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25 Jahre Freiwilligendienst in Monte Azul

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<strong>25</strong> <strong>Jahre</strong> Freiwillige <strong>in</strong> <strong>Monte</strong> <strong>Azul</strong> 12<br />

Er war sehr freundlich und offen, aber irgendwie<br />

unbeholfen. Er ist e<strong>in</strong> ganz, ganz e<strong>in</strong>facher Mann, der<br />

aus wirtschaftlichen Gründen aus dem Nordosten<br />

nach São Paulo gekommen ist. Jetzt ist er ohne Arbeit<br />

und bei schlechter Gesundheit.<br />

Lilian hat zwei ältere Schwestern, e<strong>in</strong>en älteren<br />

Bruder (von dem der Vater nicht so genau wusste, ob<br />

er nun sieben oder neun ist) und e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en vierjährigen<br />

Bruder, der nur mit Schnuller im Mund rumläuft.<br />

Die K<strong>in</strong>der – sogar Lilian, aus deren Armen ich<br />

mich <strong>in</strong> der Pré-escola manchmal fast gewaltsam<br />

befreien muß – waren alle anfangs sehr verklemmt<br />

und haben nur heimlich gekichert, was sich aber bald<br />

gelegt hat.<br />

Das Haus besteht aus großer Küche, kle<strong>in</strong>em<br />

Wohnzimmer und Schlafzimmer. Alles ist voll gestellt<br />

und überall liegt Wäsche herum. Aber wo sollen die<br />

Sachen auch h<strong>in</strong>, wenn e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong> Platz da ist? Ich<br />

hatte den E<strong>in</strong>druck, dass die ganze Familie recht chaotisch<br />

bzw. unorganisiert ist, und Andreas, der die<br />

Familie gut kennt, hat mir das bestätigt. Es ist übrigens<br />

e<strong>in</strong> Gespräch zwischen dieser Familie und e<strong>in</strong>er Ärzt<strong>in</strong><br />

von der Krankenstation <strong>in</strong> der Pe<strong>in</strong>ha geplant.<br />

Manchmal, wenn ich mir Lilian so anschaute, dachte<br />

ich mir: Was wird wohl aus ihr, wenn sie älter wird?<br />

Wird sie sich haufenweise Gel <strong>in</strong> die Haare schmieren<br />

um die Krussellocken glatt zu bekommen, dick<br />

Lippenstift auftragen und den neuesten Modetanz<br />

nachahmen, wie so viele von den jungen Mädchen<br />

hier? Wird sie vielleicht auch e<strong>in</strong>e von den jungen<br />

Müttern se<strong>in</strong>, die im Ambulatório auf die Hebamme<br />

Angela warten? In dem schönen K<strong>in</strong>dergesicht ist<br />

noch alles so offen und alles möglich, aber wenn man<br />

auf die Umgebung schaut, die kle<strong>in</strong>e Favela-Kultur,<br />

sieht alles schon so vorgeplant aus. Für jemanden der<br />

dann nicht e<strong>in</strong>e Familie hat, die ihn vor diesen<br />

E<strong>in</strong>flüssen schützen kann, muß es doch unglaublich<br />

schwer se<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>en eigenen Weg zu f<strong>in</strong>den.<br />

Autor<br />

unbekannt<br />

Aufzeichunungen<br />

uber Carol<br />

Carol war e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, mit dem ich anfangs nur sehr<br />

schwer zurecht kam. Ihre zurückgezogene, widerspenstige<br />

Art verunsicherte mich sehr, und umso weniger<br />

konnte Carol Vertrauen zu mir fassen. Im Rückblick<br />

fällt mir auf, dass ich sie <strong>in</strong> der Anfangszeit <strong>in</strong> der<br />

Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dergruppe am wenigsten wahrnahm. Sie zog<br />

sich eben sehr zurück vor mir, von diesem neuen,<br />

fremden Voluntário; und ich ließ dieses problematische<br />

K<strong>in</strong>d auch so weit wie möglich <strong>in</strong> Ruhe.<br />

Das änderte sich mit e<strong>in</strong>em Mal, als ich mit me<strong>in</strong>er<br />

Geduld am Ende war und e<strong>in</strong>fach nicht mehr nachgiebig<br />

und verständnisvoll auf Carols verkrampfte<br />

Ablehnung reagieren konnte. Als sie sich wieder e<strong>in</strong>mal<br />

weigerte, sich vor dem Essen die Hände zu<br />

waschen, trug ich das strampelnde K<strong>in</strong>d zum<br />

Waschbecken und sagte deutlich zu ihr „Jetzt müssen<br />

wir aber die Hände waschen!“ - und sie ließ es e<strong>in</strong>fach<br />

über sich ergehen. Sie hätte sich mühelos losreißen<br />

und wegrennen können, aber sie folgte me<strong>in</strong>em energischen<br />

Verhalten und machte mit.<br />

Ich erlebte da zum ersten Mal ganz klar zwei Seiten<br />

von Carol: die e<strong>in</strong>e Seite war wie e<strong>in</strong> verängstigtes und<br />

verletzliches Wesen, das schrie, und sich weigerte, den<br />

Mund zu waschen. Die andere Seite war weicher und<br />

k<strong>in</strong>dlicher und fügte sich vertrauensvoll dem, was ich<br />

mit ihr machte.<br />

Ich hatte den E<strong>in</strong>druck, dass Carol e<strong>in</strong>en Kampf<br />

führte, den viele K<strong>in</strong>der der Favela führen müssen,<br />

zwischen zwei Extremen: e<strong>in</strong>er k<strong>in</strong>dlichen, weichen,<br />

der Welt offenen Seite, und e<strong>in</strong>er aus dieser<br />

Weichheit herausgerissenen, schutzlosen und verletzten<br />

Seite. Sie schwankte jeden Tag zwischen diesen<br />

Extremen.<br />

Beim Spielen suchte sie die Nähe anderer K<strong>in</strong>der,<br />

konnte sich ihnen gegenüber jedoch nur selten richtig<br />

öffnen. Oft blieb sie <strong>in</strong>nerlich verschlossen und abwei-

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