Grundlagen Sexualität.pdf
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Dr. Wolfgang Plaute & Sonja Hauser<br />
wolfgang.plaute@sbg.ac.at<br />
„Menschliche <strong>Sexualität</strong> verstehen“<br />
aus dem Vorlesungsskriptum<br />
(vgl. Plaute, W.: „<strong>Sexualität</strong> und geistige Behinderung -<br />
die Entwicklung und Evaluierung<br />
einer sexualpädagogischen Gesamtkonzeption“)<br />
an der<br />
Universität Salzburg<br />
Institut für Erziehungswissenschaften
1. SEXUALITÄT und SEXUALPÄDAGOGIK<br />
Das Wort <strong>Sexualität</strong> leitet sich aus dem Lateinischen her: „secare“ heißt „schneiden, trennen“,<br />
„sectus“ die „Trennung, Unterscheidung“; ursprünglich wurde der Begriff des „Sexualsystems“ nur<br />
für die Einteilung der Pflanzen nach Geschlechtsteilen von Linné verwendet (Herrath, 1992). Zu<br />
Beginn des 19. Jahrhunderts tauchte dann in der wissenschaftlichen Terminologie der Begriff<br />
„<strong>Sexualität</strong>“ auf. Dieser Begriff bezeichnete zunächst nur die Eigenschaften „männlich“ und<br />
„weiblich“, also das Geschlecht. Nach wenigen Jahrzehnten wurde mit diesem Wort bereits die<br />
Beschäftigung mit sexuellen Dingen bezeichnet, schließlich umfasste es auch die sexuellen Kräfte<br />
und die Fähigkeit zu erotischen Gefühlen ganz allgemein. Ungefähr seit 1880 kann man so von der<br />
„<strong>Sexualität</strong>“ eines Menschen als eigenständiges Phänomen sprechen. Dieses Phänomen war durch<br />
mehr als die schlichte „Weiblichkeit“ bzw. „Männlichkeit“ gekennzeichnet, bezog sich<br />
notwendigerweise nicht nur auf die Begegnung von Mann und Frau (Anziehung der Geschlechter<br />
und Fortpflanzung), sondern auch Masturbation eines Einzelnen konnte nun als „sexuelles“<br />
Verhalten bezeichnet und als Ausdruck der menschlichen „<strong>Sexualität</strong>“ bezeichnet werden<br />
(Haeberle, 1985).<br />
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff „<strong>Sexualität</strong>“ noch umfassender verwendet<br />
(Görgens, 1992); dazu wesentlich beigetragen hat vor allem das psychoanalytische Denken von<br />
Siegmund Freud (1984). <strong>Sexualität</strong> bezog sich nun nicht mehr nur auf Fortpflanzung und erotische<br />
Lust, sondern auch auf das Bedürfnis nach Liebe und persönlicher Erfüllung, das heißt auf die „Lust<br />
am Leben“ selbst. Die <strong>Sexualität</strong> des Menschen wurde nun als wesentlicher Aspekt der<br />
individuellen Persönlichkeit betrachtet – als grundlegende und allumfassende Eigenschaft, als<br />
Inbegriff der Gefühle und Handlungen, derer sexuell reagierende Menschen fähig sind.<br />
Psychoanalytische Erkenntnisse beschrieben so sexuelle Elemente in fast allen menschlichen<br />
Handlungen und beschrieben dies als Ausdruck eines „Urinstinkts“, als Wirkung eines<br />
grundlegenden, machtvollen inneren „Triebes“.<br />
So wie sich im Englischen der Begriff „sex“ zum Begriff „gender“ unterscheidet, so können wir im<br />
Deutschen ebenfalls die beiden Begriffe „<strong>Sexualität</strong>“ und „Geschlecht“ gegenüber stellen:
Deutsch Englisch Bedeutung<br />
<strong>Sexualität</strong><br />
sex<br />
Geschlecht(er)<br />
gender<br />
Bezieht sich auf die sexualbiologische<br />
Ausstattung (Anatomie)<br />
und das Sexualverhalten<br />
Bezieht sich auf die beiden<br />
Geschlechter<br />
„weiblich“ und „männlich“<br />
Tab. 1: Sprachliche Gegenüberstellung von „<strong>Sexualität</strong>“ und „Geschlecht“<br />
In dieser Arbeit wird vor allem mit dem Begriff „<strong>Sexualität</strong>“ in den verschiedensten Bedeutungen<br />
und Formen gearbeitet; geschlechtsspezifische Betrachtungen, also die Unterschiede von Mann und<br />
Frau stehen somit nicht im Vordergrund, diese werden aber, wenn sie eine Rolle spielen, bei<br />
einzelnen Ergebnissen unserer Studien extra hervorgehoben.<br />
<strong>Sexualität</strong> wurde lange Zeit nur im Zusammenhang mit dem Akt der Fortpflanzung diskutiert, als<br />
reine Genitalsexualität. Zumindest in Mitteleuropa hat sich mit dem Wandel gesellschaftlicher<br />
Normen (u.a. sexuelle Revolution in den 60-er Jahren) eine neue Sichtweise geformt und vor allem<br />
durch die Möglichkeit der relativ sicheren Verhütung (Kontrazeption) ist die reine<br />
Fortpflanzungsfunktion heute in den Hintergrund getreten. Das heißt, dass verschiedene Formen des<br />
sozialen Kontaktes, zwischenmenschliche Beziehungen und der sogenannte “Mittelbereich” von<br />
Zärtlichkeit, Sensualität und Erotik bedeutsame Aspekte der menschlichen <strong>Sexualität</strong> bilden<br />
(Sporken, 1974). Der Begriff des Mittelbereichs versucht den Begriff <strong>Sexualität</strong> in einem<br />
dreistufigen Schema zu erfassen. <strong>Sexualität</strong> meint somit<br />
das ganze Gebiet von Verhaltensweisen in den allgemein menschlichen Beziehungen (im<br />
sogenannten koedukativen Alltag),<br />
den Mittelbereich von Zärtlichkeit, <strong>Sexualität</strong>, Erotik und<br />
die Genitalsexualität.<br />
<strong>Sexualität</strong> umfassend und befriedigend zu beschreiben, hat sich als ein äußerst schwieriges Problem<br />
herausgestellt. Es gibt allerdings sehr viele Definitionsversuche wie z. B. von Sielert (1993, S.14),<br />
der <strong>Sexualität</strong> wie folgt beschreibt:
“<strong>Sexualität</strong> ist eine allgemeine Lebensenergie, die in allen Phasen des menschlichen Lebens<br />
körperlich, geistig-seelisch und sozial wirksam ist. Sie bedient sich des Mediums “Körper” und hat<br />
vielfältige Ausdrucksformen – als Zärtlichkeit, Leidenschaft, Hingabe, Sehnsucht und Begierde<br />
oder auch als Aggression.”<br />
<strong>Sexualität</strong> berührt sozusagen alle menschlichen Erlebnisformen von der frühesten Kindheit bis ins<br />
höchste Alter und ist damit die motivationale Grundenergie des menschlichen Seins.<br />
<strong>Sexualität</strong> allgemein und Sexualverhalten im speziellen sind komplexe Begriffe, die sich nicht<br />
einfach definieren lassen. Wir müssen dabei immer die Individualität der Person(en) und den<br />
sozialen Kontext, unter dem <strong>Sexualität</strong> sichtbar wird, berücksichtigen; so spielt die einzelne Person<br />
vor dem Hintergrund ihrer Sozialisation in einer bestimmten Gesellschaft und Zeit die zentrale<br />
Rolle (Laumann et al., 1994).<br />
Friske (1995) orientiert sich an dieser Definition und skizziert folgende Sinnesaspekte der<br />
<strong>Sexualität</strong>, die in dieser Arbeit in Anlehnung an Loewit (1992) um den Kommunikationsaspekt<br />
erweitert werden:<br />
1. Der Identitätsaspekt:<br />
Die <strong>Sexualität</strong> ermöglicht die Erfahrung des eigenen Ich als eine eigenständige und zur Selbstbestimmung fähige körperliche und<br />
seelische Einheit.<br />
2. Der Beziehungsaspekt:<br />
Vor allem Gefühle wie Vertrauen, Wärme und Geborgenheit können in einer intimen Bindung erfahren werden. <strong>Sexualität</strong> könnte eine<br />
Art von Kommunikation auf einer anderen Ebene sein, und auch auf dieser Ebene beantwortet werden.<br />
3. Der Lustaspekt:<br />
Sielert (1993) spricht von der Lust als Kraftquelle, die als tiefe, aktiv ausgeübte Leidenschaft und Hingabe erlebt wird.<br />
4. Der lebensschöpferische Aspekt:<br />
Lebensschöpfung bedeutet mehr als die reine Fortpflanzung. <strong>Sexualität</strong> kann das Gefühl vermitteln, lebendig zu sein.<br />
5. Der Kommunikationsaspekt:<br />
Der Mensch kann seine <strong>Sexualität</strong> lebenslang als Mittel der Kommunikation als Körpersprache einsetzen (Loewit, 1975, 1992). Über<br />
und in der <strong>Sexualität</strong> kann sich der Mensch in sehr direkter verbaler und non-verbaler Weise ausdrücken.<br />
Tab. 2: Die Sinnesaspekte der <strong>Sexualität</strong> (zusammengestellt nach Friske, 1995 und Loewitt,<br />
1975, 1992)
Auch wenn wir in dieser Arbeit speziell den Begriff „<strong>Sexualität</strong>“ fokussieren, darf nicht übersehen<br />
werden, dass es natürlich eine Querverbindung zu den Begriffen „Geschlechter“ und<br />
„Sexualverhalten“ gibt. Bezieht sich der Begriff „Geschlecht“ auf die sexual-biologische<br />
Ausstattung von Mann und Frau, so wird der Begriff des „Sexualverhaltens“ in dieser Arbeit als<br />
„behavior that produces arousal and increases the chance of orgasm“ definiert (Hyde, 2000). Eine<br />
Analyse des heutigen Sprachgebrauches zeigt, dass der Begriff „Sexualverhalten“ drei verschiedene<br />
Grundbedeutungen haben kann, je nachdem wie der Ausgangspunkt bzw. das Ziel der Betrachtung<br />
definiert wird (Haeberle, 1985):<br />
1. Der Begriff „Sexualverhalten“ bezieht sich auf alle Handlungen und Reaktionen, die zur<br />
Befruchtung führen können.<br />
Dies ist die älteste, engste und einfachste Definition; sie ist lediglich Ausdruck der<br />
Beobachtung dass alle höheren Tiere in zwei Gruppen verschiedenen Geschlechts eingeteilt<br />
werden können, männliche und weibliche Tiere, und dass sie sich „sexuell“ fortpflanzen.<br />
2. Der Begriff „Sexualverhalten“ bezieht sich auf jedes Verhalten, bei dem eine sexuelle<br />
Reaktion des Körpers beobachtbar ist.<br />
Dies ist eine neuere ziemlich pragmatische Definition; sie ist Ausdruck der Beobachtung,<br />
dass bei der Paarung der meisten höheren Tiere bestimmte körperliche Veränderungen<br />
stattfinden, die ein charakteristisches Muster haben und die als „sexuelle Reaktionen“<br />
zusammengefasst werden können.<br />
3. Der Begriff „Sexualverhalten“ bezieht sich auf alle Handlungen und Reaktionen, die der<br />
Lustbefriedigung dienen.<br />
Dies ist eine modernere, sehr weit gefasste Definition, die auf Sigmund Freud und die<br />
psychoanalytische Theorie zurückgeht; dabei wird zugrundegelegt, dass das menschliche<br />
Leben von zwei entgegengesetzten grundlegenden Trieben bestimmt wird: Eros (der<br />
Lebenstrieb) und Thanatos (der Todestrieb). Der Sexualtrieb wurde zum grundlegenden<br />
Motiv jeder das Leben steigender bzw. verschönender Handlung.<br />
Da alle drei Bedeutungen ihre Schwächen und Begrenzungen haben (Haeberle, 1985) und man in<br />
der Sexualwissenschaft mittlerweile generell von der allgemeinen Triebtheorie weggeht, wird in<br />
den modernen Konzepten eine differenzierte, auf die einzelnen Bestandteile der <strong>Sexualität</strong><br />
eingehende Definition bevorzugt. Schon 1940 versuchte R.L. Dickenson zwischen „sexueller<br />
Begabung, sexueller Leistung und sexuellem Trieb“ zu unterscheiden. 1948 definierte A.C. Kinsley<br />
die sexuelle „Fähigkeit“ im Gegensatz zur sexuellen „Leistung“ und 1958 schlug L.A. Kirkendall
vor (nach Haeberle, 1985), zwischen „sexueller Fähigkeit, sexueller Leistung und sexuellem Trieb“<br />
zu unterscheiden. Wenn also von menschlichen Sexualverhalten gesprochen wird, so sollte man in<br />
Anlehnung an Kirkendall zwischen drei grundlegenden Faktoren unterscheiden:<br />
1. Sexuelle Fähigkeit, das heißt, was der Mensch tun kann.<br />
2. Sexuelle Motivation, das heißt das, was der Mensch tun möchte.<br />
3. Sexuelle Leistung, das heißt das, was ein Mensch tatsächlich tut.<br />
Es ist völlig klar, dass diese drei Faktoren (Fähigkeit, Motivation und Leistung) nicht immer<br />
übereinstimmen. Bezogen auf die <strong>Sexualität</strong> haben die wenigsten Menschen die Möglichkeit, all das<br />
zu tun, was sie tun könnten oder was sie tun möchten. So ist z.B. beim Mann die größte sexuelle<br />
Fähigkeit gewöhnlich viele Jahre vor der größten sexuellen Leistung erreicht oder bei der Frau die<br />
sexuelle Fähigkeit wesentlich größer als die sexuelle Motivation.<br />
Abschließend sei an dieser Stelle noch eine Definition erwähnt, die in der Arbeit mit Menschen mit<br />
geistiger Behinderung verwendet wird; wissend, dass eine Erklärung des Begriffes benötigt wird,<br />
wenn man mit Menschen mit geistiger Behinderung in diesem Bereich sprechen und arbeiten will,<br />
wurde für die vorliegende Arbeit eine einfache und möglichst verständliche Definition festgelegt,<br />
die auch im Instrument „Interview zur <strong>Sexualität</strong> von Menschen mit geistiger Behinderung –<br />
ISMB“ (Haslauer, 2001) ihren Niederschlag fand:<br />
„Unter <strong>Sexualität</strong> versteht man ALLES, was mit Körper, Freundschaft und Liebe zu tun hat!“<br />
Obwohl es sich bei dieser Definition um keine wissenschaftliche handelt, konnten festgestellt<br />
werden, dass dieser kurze und einprägsame Satz bei Menschen mit geistiger Behinderung genau<br />
jene Fragen auslöst, aus deren Beantwortung dann jene Teilaspekte der <strong>Sexualität</strong> abgeleitet<br />
werden, die in den oben genannten, wissenschaftlichen Definitionen ausschlaggebend sind.