches vergegenwärtigen.<br />

2<br />

Fanny ist nicht wie Elizabeth Bennet oder Emma Woodhouse<br />

die Tochter eines angesehenen Gentlemans, sie<br />

nimmt daher in der Gesellschaft auch nicht deren Rang<br />

ein, kann nicht deren Anspruch auf Selbstsicherheit erheben,<br />

sondern sie ist die im Haus ihres reichen Onkels<br />

aufwachsende arme, abhängige Verwandte, wie sie bis ins<br />

20. Jahrhundert, bis sich die rechtliche und gesellschaftliche<br />

Stellung der Frau so weit gebessert hatte, dass diese<br />

unabhängig leben oder sich ihren Lebensunterhalt selbst<br />

verdienen konnte, eine vertraute Erscheinung in vielen<br />

Familien war. Eine solche mittellose, aus Barmherzigkeit<br />

aufgenommene Nichte, deren Leben und Verhalten viele<br />

zeitgenössische Leser und Leserinnen <strong>Jane</strong> <strong>Austen</strong>s aus<br />

eigener Erfahrung bestens kannten, konnte keinerlei Ansprüche<br />

stellen und hatte sich immer bescheiden im Hintergrund<br />

zu halten. Wenn sie nicht schon von Natur


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Emma<br />

Mansfield Park

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