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shakespeare und das welt theater der gastfreundschaft

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„OUT, OUT, BRIEF CANDLE“.<br />

SHAKESPEARE UND DAS WELT­<br />

THEATER DER GASTFREUNDSCHAFT<br />

Julia Reinhard Lupton<br />

In ihrem Buch The Experience Economy: Work is Theatre and Every<br />

Business a Stage, <strong>das</strong> 1999 von <strong>der</strong> Harvard Business School veröffentlicht<br />

wurde, raten die Marketingreferenten Joseph Pine<br />

<strong>und</strong> James Gilmore Firmen nachdrücklich dazu, sich dem Theater<br />

zu öffnen – seinem timing, seinen Techniken, seinem<br />

Gemeinschaftsethos, seinem Appell an die Sinne <strong>und</strong> seiner<br />

Fähigkeit, ein Publikum zu bezaubern – <strong>und</strong> dadurch für eine<br />

K<strong>und</strong>schaft attraktiver zu werden, <strong>der</strong>en ständiges Verlangen<br />

nach immer günstigeren Waren mitunter aufgehoben wird von<br />

<strong>der</strong> Bereitschaft, für ein dramatisches Erlebnis auch mal etwas<br />

mehr zu bezahlen. Das Buch ist unter an<strong>der</strong>em ein außergewöhnliches,<br />

wenn auch verstörendes Zeugnis für die Übertragbarkeit<br />

<strong>der</strong> performance studies in die Sphäre <strong>der</strong> Betriebswirtschaft.<br />

Die Autoren beziehen sich auf Aristoteles’ Poetik, auf Peter<br />

Halls Dramaturgie, auf die commedia dell’arte <strong>und</strong> auf die Ritualtheorien<br />

von Erving Goffman <strong>und</strong> Richard Schechner. Indem es<br />

Shakespeare zitiert, bringt <strong>das</strong> Buch <strong>das</strong> antike Motiv des Welt<strong>theater</strong>s<br />

auf den neuesten Stand – zum Nutzen <strong>der</strong> Geschäftsleute<br />

von heute, die bereit sind, mit <strong>der</strong> Zeit zu gehen. Die Autoren,<br />

darin Blumenberg nicht unähnlich, verstehen den topos<br />

dabei nicht als bloße Analogie: „Es ist keine Metapher, son<strong>der</strong>n<br />

ein Modell. […] Wir wollen die Aufmerksamkeit auf die durch<br />

<strong>und</strong> durch dramatische Natur eines Unternehmens richten. Wir<br />

meinen es daher ganz wörtlich: Arbeit ist Theater.“ 1 Dieses Mani-<br />

1<br />

B. Joseph Pine II, James H. Gilmore, The Experience Economy: Work Is Theatre and<br />

Every Business a Stage, Boston: Harvard Business School Press 1999, S. 106. Zur abso-<br />

31


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

fest <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Betriebswirtschaft erhärtet Paolo Virnos<br />

Diagnose, <strong>der</strong> Arbeitsplatz sei heutzutage als eine Bühne zu<br />

begreifen, auf <strong>der</strong> Arbeit <strong>und</strong> Spiel ununterscheidbar werden. 2<br />

Die Gastfre<strong>und</strong>schaft <strong>der</strong> Renaissance war ebenfalls eine<br />

Erlebnisökonomie, eine oftmals improvisierte, aber immer<br />

durchdachte Orchestrierung von Feinkost, Festivitäten <strong>und</strong><br />

Pheromonen, von Licht <strong>und</strong> Klang innerhalb narrativer <strong>und</strong><br />

symbolischer Repertoires, die dem des Theaters ähnelten. Ihre<br />

multimedialen Inszenierungen waren eine Art von serious<br />

games, konzipiert, um soziales Prestige zu affirmieren <strong>und</strong> den<br />

Austausch kulturellen Kapitals sicherzustellen. Insofern Bewirtung<br />

als soziale Kunst häufig luxuriöse Kostüme <strong>und</strong> zeremonielle<br />

Stegreifreden in offenen Repräsentationsräumen einschloss,<br />

unterhielt die Gastfre<strong>und</strong>schaft enge Beziehungen zur<br />

Bühne. Gastfre<strong>und</strong>schaft instituierte ein theatrum m<strong>und</strong>i im<br />

engen Wortsinn, d.h. einen Entwurf sozialen Lebens als performance<br />

auf dem m<strong>und</strong>us als Lebens<strong>welt</strong>; sie evozierte aber auch<br />

<strong>das</strong> Welt<strong>theater</strong> in einem eher kosmischen Sinne, insofern sie<br />

durch den Aufruf mythischer <strong>und</strong> saisonaler Subtexte versuchte,<br />

<strong>das</strong> gesamte Universum in ihre fluktuierenden Kreise<br />

zu involvieren. An<strong>der</strong>s als die von Pine <strong>und</strong> Gilmore gelobten<br />

konzerngeleiteten Gesellschaftsinszenierungen aber prüft<br />

Shakespeare die Skripte <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft auf die Risiken<br />

<strong>und</strong> Wi<strong>der</strong>stände, die sie verbergen, auf die supplementären<br />

Zeiten <strong>und</strong> Räume, die sie generieren, <strong>und</strong> auf die Möglichkeiten<br />

zufälliger Begegnung, die sie provozieren. Auf dem Spiel<br />

stehen im Theater <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft sowohl ein dramatischer<br />

Inhalt – die Szenarien z.B. <strong>der</strong> Stücke Shakespeares – als<br />

auch ein Repräsentationsraum, <strong>der</strong> die öffentliche Bühne<br />

luten Metapher siehe Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt<br />

a.M.: Suhrkamp 1997.<br />

2<br />

Paolo Virno, Grammar of the Multitude: For an Analysis of Contemporary Forms of Life,<br />

übers. v. Isabella Bertoletti, Cambridge, MA: Semiotext[e] 2003, S. 58f.<br />

ebenso wie die großen Bankettsäle für aristokratische Ostentationen<br />

<strong>und</strong> Konsumptionen einschließt.<br />

Den Haushalt für einen Besuch vorzubereiten heißt, Raumpläne,<br />

aber auch Zeitpläne, Routinen <strong>und</strong> Abläufe neu einzuteilen,<br />

um so für Gäste Platz zu schaffen, um normalen Raum<br />

<strong>und</strong> Zeit umzuwidmen für außergewöhnliche Verrichtungen,<br />

die sich ihrerseits auf die Skripte von „Feiertag“ <strong>und</strong> „Feierlichkeit“<br />

stützen. Eine solche Umwidmung erfor<strong>der</strong>t vor allem<br />

einen Akt des Freiräumens, <strong>das</strong> Einrichten einer Lichtung o<strong>der</strong><br />

Öffnung, in <strong>der</strong> Personen <strong>und</strong> Dinge vor- <strong>und</strong> füreinan<strong>der</strong><br />

erscheinen können. 3 Diese räumlichen Reorganisationen, die<br />

Selbst-Inszenierungen in Szene setzen, verbinden die Aufführung<br />

<strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft als ein Theater des Lebens mit dem<br />

eigentlichen Theater, <strong>das</strong> sich selbst um ein offenes Plateau<br />

herum etabliert, <strong>das</strong> von Auftritten <strong>und</strong> Abgängen in <strong>der</strong> Anwesenheit<br />

an<strong>der</strong>er bestimmt ist. Indem die Gastfre<strong>und</strong>schaft die<br />

inneren Räume eines Haushalts Angehörigen, Nachbarn,<br />

Fremden sowie den Geschenken <strong>und</strong> Risiken aussetzt, die sie<br />

mit sich führen, verfolgt sie in den Bezirken des oikos eine emergente<br />

Politik, die ich mit Hannah Arendt 4 als <strong>das</strong> unerwartete<br />

<strong>und</strong> neuartige Erscheinen von Personen füreinan<strong>der</strong> in ihrer<br />

Pluralität definiere. An<strong>der</strong>s als die Politik, die zur eigentlichen<br />

polis gehört, bleibt die Politik des oikos nahe an häusliche Formen<br />

von Arbeit, Herstellung <strong>und</strong> Sorge geb<strong>und</strong>en sowie an die<br />

Objekte <strong>und</strong> Umgebungen, die sie unterstützen. Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

teilt sich auf in Arbeit <strong>und</strong> Handlung, in manuelle Verrichtungen<br />

<strong>und</strong> Akte <strong>der</strong> Selbst-Manifestation, die durch diese<br />

3<br />

Siehe Charlie Hailey zur Heideggerianischen Logik <strong>der</strong> „Lichtung“ (clearing) in <strong>der</strong><br />

zeitgenössischen Architektur des Lagers, dessen räumliche Routine untrennbar mit<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gastfreiheit verb<strong>und</strong>en ist. Campsite: Architecture of Duration and Place, Baton<br />

Rouge: Louisiana State University Press 2008, S. 5–7. Ebenfalls unter Bezug auf Heidegger<br />

beschreibt Bert O. States <strong>das</strong> Theater als „einen Ort <strong>der</strong> Enthüllung, nicht <strong>der</strong><br />

Referenz“ („a place of disclosure, not a place of reference“). Bert O. States, Great Reckonings<br />

in Little Rooms: On the Phenomenology of Theater, Berkeley: University of California<br />

Press 1985, S. 4.<br />

4<br />

Siehe v.a. Hannah Arendt, Vita activa o<strong>der</strong> Vom tätigen Leben, München: Piper 2002.<br />

32 33


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Verrichtungen ermöglicht werden. Die Arendt’sche Unterscheidung<br />

zwischen „Arbeit“ <strong>und</strong> „Handlung“ ist insofern biopolitisch,<br />

als sie die Trennung (<strong>und</strong> Abhängigkeiten) zwischen<br />

den Sorgen des kreatürlichen Lebens <strong>und</strong> jenen Formen öffentlichen<br />

Handelns betrifft, die die klassische Tradition mit <strong>der</strong><br />

Freiheit von solchen Sorgen assoziiert. Diese Unterscheidung<br />

ist insofern politisch-theologisch, als Ereignisse <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

mythisches Material umarbeiten, kosmische<br />

Assoziationen auslösen <strong>und</strong> in magischem Denken schwelgen<br />

– als Reaktion auf den permanenten Druck, <strong>der</strong> unserer Verstrickung<br />

in <strong>das</strong> kreatürliche Leben entspringt. Und obwohl<br />

die normative Praxis <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft oftmals die herrschende<br />

Biopolitik <strong>und</strong> politische Theologie in ihren hierarchischen,<br />

exkludierenden <strong>und</strong> mystifizierenden Dimensionen<br />

unterstützt, können Akte <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft auch alternative<br />

biopolitische <strong>und</strong> politisch-theologische Arrangements<br />

initiieren, die möglicherweise Leben, Arbeiten, Herstellen <strong>und</strong><br />

Handeln in konstruktive neue Ensembles zusammenführen.<br />

Die erste Hälfte des Essays bedient sich <strong>der</strong> politischen Theorie<br />

von Hannah Arendt, um die biopolitischen <strong>und</strong> politischtheologischen<br />

Dimensionen <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft zu ergründen.<br />

Dann wende ich mich Macbeths bekannter Artikulation<br />

des Welt<strong>theater</strong>-Motivs in seiner „Tomorrow and tomorrow<br />

and tomorrow“-Rede zu. Mein Interesse ist dabei ein dreifaches:<br />

Erstens hilft die Metapher <strong>der</strong> Welt als Bühne dabei, <strong>das</strong><br />

informelle Theater <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft mit dem institutionalisierten<br />

Theater Shakespeares zu verbinden; die Überlegungen<br />

Aby Warburgs zur Unterhaltung <strong>der</strong> Renaissance als Übergangsform<br />

zwischen Kunst <strong>und</strong> Leben sind unmittelbar relevant<br />

für die Gastfre<strong>und</strong>schaft als theatrum m<strong>und</strong>i. 5 Zweitens<br />

5<br />

Siehe z.B. Aby Warburg, „Sandro Botticelli’s Birth of Venus and Spring“, in: <strong>der</strong>s.,<br />

Renewal of Pagan Antiquity, übers. v. David Britt, Los Angeles: Getty Research Institute<br />

1999, <strong>und</strong> den Kommentar von Philippe-Alain Michaud, Aby Warburg and the Image<br />

in Motion, übers. v. Sophie Hawkes, New York: Zone Books 2004, S. 147–170.<br />

impliziert die Einsicht in <strong>das</strong> flüchtige <strong>und</strong> schemenhafte<br />

Wesen des Menschen, die sich vor allem in Macbeths Vergleich<br />

des menschlichen Lebens mit einer herunterbrennenden<br />

Kerze artikuliert, eine phänomenologische Weltsicht, die sich<br />

<strong>der</strong> menschlichen Endlichkeit <strong>und</strong> ihren Manifestationsmodi<br />

zuwendet. Shakespeare antizipiert die Arendt’sche Phänomenologie,<br />

aber durch die Verbindung <strong>der</strong> Kerze mit den <strong>das</strong><br />

Stück durchziehenden Diskursen über Licht, Beleuchtung <strong>und</strong><br />

Atmosphäre auch die eher szenografische <strong>und</strong> wahrnehmungsorientierte<br />

Phänomenologie, die sich von Merleau-Ponty herleitet.<br />

Darüber hinaus interessieren mich, drittens, Design <strong>und</strong><br />

Designdiskurse als ein möglicher Rahmen, um über <strong>das</strong> Leben<br />

<strong>der</strong> Objekte <strong>und</strong> die Verwendung von Raum bei Shakespeare<br />

nachzudenken. Die Metapher des theatrum m<strong>und</strong>i impliziert<br />

eine Architektur, die einerseits einen ewigen Bauplan umfasst,<br />

den <strong>der</strong> göttliche Baumeister entworfen hat, <strong>und</strong> an<strong>der</strong>erseits<br />

eine offene Raumaufteilung, <strong>der</strong>en Formen bestimmt werden<br />

von den Bewegungen ihrer Bewohner in ihnen: eine monumentale<br />

Architektur <strong>und</strong> eine fluide Architektur. 6 Das Wort<br />

‚Design‘ bezeichnet nicht nur <strong>das</strong> designo im traditionellen<br />

Sinn, son<strong>der</strong>n auch die Lebenskünste, die die Erfahrungs<strong>welt</strong>en<br />

<strong>der</strong> Stücke mit ihren saisonalen Rhythmen, häuslichen Produktionen<br />

<strong>und</strong> täglichen performances durchdringen. In <strong>der</strong><br />

Zeit Shakespeares werden diese Künste <strong>der</strong> Haushaltsführung<br />

husbandry o<strong>der</strong> housekeeping genannt; heutzutage haben sie die<br />

Sprache des Designs infiltriert <strong>und</strong> sich diese durch die Durchmischung<br />

architekturaler Diskurse mit lokaler Hauswirtschaftslehre<br />

<strong>und</strong> Lifestyle-Marketing sogar angeeignet: eine<br />

häusliche Erlebnisökonomie.<br />

Ich behandle im Folgenden die Bezugnahme des Macbeth<br />

auf traditionelle Praktiken <strong>der</strong> Haushaltsführung, <strong>und</strong> zwar als<br />

6<br />

Zur Bestimmung von Architektur durch Fluten, Erosion <strong>und</strong> klimatische Sensitivität<br />

siehe Andrew Ballantyne, Chris L. Smith (Hg.), Architecture in the Space of Flows,<br />

London: Routledge 2011.<br />

34 35


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Teil einer phänomenologischen Reflexion über die Konfluenz<br />

von menschlichem Leben <strong>und</strong> dessen theatraler Erscheinung,<br />

wie sie vom Topos des theatrum m<strong>und</strong>i entworfen wird.<br />

1. Die Theater <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

Gastfre<strong>und</strong>schaft macht viel Arbeit. Obwohl die Wohnküche<br />

dazu entworfen ist, die Belastung durch Vorbereitung <strong>und</strong><br />

Bedienung mit den Annehmlichkeiten von Konversation <strong>und</strong><br />

Tischgemeinschaft zu verbinden, bleiben die beiden Bereiche<br />

doch letztlich unvereinbar. Die Freude, die durch die Begegnung<br />

mit meinem Gast von Angesicht zu Angesicht entsteht,<br />

ist streng getrennt von <strong>der</strong> Anstrengung, <strong>das</strong> Mahl zuzubereiten.<br />

Selbst wenn die Rollen von <strong>der</strong>selben Person gespielt werden,<br />

arbeitet <strong>der</strong> Koch, während die Gastgeberin handelt – jene<br />

Tätigkeit ist bestimmt durch die sachk<strong>und</strong>ige Transformation<br />

roher Zutaten in <strong>der</strong> Gäste würdige Speisen, während diese<br />

durch Pflichten <strong>der</strong> Begrüßung, <strong>der</strong> Konversation, <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ation<br />

<strong>und</strong> Vermittlung ausgezeichnet ist. Der erste Dienst vollzieht<br />

sich an Objekten <strong>und</strong> Materialien, <strong>der</strong> letztere involviert<br />

die Versammlung von Personen.<br />

Hannah Arendt definiert Arbeit durch ihre Nähe, ja Geb<strong>und</strong>enheit<br />

an die Bedürfnisse des Lebens <strong>und</strong> die Tatsache, <strong>das</strong>s<br />

(an<strong>der</strong>s als die Herstellung, die Objekte von einiger Dauer<br />

erschafft) ihr Kraftaufwand sich letztlich verausgabt, ohne eine<br />

Spur zu hinterlassen: „Denn es ist ja gerade <strong>das</strong> Kennzeichen<br />

<strong>der</strong> Arbeit, <strong>das</strong>s sie nichts objektiv Greifbares hinterlässt, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong> Resultat ihrer Mühe gleich wie<strong>der</strong> verzehrt wird <strong>und</strong> sie<br />

nur um ein sehr Geringes überdauert. Und dennoch ist diese<br />

Mühsal, die so gar nichts Dauerndes zustande bringt, in ihrer<br />

Vergeblichkeit von einer unüberbietbaren Dringlichkeit <strong>und</strong><br />

ihre Aufgaben gehen allen an<strong>der</strong>en Aufgaben vor, weil von<br />

ihrer Erfüllung <strong>das</strong> Leben selbst abhängt.“ 7 Das Handeln hingegen<br />

beinhaltet die Interaktion mit an<strong>der</strong>en, z.B. durch<br />

Sprechakte, die eine Reihe von Ereignissen in Bewegung setzen,<br />

welche we<strong>der</strong> vorhergesagt noch kontrolliert werden können<br />

<strong>und</strong> so enthüllen, wer <strong>der</strong> Sprecher ist – in einem daimonischen<br />

Bild, <strong>das</strong> im spektralen Raum <strong>der</strong> Öffentlichkeit nur<br />

für An<strong>der</strong>e sichtbar wird. Solches Handeln ist nach Arendt eng<br />

an <strong>das</strong> Drama geb<strong>und</strong>en: „Indessen ist die dem Handeln <strong>und</strong><br />

Sprechen eigene Enthüllung des Wer so unlösbar an den<br />

lebendigen Fluß des Vorganges geb<strong>und</strong>en, daß sie nur in einer<br />

Art Wie<strong>der</strong>holung des ursprünglichen Vorganges dargestellt<br />

<strong>und</strong> ‚verdinglicht‘ werden kann, in <strong>der</strong> Nachahmung o<strong>der</strong><br />

μίμησις, von <strong>der</strong> Aristoteles zwar annahm, daß sie eine Gr<strong>und</strong>voraussetzung<br />

aller Künste sei, die er aber selbst in <strong>der</strong> Tat nur<br />

im δρᾶμα vorfand, dessen Name (‚Drama‘, <strong>das</strong> Substantiv eines<br />

<strong>der</strong> vielen griechischen Worte für Handeln, δρᾶν, entspricht<br />

genau <strong>der</strong> ‚Handlung‘, die auch wir vom Theater erwarten)<br />

bereits anzeigt, daß es die dem Handeln entsprechende Kunstgattung<br />

ist“. 8 Sowohl bei politischer Aktion als auch bei <strong>der</strong><br />

Handlung auf <strong>der</strong> Bühne bringt <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> öffentlich zu<br />

reden wagt, ein unwillkürliches Bild des Selbst hervor, <strong>das</strong> von<br />

seinen Gesprächspartnern <strong>und</strong> Zeugen abhängt, die über<br />

unberechenbare Möglichkeiten zur Reaktion, zu Antwort,<br />

Anerkennung o<strong>der</strong> Verweigerung verfügen. Die Selbst-Enthüllung,<br />

die stattfindet, wenn ein Akteur zu einem an<strong>der</strong>en spricht,<br />

rührt an <strong>das</strong>, was Paul Kottman eine ‚Politik <strong>der</strong> Szene‘ nennt:<br />

eine kontingente Konfiguration von Personen, Reden <strong>und</strong> Körpern,<br />

<strong>der</strong>en Parameter <strong>und</strong> Konsequenzen we<strong>der</strong> die Handelnden<br />

noch <strong>der</strong>en Autoren noch ihr Publikum im Voraus festschreiben<br />

können. 9 Handeln im politischen Sinn geht in <strong>das</strong><br />

Handeln im dramatischen Sinn über; <strong>das</strong> Theater wird als <strong>der</strong><br />

7<br />

Arendt, Vita activa, S. 104.<br />

8<br />

Ebd., S. 233.<br />

9<br />

Paul Kottman, A Politics of the Scene, Stanford: Stanford University Press 2008.<br />

36 37


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

charakteristische Ort seines Erscheinens markiert, als die<br />

beson<strong>der</strong>e Form von Öffentlichkeit, die zuvor<strong>der</strong>st durch die<br />

Versammlung eines Publikums in <strong>der</strong> Gegenwart einer Aufführung<br />

unter Bezug auf eine mögliche Zukunft etabliert wird.<br />

Kottman verknüpft diese Szene des Politischen explizit mit<br />

<strong>der</strong> Transformation des Welt<strong>theater</strong>-Motivs im elisabethanischen<br />

Theater. Mittelalterliche Versionen des Motivs betonten<br />

die autorisierende Präsenz eines Gottes, <strong>der</strong> Zuschauer <strong>und</strong><br />

Regisseur zugleich war, „eine politisch-theologisch-philosophische<br />

Tradition erhärtend, die sich auf konstitutive Abgrenzungen<br />

<strong>und</strong> Hierarchien stützt, welche ihrer Kräfteverteilung<br />

inhärieren – namentlich, die Ersetzung von praxis durch poesis,<br />

die Reduktion <strong>der</strong> Unvorhersehbarkeiten <strong>und</strong> Kontingenzen<br />

menschlicher Interaktion durch einen göttlichen Weltplan,<br />

den <strong>der</strong> ewige Demiurg fest vorgeschrieben hat.“ 10 Indem <strong>das</strong><br />

theatrum m<strong>und</strong>i aus dem Kontext von Philosophie <strong>und</strong> Theologie<br />

entfernt <strong>und</strong> in dramatische Texte eingeb<strong>und</strong>en wird, die<br />

Theaterbühnen aufführen, konfrontieren Shakespeare <strong>und</strong><br />

seine Zeitgenossen „die metaphysische Metapher <strong>der</strong> Weltbühne<br />

mit <strong>der</strong> Kontingenz <strong>der</strong> tatsächlichen Bühne, eine Konfrontation,<br />

die <strong>der</strong> institutionell dem Theater zu Verfügung stehende<br />

Raum (Gasthaus, Adelshof, Schauspielhaus) begünstigt<br />

<strong>und</strong> konturiert. Auf diesem Weg wird die Metapher dazu<br />

gezwungen, ihren metaphorischen Status aufzugeben“. 11 Die<br />

bekannte Aussage von Jacques in As You Like It – „All the<br />

World’s a stage“ – ist somit, laut Kottman, „die Deklaration<br />

einer nicht metaphysischen, son<strong>der</strong>n dramatischen Ontologie,<br />

die sich auf die Phänomenologie gemeinschaftlich belegter<br />

Schauplätze stützt“. 12<br />

Arendt folgt Aristoteles nicht nur in <strong>der</strong> Annäherung von<br />

Drama <strong>und</strong> Politik, son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong> strengen Unterschei-<br />

10<br />

Ebd., S. 197.<br />

11<br />

Ebd., S. 205.<br />

12<br />

Ebd., S. 206–207.<br />

dung von Handlung <strong>und</strong> Arbeit: „Im Gegensatz hierzu war <strong>der</strong><br />

Raum <strong>der</strong> Polis <strong>das</strong> Reich <strong>der</strong> Freiheit, <strong>und</strong> sofern es überhaupt<br />

einen Bezug zwischen diesen beiden Bereichen gab, so galt für<br />

ihn natürlicherweise, <strong>das</strong>s die Beherrschung <strong>der</strong> Lebensnotwendigkeiten<br />

innerhalb eines Haushalts die Bedingungen für<br />

die Freiheit in <strong>der</strong> Polis bereitstellte.“ 13 Arendt ist häufig dafür<br />

kritisiert worden, <strong>das</strong>s sie auf dieser Unterscheidung beharrt,<br />

die sowohl feministische als auch marxistische Projekte<br />

beschädige. An<strong>der</strong>e Leser Arendts haben allerdings versucht,<br />

die affirmativeren Aspekte <strong>der</strong> Arendt’schen Arbeits- <strong>und</strong> Herstellungsphänomenologie<br />

herauszuarbeiten sowie ihre Bereitschaft,<br />

diese an politisches Handeln zu koppeln. Patchen Markell<br />

ergänzt <strong>das</strong>, was er die territoriale Tendenz in Arendts<br />

Schriften nennt – d.h. ihren Hang, Arbeit, Herstellung <strong>und</strong><br />

Handeln als separate Sphären <strong>der</strong> Aktivität streng auseinan<strong>der</strong>zuhalten<br />

–, durch eine ‚relationale‘ Lektüre <strong>der</strong>selben<br />

Begriffe. Für Markell ist Herstellung (work) die entscheidende<br />

Kategorie, die mit Arbeit (labor) als einer Art eines ‚unfreien‘<br />

Verhaltens verschmilzt, aber auch <strong>das</strong> Handeln (action) unterstützt,<br />

indem es dessen Leistungen erhält <strong>und</strong> übermittelt –<br />

<strong>und</strong> zwar zuvor<strong>der</strong>st in Kunstwerken. Vita Activa/The Human<br />

Condition versucht, aus Markells Perspektive, „instrumentelle<br />

menschliche Aktivität <strong>und</strong> bedeutungsstiftende menschliche<br />

Aktivität zu reintegrieren“. 14<br />

Arendts Schriften begreifen Arbeit, Herstellung <strong>und</strong> Handeln<br />

als zusammenwirkende Aspekte <strong>der</strong> conditio humana. Handeln,<br />

so schreibt sie in Vita activa, bezieht sich üblicherweise<br />

auf „jeweilige, objektiv-<strong>welt</strong>liche Interessen [...] <strong>das</strong>, was interest,<br />

was dazwischen liegt <strong>und</strong> die Bezüge herstellt, die Menschen<br />

miteinan<strong>der</strong> verbinden <strong>und</strong> zugleich voneinan<strong>der</strong><br />

13<br />

Arendt, Vita activa, S. 40–41.<br />

14<br />

Patchen Markell, „Arendt’s Work: On the Architecture of The Human Condition“,<br />

in: College Literature 38.1 (Winter 2011), S. 19. Siehe auch Miguel Vatter, „Natality and<br />

Biopolitics in Hannah Arendt“, in: Revista de Ciencia Política 26.2 (2006), S. 137–159.<br />

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Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

scheiden“. 15 Im selben Abschnitt weist sie darauf hin, <strong>das</strong>s<br />

Selbst-Enthüllung unseren gesamten Umgang begleitet, nicht<br />

nur beson<strong>der</strong>e Fälle öffentlicher Rede: „Diese unwillkürlichzusätzliche<br />

Enthüllung des Wer des Handelns <strong>und</strong> Sprechens<br />

[bildet] einen so integrierenden Bestandteil allen, auch des<br />

‚objektivsten‘, Miteinan<strong>der</strong>seins, daß es ist, als sei <strong>der</strong> objektive<br />

Zwischenraum in allem Miteinan<strong>der</strong>, mitsamt <strong>der</strong> ihm inhärenten<br />

Interessen gleichsam von einem ganz <strong>und</strong> gar verschiedenen<br />

Zwischen durchwachsen <strong>und</strong> überwuchert, dem Bezugssystem<br />

nämlich, <strong>das</strong> aus den Taten <strong>und</strong> Worten selbst, aus dem<br />

lebendig Handeln <strong>und</strong> Sprechen entsteht, in dem Menschen<br />

sich direkt, über die Sachen, welche den jeweiligen Gegenstand<br />

bilden, hinweg aneinan<strong>der</strong> richten <strong>und</strong> sich gegenseitig<br />

ansprechen.“ 16 Hier wird Handeln dem fachmännischen Arbeiten<br />

nicht als Opponent entgegengesetzt, son<strong>der</strong>n scheint aus<br />

diesem zu entspringen: Wenn wir in Übereinstimmung mit<br />

an<strong>der</strong>en Menschen an etwas arbeiten, dann reden wir auch,<br />

wir wägen ab, verhandeln, bewerten, planen <strong>und</strong> entscheiden.<br />

Dinge <strong>und</strong> Sprechhandlungen sind beide in einem ‚Zwischenreich‘<br />

lokalisiert; Erstere, insofern sie als Nutzgegenstände,<br />

Tauschgegenstände <strong>und</strong> Fetischobjekte zwischen Menschen<br />

zirkulieren, Letztere, indem sie sich in <strong>der</strong> Interaktion zwischen<br />

Sprechern ereignen, welche ihre Identität nicht nur durch<br />

Sprache offenbaren, son<strong>der</strong>n auch durch die Art, wie sie mit<br />

<strong>der</strong> Objekt<strong>welt</strong> umgehen.<br />

Der Tisch ist für Arendt ein Objekt, <strong>das</strong> körperlich zwischen<br />

Menschen steht <strong>und</strong> sie eben dadurch dazu einlädt, sich in<br />

Sprache zu offenbaren: „In <strong>der</strong> Welt zusammenleben heißt<br />

wesentlich, daß eine Welt von Dingen zwischen denen liegt,<br />

<strong>der</strong>en gemeinsamer Wohnort sie ist, <strong>und</strong> zwar in dem gleichen<br />

Sinne, in dem etwa ein Tisch zwischen denen steht, die um ihn<br />

15<br />

Arendt, Vita activa, S. 224.<br />

16<br />

Ebd., S. 224–225.<br />

herum sitzen; wie jedes Zwischen verbindet <strong>und</strong> trennt die<br />

Welt diejenigen, denen sie jeweils gemeinsam ist.“ 17 Der Tisch<br />

ist ein Mittel räumlicher Aufteilung; Größe <strong>und</strong> Form eines<br />

Tisches sagen uns viel über die Nähe <strong>und</strong> die Distanzen, die<br />

eine bestimmte Gemeinschaft von Gesprächspartnern sich<br />

gestattet. Im Schatten von Arendts Tisch liegt die Szene <strong>der</strong><br />

Gastfre<strong>und</strong>schaft, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Tisch, <strong>das</strong> Produkt handwerklicher<br />

Herstellung, die vergänglichen Früchte <strong>der</strong> Arbeit in <strong>der</strong><br />

Küche offeriert, um zu Akten menschlicher Rede über seine<br />

Grenzen hinweg zu ermuntern, <strong>und</strong> dabei zugleich genügend<br />

Abstand zwischen die Eingeladenen setzt, <strong>das</strong>s kein Gast den<br />

an<strong>der</strong>en erwürgen kann, ohne sich zu diesem Zweck von seinem<br />

Stuhl erheben zu müssen.<br />

Arendt vergleicht die Immanenz des Handelns im Arbeiten<br />

<strong>und</strong> Herstellen mit dem von Unkraut, welches in den Ritzen<br />

einer Staumauer sprießt, eine Mischfigur autopoietischen<br />

Wachstums innerhalb einer artifiziellen Struktur. Dieser Vergleich,<br />

so stellt Markell fest, „performiert die Verflechtung, die<br />

er beschreibt“. 18 Markell argumentiert, <strong>das</strong>s, wenn Arendt die<br />

Architektin ihres Buches ist, sie nicht in <strong>der</strong> technokratischen<br />

Art eines Baumeisters verfährt, son<strong>der</strong>n vielmehr wie eine<br />

Handwerkerin o<strong>der</strong> eine Köchin, die auf ihr Material reagiert<br />

<strong>und</strong> ihre Vision laufend abän<strong>der</strong>t, während sie produziert: „Sie<br />

ordnet ihre Baukunst ihrem handwerklichen Können unter,<br />

statt, wie üblich, umgekehrt zu verfahren, <strong>und</strong> verleiht dadurch<br />

ihrem Denken <strong>und</strong> Schreiben ein vergleichsweise hohes Maß<br />

von Unvorhersehbarkeit.“ 19 Bereits <strong>der</strong> Titel von Markells Essay<br />

– „Arendt’s Work: On the Architecture of The Human Condition“<br />

– verweist auf sein Interesse an <strong>der</strong> <strong>welt</strong>konstituierenden<br />

Arbeit von Architektur <strong>und</strong> Design, <strong>der</strong>en konstruktiver Dialog<br />

zwischen freien Formen <strong>und</strong> Nützlichkeitserfor<strong>der</strong>nissen<br />

17<br />

Ebd., S. 66.<br />

18<br />

Markell, „Arendt’s Work: On the Architecture of The Human Condition“, S. 32.<br />

19<br />

Ebd., S. 36.<br />

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Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

die ästhetischen <strong>und</strong> utilitaristischen Dimensionen <strong>der</strong> Herstellung<br />

aussöhnen soll, um Raum für <strong>das</strong> Handeln zu schaffen.<br />

Markell unterscheidet <strong>das</strong> ‚philosophische Phantasma‘ <strong>der</strong><br />

Architektur als Chefsache eines autonomen Baumeisters von<br />

einer prozessbasierten Architektur, die Autopoiesis, Improvisation<br />

<strong>und</strong> Um<strong>welt</strong>einflüsse in ihre Konstruktionsmodi einbezieht.<br />

Diese Art des Designs beinhaltet „ein Verhältnis von Herausfor<strong>der</strong>ung<br />

<strong>und</strong> Reaktion zwischen Artefakten aller Art <strong>und</strong><br />

den Dingen, die wir über sie sagen <strong>und</strong> mit ihnen tun“. 20 Ein<br />

Gebäude zu errichten ist ein gemeinschaftlicher Prozess, <strong>der</strong><br />

die Fähigkeiten <strong>und</strong> die Energie diverser Unterstützerkreise<br />

erfor<strong>der</strong>t: Einmal fertiggestellt, ermöglicht ein Gebäude<br />

Momente menschlichen Zusammenseins ebenso wie Mühen<br />

<strong>und</strong> Freuden des Bewohnens. In Designdiskursen finden wir<br />

eine ähnliche Unterteilung in Design als Sozialtechnik <strong>und</strong><br />

Design als die Formung einer Um<strong>welt</strong>, die menschliches Handeln<br />

in all seiner Freiheit <strong>und</strong> Unvorhersehbarkeit unterstützt.<br />

‚Um<strong>welt</strong>‘ ist hier sowohl im geläufigen Sinn gemeint („die<br />

Um<strong>welt</strong>“, als ob es ein solches Ding tatsächlich gäbe), bezeichnet<br />

aber auch den Ort eines Objektes (wie einen Tisch) o<strong>der</strong><br />

einer Praxis (wie <strong>der</strong> des Theaters) in einer Menge verschachtelter<br />

<strong>und</strong> überlappen<strong>der</strong> Systeme, die urbane, agrarische,<br />

monetäre, klimatische, produktionstechnische <strong>und</strong> informationelle<br />

Netzwerke einschließen können. 21 Diese Spannung im<br />

zeitgenössischen Design entspricht <strong>der</strong> von Kottman aufgezeigten<br />

Spannung zwischen zwei Auffassungen des theatrum m<strong>und</strong>i:<br />

als eine Denkfigur politischer Theologie, die einen göttlichen<br />

Demiurgen unterstellt, <strong>und</strong> als eine <strong>der</strong> profanen Kontingenz<br />

<strong>und</strong> Offenheit von Shakespeares Globe.<br />

20<br />

Ebd.<br />

21<br />

Eine Zeitschrift wie Design Ecologies (publiziert von Eniatype, einer Gruppe Londoner<br />

Architekten) betrachtet die ‚komplexe Beziehung zwischen menschlicher Aktivität<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong> Um<strong>welt</strong>‘ <strong>und</strong> untersucht dabei auch ‚die Verbindungsmuster zwischen<br />

einer Zeichnung <strong>und</strong> ihrer Umgebung‘. http://www.eniatype.com/index.php?/about–<br />

this–site/.<br />

Gastfre<strong>und</strong>schaft konstituiert zugleich ein environment <strong>und</strong><br />

ein soziales Skript, in dem Handeln, Herstellung <strong>und</strong> Arbeit in<br />

die größtmögliche Nähe zueinan<strong>der</strong> treten, ohne dabei ununterscheidbar<br />

zu werden. Gastfre<strong>und</strong>schaft ist auch eng verzahnt<br />

mit den Künsten des Designs, die Markell unter <strong>der</strong> Rubrik<br />

<strong>der</strong> Architektur versammelt: Sie benötigt Räume, die <strong>der</strong><br />

Präsenz an<strong>der</strong>er – ganz gleich, ob dauerhaft o<strong>der</strong> temporär –<br />

gewidmet sind, <strong>und</strong> sie bestimmt Gebrauchsgegenstände (Platten,<br />

Krüge, Salzstreuer, Kerzen <strong>und</strong> Beleuchtung, Inventar,<br />

Wand- <strong>und</strong> Tischtücher) dazu, sich in ihrer ästhetischen<br />

Dimension zu offenbaren, als Darbietungen in einer feierlichen<br />

Szene. Die Arbeiten <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft vollziehen sich<br />

oftmals hinter den Kulissen, dem Ereignis <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

selbst untergeordnet <strong>und</strong> unter <strong>der</strong> Verwaltung inoffizieller<br />

Akteure. Wenn Arbeit unerwarteter Weise als solche<br />

erscheint – entwe<strong>der</strong> durch ein Missgeschick o<strong>der</strong> weil <strong>der</strong>jenige,<br />

<strong>der</strong> serviert, plötzlich Anlass hat zuzuhören, zu sprechen<br />

o<strong>der</strong> zu entscheiden –, werden die Künste <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

potenziell politisch, indem sie die Formen <strong>der</strong> Beratung, <strong>der</strong><br />

Erfassung <strong>und</strong> Anerkennung annehmen, die zum eigentlichen<br />

Ereignis <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft gehören.<br />

Gastfre<strong>und</strong>schaft umspielt die Schnittstelle zwischen Biopolitik<br />

<strong>und</strong> politischer Theologie, in Andeutung ihrer überlappenden<br />

Ursprünge <strong>und</strong> gemeinsamen Anliegen. Biopolitik<br />

steht insofern auf dem Spiel, als Gastfre<strong>und</strong>schaft einerseits<br />

<strong>der</strong> Segregation von Arbeit im oikos Geltung verschafft, aber<br />

an<strong>der</strong>erseits auch die Muster bereitstellt, nach denen Hausarbeit<br />

<strong>und</strong> Hausangestellte sich in <strong>und</strong> für provisorische Öffentlichkeiten<br />

manifestieren können. Ich rechne zur Biopolitik hier<br />

vor allem den konstitutiven Ausschluss des arbeitenden Lebens<br />

aus dem Bereich <strong>der</strong> eigentlichen Politik (Arendt mit Aristoteles);<br />

<strong>das</strong> Wie<strong>der</strong>erscheinen des Lebens als Objekt gouvernementaler<br />

Haushaltsführung ebenso wie als isoliertes, fixiertes<br />

<strong>und</strong> drangsaliertes Angriffsziel staatlicher Polizeigewalt (Arendt<br />

42 43


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

mit Foucault); <strong>und</strong> schließlich als <strong>der</strong> Versuch, auf diese beiden<br />

negativen biopolitischen Konstitutionen affirmativ zu<br />

reagieren, indem man alternative Handlungsformen in neuen,<br />

emanzipatorischen Ensembles bündelt (Arendt mit Agamben<br />

<strong>und</strong> Esposito). 22 Die Sprache <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft durchzieht<br />

<strong>das</strong> Völkerrecht, wo <strong>der</strong> Mangel einer übergreifenden souveränen<br />

Instanz jeden Staat als eine Art oikos erscheinen lässt, als<br />

eine Entität, die festlegen muss, ob Gäste, die in ihren Bezirk<br />

geraten, begrüßt, beherbergt, assimiliert o<strong>der</strong> hinausgeworfen<br />

werden. 23 Auf Makro- wie auf Mikroebenen des Handelns hat<br />

die Gastfre<strong>und</strong>schaft mit <strong>der</strong> beunruhigenden Insistenz von<br />

Lebensformen zu tun, die zwar als unpolitisch verstanden werden,<br />

gleichwohl aber eine politische Antwort erfor<strong>der</strong>n.<br />

Othello <strong>und</strong> The Merchant of Venice werden umgetrieben von<br />

Problemen <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong> Gastfreiheit, die sich auf<br />

den ineinan<strong>der</strong> geschachtelten Bühnen des Haushalts, des<br />

Staats <strong>und</strong> des Völkerrechts entfalten. Indem es sich auf engere<br />

Handlungsräume konzentriert, beschäftigt sich The Taming of<br />

the Shrew mit den Übergängen zwischen Viehzucht (animal<br />

husbandry), Haushaltsführung <strong>und</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft, die in<br />

ihrer Parallelführung durchaus <strong>das</strong> Potenzial haben, verschiedensten<br />

Handlungsformen Raum zu geben, die aber letztlich<br />

auf erschreckende Weise in <strong>der</strong> biopolitischen Form eines Ehefrauenumerziehungslagers<br />

zusammengeführt werden. 24 Timon<br />

of Athens beschäftigt sich mit <strong>der</strong> Verbindung <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

mit Einsperrung <strong>und</strong> Okkupation, während <strong>das</strong> Stück<br />

vom Festsaal <strong>der</strong> Stadt zum Feldlager am Meer fortschreitet;<br />

zugleich ist Timons Grab, in Form einer spiral jetty, die einmal<br />

22<br />

Siehe Julia Reinhard Lupton, Thinking with Shakespeare: Essays on Politics and Life,<br />

Chicago: University of Chicago Press 2011.<br />

23<br />

Zur Politik <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft siehe Jacques Derrida, Of Hospitality: Cultural<br />

Memory in the Present, Stanford: Stanford University Press 2000, <strong>und</strong> Tracy McNulty,<br />

The Hostess: Hospitality, Femininity, and the Expropriation of Identity, Minneapolis/London:<br />

University of Minnesota Press 2006.<br />

24<br />

Nichole E. Miller, „The Sexual Politics of Pain: Hannah Arendt Meets Shakespeare’s<br />

Shrew“, in: The Journal for Cultural and Religious Theory 7.2 (Sommer 2006), S. 18–32.<br />

täglich durch <strong>das</strong> „Relief <strong>der</strong> Gischt“ („embossèd froth“, 5.2.102)<br />

einer stürmischen Brandung bedeckt wird, ein Anti-Monument,<br />

<strong>das</strong> von einer Architektur flui<strong>der</strong> Topografien des Genießens<br />

träumt. 25<br />

Gastfre<strong>und</strong>schaft ist nicht nur biopolitisch, son<strong>der</strong>n auch<br />

politisch-theologisch. Das Motiv des Gastes als ein verkleideter<br />

Gott findet sich überall in <strong>der</strong> Weltliteratur – eine Phantasie,<br />

die den Reisenden in Zeitaltern, in denen es noch keine<br />

Hotels gab, in einen schützenden Schleier numinoser Ehrfurcht<br />

hüllte. Die Ambivalenz, die <strong>das</strong> Verhältnis zum Fremden<br />

kennzeichnet, ist sowohl politisch, weil die Anerkennung eines<br />

Gastes von <strong>der</strong> Kontingenz menschlicher Interaktion <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Pflege kommunaler Grenzen abhängt, als auch theologisch, insofern<br />

<strong>der</strong> Fremde droht, sich als unmenschlich <strong>und</strong> übermenschlich<br />

zu manifestieren, als Exponent von Bereichen,<br />

<strong>der</strong>en Fremdheit nicht nur aus <strong>der</strong> Differenz von Personen o<strong>der</strong><br />

Gruppen entspringt, son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong> von Lebensformen.<br />

Wenn Arendt schreibt, <strong>das</strong>s sich in signifikanten Sprechhandlungen<br />

<strong>der</strong> daimon eines Menschen manifestiert, bezieht sie die<br />

griechische Religion in ihre Diskussion <strong>der</strong> Politik ein; obwohl<br />

<strong>der</strong> daimon bei Arendt nur als Spracheffekt im Bereich menschlichen<br />

Handelns erscheint, hauste die Figur ursprünglich im<br />

unheimlichen Grenzbereich zwischen animalischen <strong>und</strong> psychischen<br />

Phänomenen. 26 Zu den Avataren des daimon gehören<br />

25<br />

William Shakespeare, Timon of Athens, hg. v. John Jowett, Oxford: Oxford University<br />

Press 2004. Zur Bestimmung von Architektur durch Überflutung, Erosion <strong>und</strong><br />

Klima siehe Ballantyne, Smith (Hg.), Architecture in the Space of Flows. Hugh Grady<br />

beschreibt Timons Grab als „a work of environmental art“ in: „Timon of Athens: The<br />

Dialectic of Usury, Nihilism, and Art“, in: Richard Dutton, Jean Howard (Hg.), A Companion<br />

to Shakespeare’s Works: The Tragedies, Malden, MA: Blackwell 2003, S. 449.<br />

26<br />

Der daimon wird geschil<strong>der</strong>t als Entität, die „den Menschen zwar sein Leben lang<br />

begleitet, ihm aber immer nur von hinten über die Schulter blickt <strong>und</strong> daher nur denen<br />

sichtbar wird, denen <strong>der</strong> Betreffende begegnet, niemals ihm selbst“. Arendt, Vita activa,<br />

S. 219–220. In ihrer Studie über <strong>das</strong> Selbst in <strong>der</strong> griechischen Tragödie verbindet Ruth<br />

Padel den daimon mit dem Tierleben: „Jedes Tier, zu je<strong>der</strong> Zeit, kann vom daimōn<br />

beseelt sein. Ein Gott kann in einem Tier im Holzschuppen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Küche manifest<br />

sein. Animalische Epiphanien waren ein normaler Bestandteil imaginierter o<strong>der</strong> gelebter<br />

Erfahrung“. Der daimon hilft, <strong>das</strong> aufzuschlüsseln, was Padel den „animalischen<br />

44 45


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

<strong>der</strong> Genius, die Seele, <strong>das</strong> Gewissen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Unbewusste; alles<br />

Namen für Versuche, unsere subjektive Spaltung zwischen<br />

dem übermenschlichen Verlangen nach etwas in uns, <strong>das</strong> uns<br />

transzendiert, <strong>und</strong> den menschlich-allzumenschlichen Szenen<br />

zu erfassen, in denen die Phantome dieses transzendenten Verlangens<br />

auftreten <strong>und</strong> abgehen. Indem sie am liturgischen <strong>und</strong><br />

landwirtschaftlichen Festkalen<strong>der</strong> partizipieren, amalgamieren<br />

Ereignisse <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft verschiedene Ingredienzen<br />

(Zeiten <strong>und</strong> Orte; Tiere <strong>und</strong> Gemüsesorten; Dinge, Götter<br />

<strong>und</strong> Personen) zu multimedialen Assemblagen, die sowohl die<br />

Differenz des Natürlichen <strong>und</strong> Übernatürlichen wie auch die<br />

von Natur <strong>und</strong> Kultur umspannen <strong>und</strong> durcheinan<strong>der</strong>bringen.<br />

27 In Zeiten <strong>der</strong> Säkularisierung ist Gastfre<strong>und</strong>schaft für<br />

viele von uns <strong>der</strong> wichtigste Zugang zu religiösen Symbolen<br />

o<strong>der</strong> Erzählungen. Zugleich können unsere Ängste <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

auch eine abergläubische o<strong>der</strong> primitive Form<br />

geben, so als ob ich Snacks in banger Erwartung des Besuchs<br />

einer Rotte nomadischer Menschenfresser o<strong>der</strong> vagab<strong>und</strong>ieren<strong>der</strong><br />

Trolle horten würde, nicht <strong>der</strong> Visite von Kollegen, Verwandten<br />

o<strong>der</strong> Teenagern aus <strong>der</strong> Nachbarschaft.<br />

Das Theater <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft ist ein Theater des Lebens,<br />

<strong>das</strong> ein Plateau für eine provisorische Öffentlichkeit errichtet,<br />

in <strong>der</strong> die Lebenskünste ihren Beitrag zur Versammlung <strong>und</strong><br />

Pflege einer gemeinsamen Welt ausstellen. Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

ist aber auch ein Theater <strong>der</strong> Theologie, insoweit die Ankunft des<br />

Gastes immer die Frage nach den Grenzen dieser gemeinsamen<br />

Welt an an<strong>der</strong>e Ökonomien <strong>und</strong> Sensibilitäten stellt, seien<br />

diese daimonisch, göttlich o<strong>der</strong> ökologisch. Ich denke nicht so<br />

sehr an die elementare ‚An<strong>der</strong>sheit des An<strong>der</strong>en‘, die hier in<br />

Code“ in <strong>der</strong> griechischen Tragödie nennt (Ruth Padel, In and Out of Mind: Greek Images<br />

of the Tragic Self, Princeton: Princeton University Press 1992, S.142, S. 148).<br />

27<br />

Ich entlehne <strong>das</strong> Wort Versammlung (assemblage) von Drew Daniel, „The Melancholic<br />

Assemblage“, unveröffentlichtes Manuskript, <strong>der</strong>zeit unter Begutachtung.<br />

Siehe auch Manuel DeLanda, A New Philosophy of Society: Assemblage Theory and Social<br />

Complexity, London: Continuum 2006.<br />

einem Levinas’schen o<strong>der</strong> Derrida’schen Gedankengang über<br />

die Ethik <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft thematisiert werden könnte,<br />

auch wenn solche Überlegungen hier alles an<strong>der</strong>e als irrelevant<br />

sind. Im <strong>und</strong> als Theater aber ist die Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

mehr als Pragmatik denn als Aporetik zu verstehen, als <strong>das</strong><br />

Bewältigen von Spannungen <strong>und</strong> <strong>das</strong> Ausnutzen von großen<br />

<strong>und</strong> kleinen Gelegenheiten. Das Drama als Medium befasst<br />

sich mit Möglichkeiten (dynamis), nicht mit Unmöglichkeiten.<br />

Das Dilemma ist <strong>der</strong> Stoff, aus dem <strong>das</strong> Drama gemacht ist:<br />

Wird <strong>der</strong> Hausherr den Gast willkommen heißen <strong>und</strong> seinen<br />

Haushalt einem Risiko aussetzen o<strong>der</strong> den Gast abweisen <strong>und</strong><br />

damit seinen Ruf als Gastgeber beschädigen? In einer solchen<br />

Szene ist <strong>der</strong> Gast nicht so sehr ein absolut An<strong>der</strong>er als vielmehr<br />

ein Typ mit einer Pistole, einem Groll o<strong>der</strong> einem Interesse<br />

an Mädchen. Da Dilemmata kontingente Handlungen<br />

hervorrufen, etablieren sie Gegebenheiten, die <strong>das</strong>, was möglich<br />

war, rückwirkend sichtbar machen, während sie neue<br />

Latenzen eröffnen. 28 Gastfre<strong>und</strong>schaft beherbergt diese Potenzialitäten;<br />

wir könnten sogar sagen, <strong>das</strong>s Gastfre<strong>und</strong>schaft <strong>das</strong><br />

Haus des Möglichen ist.<br />

Wenn wir uns davor hüten, den Fremden mit so etwas wie<br />

dem absolut An<strong>der</strong>en zu identifizieren, wie können wir dann<br />

die Besetzung <strong>der</strong> Grenze des Menschlichen durch den Gast<br />

verstehen – <strong>und</strong> somit seine politisch-theologische Bürde? Der<br />

Arbeitsaspekt <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft nähert die sakrale Qualität<br />

des Gastes seiner prekären Unterwerfung unter die Notwendigkeiten<br />

des Lebens an, für die <strong>der</strong> oikos zuständig ist. In seinem<br />

Versorgungsbedürfnis <strong>und</strong> seiner Verletzbarkeit durch die<br />

Launen des Hausherrn ist <strong>der</strong> Gast Repräsentant des kreatürlichen<br />

Lebens in seiner Zerbrechlichkeit <strong>und</strong> seinem Schrecken<br />

– was durch die Koinzidenz von Gastfre<strong>und</strong>schaft <strong>und</strong><br />

28<br />

Zur Latenz im Drama siehe Anselm Haverkamp, Shakespearean Genealogies of Power,<br />

Oxon: Routledge 2011.<br />

46 47


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Feiertag noch verstärkt wird. Die lebenstechnischen Versammlungen<br />

an Feiertagen reagieren mit Akten <strong>der</strong> Reparation, <strong>der</strong><br />

Versöhnung <strong>und</strong> Akkommodation auf den saisonalen Wechsel<br />

von Mangel <strong>und</strong> Überschuss. Der Gast betritt den oikos in dem<br />

kritischen Augenblick, in dem die Künste des Haushalts <strong>das</strong><br />

konstitutive menschliche Ausgesetztsein an größere Systeme<br />

(ökonomische, virale, ökologische, informationelle, kosmische)<br />

formulieren <strong>und</strong> zu bewältigen suchen, es dabei aber tendenziell<br />

eher verfälschen als korrigieren. Lear <strong>und</strong> Timon sind die<br />

Gesandten eines solchen Preisgegebenseins an die Um<strong>welt</strong>. Die<br />

Risiken, die diese Gast-Kreaturen mit sich bringen, konturieren,<br />

aber überschatten auch ihre Menschlichkeit: Sie produzieren<br />

einen Nimbus <strong>der</strong> Unsicherheit, <strong>der</strong> sie als Brennpunkt<br />

einer politisch-theologischen <strong>und</strong> biopolitischen Angst isoliert.<br />

Obwohl <strong>das</strong> Werk Shakespeares vor Szenen <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

nur so strotzt, ist wohl kein Stück so erhaben <strong>und</strong> herausfor<strong>der</strong>nd<br />

in <strong>der</strong> Inszenierung ihres Verrats wie Macbeth. Die<br />

Verletzung <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft in Macbeth trifft auch die<br />

Annäherung von Politik <strong>und</strong> Leben im Herzen jedes Bewirtungsprojekts.<br />

Den totemischen König im Schlaf zu ermorden,<br />

ermöglicht in <strong>der</strong> Folge, eine neue, administrative Biomacht zu<br />

etablieren, auf dem Grab von traditionellen Souveränitätslehren,<br />

<strong>der</strong>en spektrale Reste neue, schauerliche Formen des<br />

Lebensmanagements speisen. 29 In Macbeth findet sich auch<br />

eine <strong>der</strong> am häufigsten zitierten Iterationen des Welt<strong>theater</strong>motivs.<br />

Ich möchte meine bisherigen Überlegungen mit einer<br />

kurzen Lektüre dieses Abschnitts abschließen.<br />

29<br />

Zur Dynamik von traditioneller Souveränität <strong>und</strong> mo<strong>der</strong>ner Biomacht siehe Eric<br />

Santner, The Royal Remains, Chicago: University of Chicago Press 2011. In Macbeth werden<br />

diese neuen Formen nicht <strong>der</strong> unfruchtbaren Hauptfigur zugeschrieben, son<strong>der</strong>n<br />

dem technokratischen Macduff.<br />

2. „Out, out, brief candle“: Macbeths Haushaltsführung <strong>und</strong><br />

<strong>das</strong> theatrum m<strong>und</strong>i<br />

Nachdem Macbeth vom Tod seiner Frau erfahren hat (während<br />

er von den Rebellen <strong>und</strong> ihren englischen Verbündeten belagert<br />

wird), hält er seine wohl bekannteste Rede:<br />

SEYTON: The Queen, my lord, is dead.<br />

MACBETH: She should have died hereafter;<br />

There would have been time for such a word –<br />

Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow,<br />

Creeps in this petty pace from day to day,<br />

To the last syllable of recorded time;<br />

And all our yesterdays have lighted fools<br />

The way to dusty death. Out, out, brief candle,<br />

Life’s but a walking shadow, a poor player<br />

That struts and frets his hour upon the stage,<br />

And then is heard no more. It is a tale<br />

Told by an idiot, full of so<strong>und</strong> and fury<br />

Signifying nothing. (V.v.16–28) 30<br />

SEYTON: Die Kön’gin, Herr, ist tot.<br />

MACBETH: Sie hätte später sterben können; – es hätte<br />

Die Zeit sich für ein solches Wort gef<strong>und</strong>en. –<br />

Morgen, <strong>und</strong> morgen, <strong>und</strong> dann wie<strong>der</strong> morgen,<br />

Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,<br />

Zur letzten Silb’ auf unserm Lebensblatt;<br />

Und alle unsre Gestern führten Narr’n<br />

Den Pfad des stäub’gen Tods. – Aus! kleines Licht! –<br />

Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild;<br />

Ein armer Komödiant, <strong>der</strong> spreizt <strong>und</strong> knirscht<br />

30<br />

William Shakespeare, Macbeth, hg. v. Nicholas Brooke, Oxford: Oxford University<br />

Press 1990. Im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert.<br />

48 49


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Sein Stündchen auf <strong>der</strong> Bühn’, <strong>und</strong> dann nicht mehr<br />

Vernommen wird: ein Märchen ist’s, erzählt<br />

Von einem Dummkopf, voller Klang <strong>und</strong> Wut,<br />

Das nichts bedeutet. (V.v.17–30) 31<br />

War <strong>das</strong> mittelalterliche theatrum m<strong>und</strong>i durch einen göttlichen<br />

Zuschauer autorisiert, <strong>der</strong> zugleich Regisseur <strong>und</strong> Produzent<br />

<strong>der</strong> Aufführung war, gibt es für Macbeth keinen Schöpfer, <strong>der</strong><br />

auf die Szene blickt. Stattdessen entfaltet sich im ‚kleinen<br />

Schritt‘ des ‚tomorrow, and tomorrow, and tomorrow‘ die säkularisierte<br />

Zeit <strong>und</strong> bestätigt somit Kottmans Beschreibung des<br />

Shakespeare’schen Welt<strong>theater</strong>s als post-providentiell. Macbeths<br />

Kerze erfasst <strong>das</strong> menschliche Sein als <strong>das</strong>, was in den<br />

provisorischen Lichtungen, die durch die Präsenz an<strong>der</strong>er entstehen,<br />

erscheint <strong>und</strong> verschwindet: <strong>das</strong> unvollkommene<br />

Leuchten, zusammen mit den wandelnden Schatten, die es, flackernd,<br />

tanzend <strong>und</strong> erlöschend, auf die Wand <strong>der</strong> phänomenalen<br />

Erfahrung wirft, als Schein im doppelten Sinne. Die<br />

Kerze ist <strong>das</strong>, was wir sehen, aber auch <strong>das</strong> Mittel, durch <strong>das</strong> wir<br />

sehen, in diffusem <strong>und</strong> unzuverlässigem Licht. Es ist zuvor<strong>der</strong>st<br />

ein Bild <strong>der</strong> menschlichen Endlichkeit: Die Kerze wird bald,<br />

entwe<strong>der</strong> von alleine o<strong>der</strong> mit ein bisschen Hilfe, verlöschen –<br />

wie Othello sich in seiner brutalen Bühnenanweisung ausdrückt:<br />

„Put out the light, and then put out the light“ (V.ii.7). 32<br />

Hier <strong>und</strong> an an<strong>der</strong>er Stelle markiert Shakespeare <strong>das</strong> Motiv<br />

des theatrum m<strong>und</strong>i als ein Emblem, ja als eine phänomenologische<br />

Versuchsanordnung, ein Experimentierfeld, in dem die<br />

Dynamiken des Erscheinens untersucht werden. Wenn man<br />

aber von Phänomenologie in <strong>der</strong> Shakespeareforschung redet,<br />

stellt sich immer die Frage: Welche Phänomenologie? Im Gegen-<br />

31<br />

William Shakespeare, Macbeth, übers. v. Dorothea Tieck, in: Shakespeare, Dramatische<br />

Werke, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg 1957. Im Folgenden nach<br />

dieser Ausgabe zitiert.<br />

32<br />

William Shakespeare, Othello, hg. v. Michael Neill, Oxford: Oxford University Press<br />

2006.<br />

satz zur historischen Phänomenologie <strong>und</strong> ihren Partnerprogrammen,<br />

einschließlich <strong>der</strong> Kognitionsforschung <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Akteur-Netzwerk-Theorie, ist Kottman ganz Arendtianer in seiner<br />

Betonung <strong>der</strong> Kontingenz <strong>und</strong> Neuheit menschlichen Handelns<br />

sowie seinem Verzicht auf jedwede Zugeständnisse an<br />

die technokratischen Neigungen eines homo faber, ob er nun in<br />

<strong>der</strong> Form eines Schöpfergottes auftritt, in <strong>der</strong> eines Humanisten<br />

mit seinem self-fashioning o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> eines Theaterdirektors.<br />

33 In einer verwandten Arbeit unterzieht Bryan Lowrance<br />

Macbeth einer existenziellen Lektüre, um die Untersuchung<br />

mo<strong>der</strong>ner politischer Erfahrung, die <strong>das</strong> Stück vornimmt, von<br />

historistischen Verkrustungen zu befreien. Über den erwähnten<br />

Auszug schreibt Lowrance: „Shakespeare ruft <strong>das</strong> alte <strong>und</strong><br />

allgegenwärtige Bild des theatrum m<strong>und</strong>i auf, gibt ihm aber eine<br />

verblüffend <strong>theater</strong>feindliche Wendung, indem er <strong>der</strong> globalen<br />

Theatralität jeden positiven Inhalt nimmt <strong>und</strong> aus dem<br />

‚armen Komödianten‘ eine Figur des ephemeralen Status<br />

menschlicher Endlichkeit macht“. 34 Obwohl sie hinsichtlich<br />

<strong>der</strong> Natur <strong>und</strong> Reichweite des Handelns im Stück unterschiedlicher<br />

Auffassung sind, stimmen Kottman <strong>und</strong> Lowrance in<br />

ihrer Betonung <strong>der</strong> <strong>welt</strong>lichen Natur des Shakespeare’schen<br />

theatrum m<strong>und</strong>i <strong>und</strong> <strong>der</strong> kreativen Ironien, die <strong>der</strong> Artikulation<br />

des Motivs auf <strong>der</strong> Bühne entspringen, überein.<br />

Auch wenn Macbeths „brief candle“ primär als eine Metapher<br />

<strong>der</strong> Begrenztheit menschlichen Handelns erscheint, so ist<br />

33<br />

Ich vertiefe diese unterschiedlichen Konzeptionen <strong>der</strong> Phänomenologie <strong>und</strong> ihre<br />

Implikationen für die Shakespeareforschung in zwei Aufsätzen, die gerade im<br />

Erscheinen sind. Siehe zum einen „Shakespearean Softscapes: Hospitality, Phenomenology,<br />

Design“, <strong>der</strong> in dem Band The Return of Theory in Early Mo<strong>der</strong>n Studies,<br />

Volume II erscheinen wird, den Bryan Reynolds, Paul Cefalu <strong>und</strong> Gary Kuchar bei Palgrave<br />

Macmillan herausgeben. Zum an<strong>der</strong>en siehe „Macbeth’s Martlets: Shakespeare’s<br />

Phenomenologies of Hospitality“, <strong>der</strong> in einer Son<strong>der</strong>ausgabe von Criticism über<br />

Shakespeare <strong>und</strong> Phänomenologie erscheinen wird, die James Kearney <strong>und</strong> Kevin<br />

Curran herausgeben.<br />

34<br />

Bryan Lowrance, „‚Mo<strong>der</strong>n Ecstacy‘: Macbeth and the Meaning of the Political“,<br />

erscheint in English Literary History (ELH). Zitiert mit Genehmigung des Autors nach<br />

dem Typoskript.<br />

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Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

eine Kerze doch immer auch ein hergestelltes Ding, <strong>das</strong> tendenziell<br />

dazu dienen soll, eine Lichtung zu erhellen, welche<br />

weitere Akte <strong>der</strong> Versammlung ermöglicht (einschließlich<br />

Abendessen, Akkordarbeit, Konversation <strong>und</strong> Lesen). In Macbeth<br />

erscheint während <strong>der</strong> Szene <strong>der</strong> schlafwandelnden Lady<br />

Macbeth eine Kerze auf <strong>der</strong> Bühne („She has light by her continually,<br />

‘tis her command“ V.i.20–1). Am Vorabend <strong>der</strong> Ermordung<br />

Duncans bemerkt Banquo: „There’s husbandry in Heaven,/<br />

Their candles are all out“ (II.i.5–6). Diese sardonische<br />

Zeile beschwört die Macht <strong>der</strong> Vorsehung, die in Macbeths<br />

Rede im fünften Akt verschw<strong>und</strong>en sein wird, während<br />

zugleich nahegelegt wird, <strong>das</strong>s Gott sich bereits von <strong>der</strong> Szene<br />

menschlichen Handelns zurückgezogen hat. Banquos kompakte<br />

Metapher begreift göttliche Weisheit als eine <strong>der</strong> guten<br />

Haushaltsführung, welche <strong>das</strong> Feld politischer Praxis bei Arendt<br />

zwar supplementiert, gleichzeitig aber davon ausgeschlossen<br />

bleibt – <strong>und</strong> die als Biomacht in den neuen Formen <strong>der</strong><br />

Souveränität wie<strong>der</strong>kehrt, welche die Konsequenz von Macbeths<br />

„mur<strong>der</strong> of sleep“ sein werden. 35<br />

Es sind die folgenden Fragen, die zu stellen mir Banquos <strong>und</strong><br />

Macbeths Kerzen helfen: Können wir die Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen<br />

des ‚kleinen Lichts‘ auf eine Art lesen, welche nicht die<br />

Gefährdungen menschlicher Freiheit ignoriert, die sich in <strong>der</strong><br />

Hypertrophie des Haushalts verbergen, son<strong>der</strong>n Einsichten<br />

verspricht in <strong>das</strong> häusliche theatrum m<strong>und</strong>i nicht nur als<br />

Arbeitsstätte, son<strong>der</strong>n auch als Ort <strong>der</strong> Anerkennung <strong>und</strong> des<br />

Verrats? Wie unterstützt in Macbeth die häusliche Produktionssphäre<br />

Szenen subjektiver Gefährdungen <strong>und</strong> Selbst-Enthüllungen?<br />

Wie werden die Durchgänge zwischen verschiedenen<br />

Sphären durch die Gastfre<strong>und</strong>schaft geöffnet <strong>und</strong> verwaltet,<br />

aber auch anfällig für Übergriffe gehalten? An<strong>der</strong>s gefragt: In<br />

35<br />

Zur göttlichen, häuslichen <strong>und</strong> politischen oeconomia siehe Giorgio Agamben, Herrschaft<br />

<strong>und</strong> Herrlichkeit: Zur theologischen Genealogie von Ökonomie <strong>und</strong> Regierung, übers.<br />

v. Andreas Hiepko, Berlin: Suhrkamp 2010.<br />

welcher Hinsicht ist Gastfre<strong>und</strong>schaft eine Form praktischer<br />

Phänomenologie, die immer sowohl politisch als auch privat,<br />

sowohl existenziell als auch szenografisch ist? 36 Merleau-Ponty<br />

deutet die Phänomenologie als eine Form <strong>der</strong> Aufmerksamkeit,<br />

die ihrer philosophischen Formulierung vorausgeht; ich argumentiere,<br />

<strong>das</strong>s Gastfre<strong>und</strong>schaft zur Phänomenologie wird,<br />

wenn sie jene Lichtungen schafft, in denen <strong>das</strong> Bewusstsein<br />

„mit seinem eigenen unreflektierten Leben in den Dingen konfrontiert<br />

wird <strong>und</strong> zu seiner eigenen Geschichte erwacht“. 37<br />

Banquo verwendet husbandry als Synonym für Sparsamkeit<br />

(thrift). Der Titel des äußerst erfolgreichen Leitfadens von Gervase<br />

Markham – Cheap and Good Husbandry – von 1614 umreißt<br />

die zeitgenössischen monetären <strong>und</strong> ökonomisch-technischen<br />

Bedeutungen von husbandry. Ein ‚cheap and good husband‘ zu<br />

sein heißt, Techniken <strong>der</strong> Haltbarmachung zu praktizieren, die<br />

eine gründliche Kenntnis verschiedener Ökologien erfor<strong>der</strong>n.<br />

Husbandry Markham’scher Prägung durchdringt die episch weit<br />

gesteckten Perspektiven des Macbeth mit Referenzen auf die<br />

beengten Wohnräume <strong>und</strong> <strong>das</strong> lokalspezifische Wissen <strong>der</strong><br />

bäuerlichen Untertanen. 38 In seinem H<strong>und</strong>ekatalog (III.i.92–108)<br />

beurteilt Macbeth außerdem die angeheuerten Mör<strong>der</strong> mit<br />

dem geschulten Blick eines Züchters, <strong>der</strong> die Fähigkeiten <strong>der</strong><br />

Männer auf <strong>der</strong> Gr<strong>und</strong>lage eines Rassenverständnisses bewertet,<br />

<strong>das</strong> nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> taxonomischen Subsumption<br />

des menschlichen unter <strong>das</strong> tierische Leben biopolitisch<br />

ist. In <strong>der</strong> Frühen Neuzeit, in <strong>der</strong> die Begrenztheit von Ressourcen<br />

fragloser anerkannt wurde als heute, musste auch die<br />

36<br />

Maurice Merleau-Ponty über Phänomenologie als eine Praxis <strong>der</strong> Aufmerksamkeit,<br />

die <strong>der</strong> Philosophie vorgängig ist: „Die Phänomenologie war eine Bewegung,<br />

bevor sie zu einer Doktrin o<strong>der</strong> einem philosophischen System wurde.“ Ders., Phenomenology<br />

of Perception, übers. v. Colin Smith, London: Routledge 1962, S. xxiv.<br />

37<br />

Merleau-Ponty, Phenomenology of Perception, S. 36.<br />

38<br />

Der ecocriticism hat dieses Wissen in Macbeth bereits markiert: Siehe Richard Kerride,<br />

„An Ecocritic’s Macbeth“, in: Lynne Bruckner, Dan Brayton (Hg.), Ecocritical Shakespeare,<br />

Farnham, Surrey: Ashgate 2011, S. 193–210, sowie Gabriel Egan, Green Shakespeare:<br />

From Ecopolitics to Ecocriticism, London: Taylor and Francis 2006, S. 84–90.<br />

52 53


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Beleuchtung des Haushalts verwaltet werden, d.h. sowohl sparsam<br />

verwendet als auch durch kleine Kunstgriffe zur Verstärkung<br />

von Leuchtkraft maximiert werden. Zu diesen Kunstgriffen<br />

gehörten z.B. reflektierende Kerzenhalter aus Metall <strong>und</strong><br />

(in luxuriöserer Umgebung) mit Gold <strong>und</strong> Silber durchwirkte<br />

Tapeten. Die frugale Verwendung des Kerzenlichts schränkte<br />

aber keineswegs die Kultivierung phantastischer Effekte ein: In<br />

seinem populären Handbuch zur Haushaltsführung instruiert<br />

Hugh Plat die Hausfrauen „how to hang your candles in the air<br />

with candlewick“, eine Technik, die eine „strange shew to the<br />

behol<strong>der</strong>s that know not the conceite“ hervorruft. 39<br />

Die Manipulation von räumlichen Eindrücken ist eine<br />

Kunst, über die sowohl <strong>der</strong> Szenograf als auch <strong>der</strong> Gastgeber<br />

verfügen; beide wissen, <strong>das</strong>s Licht ein wichtiger Faktor in <strong>der</strong><br />

Gestaltung eines Raumerlebnisses ist. In mo<strong>der</strong>ner Bühnengestaltung<br />

wird Licht nicht lediglich dazu verwendet, die Szene<br />

zu beleuchten, son<strong>der</strong>n auch dazu, sie zu dynamisieren. 40 Im<br />

Theater <strong>der</strong> Shakespearezeit, in dem <strong>das</strong> Licht auch bei Aufführungen<br />

in geschlossenen Räumen nur begrenzt kontrolliert<br />

werden konnte, musste ein Großteil dieser Dynamik über die<br />

Sprache transportiert werden, die in ihrer Fähigkeit, atmosphärische<br />

Qualitäten des Lichts zu vermitteln, zuweilen phänomenologisch<br />

wirkt. Diese ekphrastischen Momente sind nicht so<br />

sehr dramatische Dichtung als vielmehr dramaturgische Dichtung,<br />

eine Formulierung, die ihren bühnentechnischen Erfor<strong>der</strong>nissen<br />

gerecht wird. 41<br />

Das Leben <strong>der</strong> Kerzen in den institutionalisierten ebenso<br />

wie in den informellen Renaissance<strong>theater</strong>n könnte, an<strong>der</strong>s<br />

39<br />

Hugh Plat, Delights for Ladies, London: R.W. 1654, „Cookerie and Huswifery“, Recipe 40.<br />

40<br />

Joslin McKinney, Philip Butterworth, The Cambridge Introduction to Scenography,<br />

Cambridge: Cambridge University Press 2009, S. 66.<br />

41<br />

Zur Verwendung von Kerzen bei Theaterveranstaltungen in Innenräumen, siehe<br />

Robert B. Graves, Lighting the Shakespearean Stage, 1567–1642, Cardondale: Southern<br />

Illinois University Press 1999. W.B. Worthen entwickelt die Idee des dramatischen<br />

Textes, <strong>der</strong> szenografischer Aktualisierungen bedarf in Drama Between Poetry and Performance,<br />

Chichester, West Sussex: Wiley-Blackwell 2010.<br />

ausgedrückt, die existenzielle Metapher vom Leben als Kerze<br />

<strong>und</strong> ihren Zusammenhang mit dem Motiv des theatrum m<strong>und</strong>i<br />

erhellen. Man läuft dann allerdings Gefahr, die evozierte Atmosphäre<br />

in Macbeth auf schlichte technische Effekte zurückzuführen,<br />

was zugleich bedeuten würde, <strong>das</strong> Stück <strong>der</strong> historistischen<br />

Schnitzeljagd nach kontextualisierenden Traktaten<br />

<strong>und</strong> Abhandlungen auszusetzen, dem übertriebenen Objektbedürfnis<br />

des cultural materialism <strong>und</strong> <strong>der</strong> Textverachtung <strong>der</strong><br />

Theaterwissenschaft – was die existenziellen <strong>und</strong> dramatischen<br />

Dimensionen des Stücks in den Hintergr<strong>und</strong> treten ließe.<br />

42 Es sind gerade die raumerschließenden, die Dinge umspielenden<br />

Qualitäten des Lichts, sein Auftreffen auf vielfältige<br />

Oberflächen <strong>und</strong> seine Mobilisierung ihrer reflektierenden<br />

Eigenschaften, die es zu einer angemessenen Metapher<br />

menschlichen Daseins macht. Eine phänomenologische Interpretation<br />

muss versuchen, diesen Charakter des Lichts mit seinen<br />

vielgestaltigen Implikationen nachzuvollziehen.<br />

Eine Möglichkeit, die Interpretation im dynamischen Fluss<br />

zu halten – sich also auf die augenblicklichen Manifestationen<br />

„wandeln<strong>der</strong> Schattenbil<strong>der</strong>“ einzustellen <strong>und</strong> nicht auf <strong>das</strong><br />

Schattenreich toter historischer Bezüge –, liegt darin, Haushaltsführung<br />

selbst als Lektion in Phänomenologie zu betrachten.<br />

Wie ich in Thinking with Shakespeare darlege, war Markham<br />

„für die Renaissance nicht nur ein Lieferant haushälterischer<br />

Ideologien, son<strong>der</strong>n auch ein Phänomenologe des<br />

Bauernhofs: ein ausgezeichneter Beobachter des Verhaltens<br />

von Tieren <strong>und</strong> Pflanzen, immer eifrig damit befasst, Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen in <strong>der</strong> Kunst zu unterweisen, auf eine Umgebung,<br />

42<br />

Bryan Lowrance bringt diese Investitionen auf den Punkt: „Macbeth is indeed the<br />

‚most topical‘ of Shakespeare’s tragedies, marbled with issues that were pressing in<br />

the historical moment when it was composed, from tyranny and treason to sovereignty<br />

and surveillance to the political complexities and implications of James’ accession.<br />

But Macbeth also sidelines its topical content […] we witness the erasure of a fictional<br />

world: its rapid constriction into the solipsistic self-obsessions of Macbeth himself.“<br />

Bryan Lowrance, „‚Mo<strong>der</strong>n Ecstacy‘: Macbeth and the Meaning of the Political“.<br />

54 55


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

die ihre Güte wie ihre Grausamkeit herausfor<strong>der</strong>te, angemessen<br />

<strong>und</strong> kompetent zu reagieren“. 43 Die Hausfrau <strong>der</strong> Renaissance,<br />

die nicht nur ihre eigenen Kerzen herstellt, son<strong>der</strong>n auch<br />

mit Beleuchtungstechniken experimentiert, hilft Räume für<br />

menschliche Auftritte zu schaffen, an denen sie möglicherweise<br />

selbst partizipieren kann. 44 Eine an<strong>der</strong>e Hannah, die<br />

Haushaltstheoretikerin Hannah Woolley (1622–1675), spricht<br />

daher von einer Vorführung (performing) ihrer Technik zur<br />

„Unterhaltung Ihrer Majestät sowie des Adels“ <strong>und</strong> bietet ihre<br />

Dienste all jenen an, „die sich an gepflegter <strong>und</strong> edler Unterhaltung<br />

erfreuen können“. 45 Auch wenn Woolley ihrerseits eine<br />

vollendete Meisterin <strong>der</strong> Sparsamkeit (thrift) war, betont sie<br />

doch theatrale <strong>und</strong> ästhetische Dimensionen <strong>der</strong> Haushaltskunst.<br />

Für den Hofkoch Robert May (1588–1644?) rechtfertigt<br />

die biblische Anweisung, <strong>das</strong> Licht nicht unter den Scheffel zu<br />

stellen, die Veröffentlichung seines Kochbuchs: Zu veröffentlichen<br />

heißt zu glänzen, in den Diskurs einzutreten, diesen aber<br />

auch zu formen. 46 Für Woolley, Markham <strong>und</strong> May umspannen<br />

die Künste von husbandry <strong>und</strong> housekeeping einen komplexen<br />

Tugenddiskurs, <strong>der</strong> auch pragmatisches Wissen von <strong>der</strong><br />

Tugend <strong>und</strong> <strong>der</strong> latenten Kraft <strong>der</strong> Objekte einschließt. Sie<br />

berücksichtigen auch die Sphäre <strong>der</strong> Öffentlichkeit, die<br />

43<br />

Julia Reinhard Lupton, „Animal Husbands in The Taming of the Shrew“, in: dies.,<br />

Thinking with Shakespeare, S. 27.<br />

44<br />

Thomas Tusser ermahnt Hausfrauen: „Wife, make thine own candle,/Spare penny<br />

to handle. Provide for thy tallow, ere frost cometh in,/ And make thine own candle,<br />

ere winter begin“. Thomas Tusser, Five H<strong>und</strong>red Points of Good Husbandry with a Book<br />

of Housewifery, hg. v. William Mavor, London: Lackington, Allen and Co. 1812, S. 264.<br />

Merry E. Wiesner zufolge war <strong>das</strong> Kerzenmachen eine rein weibliche Beschäftigung,<br />

was sich bis ins 14. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückverfolgen lässt. Den Talg für die Kerzen erhielten<br />

die Frauen von Metzgern o<strong>der</strong> oftmals auch durch <strong>das</strong> kommunale „Talgamt“ (tallow<br />

office). Merry E. Wiesner, Working Women in Renaissance Germany, Newark: Rutgers<br />

University Press, 1986, S. 124.<br />

45<br />

Hannah Woolley, The Ladies Directory, London: Peter Dring at the Sun 1662, Frontispiz<br />

<strong>und</strong> Epistel. Hannah Woolley bringe ich mit Hannah Arendt in meinem Aufsatz<br />

„Thinking with Things: Hannah Woolley to Hannah Arendt“ zusammen, <strong>der</strong> in<br />

Postmedieval erscheinen wird.<br />

46<br />

Robert May, The Accomplisht Cook, or the Art and Mystery of Cookery, London: Printed<br />

by R.W. for Nathan Brooke 1660, S.A.<br />

gestärkt, erprobt <strong>und</strong> erweitert wird durch die Verbreitung dieses<br />

häuslichen Wissens auf dem Weg des Buchdrucks. Zu betonen,<br />

wie Performanz Gastfre<strong>und</strong>schaft mit <strong>der</strong> Hauswirtschaft<br />

ebenso wie dem Theater verbindet, heißt freilich nicht, die polis<br />

auf den oikos zu reduzieren, son<strong>der</strong>n for<strong>der</strong>t uns vielmehr dazu<br />

auf, jene Momente <strong>und</strong> Räume im oikos zu finden <strong>und</strong> zu kultivieren,<br />

die sowohl für menschliche als auch für nichtmenschliche<br />

Akteure politische Potenziale bergen.<br />

Lady Macbeth ist die dunkle Gastgeberin <strong>und</strong> Anti-Kuratorin<br />

des Stückes; ihre außergewöhnliche Präsenz im Drama stattet<br />

die Räume, die Themen <strong>und</strong> sogar <strong>das</strong> Vokabular des Stücks<br />

mit einer unheimlichen Energie aus, die häuslich, aber auch<br />

grauenerregend ist. Sie ist außerdem eine geborene Schauspielerin<br />

– ob sie Duncan am Burgtor freudig begrüßt, während ihr<br />

Mann im Inneren lauert, o<strong>der</strong> ob sie die zeremonielle Ordnung<br />

des Festmahls hochhält, während Macbeth einen leeren Stuhl<br />

anbrüllt. Schließlich verliert sie sich mit ihrer phobischen<br />

Fackel in einem Theater <strong>der</strong> Halluzinationen <strong>und</strong> führt dort<br />

auf, was <strong>der</strong> Arzt „her walking and other performances“ (V.i.11–<br />

12) nennt. Lady Macbeth ist ein wandelndes Schattenbild, eine<br />

Figur <strong>der</strong> Phänomenalität; wenn Macbeth sagt: „Out, out, brief<br />

candle“, dann flackert ihr Leben in seinem Leben, um <strong>das</strong><br />

menschliche Leben im Allgemeinen zu reflektieren, während<br />

die Schatten, die vom Leben <strong>der</strong> Dinge geworfen werden, an<br />

den Grenzen ihres <strong>und</strong> unseres Bewusstseins zittern. Das theatrum<br />

m<strong>und</strong>i versammelt diese Analogien <strong>und</strong> Transformationen<br />

<strong>und</strong> stellt sie aus, es hebt den Scheffel von ihnen, so<strong>das</strong>s<br />

sie für uns leuchten können in <strong>der</strong> diffusen Reflexivität ihrer<br />

Praktiken <strong>und</strong> Referenzen.<br />

Wenn Macbeth die Zeit als bedeutungslos <strong>und</strong> unendlich<br />

leer erfährt – „Tomorrow, and tomorrow, and tomorrow“ –, wissen<br />

wir, <strong>das</strong>s er tatsächlich jenseits <strong>der</strong> Hoffnung auf Gnade<br />

o<strong>der</strong> auch nur auf eine ruhige Nacht ist. Wenn wir aufmerksam<br />

auf die biopolitische Zukunftsträchtigkeit des Stücks achten,<br />

56 57


Julia Reinhard Lupton<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

beginnen wir zu ahnen, <strong>das</strong>s die Herrschaft von Malcolm <strong>und</strong><br />

Macduff nicht die alten Bräuche restituieren, son<strong>der</strong>n vielmehr<br />

Gastfre<strong>und</strong>schaft als Hausarrest neu definieren <strong>und</strong> Leben als<br />

Freiheit von <strong>der</strong> Kreatürlichkeit umetikettieren wird. Macduff,<br />

„not of woman born“, ist <strong>der</strong> triumphale Technokrat des Stückes;<br />

er ist insofern ein schlechterer Ehemann als Macbeth, als<br />

er seine Frau, Kin<strong>der</strong> <strong>und</strong> Diener systematischer Gewalt aussetzt.<br />

Es ist kein Zufall, <strong>das</strong>s mo<strong>der</strong>ne Regisseure oft faschistische<br />

Szenerien zur Ausstattung dieses Stück wählen; Arendt<br />

diagnostiziert, <strong>das</strong>s ein Ursprung des Totalitarismus im Haushaltsstaat<br />

zu sehen sei 47 – Macbeth überdauert im Halbschatten<br />

dieser Vision. 48 Aber selbst in dieser entleerten Zeit leuchtet<br />

noch die „brief candle“, erhalten durch die Listen <strong>der</strong> Haushaltsführung<br />

<strong>und</strong> Bühnenkunst. Diesen Künsten ist die Hingabe<br />

an die Lichtung von Räumen für Aufführungen gemein,<br />

in denen Menschen <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e Kreaturen an einer flüchtigen<br />

Öffentlichkeit partizipieren können. Im theatrum m<strong>und</strong>i Shakespeares<br />

sind Tugenden immer virtuell: strahlende Kerzen kurzlebiger<br />

Bühnenaktivität, die sich durch die Versammlung von<br />

Zuschauern <strong>und</strong> Akteuren entzünden <strong>und</strong> die so leicht ausgelöscht<br />

werden durch Vernachlässigung <strong>und</strong> Missgunst, aber<br />

auch durch fehlgeleitete Sparsamkeit. Die frühneuzeitlichen<br />

Unterhaltungsindustrien haben zweifellos Staatspropaganda<br />

<strong>der</strong> grobschlächtigsten Sorte betrieben <strong>und</strong> dabei auch zur<br />

Implementierung <strong>und</strong> Verwaltung jenes Regimes von Klassen-,<br />

Gen<strong>der</strong>- <strong>und</strong> Gattungsdifferenzen beigetragen, <strong>das</strong> uns immer<br />

noch dominiert. Zugleich aber verbargen sich in ihren environments<br />

auch soziale, ökologische <strong>und</strong> kosmologische Schutzgebiete,<br />

die uns bei unserer Suche nach kreativeren Formen <strong>der</strong><br />

Haushaltsführung in einer neuen Epoche des Mangels inspirieren<br />

könnten. Diese Gebiete, die nicht von homogener, leerer,<br />

son<strong>der</strong>n von messianischer Zeit bestimmt sind, bergen vielleicht<br />

Potenziale einer neuen Form von Biopolitik, die zugleich<br />

eine neue Form politischer Theologie wäre – nicht dem göttlichen<br />

Demiurgen des mittelalterlichen theatrum m<strong>und</strong>i gewidmet,<br />

son<strong>der</strong>n den Möglichkeiten menschlicher Zusammenkunft,<br />

kreatürlicher Anerkennung <strong>und</strong> lokaler Instandsetzung,<br />

denen ein noch zu errichtendes theatrum m<strong>und</strong>i Raum geben<br />

wird. Food movements wie Slow Food, Locavores <strong>und</strong> DIY 49 übernehmen<br />

von <strong>der</strong> Religion die bequemen Zwänge eines Speisegesetzes<br />

ebenso wie den Hang zur Kongregation. 50 Solche Alternativbewegungen<br />

werden tendenziell die markenorientierte<br />

Erlebnisökonomie ablehnen, mit <strong>der</strong> Pine <strong>und</strong> Gilmore hausieren<br />

gehen, aber nicht die Erlebnisökonomie an sich, da diese<br />

Bewegungen zuvor<strong>der</strong>st heterogene <strong>und</strong> oftmals spektakuläre<br />

Konstellationen von Affekten, Objekten <strong>und</strong> Äußerungen kultivieren,<br />

die häusliche, agrarische, urbane <strong>und</strong> mediale Systeme<br />

in neuen Lebensentwürfen aneinan<strong>der</strong> koppeln. Vielleicht<br />

können die frühneuzeitlichen Künste <strong>der</strong> Gastfre<strong>und</strong>schaft<br />

<strong>und</strong> ihr Beitrag zu ökologischen Assemblagen,<br />

provisorischen Öffentlichkeiten <strong>und</strong> phantasmatischen<br />

Gedächtnis<strong>theater</strong>n uns etwas über die Tische beibringen, die<br />

heute von uns gedeckt werden – für morgen.<br />

Übersetzt von Susanne Bayerlipp <strong>und</strong> Björn Quiring<br />

47<br />

Vgl. z.B. Hannah Arendt, Elemente <strong>und</strong> Ursprünge totaler Herrschaft, München/<br />

Zürich: Piper 1993, S. 234–253.<br />

48<br />

Vgl. z.B. die Aufführung von Verdis Macbeth an <strong>der</strong> Deutschen Oper in Berlin, Sommer<br />

2011, wo Macbeth als ein italienischer Faschist dargestellt wurde, o<strong>der</strong> Richard<br />

Goolds Bühnen- <strong>und</strong> Filmproduktion (2008, 2009) mit Patrick Stewart als einem totalitären<br />

Macbeth.<br />

49<br />

Slow food: Auf traditionellen Herstellungsverfahren <strong>und</strong> <strong>der</strong> regionalen Küche<br />

basierendes, naturbelassenes Essen, <strong>das</strong> in Ruhe <strong>und</strong> mit Bedacht verzehrt wird. Locavore:<br />

Jemand, <strong>der</strong> ausschließlich lokal produziertes Essen verzehrt. DIY: Do-ityourself.<br />

[A.d.Ü.]<br />

50<br />

Vgl. Jack Bratich, „The Digital Touch: Craft-Work as Immaterial Labour and Ontological<br />

Accumulation“, in: Ephemera: Theory and Politics in Organization 10 (3/4), S. 303–318.<br />

58 59


PORTRÄTS DER HYDRA. DAS THEATER<br />

UND DIE VIELKÖPFIGE MENGE<br />

Andreas Höfele<br />

Ich fange mit dem Ende an.<br />

Jeremy Colliers Short View of the Profaneness and Immorality of<br />

the English Stage markiert <strong>das</strong> Ende einer Ära. Im Jahre 1698 veröffentlicht,<br />

läutet es für ein ganzes Genre komischer Dramendichtung<br />

die Totenglocken. Dessen Schwanengesang, Congreves<br />

Meisterstück The Way of the World, erfuhr nur zwei Jahre<br />

zuvor bei seiner Premiere einen eher frostigen Empfang, ein<br />

klares Zeichen dafür, <strong>das</strong>s die Zeit für diese Art theatralen<br />

Leichtsinns abgelaufen war. Colliers Short View <strong>und</strong> Congreves<br />

Way of the World markieren einen Wendepunkt in <strong>der</strong><br />

Geschichte des englischen Dramas um 1700: von <strong>der</strong> zotigen<br />

comedy of manners <strong>und</strong> ihrer Hobbes’schen Anthropologie <strong>der</strong><br />

Selbstsucht hin zur sentimentalen Komödie des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

<strong>und</strong> dem moralischen Empfinden eines Shaftesbury. Wie<br />

alle solche Abgrenzungen wird auch diese bei näherem Hinsehen<br />

porös, was aber hier nicht zur Debatte steht.<br />

Colliers Attacke unterscheidet sich von denen seiner Vorgänger<br />

<strong>und</strong> überbietet sie darin, <strong>das</strong>s sie die anti-theatrale Polemik<br />

vom Allgemeinen zum Spezifischen beför<strong>der</strong>t. Hatten frühere<br />

Kritiker „the devil’s synagogue“ mit Pauschalurteilen<br />

unter Beschuss genommen, so unterlegt Collier seine Attacken<br />

mit Beweismaterial aus den anstößigen Stücken. Er ist, mit<br />

an<strong>der</strong>en Worten, eine Art Literaturkritiker <strong>und</strong> dabei kein ganz<br />

schlechter, wie es Congreves <strong>und</strong> Vanbrughs ziemlich ungeschickte<br />

Argumente zu ihrer eigenen Verteidigung attestieren. 1<br />

1<br />

Michael Cordner, „Playwright versus Priest: Profanity and the Wit of Restoration<br />

Comedy“, in: Deborah Payne Fisk (Hg.), The Cambridge Companion to English Restoration<br />

Theatre, Cambridge: Cambridge University Press 2000, S. 209–225.<br />

61


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Was mich jedoch hier interessiert, ist nicht, was Collier dem<br />

antitheatralen Diskurs hinzufügt, son<strong>der</strong>n <strong>das</strong>, was in seiner<br />

Polemik fehlt: ein Sinn für <strong>das</strong> Publikum <strong>und</strong> dessen kollektive<br />

Handlungsmacht. Wie frühere puritanische Theaterhasser<br />

zitiert er die Kirchenväter St. Cyprian, St. Hieronymus, den<br />

unversöhnlichen Tertullian <strong>und</strong> Augustinus, den letzteren mit<br />

einem Passus, <strong>der</strong> die Theater als „those Cages of Uncleanness<br />

and publick Schools of Debauchery“ schmäht. 2 Was Collier<br />

jedoch nicht zitiert, ist ein Abschnitt, in dem Augustinus seine<br />

Anklagen mit einem warnenden Beispiel erhärtet. Im sechsten<br />

Buch <strong>der</strong> Bekenntnisse erfahren wir, wie Augustinus’ Fre<strong>und</strong> Alypius<br />

eines Tages, „[o]bwohl er gegen <strong>der</strong>lei schon Abneigung,<br />

ja Abscheu hatte“, von einigen Mitschülern überredet wurde,<br />

mit ihnen <strong>das</strong> Amphi<strong>theater</strong> zu besuchen. Er meinte dazu:<br />

‚Meinen Leib könnt ihr ja wohl da hinschleppen <strong>und</strong> dort<br />

plazieren, aber nicht meinen Geist <strong>und</strong> meine Augen an dieses<br />

Spiel fesseln; ich würde also da sein <strong>und</strong> doch nicht da<br />

sein <strong>und</strong> so Sieger bleiben über euch <strong>und</strong> über <strong>das</strong> Spiel.‘ Sie<br />

hörten’s wohl, aber sie nahmen ihn einfach mit, vielleicht,<br />

weil sie gar zu gern gewußt hätten, ob er <strong>das</strong> fertigbrächte.<br />

Als sie <strong>das</strong> Theater erreicht <strong>und</strong> sich einen Platz erobert hatten,<br />

fieberte schon alles in wil<strong>der</strong> Lust. Alypius schloß die<br />

Pforten seiner Augen <strong>und</strong> verbot seinem Geiste, sich an den<br />

sündhaften Greuel hinzugeben. Hätte er sich doch auch die<br />

Ohren verstopft! Denn als bei einem Zwischenfall im<br />

Kampfe <strong>das</strong> unbändige Geschrei <strong>der</strong> ganzen Menge auf ihn<br />

einbrauste, öffnete er die Augen, von <strong>der</strong> Neugier überwältigt,<br />

<strong>und</strong> als wäre er gerüstet, auch aus dem Anblick sich<br />

nichts zu machen, sei es was immer, <strong>und</strong> Herr über sich zu<br />

2<br />

„Jene Käfige <strong>der</strong> Unreinheit <strong>und</strong> öffentlichen Schulen <strong>der</strong> Ausschweifung“. Jeremy<br />

Collier, A Short View of the Profaneness and Immorality of the English Stage, etc. With the<br />

Several Defences of the Same. In Answer to Mr. Congreve, Dr. Drake, etc. [London 1730],<br />

Nachdr. Hildesheim: Georg Olms 1969, S. 180.<br />

bleiben. Da ward er an <strong>der</strong> Seele mit schwerer W<strong>und</strong>e<br />

geschlagen, als am Leib <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e, den er sehen wollte [...].<br />

Denn kaum sah er <strong>das</strong> Blut, trank er auch schon wilde Grausamkeit<br />

in sich hinein, <strong>und</strong> er sah nicht weg, son<strong>der</strong>n fest<br />

dahin <strong>und</strong> trank die wilde Wut <strong>und</strong> wußte es nicht <strong>und</strong> letzte<br />

sich an <strong>der</strong> Untat dieses Kampfes <strong>und</strong> berauschte sich in<br />

blutsüchtiger Wollust. Nein, er war nicht mehr <strong>der</strong>selbe, <strong>der</strong><br />

gekommen war, son<strong>der</strong>n einer aus dem Haufen, in den er<br />

sich gemischt hatte, <strong>und</strong> <strong>der</strong> echte Genosse <strong>der</strong>er, die ihn<br />

hergeschleppt hatten. Brauche ich mehr zu sagen? Er<br />

schaute, schrie, flammte, er nahm von dort den Wahnsinn<br />

mit, <strong>der</strong> ihn stachelte, immer wie<strong>der</strong> zu kommen, nicht mehr<br />

nur mit denen, die ihn vordem mitgezogen hatten, son<strong>der</strong>n<br />

ihnen voran, <strong>und</strong> an<strong>der</strong>e mit sich ziehend. 3<br />

Die spätrömischen spectacula, welche die theatrale Unterhaltung,<br />

<strong>das</strong> juridische Töten <strong>und</strong> den blutigen Kampf von Mensch<br />

<strong>und</strong> Tier in einem Programm zusammenbrachten, waren weit<br />

entfernt von <strong>der</strong> Zotenreißerei, die Collier so anstößig fand.<br />

Bemerkenswert ist also weniger, <strong>das</strong>s er keinen Gebrauch von<br />

dieser spezifischen Geschichte macht, son<strong>der</strong>n vielmehr, <strong>das</strong>s<br />

ein Schlüsselelement dieser Geschichte in <strong>der</strong> gesamten Polemik<br />

Colliers fehlt. Augustinus spricht von einem Mann, <strong>der</strong><br />

sich in einer Menge verliert, mit ihr verschmilzt <strong>und</strong> Teil ihres<br />

kollektiven Willens wird. Die Liquidierung (wörtlich: Verflüssigung)<br />

des Individuums wird passend als Einnahme von Flüssigkeit<br />

beschrieben. Nachdem er „wilde Grausamkeit in sich<br />

hineintrank“, nachdem er „die wilde Wut trank“, ist Alypius<br />

„nicht mehr <strong>der</strong>selbe, <strong>der</strong> gekommen war, son<strong>der</strong>n einer aus<br />

3<br />

Augustinus, Confessiones/Bekenntnisse. Lateinisch <strong>und</strong> Deutsch, eingel., übers. <strong>und</strong><br />

erläutert v. Joseph Narnhart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1984,<br />

S. 271–273. Die Geschichte hat jedoch einen glücklichen Ausgang, weil Gott interveniert:<br />

„Und selbst noch hieraus hast Du ihn mit Deiner Hand, stark <strong>und</strong> erbarmungsreich<br />

ohnegleichen, entrissen <strong>und</strong> ihn gelehrt, nicht auf sich, son<strong>der</strong>n auf Dich sein<br />

Vertrauen zu setzen. Aber <strong>das</strong> war viel später“ (ebd.).<br />

62 63


Andreas Höfele<br />

dem Haufen“. Indem er die kollektive Grausamkeit schluckt,<br />

wird er von ihr verschluckt. Die Integrität des Selbst, die bereits<br />

durch sein Versäumnis, sich die Ohren zu verstopfen, gefährdet<br />

wird, bricht vollends zusammen, als die Neugierde ihn verleitet,<br />

die Augen zu öffnen. Und kaum wird er in den Wahnsinn<br />

hereingezogen, zieht er auch schon an<strong>der</strong>e nach sich.<br />

Die Auffassung des Theaters als eines Massenereignisses, in<br />

dem <strong>das</strong> Publikum nicht eine Versammlung passiver rezeptiver<br />

Individuen, son<strong>der</strong>n, wie in Augustinus’ Bericht, eine gefährlich<br />

aktive Kollektivkraft ist – diese Auffassung fehlt gänzlich in<br />

Colliers Polemik. Für ihn ist <strong>das</strong> Theater ein Vehikel für die Verbreitung<br />

von Texten, ein literarisches Theater, ein Autoren<strong>theater</strong>,<br />

eine proto-bourgeoise Institution, wo Individuen Gefahr<br />

laufen, individuell korrumpiert zu werden, ab er kein Ort, an<br />

dem man wie Alypius in einer Menge auf- <strong>und</strong> untergeht, von<br />

einem kollektiven Wahnsinn infiziert. Dieses Theater, <strong>das</strong> Theater,<br />

<strong>das</strong> Collier attackiert, mag eine Gefahr für die öffentliche<br />

Moral sein, aber es ist keine Gefahr für die öffentliche Ordnung.<br />

Für den Großteil des 16. <strong>und</strong> den überwiegenden Teil des 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts ist diese potenzielle Gefährdung <strong>der</strong> öffentlichen<br />

Ordnung jedoch genau <strong>das</strong>, was mit Theater, sowohl als konkreter<br />

gesellschaftlicher Institution wie auch als Konzept o<strong>der</strong><br />

konzeptueller Metapher, unweigerlich assoziiert wird. Genau<br />

hier kommt <strong>das</strong> Bild <strong>der</strong> Hydra ins Spiel: In einer Kultur, die<br />

eine tiefe Abneigung gegen Pluralität hegte, die stets dem<br />

Einen vor den Vielen, <strong>der</strong> Uniformität vor <strong>der</strong> Diversität den<br />

Vorzug gab, liefert die Hydra ein unmittelbar sinnfälliges Bild<br />

ver<strong>der</strong>blicher Vielheit. Die Titelseite von Johannes Cochlaeus’<br />

lutherfeindlichem Pamphlet Septiceps Lutherus (1529) bietet ein<br />

anschauliches Beispiel für dieses tief sitzende Vorurteil gegenüber<br />

dem Pluralen. 4 (Abb. 2) Dem scheinbar harmlosen Mönchs-<br />

4<br />

Harry Oelke, Die Konfessionsbildung des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts im Spiegel illustrierter Flugblätter,<br />

Berlin/New York: de Gruyter 1992, S. 264.<br />

Abb. 2<br />

Hans Brosamer, Titelblatt des ‚Septiceps Lutherus‘<br />

von Johannes Cochlaeus, 1529<br />

64<br />

65


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

torso <strong>der</strong> Lutherischen Hydra entsprießen die Stadien <strong>der</strong> Ketzerkarriere<br />

vom ‚Doctor‘‘ zum mör<strong>der</strong>ischen Barabbas als aktualisierte<br />

Spielart <strong>der</strong> sieben Todsünden. „Im alten höchst<br />

christlichen Evangelium“, schreibt Cochlaeus, „gab es unter<br />

<strong>der</strong> Vielzahl <strong>der</strong> Gläubigen ein Herz <strong>und</strong> eine Seele; doch in<br />

diesem neuen Evangelium sind <strong>das</strong> eine Herz <strong>und</strong> Fleisch in<br />

viele Köpfe zerschnitten.“ 5<br />

In <strong>der</strong> politischen Ikonografie <strong>der</strong> Hydra ist die Zerschneidung<br />

in viele Köpfe eng assoziiert mit dem Abschneiden <strong>der</strong> vielen<br />

Köpfen des Monsters durch einen Neuen Herkules. In meiner<br />

zweiten Illustration ist dies Louis XIII. von Frankreich. 6 (Abb. 3)<br />

Der die Hydra tötende Herkules ist ein bevorzugtes Selbstbild<br />

des Herrschers <strong>der</strong> Frühen Neuzeit, <strong>das</strong> jedoch, wie es uns<br />

Shakespeare in seinem Gebrauch dieser Bildlichkeit zeigt, kein<br />

gänzlich unbelastetes ist. Herkules tötet die Hydra, aber die<br />

Hydra tötet auch Herkules. Er taucht seine Pfeile in ihr Gift <strong>und</strong><br />

stoppt mit solch einem Pfeil die Flucht des Zentauren Nessus<br />

nach dessen Vergewaltigungsversuch an Deianira, Herkules’<br />

Frau. Hinterhältig bis in den Tod, schwatzt <strong>der</strong> sterbende Nessus<br />

Deianira sein mit dem Gift <strong>der</strong> Hydra infiziertes Blut als<br />

unwi<strong>der</strong>stehliches Aphrodisiakum auf. So kommt es, <strong>das</strong>s <strong>der</strong><br />

gegen jede Gewalt gefeite Herkules <strong>der</strong> Tücke erliegt. Sein eigenes,<br />

von Deianira mit dem Blut des Zentauren getränktes<br />

Hemd tötet ihn. „The shirt of Nessus is upon me“, ruft Shakespeares<br />

herkulischer Held Antonius. 7<br />

5<br />

„Johannes Cochlaeus, S[epticeps] L[utherus]“ [Dresden 1529], zitiert in: Peter Newman<br />

Brooks (Hg.), Seven-Headed Luther: Essays in Commemoration of a Quincentenary,<br />

1483–1983, Oxford: Clarendon Press 1973, S. 196.<br />

6<br />

Siehe Françoise Bardon, Le portrait mythologique à la cour de France sous Henri IV et<br />

Louis XIII, Paris: Éditions A. et J. Picard 1974; Sabine Heym, Willibald Sauerlän<strong>der</strong>,<br />

Herkules besiegt die lernäische Hydra: Der Herkules-Teppich im Vortragssaal <strong>der</strong> Bayerischen<br />

Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften, München: Verlag <strong>der</strong> Bayerischen Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften<br />

2006.<br />

7<br />

„Des Nessus Hemd umschließt mich.“ William Shakespeare, Antony and Cleopatra,<br />

4.12.43. (Sämtliche Werke, Bd. 4, 4.10.58). Die englischsprachigen Zitate sind entnommen<br />

aus: William Shakespeare, The Complete Works, hg. v. Stanley Wells, Gary Taylor,<br />

Abb. 3<br />

Anonym, Titelblatt des ‚Historiarum Galliae ab excessu<br />

Henrici IV‘ von Gabriel Barthélemy de Gramond, 1643<br />

Noch eindringlicher beschwört ein an<strong>der</strong>es Römerdrama Herkules’<br />

Kampf mit <strong>der</strong> Hydra: The Tragedy of Coriolanus. Das<br />

Gewand <strong>der</strong> Demut, <strong>das</strong> Coriolanus tragen muss, wenn er als<br />

Konsul kandidiert, erzeugt bei ihm einen regelrechten Anfall<br />

von Abscheu. Auch er könnte ausrufen, <strong>das</strong>s ihm <strong>das</strong> Hemd<br />

des Nessus auf <strong>der</strong> Haut brennt. Sobald die verhasste Zeremonie<br />

vorbei ist, kann es ihm gar nicht schnell genug damit gehen,<br />

„this wolvish toge“ 8 loszuwerden, „[to] know […] [him]self<br />

Oxford: Clarendon Press 2005. Die deutschsprachigen Zitate entstammen, sofern<br />

nicht an<strong>der</strong>s gekennzeichnet, <strong>der</strong> Schlegel-Tieck-Gesamtausgabe von Shakespeares<br />

Werken aus dem Jahre 1843/44, William Shakespeare, Sämtliche Werke in vier Bänden,<br />

hg. v. Anselm Schlösser, Berlin: Aufbau-Verlag 1994.<br />

8<br />

„wölfische Toga“; William Shakespeare, Coriolanus. Coriolan: Englisch-deutsche Studienausgabe,<br />

übs., eingel. u. komm. v. Roland Lüthi, Tübingen: Stauffenberg 2001, 2.3.110.<br />

66 67


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

again“. 9 „May I change these garments?“ 10 fragt er mit einer<br />

Dringlichkeit, die an Hysterie grenzt. In <strong>der</strong> Folio-Ausgabe von<br />

1623, unserem einzigen Quellentext für <strong>das</strong> Stück, steht „Wooluish<br />

tongue“ statt „wolvish toge“. 11 Ein Fehler des Setzers, keine<br />

Frage, aber ein merkwürdig passen<strong>der</strong>: Zungen nämlich verursachen<br />

Coriolan einen geradezu phobischen Ekel. Erstmals tauchen<br />

sie auf, als die Bürger die anstehende Wahl diskutieren:<br />

THIRD CITIZEN: For if he show us his wo<strong>und</strong>s and tell us<br />

his deeds, we are to put tongues into those wo<strong>und</strong>s and speak<br />

for them [...]. (2.3.5–7)<br />

DRITTER BÜRGER: Denn wenn er uns seine W<strong>und</strong>en zeigt<br />

<strong>und</strong> seine Taten erzählt, so müssen wir unsre Zungen in<br />

diese W<strong>und</strong>en legen <strong>und</strong> für ihn sprechen […]. (2.3.6–8)<br />

Was dies für Coriolan so unerträglich macht, ist die Vorstellung<br />

von Zungen, die ihm buchstäblich-physisch in seine W<strong>und</strong>en<br />

eingeführt werden. Das Abstoßende besteht darin, <strong>das</strong>s er seinen<br />

Körper passiv dem zudringlichen „licking“ <strong>der</strong> „multitudionous<br />

tongue“ 12 aussetzen muss. In Shakespeares römischen<br />

Klassenkampf ist <strong>der</strong> M<strong>und</strong> <strong>das</strong> Zentralorgan des politischen<br />

Körpers. In einem Kampf um Nahrung <strong>und</strong> Stimmen taugt er<br />

so gut zum Bellen wie zum Beißen. Dass <strong>das</strong> vielköpfige „monster“<br />

als ein vielzüngiges gedacht wird, passt zu <strong>der</strong> aggressiven<br />

Oralität des Stücks. Eine bemerkenswerte Ironie liegt freilich<br />

darin, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Bild <strong>der</strong> Hydra vom „Monster“ selbst, nämlich<br />

den Bürgern, spielerisch eingeführt wird:<br />

9<br />

Ebd., 2.3.133.<br />

10<br />

Ebd., 2.3.132.<br />

11<br />

Die von Dorothea Tieck besorgte Übersetzung „mit Wolfsgeheul“ (Shakespeare,<br />

Sämtliche Werke, Bd. 4, 2.3.117) orientiert sich in diesem Sinne an <strong>der</strong> Folio-Ausgabe.<br />

[A.d.Ü.]<br />

12<br />

„– at once pluck out/The multitudinous tongue; let them not lick/The sweet which<br />

is their poison.“ (3.1.156–158) [„Mit eins reißt aus/Die vielgespaltene Zung’, laßt sie nicht<br />

lecken/Dies Süß, <strong>das</strong> ihnen Gift ist!“; Shakespeare, Sämtliche Werke, Bd. 4, 3.1.158–160.]<br />

THIRD CITIZEN: Ingratitude is monstrous, and for the multitude<br />

to be ingrateful were to make a monster of the multitude,<br />

of which we, being members, should bring ourselves<br />

to be monstrous members.<br />

FIRST CITIZEN: And to make us no better thought of, a little<br />

help will serve; for once we stood up about the corn, he<br />

himself stuck not to call us the many-headed multitude.<br />

THIRD CITIZEN: We have been called so of many […].<br />

(2.3.8–15)<br />

DRITTER BÜRGER: Undankbarkeit ist ungeheuer; wenn<br />

die Menge nun <strong>und</strong>ankbar wäre, <strong>das</strong> hieße, aus <strong>der</strong> Menge<br />

ein Ungeheuer machen; wir, die wir Glie<strong>der</strong> <strong>der</strong>selben sind,<br />

würden ja dadurch Ungeheuerglie<strong>der</strong> werden.<br />

ERSTER BÜRGER: Und es fehlt wenig, daß wir für nichts<br />

besser gehalten werden; denn dazumal, als wir wegen des<br />

Korns einen Aufstand machten, scheute er sich nicht, uns<br />

die vielköpfige Menge zu nennen.<br />

DRITTER BÜRGER: So hat uns schon mancher genannt.<br />

(2.3.10–18)<br />

Coriolanus wirft den „good but most unwise patricians“ vor,<br />

<strong>das</strong>s sie <strong>der</strong> „Hydra“ eine Bühne gegeben haben, auf <strong>der</strong> sie für<br />

sich sprechen könne, „[t]he horn and noise o’th’monster’s“. 13<br />

Doch die verachteten Bürger zeigen sich durchaus fähig, für<br />

sich selbst zu sprechen, <strong>und</strong> im Hantieren mit politischen<br />

Gemeinplätzen stehen sie dem wendigen Menenius in nichts<br />

nach. Solange die Bürger vom vielköpfigen Monster sprechen,<br />

können sie dieses Monster nicht selber sein. Was aber keineswegs<br />

bedeutet, <strong>das</strong>s sie nicht zu ihm werden könnten. Drei turbulente<br />

Streitszenen markieren die Eröffnung, den Wendepunkt<br />

<strong>und</strong> die letzte Etappe des Stücks (1.1; 3.3; 5.6). Alle drei<br />

13<br />

Shakespeare, Coriolanus. Coriolan, 3.1.94–96.<br />

68 69


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

sind Varianten <strong>der</strong>selben Gr<strong>und</strong>konfiguration: Ein starker Einzelner<br />

im Kampf gegen eine Menge, ein Rudel, eine Meute<br />

(„cry“ 14 ) nie<strong>der</strong>er Kreaturen, Herkules gegen die Hydra, ein vielköpfiges<br />

Ungeheuer, <strong>das</strong> mit einer einzigen Stimme spricht<br />

o<strong>der</strong> vielmehr schreit: „Tear him to pieces!“ 15<br />

Indem er <strong>das</strong> unauflösliche Dilemma eines Helden zeigt, <strong>der</strong><br />

zwar Inbegriff <strong>der</strong> Romanitas, als Bürger von Rom aber untragbar<br />

ist, spiegelt Coriolan auch die prekäre Stellung des Schauspielers<br />

in Shakespeares ‚hölzernem O‘, <strong>das</strong> Meredith Anne<br />

Skura treffend beschreibt als „<strong>der</strong> Zauberkreis, in dem ein Publikum<br />

den Schauspieler wie in einem Schrein verwahrt o<strong>der</strong><br />

einfängt“. 16 Und in einer weiteren Parallele spiegelt seine problematische<br />

Glorie die privilegierte Sichtbarkeit des Monarchen<br />

selbst.<br />

Wenn die ganze Welt eine Bühne <strong>und</strong> alle Männer <strong>und</strong><br />

Frauen nichts als Schauspieler sind (As You Like It), dann trifft<br />

dies erst recht <strong>und</strong> in beson<strong>der</strong>em Maße auf Könige zu: „It is a<br />

trew old saying“, schreibt James I. in Basilikon Doron, „that a King<br />

is as one set on a stage, whose smallest actions and gestures, all<br />

the people gazingly doe behold“. 17 Der Gedanke ist ein Gemeinplatz,<br />

doch was ihm eine beson<strong>der</strong>e Schärfe verleiht, ist eine<br />

kleine, oft kommentierte Korrektur: Dort, wo wir in <strong>der</strong> zweiten<br />

<strong>und</strong> allen folgenden Ausgaben „Bühne“ lesen, stand in <strong>der</strong> Erstausgabe<br />

von 1599 „Schafott“: „That a King is as one set on a skaffold,<br />

whose smallest actions and gestures, all the people gazingly<br />

doe behold“. 18 Dass ein ominös juridischer Begriff durch<br />

14<br />

„[H<strong>und</strong>e]pack“; Shakespeare, Sämtliche Werke, Bd. 4, 3.3.119.<br />

15<br />

Shakespeare, Coriolanus. Coriolan, 5.6.123.<br />

16<br />

Meredith Anne Skura, Shakespeare the Actor and the Purpose of Playing, Chicago/London:<br />

University of Chicago Press 1993, S. 8.<br />

17<br />

James I., The Political Works of James I, hg. <strong>und</strong> eingef. v. Charles Howard McIlwain,<br />

Cambridge: Harvard University Press 1918, S. 43 [„Dass ein König auf eine Bühne<br />

gestellt ist, so<strong>das</strong>s seine allergeringsten Handlungen <strong>und</strong> Gebärden unnachgiebig<br />

vom ganzen Volk angeblickt werden.“].<br />

18<br />

James I., Basilikon Doron [Edinburgh 1599], Nachdr. London: Wertheimer, Lea, and<br />

Co. 1887.<br />

einen harmlosen aus dem Bereich des Theaters ersetzt wurde,<br />

lässt auf ein gewisses Unbehagen schließen. 19 Für einen Herrscher,<br />

dessen Macht sich, wie Stephen Greenblatt es formuliert,<br />

„in <strong>der</strong> theatralischen Zelebrierung <strong>der</strong> königlichen Herrlichkeit“<br />

<strong>und</strong> in „<strong>der</strong> theatralischen Gewalt, die auf die Feinde dieser<br />

Gewalt nie<strong>der</strong>ging“ manifestiert, 20 legt <strong>das</strong> ambige „scaffold“<br />

nahe, <strong>das</strong>s die ‚theatralische Gewalt‘ sich womöglich gegen den<br />

königlichen Star höchstselbst kehren könnte.<br />

König James’ im Hinblick auf seinen Sohn Charles, den<br />

„royal actor“ 21 <strong>der</strong> Todesszene von 1649, ungewollt prophetische<br />

Wortwahl „scaffold“ – <strong>und</strong> <strong>der</strong>en Korrektur – könnte von <strong>der</strong><br />

unangenehmen Erinnerung an <strong>das</strong> Schafott bestimmt sein, auf<br />

dem, gut sechzehn Jahre früher, Maria Stuart, seine Mutter, ihr<br />

Leben gelassen hatte. Auch dieses im Februar 1587 in <strong>der</strong> zugigen<br />

Great Hall <strong>der</strong> Festung Fotheringhay errichtete Gerüst war<br />

beides: Bühne <strong>und</strong> Schafott. „I think they are making a scaffold<br />

19<br />

Nach Stephen Orgel erfasst die Än<strong>der</strong>ung „the danger James must have felt to be<br />

inherent in the royal drama“. Stephen Orgel, „Making Greatness Familiar“, in: Genre<br />

15 (1982), S. 45.<br />

20<br />

Stephen Greenblatt, „Unsichtbare Kugeln“, in: <strong>der</strong>s., Verhandlungen mit Shakespeare:<br />

Innenansichten <strong>der</strong> englischen Renaissance, übers. Robin Cackett, Frankfurt a.M.: Fischer<br />

1993, S. 87. Vgl. auch Stephen Greenblatt, „Invisible Bullets“, in: <strong>der</strong>s., Shakespearean<br />

Negotiations, Oxford: Clarendon 1988, S. 64. Greenblatts Beobachtungen beziehen sich<br />

auf Elizabeth I., aber sie lassen sich auch auf ihren Nachfolger anwenden.<br />

21<br />

Die Wendung stammt aus Marvells „Horatian Ode“, die Charles’ Hinrichtung mit<br />

den Worten beschreibt:<br />

That thence the royal actor borne<br />

The tragic scaffold might adorn:<br />

While ro<strong>und</strong> the armèd bands<br />

Did clap their bloody hands.<br />

He nothing common did or mean<br />

Upon that memorable scene,<br />

But with his keener eye<br />

The axe’s edge did try;<br />

Nor call’d the gods, with vulgar spite,<br />

To vindicate his helpless right;<br />

But bow’d his comely head<br />

Down, as upon a bed.<br />

Andrew Marvell, „An Horatian Ode upon Cromwell’s Return from Ireland“, in: <strong>der</strong>s.,<br />

The Poems, hg. v. Nigel Smith, Pearson/Longman: Harlow 2009, S. 276.<br />

70 71


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

to make me play the last scene of the Tragedy“, 22 schrieb Maria<br />

Stuart, als sie <strong>das</strong> Hämmern <strong>der</strong> Zimmerleute hörte. Vier<br />

Monate lang konnte sich Elisabeth nicht dazu durchringen,<br />

den Todesbefehl zu geben, <strong>und</strong> rechtfertigte ihr Zögern mit<br />

demselben Gemeinplatz wie James: „We princes are set as it<br />

were upon stages, in the sight and view of all the world.“ 23<br />

Die Furcht, die in Basilikon Doron nie ganz verstummt, ist<br />

dem spektakulären Königtum selbst eingewoben. James<br />

besteht auf seiner absoluten Souveränität; nur Gott schuldet er<br />

Rechenschaft, als Sein Stellvertreter agiert er auf den Brettern<br />

des theatrum m<strong>und</strong>i. Und an Gottes singulär privilegierte<br />

Zuschauerschaft ist sein Agieren letzten Endes gerichtet. Letzten<br />

Endes, aber keineswegs ausschließlich, wie es die biblische<br />

Eröffnung seiner Leseranrede klar macht: „[...] there is nothing<br />

so covered, that shal not be revealed, neither so hidde, that shal not<br />

be knowen: and whatsoeuer they haue spoken in darknesse, should<br />

be heard in the light: and that which they had spoken in the eare in<br />

secret place, should be publikely preached on the tops of the houses.“ 24<br />

Der Passus (Lukas 12.2–3) dient James dazu, seine ehrlichen<br />

Absichten zu bek<strong>und</strong>en: In dem, was folgt, wird <strong>der</strong> Leser die<br />

Ansichten des Königs unverstellt ausgedrückt finden. Daneben<br />

erklärt er aber auch, wie es zur Veröffentlichung des Buches<br />

überhaupt kommen konnte – die dem Wunsch des Autors keineswegs<br />

entspricht, ihm vielmehr unangenehm zu sein scheint.<br />

Eigentlich nur dazu bestimmt, „an geheimem Ort gesprochen<br />

zu werden“, wird James’ väterlicher Rat an seinen Sohn Henry<br />

nun „öffentlich verkündigt“. Nicht weil <strong>der</strong> König es so geplant<br />

hätte, son<strong>der</strong>n weil bereits „false copies“ im Umlauf sind, „this<br />

Booke is now vented, and set forth to the publike view of the<br />

world, and consequently subject to every mans censure [...].“ 25<br />

Der lesenden Öffentlichkeit wächst somit, genau wie dem Publikum<br />

<strong>der</strong> öffentlichen Schauspielhäuser, die Macht zu, die<br />

‚stolze Majestät‘ zum subject – zum Subjekt im Sinne von ‚Sujet‘<br />

wie auch im Sinne von ‚Untertan‘ – zu machen.<br />

Das Zitat aus dem Lukasevangelium präsentiert Gott als den<br />

großen Enthüller menschlicher Geheimnisse. James bestätigt<br />

dies, indem er auf „that all-seeing eye [...] piercing through the<br />

bowels of very darknesse it selfe“ verweist. 26 Sobald sich <strong>der</strong><br />

königliche Autor aber von <strong>der</strong> allgemeinen conditio humana<br />

dem beson<strong>der</strong>en Status <strong>der</strong> erhöhten Sichtbarkeit eines Königs<br />

zuwendet, ist es nicht mehr <strong>das</strong> Auge Gottes, <strong>das</strong> ihm Sorgen<br />

bereitet, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> argusäugige Blick <strong>der</strong> Menge. Und mit<br />

diesem Perspektivwechsel wird auch <strong>das</strong> Agens <strong>der</strong> Enthüllung<br />

neu verortet. Das göttliche Vorrecht, öffentlich zu machen, wird<br />

<strong>der</strong> Öffentlichkeit selbst zugemessen, <strong>der</strong> unwi<strong>der</strong>stehlichen<br />

Wissbegierde des Volkes: „So as this their great concurrence in<br />

curiositie [...] hath enforced the un-timous divulging of this<br />

Booke, farre contrarie to my intention.“ 27<br />

Folglich lenkt die Passage, die mit <strong>der</strong> Idee einer alles sehenden<br />

<strong>und</strong> alles hörenden Gottheit beginnt, die Aufmerksamkeit<br />

alsbald auf ein menschliches Publikum. Gott kann im Privaten<br />

sehen, was geschieht, aber die Verbindung zwischen König <strong>und</strong><br />

Schauspieler besteht darin, <strong>das</strong>s beide einem ganz <strong>und</strong> gar<br />

öffentlichen Blick ausgesetzt sind: „for Kings being publike persons,<br />

by reason of their office and authority, are as it were set<br />

[...] upon a publike stage, in the sight of all the people; where<br />

all the behol<strong>der</strong>s eyes are attentively bent to looke and pry in<br />

22<br />

Antonia Fraser, Mary Queen of Scots, London: Weidenfeld & Nicolson 1975, S. 521.<br />

„Ich glaube, sie bauen ein Gerüst, um mich den Schlussakt <strong>der</strong> Tragödie spielen zu<br />

lassen.“<br />

23<br />

Ebd., S. 518. „Wir Prinzen sind sozusagen auf Bühnen gestellt, vor dem Blick <strong>und</strong><br />

den Augen <strong>der</strong> ganzen Welt.“<br />

24<br />

King James I., Basilikon Doron, S. 202 [Hervorhebung im Original].<br />

25<br />

Ebd., 203. „dies Buch ist nunmehr herausgegeben <strong>und</strong> dem öffentlichen Blick <strong>der</strong><br />

Welt dargetan <strong>und</strong> folglich Gegenstand des Urteils eines jeden Menschen.“<br />

26<br />

Ebd., 202. „jenem allsehenden Auge, welches durch <strong>das</strong> tiefste Innere <strong>der</strong> Dunkelheit<br />

selbst dringt.“<br />

27<br />

Ebd., S. 207. „Dass also dies ihr großes Zusammenwirken in <strong>der</strong> Neugierde [...] die<br />

unzeitige Enthüllung dieses Buches, ganz entgegen meiner Absicht, erzwungen hat.“<br />

72 73


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

the least circumstance of their secretest drift [...].“. 28 Indem<br />

James den Souverän vom kosmischen Theater <strong>der</strong> Welt ins<br />

öffentliche Theater in <strong>der</strong> Welt versetzt, unterwirft er seine Performance<br />

dem Urteil eben <strong>der</strong>er, denen sein strikter Absolutismus<br />

– in Basilikon Doron <strong>und</strong> The Trew Law of Free Monarchies<br />

mit beson<strong>der</strong>em Nachdruck vertreten – diese Macht ausdrücklich<br />

verweigert. „[E]ver to walke as in the eyes of the Almightie,<br />

examining ever so the secretest of my drifts, before I gave them<br />

course“ 29 – dies bedeutet, wie James weiß, immer darauf gefasst<br />

sein zu müssen, <strong>das</strong>s diese geheimen Ratschlüsse „might someday<br />

bide the touchstone of a publike triall“, 30 mit dem Ergebnis,<br />

<strong>das</strong>s die Bühne zu einem Schafott werden könnte. Tatsächlich<br />

sollte es genau dazu ja auch kommen – wenngleich nicht<br />

mehr zu James’ Lebzeiten.<br />

Stets spürbar bleibt in Basilikon Doron <strong>das</strong> Unbehagen über<br />

die Verw<strong>und</strong>barkeit des Regenten durch die Notwendigkeit<br />

öffentlicher Repräsentation: Sichtbarkeit ist ein unabdingbarer<br />

Bestandteil des frühneuzeitlichen Königtums, <strong>das</strong> durch die<br />

Zustimmung eines Publikums – des Hofes, des Volkes, <strong>der</strong> Welt<br />

im Allgemeinen – affirmiert werden muss. Aber die Reaktion<br />

eines Publikums kann nie mit Sicherheit vorhergesagt werden.<br />

Wie <strong>das</strong> Spektakel <strong>der</strong> Majestät von <strong>der</strong> „Hydra of diversly-enclined<br />

spectatours“ 31 aufgenommen wird, entzieht sich letztlich<br />

<strong>der</strong> Kontrolle <strong>der</strong> Exekutive, selbst wenn diese ihre schärfste<br />

Waffe einsetzt: die Exekution. Es ist zwecklos, die Hydra zu köp-<br />

28<br />

Ebd., S. 202. „Da die Könige ihres Amts <strong>und</strong> ihres Ansehens halber öffentliche Personen<br />

sind, ist es, als seien sie auf eine öffentliche Bühne gestellt, im Blick des ganzen<br />

Volks, wo die Augen aller Betrachter voller Aufmerksamkeit darauf erpicht sind, zu<br />

schauen <strong>und</strong> die allergeringsten Umstände ihrer geheimsten Neigungen auszuspähen.“<br />

29<br />

Ebd. „Immer als wie vor den Augen des Allmächtigen zu wan<strong>der</strong>n, <strong>und</strong> immer meine<br />

allerheimlichsten Absichten zu untersuchen, noch ehe ich sie ins Werk gesetzt habe.“<br />

30<br />

Ebd. „eines Tages dem Prüfstein eines öffentliche Prozesses standhalten mögen.“<br />

31<br />

Ebd., S. 208. „Hydra <strong>der</strong> verschiedentlich geneigten Zuschauer.“<br />

fen. Dem Monster werden immer neue Köpfe wachsen,<br />

„diversly-enclined“. 32<br />

Der Auftritt von Maria Stuart <strong>und</strong> James I. auf <strong>der</strong> Bühne<br />

(bzw. dem Schafott) <strong>der</strong> Welt beruft sich auf göttliches Vorbild,<br />

wobei James sein Königtum als einen Spiegel <strong>der</strong> „Divine Maiestie“<br />

begreift, 33 während seine Mutter ihren Leidensweg als<br />

imitatio Christi eines katholischen Martyriums gestaltet. Das bei<br />

beiden sehr ausgeprägte Bewusstsein, dem Blick <strong>der</strong> zuschauenden<br />

Menge ausgesetzt zu sein, ist mit diesen Modellen unlösbar<br />

verknüpft.<br />

Das Leben Christi, beson<strong>der</strong>s die Passion, war für die Kunst des<br />

Mittelalters <strong>und</strong> <strong>der</strong> Renaissance <strong>der</strong> häufigste Anlass, Massenszenen<br />

darzustellen. 34 Zahllose Gemälde wie<strong>der</strong>holen <strong>das</strong><br />

Schauspiel <strong>der</strong> Hinrichtung Christi nicht als Ereignis einer fernen<br />

Vergangenheit, son<strong>der</strong>n in einer Welt, die sich vertraut <strong>und</strong><br />

unverkennbar gegenwärtig gibt. Dieser ‚Präsentismus‘ prägt die<br />

Umgebung <strong>der</strong> Passion, ihren materiellen ‚Sitz im Leben‘, <strong>und</strong><br />

dies nirgends offenk<strong>und</strong>iger als bei den Figuren, die sich entlang<br />

des Kreuzwegs drängen. 35 Pieter Bruegels Kreuztragung<br />

32<br />

James’ Sorge über den Ungehorsam <strong>der</strong> Massen war nicht unbegründet: Wie<strong>der</strong><br />

<strong>und</strong> wie<strong>der</strong> sind die Zuschauer von Straf-Spektakeln außer Kontrolle geraten. Thomas<br />

W. Laqueur, „Crowds, Carnival and the State in English Executions, 1604–1868“,<br />

in: A.L. Beier, David Cannadine, James Rosenheim (Hg.), The First Mo<strong>der</strong>n Society:<br />

Essays in English History in Honour of Lawrence Stone, Cambridge: Cambridge University<br />

Press 1989, S. 305–355; V.A. Gatrell, The Hanging Tree: Execution and the English<br />

People 1770–1868, Oxford: Oxford University Press 1994, drittes Kapitel.<br />

33<br />

James I., The Political Works of James I, S. 12.<br />

34<br />

Damit soll selbstredend nicht <strong>der</strong> Anspruch erhoben werden, <strong>das</strong>s Kunstwerke als<br />

unmittelbare Dokumente <strong>der</strong> soziokulturellen Umgebung, in <strong>der</strong> sie produziert worden<br />

sind, aufzufassen wären. Was mich in <strong>der</strong> folgenden Diskussion von Bruegels<br />

Gemälde interessiert, ist nicht die Tatsächlichkeit <strong>der</strong> flämischen Massen im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Blick des Künstlers dafür, was eine Masse ist <strong>und</strong> wie sie sich<br />

verhält.<br />

35<br />

Es gibt eine offenk<strong>und</strong>ige Parallele zwischen <strong>der</strong> Darstellung von Mengen in mittelalterlichen<br />

Bil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Passion Christi (wie etwa Hans Memlings Szenen <strong>der</strong> Passion<br />

Christi, Turin) <strong>und</strong> dem Publikum <strong>der</strong> Mysterienspiele in England <strong>und</strong> Kontinentaleuropa.<br />

Wie es die textuellen Beweisstücke nahelegen, wurden die die Stücke betrachtenden<br />

Zuschauer häufig in die Handlung einbezogen, beispielsweise als „the people<br />

of Jerusalem“.<br />

74 75


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Abb. 4<br />

Pieter Bruegel, Kreuztragung Christi, 1564<br />

Christi (1564) 36 ist ein exemplarischer Fall. (Abb. 4) Auf den ersten<br />

Blick läuft <strong>das</strong> titelgebende Thema Gefahr, im Gewimmel<br />

<strong>der</strong> mehr als dreih<strong>und</strong>ert Figuren unterzugehen, die sich auf<br />

<strong>der</strong> Leinwand tummeln. Der unter <strong>der</strong> Last des Kreuzes zusammenbrechende<br />

Christus ist genau im Zentrum des Bildes platziert,<br />

aber dieses Zentrum hat kein Gewicht. Es ist in dem ruhelosen<br />

Gewühl fast unsichtbar. Die ikonologische Regel, nach<br />

<strong>der</strong> <strong>der</strong> zentrale Gegenstand eines Bildes in den Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong><br />

zu treten habe, ist offenk<strong>und</strong>ig suspendiert. Gleichsam als Ruine<br />

dieser Regel ragt die um Maria versammelte Gruppe <strong>der</strong> Trauernden<br />

rechts im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> ins Bild herein, seltsam deplatziert,<br />

wie auf einer Glasscheibe flächig vor <strong>das</strong> Geschehen<br />

gerückt. Falls <strong>das</strong> Gewühl auf <strong>der</strong> Leinwand irgendeine Einheit<br />

36<br />

Wien, Kunsthistorisches Museum.<br />

Abb. 5<br />

Pieter Bruegel, Kreuztragung Christi (Detail), 1564<br />

hat, dann ist es die Einheit <strong>der</strong> Bewegung. 37 Die Figuren bewegen<br />

sich vom linken Hintergr<strong>und</strong> kommend in einem breiten<br />

Bogen durch die Mitte <strong>und</strong> voran zur rechten oberen Ecke des<br />

Bilds. Ihr Ziel kann kaum ausgemacht werden: Es ist ein Kreis,<br />

<strong>der</strong> von einer Zuschauermenge geformt wird. (Abb. 5)<br />

Der Kreis ist die Urform des theatralen Raums, ein Rahmen,<br />

<strong>der</strong> einschließt <strong>und</strong> ausschließt. 38 Wie beiläufig vermischt sich<br />

37<br />

Vgl. Pierre Francastel, Bruegel, Paris: Hazan 1995, S. 140.<br />

38<br />

Uri Rapp, Handeln <strong>und</strong> Zuschauen, Darmstadt/Neuwied: Luchterhand 1972, S. 208.<br />

76 77


Andreas Höfele<br />

Qualität etwas gering<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

seine Theaterfunktion in Bruegels Gemälde mit sehr viel<br />

schlimmeren Gebräuchen. Zum Oval abgeflacht, nimmt <strong>der</strong><br />

Kreis die Form des Rades auf, <strong>das</strong>, auf einen Pfahl gesteckt, an<br />

ein bereits stattgehabtes Tötungsritual gemahnt: Beim Rä<strong>der</strong>n<br />

wurde dem Verurteilten mit einem Wagenrad <strong>der</strong> Leib zerstoßen,<br />

<strong>der</strong> Sterbende dann mit seinen zerbrochenen Gliedmaßen<br />

in die Speichen des Rades geflochten, aufgepflanzt <strong>und</strong><br />

den Vögeln zum Fraß überlassen. 39 Eine schier endlose Reihe<br />

solcher Mahnmale zieht sich mit <strong>der</strong> Harmlosigkeit von Telegrafenmasten<br />

durch Bruegels Todeslandschaft bis zum Horizont.<br />

Niemand scheint ihnen die geringste Aufmerksamkeit zu<br />

widmen. Die gierige Erwartung des bevorstehenden Schauspiels<br />

hat alle Gedanken an gewesene Spektakel ausgelöscht.<br />

Die Ähnlichkeit von Rad <strong>und</strong> Kreis besiegelt visuell die Verwandtschaft<br />

von öffentlicher Folter <strong>und</strong> öffentlichem Theater.<br />

Der Kreis ist fast leer. Alles kann in ihm geschehen. Zwei<br />

Kreuze stehen schon, <strong>das</strong> dritte fehlt noch. Dieses Golgotha ist<br />

ein ländliches Freilicht<strong>theater</strong>, eine Dorfwiese in Flan<strong>der</strong>n. Ein<br />

Mann gräbt ein Loch, die Menge schaut ihm bei <strong>der</strong> Arbeit zu,<br />

vielleicht singt er ein Lied wie <strong>der</strong> Totengräber in Hamlet. Er<br />

hat seinen roten Mantel ausgezogen. Der zweite Mann im Kreis<br />

hat ebenfalls einen roten Mantel. Vielleicht unterhält er <strong>das</strong><br />

Publikum mit einer Art Vorprogramm, vielleicht geht er mit<br />

einem Bauchladen umher <strong>und</strong> verkauft Erfrischungen. Vielleicht<br />

gehören beide Männer zu den berittenen Rotröcken <strong>der</strong><br />

notorisch brutalen Wallonischen Garde, die zur Zeit Bruegels<br />

die Exekutivmacht des Staates repräsentierte.<br />

Die Vergangenheit gegenwärtig zu machen, ist normalerweise<br />

ein Mittel, um Distanz zu verringern. Der eigentümliche<br />

Effekt von Bruegels Gemälde besteht darin, die Distanz des<br />

Betrachters zugleich zu verringern <strong>und</strong> zu vergrößern: Was zeit-<br />

39<br />

Siehe Mitchell B. Merback, The Thief, the Cross and the Wheel: Pain and the Spectacle of<br />

Punishment in Medieval and Renaissance Europe, Chicago: University of Chicago Press 1999.<br />

Abb. 6<br />

Pieter Bruegel, Kreuztragung Christi (Detail), 1564<br />

lich in die Nähe geholt wird, wird räumlich entrückt, durch Verkleinerung<br />

dem Blick fast entzogen. Man muss sehr genau hinsehen,<br />

um den Jesus nicht zu übersehen, den <strong>der</strong> Maler im<br />

Getümmel versteckt hat. Der paradoxe Effekt <strong>der</strong> Komposition<br />

– die Gleichzeitigkeit von Nähe <strong>und</strong> Ferne – macht dies zu<br />

einem Gemälde, <strong>das</strong> in einem hohen Maße ein Gemälde über<br />

<strong>das</strong> Sehen ist. Wo auch immer wir hinschauen, begegnet unserem<br />

Blick <strong>der</strong> Blick von Figuren, <strong>der</strong>en einziger Zweck es ist,<br />

nicht zu verpassen, was es zu sehen gibt. Auffallend viele <strong>der</strong><br />

Köpfe sind gedreht, um zu sehen, wie erstarrt im Ausdruck<br />

purer Schaulust. (Abb. 6) Nichts deutet darauf hin, <strong>das</strong>s sie auch<br />

nur eine Ahnung von <strong>der</strong> <strong>welt</strong>verän<strong>der</strong>nden Bedeutung des<br />

Ereignisses haben, dessen Zeugen sie sind. Der burleske Streit<br />

um Simon von Cyrene, dessen Frau ihn davon abhalten will,<br />

dem Verurteilten beim Kreuztragen zu helfen, erhält mehr Aufmerksamkeit<br />

als <strong>der</strong> unerkannte Erlöser. Und auffallend auch<br />

all die Figuren, die uns ihren Rücken zukehren, während sie<br />

zum Ort <strong>der</strong> Exekution eilen, um sich einen guten Platz zu<br />

sichern. All diese Bewegung wird von einer einzigen Kraft<br />

getrieben: dem Wunsch zu schauen, einem profanen Voyeurismus.<br />

Wenn wir es auf diese Art betrachten, ist es ein frommes<br />

Bild, ein Vexierbild, <strong>das</strong> uns anhalten will, richtig zu sehen, die<br />

diffuse Buntheit <strong>der</strong> Erscheinungen zu durchschauen <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />

78 79


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

kaum wahrnehmbare wahre Zentrum zu erkennen; ein ’richtiges<br />

Sehen‘, <strong>das</strong> die mit gesenktem Blick betende Maria gegen<br />

die Menge <strong>der</strong> gaffenden Weltlinge ausspielt.<br />

Aber natürlich ist es nicht nur <strong>das</strong>, kann es nicht nur <strong>das</strong> sein.<br />

Als Bild kann es die Begierde zu schauen schwerlich verdammen,<br />

ohne sie allererst zu wecken. Indem es eine Welt zeigt, die<br />

sich schamlos <strong>der</strong> Neugierde hingibt, kann <strong>das</strong> Bild mit <strong>der</strong><br />

Überfülle seiner visuellen Reize gar nicht an<strong>der</strong>s, als uns ebenfalls<br />

neugierig zu machen, uns dazu zu verführen, <strong>das</strong> zu tun,<br />

was es verurteilt. Falls die einzige Botschaft des Bilds in einem<br />

Aufruf zur Entsagung bestünde, müsste es seine eigene Wirkung<br />

verleugnen. Dann wäre die kleine blaue Figur des Erlösers<br />

<strong>das</strong> Einzige auf dem ganzen Bild, was es wert wäre, gesehen<br />

zu werden. Aber solch ein Wi<strong>der</strong>ruf wi<strong>der</strong>ruft sich selbst,<br />

einfach weil <strong>das</strong> Gemälde („so long as men can breathe or eyes<br />

can see“) 40 niemals aufhören wird, den Betrachter dazu anzustiften,<br />

sich in <strong>der</strong> Überfülle des gemalten Lebens zu verlieren,<br />

die Ablenkung, die es darstellt, zu genießen. Bruegels Gemälde<br />

ist somit Fastenpredigt <strong>und</strong> Karneval zugleich. Wenn es die<br />

<strong>welt</strong>lichen spectacula kritisiert, die die puritanischen Verleum<strong>der</strong><br />

des Theaters als pompa diaboli verdammten, 41 dann bietet<br />

es zugleich doch ein ebensolches <strong>welt</strong>lich-karnevaleskes Spektakel.<br />

Und zeugt damit von <strong>der</strong>selben Anziehungskraft, welche<br />

<strong>das</strong> Spektakel <strong>der</strong> öffentlichen Exekution mit denen des öffentlichen<br />

Theaters verband. 42<br />

Wir können nicht wissen, wie James I. auf Bruegels Konterfei<br />

einer zeitgenössischen Menschenmenge reagiert hätte. Gut<br />

möglich, <strong>das</strong>s er speziell an dieser „Hydra of diversely-enclined<br />

spectatours“ die reine Gier ihrer Blicke beunruhigend gef<strong>und</strong>en<br />

hätte, den wahllos allesfressenden Voyeurismus einer<br />

nivellierenden Schaulust, die sich allen Distinktionen, je<strong>der</strong><br />

Rangordnung gegenüber indifferent zeigt.<br />

Einen ganz an<strong>der</strong>en Eindruck eines Massenpublikums vermittelt<br />

Wenzel Hollars Radierung <strong>der</strong> Exekution des Earl of<br />

Strafford im Jahre 1641. 43 (Abb. 7) Statt einer aus expressiv individualisierten<br />

Figuren bestehenden Menge zeigt Hollar ein<br />

durch <strong>und</strong> durch uniformes Kollektiv. Im Vor<strong>der</strong>gr<strong>und</strong> links<br />

streiten sich ein paar Zuspätgekommene um einen Platz auf<br />

<strong>der</strong> bereits überfüllten Zuschauerplattform. Aber diejenigen,<br />

die ihre Zuschauerposition erreicht haben, scheinen in völliger<br />

Bewegungslosigkeit erstarrt. „All eyes“, sind sie zu einer<br />

homogenen Formation unzähliger Köpfe geworden. Durch<br />

hölzerne Trennwände säuberlich in Sektionen unterteilt, sind<br />

alle fest auf die Szene <strong>der</strong> Hinrichtung fokussiert. Je weiter vom<br />

Betrachter des Bildes entfernt, desto kompakter wirken diese<br />

Zuschauerblöcke; die Technik, die immer kleiner werdenden<br />

Nadelköpfe darzustellen, ähnelt <strong>der</strong>, die für frühneuzeitliche<br />

Schlachtformationen benutzt wird – o<strong>der</strong> auch für <strong>das</strong> Blattwerk<br />

eines fernen Baums. Was Hollar zeigt, ist ein durch <strong>und</strong><br />

durch diszipliniertes Volk, ein Volk, <strong>das</strong> nicht nur achtsam ist,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>das</strong> Habacht zu stehen scheint, eine Massendemonstration<br />

pflichtbewussten Gehorsams <strong>der</strong> königlichen Macht<br />

gegenüber. Beherrscht wird die Szene vom Londoner Tower,<br />

einem Monument <strong>der</strong> Macht, <strong>das</strong> mit seinen Ecktürmen wie<br />

eine gigantische Krone aussieht – ein steinerner Zeuge <strong>und</strong><br />

40<br />

Shakespeare, Sämtliche Werke, Bd. 2, Sonett 18 Vers 13.<br />

41<br />

Die Formulierung geht auf Tertullian zurück, De corona militis, XIII, 7. Siehe Heiko<br />

Jürgens, Pompa Diaboli: Die Bekanntschaft <strong>der</strong> lateinischen Kirchenväter mit dem antiken<br />

Theaterwesen, Stuttgart: Kohlhammer 1972.<br />

42<br />

Der Kampf zwischen Karneval <strong>und</strong> Fasten (1559, Kunsthistorisches Museum, Wien)<br />

ist <strong>der</strong> Gegenstand eines Gemäldes, <strong>das</strong> Bruegel fünf Jahre vor <strong>der</strong> Kreuztragung Christi<br />

vollendet hat.<br />

43<br />

Der volle Titel lautet: „THE TRUE MANER OF THE EXECUTION OF THOMAS<br />

EARLE OF STRAFFORD; LORD / Lieutenant of Ireland, vpon Tower hill, the 12 th of<br />

May, 1641. No. 552“ in: Richard Pennington, A Descriptive Catalogue of the Etched Works<br />

of Wenceslaus Hollar 1607–1677, Cambridge: Cambridge University Press 1982, S. 87f.<br />

Die Hinrichtung von Strafford ist auch in einer Parliamentary Mercies (Pennington,<br />

No. 491 A) betitelten Reihe aus Drucken von Hollar dargestellt. Hollar zeigt in einer<br />

Radierung auch Straffords Prozess (Pennington, No. 551).<br />

80 81


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Abb. 7<br />

Wenzel Hollar, The True Maner of the Execution<br />

of Thomas Earle of Strafford, ca. 1641<br />

gleichsam Statthalter des abwesenden Herrschers. Diese steingewordene<br />

Macht scheint unerschütterlich, selbst eine Menschenmenge<br />

dieser Größe könnte ihr nichts anhaben. Es wird<br />

berichtet, <strong>das</strong>s sich gut 200.000 Menschen um <strong>das</strong> Schafott versammelten,<br />

<strong>und</strong> Hollars Repräsentation von „The True Maner<br />

of the Execution of Thomas Earle of Strafford“ legt nahe, <strong>das</strong>s<br />

alle voller Loyalität <strong>und</strong> Aufmerksamkeit die Demonstration<br />

strenger souveräner Gerechtigkeit verfolgten.<br />

Doch nichts könnte weiter von <strong>der</strong> historischen Wahrheit entfernt<br />

sein: Alles an<strong>der</strong>e als souverän <strong>und</strong> keineswegs Herr seiner<br />

eigenen Entscheidung, wurde Charles I. vielmehr vom Parlament<br />

<strong>und</strong> mehr noch durch die Drohungen eines gewaltbereiten<br />

Mobs dazu gezwungen, <strong>das</strong> Todesurteil von Black Tom<br />

Tyrant (Strafford) zu unterzeichnen. Als eines <strong>der</strong> großen „setpiece<br />

dramas of English history“ 44 waren <strong>der</strong> Prozess <strong>und</strong> die<br />

Hinrichtung Straffords vor allem auch ein Drama unbeherrschbarer<br />

Volksmassen: „they would not suffer the Lords to come<br />

and go quietly and peaceably to their House [of Lords], but<br />

threatned them, that if they had not Justice, and if they had not<br />

his [Strafford’s] life, it should go hard for all those that stood for<br />

him; following them up and down, and calling for Justice, Justice,<br />

Justice.“ 45 Wegen des Gerüchts, so berichtet ein Zeitgenosse,<br />

„that the Parliament House was on fire [...] there were many<br />

thousands of people very suddenly gathered together; whereby<br />

you may easily see the Heat and Violence of the Peoples<br />

Affections.“ 46 Als Strafford zum Schafott gebracht werden<br />

sollte, empfahl ihm <strong>der</strong> Wachoffizier, eine Kutsche zu nehmen,<br />

„for fear the People should Rush in upon him and tear him in<br />

Pieces“. 47<br />

Nichts von alldem lässt Hollars Darstellung auch nur erahnen:<br />

Sie verwandelt in einen Triumph, was in Wahrheit eine<br />

schmachvolle Nie<strong>der</strong>lage war, von <strong>der</strong> sich Charles’ Autorität<br />

nie erholte <strong>und</strong> die er bis zu seinem letzten Atemzug auf dem<br />

Schafott bedauerte. 48 Hält man sich dies vor Augen, dann wird<br />

44<br />

Terence Kilburn, Anthony Milton, „The public context of the trial and execution<br />

of Strafford“, in: The Political World of Thomas Wentworth, Earl of Strafford, 1621–1641,<br />

hg. v. J.F. Merritt, Cambridge: Cambridge University Press 1996, S. 230.<br />

45<br />

The Tryal of Thomas Earl of Strafford ..., Faithfully Collected and Impartially Published<br />

by John Rushworth, London: Richard Chiswell, M. Wotton <strong>und</strong> G. Conyers 1700, S. 751.<br />

„sie duldeten nicht, <strong>das</strong>s die Lords ruhig <strong>und</strong> friedfertig zu ihrem Haus [House of<br />

Lords] gingen, son<strong>der</strong>n drohten ihnen, <strong>das</strong>s, wenn sie keine Gerechtigkeit erfahren<br />

würden <strong>und</strong> wenn sie nicht sein [Straffords] Leben bekämen, all denen, die ihm beistünden,<br />

schwer zugesetzt werden würde; sie folgten ihnen auf <strong>und</strong> ab, <strong>und</strong> riefen<br />

nach Gerechtigkeit, Gerechtigkeit, Gerechtigkeit.“<br />

46<br />

Ebd. „<strong>das</strong>s <strong>das</strong> Parlamentsgebäude brannte, fanden sich sehr plötzlich viele tausend<br />

Leute versammelt, woran man leicht die Hitze <strong>und</strong> Gewalt <strong>der</strong> Leidenschaften<br />

des Volkes sehen kann“.<br />

47<br />

Ebd., S. 762. „wünschte <strong>der</strong> Leutnant von ihm, aus Angst, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Volk auf ihn<br />

zueilen <strong>und</strong> ihn in Stücke reißen würde, <strong>das</strong>s er die Kutsche nehme“.<br />

48<br />

„I will onely say this, That an unjust Sentence (Strafford) that I suffered for to take<br />

effect, is punished now by an unjust Sentence upon me [...].“ KING CHARLES HIS<br />

SPEECH Made upon the SCAFFOLD At Whitehall-Gate, Immediately before his Execution,<br />

On Tuesday the 30 of Ian. 1648. VVith a Relation of the maner of his going to Execution.<br />

Published by Special Authority, London: Printed by Peter Cole, at the sign of the Prin-<br />

82 83


Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

<strong>das</strong> enorme Gewaltpotenzial spürbar, <strong>das</strong> in Hollars dicht<br />

bepackten Zuschauerrängen aufgestaut ist. 49 Dann erzählt <strong>das</strong><br />

Bild eine ganz an<strong>der</strong>e, dem, was wir auf den ersten Blick zu<br />

erkennen meinen, ziemlich entgegengesetzte Geschichte. Die<br />

alles an<strong>der</strong>e als fügsamen Bürger repräsentieren eine Gefahr,<br />

die James’ schlimmsten Ängste vor <strong>der</strong> „Hydra of diversly-enclined<br />

spectatours“ bei Weitem übertrifft. 50 Eine Gefahr, gerade<br />

weil diese Zuschauer nicht „diversly-enclined“, son<strong>der</strong>n ein<br />

<strong>und</strong> <strong>der</strong>selben Meinung sind. So werden sie zu Vorboten jener<br />

volonté générale, welche die souveräne Herrschaft <strong>der</strong> Könige<br />

letztendlich hinwegfegen wird.<br />

Hollars Darstellung <strong>der</strong> gefügig-uniformen Volksmenge hat<br />

eine bemerkenswerte Parallele in dem berühmten Frontispiz<br />

von Thomas Hobbes’ Leviathan: Auch dort präsentiert uns <strong>der</strong><br />

Künstler (bei dem es sich möglicherweise ebenfalls um Hollar<br />

handelt, wenngleich diese Zuschreibung von Horst Bredekamp<br />

angezweifelt worden ist) 51 eine riesige Menge an Leuten, die uns<br />

den Rücken kehren <strong>und</strong> sich dem gekrönten Kopf zuwenden,<br />

dessen Torso <strong>und</strong> Glie<strong>der</strong> sie bilden (Abb. 8). Die kollektive<br />

Kraft, die wir bei <strong>der</strong> Exekution Straffords durch die hölzernen<br />

Absperrungen zusammengepresst fanden, ist hier im Bild des<br />

ting-Press in Cornhil, near the Royal Exchange, 1649, S. 6–7. („Ich werde nur dies sagen,<br />

<strong>das</strong>s ein ungerechtes Urteil (Strafford), <strong>das</strong>s ich in Kraft zu treten erlaubt habe, nun<br />

durch ein ungerechtes über mich verhängtes Urteil gestraft wird [...].“).<br />

49<br />

Meine Lektüre von Bruegel <strong>und</strong> Hollar ist offenk<strong>und</strong>ig selektiv <strong>und</strong> auf <strong>das</strong> Interesse<br />

meines vorliegenden Arguments hin abgestimmt. Eine gründlichere Analyse <strong>der</strong><br />

beiden Bil<strong>der</strong> würde <strong>der</strong>en völlig unterschiedliche piktorialen Genres <strong>und</strong> (kunst)<br />

historischen Kontexte berücksichtigen müssen. Natürlich unterliegt ein flämisches<br />

Gemälde aus <strong>der</strong> Mitte des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts mit einem religiösen Sujet einer an<strong>der</strong>en<br />

Gruppe künstlerischer Regeln <strong>und</strong> Konventionen, adressiert ein an<strong>der</strong>es Publikum<br />

<strong>und</strong> dient einem an<strong>der</strong>en Zweck als eine Radierung aus dem England Mitte des 17.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, die ein bedeutendes gegenwärtiges Ereignis repräsentiert.<br />

50<br />

Siehe die obige Anmerkung 11.<br />

51<br />

Keith Brown macht ein Argument für Hollar, „The Artist of the Leviathan Title-<br />

Page“, in: The British Library Journal 4.1 (1978), S. 24–36. Infrage gestellt wird dies von<br />

Horst Bredekamp, Thomas Hobbes’ visuelle Strategien. Der Leviathan: Urbild des mo<strong>der</strong>nen<br />

Staates. Werkillustrationen <strong>und</strong> Porträts, Berlin: Akademie-Verlag 1999, S. 31–52.<br />

Abb. 8<br />

Wenzel Hollar o<strong>der</strong> Abraham Bosse,<br />

Frontispiz des ‚Leviathan‘ von Thomas Hobbes, 1651<br />

Leviathan durch Einverleibung gezähmt. In den Körper des<br />

Souveräns selbst inkorporiert, wird sie mit dem allmächtigen<br />

Herrscher eins, ja sie wird recht eigentlich zur Kraft des Herrschers<br />

selbst. Dieser verkörperten Stabilität läuft jedoch <strong>der</strong><br />

destabilisierende Effekt des Theaters entgegen. 52 Das auf den<br />

Kopf des gekrönten Monarchen blickende Volk kann mit ihm<br />

letztlich gar nicht eins sein, son<strong>der</strong>n ist durch seine Betrachterposition<br />

vom Herrscher, dessen Leib es bildet, zugleich distanziert<br />

<strong>und</strong> damit doch auch wie<strong>der</strong> die vielköpfige Menge,<br />

vor <strong>der</strong>en Blick <strong>und</strong> Urteil die Fürsten wie auf einer Bühne<br />

52<br />

Zur Theatralität von Identität <strong>und</strong> Macht siehe Christopher Pye, „The Sovereign,<br />

the Theater, and the Kingdome of Darknesse: Hobbes and the Spectacle of Power“,<br />

in: Representations 8 (1984), S. 84–106.<br />

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Andreas Höfele<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

agieren müssen. Sobald diese privilegierte Sichtbarkeit nicht<br />

mehr dem allegorischen Körper des Souveräns äußerlich, son<strong>der</strong>n<br />

in diesen einverleibt wird, ist <strong>der</strong> Körper gleichsam mit<br />

sich selbst entzweit, <strong>und</strong> die Risiken <strong>der</strong> erhöhten Sichtbarkeit<br />

des Monarchen lassen sich nicht ignorieren. Während die<br />

Bühne für <strong>das</strong> spektakuläre Regiment des Renaissanceherrschers<br />

unerlässlich ist, macht <strong>das</strong> Schaffott die Verletzlichkeit<br />

sinnfällig, die damit einhergeht, <strong>der</strong> von allen Beobachtern<br />

Beobachtete zu sein – „the observed of all observers“, wie es im<br />

Hamlet heißt. 53 Aus „the disor<strong>der</strong>s of the present time“ 54 geboren,<br />

sucht Hobbes’ Traktat Zusammenbrüche <strong>der</strong> Autorität zu<br />

verhin<strong>der</strong>n wie jenen, <strong>der</strong> zur Exekution Straffords führte <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> so elegant von <strong>der</strong> kontrafaktischen Wohlgeordnetheit <strong>der</strong><br />

Zuschauermenge in Hollars’ Amphi<strong>theater</strong> des Todes vertuscht<br />

wird. Im Frontispiz des Leviathan liegt die ganze juridische<br />

wie militärische Macht, durch Schwert <strong>und</strong> Szepter<br />

unmissverständlich angezeigt, in <strong>der</strong> Hand des Monarchen.<br />

Doch <strong>der</strong> intendierten Bildaussage <strong>und</strong> Hobbes’ politischen<br />

Absichten entgegengesetzt, könnte man in dem gekrönten<br />

Haupt („rising like the sun over the English landscape“ 55 ) auch<br />

<strong>das</strong>jenige erkennen, <strong>das</strong> dem königlichen Akteur Charles I. erst<br />

kürzlich abgeschlagen worden war; dann aber wäre <strong>das</strong>, was<br />

als „<strong>der</strong> durchdringende Blick des strengen Herrscherauges“ 56<br />

beschrieben worden ist, nichts an<strong>der</strong>es als <strong>der</strong> starre Blick des<br />

Todes.<br />

Seiner griechischen Etymologie zufolge ist <strong>das</strong> Theater in<br />

erster Linie ein Ort nicht des Schauspiels, son<strong>der</strong>n des<br />

Zuschauens. Die theatrale Zurschaustellung hat ihren Zweck<br />

53<br />

Shakespeare, Hamlet, III.i.153, zitiert nach: The Norton Shakespeare, hg. v. Stephen<br />

Greenblatt, New York/London: Norton 1997, S. 1707.<br />

54<br />

Thomas Hobbes, Leviathan, übers. v. Jutta Schlösser, Hamburg: Felix Meiner Verlag<br />

1996, S. 467. „[den] gegenwärtige[n] Wirrnisse[n]“. Thomas Hobbes, Leviathan, S. 599.<br />

55<br />

Pye, „The Sovereign“, S. 101.<br />

56<br />

Ebd., S. 103. „the penetrating beam of the sovereign’s implacable eye“. Pyes Analyse<br />

<strong>der</strong> komplexen Ökonomie des Sehens <strong>und</strong> Gesehenwerdens zieht auch eine Verbindung<br />

zum Sturz Charles I. (ebd., S. 104f.).<br />

im Gesehenwerden. Dasselbe gilt – weit in <strong>das</strong> Zeitalter <strong>der</strong><br />

Aufklärung hinein <strong>und</strong> darüber hinaus – für <strong>das</strong> grausige Double<br />

des Theaters: „Die Hauptperson bei den Marterzeremonien“,<br />

schreibt Michel Foucault, „ist <strong>das</strong> Volk, dessen wirkliche<br />

<strong>und</strong> unmittelbare Gegenwart zu ihrer Durchführung<br />

erfor<strong>der</strong>t wird.“ 57 Die Hydra ist <strong>das</strong> mythologische Biest, in dessen<br />

Namen <strong>und</strong> Bild diese ‚Hauptperson‘ die Imagination <strong>der</strong><br />

frühen Neuzeit heimsucht. Zeittypisch verkörpert sie die<br />

rasende Pluralität in einer einzigen Figur. Viele Köpfe – ein<br />

Monster. Die Auswüchse von Cochlaeus’ Luther wurzeln in<br />

einem Leib. Dieses Monster ist alles an<strong>der</strong>e als rhizomatisch.<br />

Es hat nichts mit jener dezentrierten Vielheit zu tun, den ausschwärmenden<br />

Wolfsrudeln, die Deleuze <strong>und</strong> Guattari gegen<br />

Freud ins Feld führen, gegen <strong>das</strong> „psychoanalytische Schreckgespenst,<br />

<strong>das</strong> immer nur ein Loch, einen Vater, einen H<strong>und</strong><br />

gesehen hat, einen H<strong>und</strong> anstelle von Wölfen, ein domestiziertes<br />

Individuum anstelle von wilden Mannigfaltigkeiten.“ 58 Die<br />

frühneuzeitliche Hydra ist ein Schreckgespenst, <strong>das</strong> ganz im<br />

Reich des Vaters beheimatet ist; eine Angstchimäre, die Wi<strong>der</strong>sacher<br />

wie auch dämonischer Doppelgänger des königlichen<br />

Souveräns ist.<br />

Die Restauration <strong>der</strong> englischen Monarchie im Jahre 1660<br />

hat diese Chimäre nicht zu Grabe getragen. Die Hydra hat weiterhin<br />

die politische Imagination, für die <strong>das</strong> Theater ebenso<br />

unentbehrlich wie verdächtig war, beunruhigt. 59 Aber <strong>das</strong> tat-<br />

57<br />

Michel Foucault, Überwachen <strong>und</strong> Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, übers. Walter<br />

Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, S. 75. Die zwei in <strong>der</strong> vorangehenden Sektion<br />

diskutierten Bil<strong>der</strong> bestätigen diese Ansicht. In beiden ist die Anwesenheit des<br />

Publikums so überwältigend, <strong>das</strong>s sie beinahe die zentrale Figur völlig in <strong>der</strong> Versenkung<br />

verschwinden lässt. Aber dies ist nicht immer <strong>der</strong> Fall, vgl. z.B. „The Execution<br />

of Charles I. Engraving by ‚C.R.V.N.‘“, 1649, National Portrait Gallery (RN15997).<br />

58<br />

Gilles Deleuze, Félix Guattari, Tausend Plateaus: Kapitalismus <strong>und</strong> Schizophrenie II,<br />

übers. v. Gabriele Ricke, Roland Voullié, Berlin: Merve Verlag 2005, S. 57.<br />

59<br />

In <strong>der</strong> politischen Ikonografie <strong>der</strong> Neuzeit bleibt die Hydra weiterhin ein beliebtes,<br />

von Karikaturisten bis ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert genutztes Motiv. (Vgl. z.B. Victoria E.<br />

Bonnell, Iconography of Power: Soviet Political Posters <strong>und</strong>er Lenin and Stalin, Berkeley/<br />

Los Angeles: University of California Press, 1997, S. 21, 27, 71, 205, 218.)<br />

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Andreas Höfele<br />

sächliche Theater, die zwei exklusiven kleinen Schauspielhäuser,<br />

welche nach 1660 die großen elisabethanischen <strong>und</strong> jakobäischen<br />

Freiluftarenen ersetzten, konnten dem Monster nicht<br />

mehr als Wohnstätte dienen. Jeremy Collier wollte einen Augiasstall<br />

ausmisten; eine Hydra hat er nicht bekämpft.<br />

Übersetzt von Thomas Dikant<br />

„THEY HAVE THEIR EXITS AND THEIR<br />

ENTRANCES“. ÜBERLEGUNGEN ZU<br />

DEN ZWEI GRUNDOPERATIONEN IM<br />

THEATRUM MUNDI<br />

Christopher Wild<br />

I can take any empty space and call it a bare<br />

stage. A man walks across this empty space<br />

whilst someone else is watching, and this is all<br />

that is needed for an act of theatre to be engaged.<br />

Peter Brook, The Empty Space<br />

I. Kommen <strong>und</strong> Gehen im theatrum m<strong>und</strong>i<br />

In Shakespeares As You Like It sinniert <strong>der</strong> Melancholiker Jacques<br />

bekanntlich:<br />

All the world’s a stage.<br />

And all the men and women merely players;<br />

They have their exits and their entrances,<br />

And one man in his time plays many parts,<br />

His acts being seven ages. (II.7.139–143) 1<br />

Die ganze Welt ist Bühne<br />

Und alle Fraun <strong>und</strong> Männer bloße Spieler.<br />

Sie treten auf <strong>und</strong> gehen wie<strong>der</strong> ab,<br />

1<br />

William Shakespeare, As You Like It, hg. v. Agnes Latham, The Arden Shakespeare,<br />

London: Routledge 1975.<br />

88<br />

89


Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Sein Leben lang spielt einer manche Rollen<br />

Durch sieben Akte hin. (II.7.139–143) 2<br />

Eine Sentenz, die wahrscheinlich irrtümlicherweise Demokrit<br />

zugeschrieben wurde, drückt diesen Gedanken noch knapper<br />

<strong>und</strong> deutlicher aus:<br />

Ο κόσμος σκηνή, ο βίος πάροδος. Ήλθες, είδες, απήλθες. 3<br />

Die Welt eine Bühne. Das Leben ein Auftritt. Du kommst,<br />

siehst, gehst (ab).<br />

Diesem gnomon zufolge kann die ganze Komplexität des Lebens<br />

auf drei Handlungen reduziert werden: Kommen, Sehen <strong>und</strong><br />

Gehen. Fasst man Kommen <strong>und</strong> Gehen zusammen, dann gründet<br />

die Gleichsetzung <strong>der</strong> Welt mit Theater <strong>und</strong> des Lebens mit<br />

einem Schauspiel in zwei Operationen: Auf- <strong>und</strong> Abtreten auf<br />

<strong>der</strong> einen Seite <strong>und</strong> Sehen bzw. Gesehenwerden auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en.<br />

Was immer <strong>der</strong> Mensch im Leben <strong>und</strong> auf dem Theater<br />

tut, er tut dies nicht ohne auf- <strong>und</strong> irgendwann wie<strong>der</strong> abzutreten<br />

<strong>und</strong> im Zuge dessen zu sehen <strong>und</strong> gesehen zu werden.<br />

Mit an<strong>der</strong>en Worten stellt sich immer dann Theater ein, wenn<br />

jemand aus <strong>der</strong> Unsichtbarkeit in ein Feld <strong>der</strong> Sichtbarkeit tritt,<br />

wenn jemand ein- bzw. auftritt <strong>und</strong> sich damit dem Blick eines<br />

Zuschauers präsentiert; kurz, wenn jemand auf den Schauplatz<br />

tritt. Auf dem theatrum m<strong>und</strong>i ist <strong>das</strong> naturgemäß ständig <strong>der</strong><br />

Fall, was dazu führt, <strong>das</strong>s es diese beiden Operationen beson<strong>der</strong>s<br />

fokussiert. Theatrum m<strong>und</strong>i ließe sich geradezu als Theatertradition<br />

beschreiben, <strong>der</strong>en Szenografie <strong>und</strong> Dramaturgie<br />

sich von Kommen/Gehen <strong>und</strong> Sehen her bestimmen. Während<br />

2<br />

William Shakespeare, Wie es euch gefällt, übers. v. August Wilhelm Schlegel, in: Dramatische<br />

Werke, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg 1957.<br />

3<br />

Die Fragmente <strong>der</strong> Vorsokratiker, Griechisch/Deutsch, hg. v. Hermann Diels, Berlin:<br />

Weidmann 1903, S. 425 [Fr. 68 B 115].<br />

für Erstere <strong>der</strong> komplementäre Konnex von Auftreten <strong>und</strong><br />

Blick konstitutiv ist, ließe sich bezüglich Letzterer argumentieren,<br />

<strong>das</strong>s die „many parts“ and „seven ages“ bei Jacques, <strong>der</strong> im<br />

Vergleich zu Demokrit dem Leben ein wenig mehr Komplexität<br />

zugesteht, dem strukturierenden Effekt <strong>der</strong> „exits“ <strong>und</strong> „entrances“<br />

geschuldet sind. Während dem Sehen im theatrum<br />

m<strong>und</strong>i von <strong>der</strong> Forschung nun schon einige Aufmerksamkeit<br />

geschenkt worden ist, sind Rolle <strong>und</strong> Bedeutung von Auf- <strong>und</strong><br />

Abtreten bis jetzt kaum beachtet worden. Möglicherweise lässt<br />

sich jedoch die Theatertradition des theatrum m<strong>und</strong>i mittels <strong>der</strong><br />

doppelten Operation des Auf- <strong>und</strong> Abtretens neu perspektivieren<br />

<strong>und</strong> beschreiben. Dieser Versuch soll hier unternommen<br />

werden.<br />

II. Deus in machina: Cal<strong>der</strong>óns El gran teatro del m<strong>und</strong>o<br />

Berühmtestes Beispiel für die theatrale Tradition des Welt<strong>theater</strong>s<br />

ist sicherlich Pedro Cal<strong>der</strong>ón de la Barcas auto sacramental<br />

El gran teatro del m<strong>und</strong>o; <strong>und</strong> zu Recht, denn es bietet die konsequenteste<br />

<strong>und</strong> bekannteste Umsetzung <strong>der</strong> Metapher des theatrum<br />

m<strong>und</strong>i. Was auf die Bühne gebracht wird, ist die Welt <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong>en Lauf als Theater:<br />

AUTOR: [U]na fiesta hacer quiero<br />

a mi mismo po<strong>der</strong>, si consi<strong>der</strong>o<br />

que sólo a ostentación de mi grandeza<br />

fiestas hará la gran naturaleza;<br />

y como siempre ha sido<br />

lo que más me ha alegrado, y divertido<br />

la representación la humana vida,<br />

una Comedia sea<br />

la que hoy el Cielo en Teatro vea;<br />

si soy Autor, y si la fiesta es mía,<br />

90 91


Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

por fuerza la ha de hacer mi Compañía<br />

y pues que yo escogí de los primeros<br />

los Hombres, y ellos son mis compañeros,<br />

ellos en el Teatro<br />

del M<strong>und</strong>o, que contiene partes cuatro<br />

con estilo opportuno,<br />

han de representar; yo a cada uno<br />

el papel le daré que la convenga. (39–57) 4<br />

SCHÖPFER: Ein Fest will ich veranstalten<br />

zur Feier meiner eigenen Macht, denn ich denke,<br />

daß zur Verherrlichung meiner Größe<br />

die große Natur Feste veranstaltet;<br />

<strong>und</strong> da ja schon immer<br />

<strong>das</strong>, was mich am meisten erfreut <strong>und</strong> zerstreut hat,<br />

ein Schauspiel mit viel Beifall ergeben hat<br />

<strong>und</strong> <strong>das</strong> menschliche Leben ein Schauspiel ist,<br />

soll es ein solches Bühnenstück sein,<br />

<strong>das</strong> heute <strong>der</strong> Himmel auf deinem Theater<br />

zu sehen bekommt.<br />

Wenn ich <strong>der</strong> Schöpfer bin <strong>und</strong> es mein Fest ist,<br />

muß es wohl zwangsläufig meine Truppe veranstalten.<br />

Deshalb habe ich aus ihr<br />

die Menschen ausgewählt, sie sind meine Akteure,<br />

sie sollen auf dem Welt<strong>theater</strong>,<br />

<strong>das</strong> aus vier Teilen besteht,<br />

in angemessenem Stil<br />

spielen. Ich gebe jedem<br />

die Rolle, die ihm zukommt. (39–57)<br />

4<br />

Pedro Cal<strong>der</strong>ón de la Barca, El gran teatro del m<strong>und</strong>o – Das große Welt<strong>theater</strong>, Spanisch/Deutsch,<br />

übers. <strong>und</strong> hg. v. Gerhard Poppenberg, Stuttgart: Reclam Verlag 1988,<br />

S. 8. Im Folgenden zitiere ich sowohl <strong>das</strong> Original wie auch die Übersetzung nach<br />

dieser Ausgabe mit Verszahl im Text.<br />

Gott ist Autor, Regisseur <strong>und</strong> Zuschauer dieses Schauspiels,<br />

dessen Akteure die Menschen sind. Ihnen bleibt nichts an<strong>der</strong>es<br />

übrig als zu spielen, denn „<strong>das</strong> menschliche Leben [ist] ein<br />

Schauspiel“. Gerade weil die gesamte Welt ein Theater, <strong>das</strong><br />

gesamte Leben eine Schauspiel ist, es also scheinbar kein<br />

Außen gibt, müssen die Operationen des Auf- <strong>und</strong> Abtretens<br />

scharf markiert werden:<br />

AUTOR: Y para que desde ti<br />

a representar al M<strong>und</strong>o<br />

salgan, y vuelvan a entrarse,<br />

ya previno mi discurso<br />

dos Puertas; la una, es la Cuna;<br />

y la otra, es el Sepulcro. (237–242)<br />

SCHÖPFER: Und damit sie von dir aus<br />

zur Vorführung in die Welt<br />

hinausgehen <strong>und</strong> auch wie<strong>der</strong> zurückkehren können,<br />

habe ich wohlüberlegt etwas vorbereitet;<br />

zwei Türen: die eine ist die Wiege,<br />

<strong>und</strong> die an<strong>der</strong>e ist <strong>das</strong> Grab. (237–242)<br />

Schärfer könnten Auf- <strong>und</strong> Abtreten nicht markiert <strong>und</strong> kodiert<br />

werden. Mit Ersterem tritt <strong>der</strong> Schauspieler ein in die Welt <strong>und</strong><br />

mit Zweiterem verlässt er sie wie<strong>der</strong>. Auftreten heißt irdische<br />

Existenz gewinnen <strong>und</strong> Abtreten diese wie<strong>der</strong> verlieren. Somit<br />

fällt im theatrum m<strong>und</strong>i die Gestaltwerdung <strong>der</strong> dramatis personae<br />

mit ihrem Auftritt zusammen. Je<strong>der</strong> Auftritt ist eine Geburt<br />

<strong>und</strong> jede Geburt ein Auftritt:<br />

REY: Alma, sentido, potencia,<br />

vida ni razón tenemos,<br />

todos informes nos vemos,<br />

polvo somos de tus pies,<br />

92 93


Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

sopla aqueste polvo, pues,<br />

para que representemos. (293–298)<br />

KÖNIG: We<strong>der</strong> Seele, Sinn noch Kraft,<br />

we<strong>der</strong> Leben noch Verstand haben wir;<br />

ungeformt noch sehen wir uns alle;<br />

Staub sind wir unter deinen Füßen;<br />

hauche diesen Staub nun an,<br />

daß wir die Vorstellung beginnen können. (293–298)<br />

Cal<strong>der</strong>óns auto sacramental nimmt wörtlich, <strong>das</strong>s im realen Theater<br />

eine dramatische Figur mit ihrem ersten Auftritt gewissermaßen<br />

geboren wird <strong>und</strong> mit ihrem letzten Abtritt stirbt. Denn<br />

hier kommt sie ‚wirklich‘ auf die Welt mit ihrem Auftritt, stirbt<br />

‚wirklich‘ mit ihrem Abtritt. Natürlich gibt es in Cal<strong>der</strong>óns Stück<br />

ein ‚Leben‘ vor <strong>der</strong> Geburt <strong>und</strong> nach dem Tod, aber für die<br />

Zuschauer hat dieses geringere ontologische <strong>und</strong> epistemologische<br />

Geltung. Wenn die Welt Theater <strong>und</strong> <strong>das</strong> Leben ein Spiel<br />

ist, dann hat <strong>das</strong> ‚Leben‘, <strong>das</strong> vor <strong>und</strong> nach dem theatralen Spiel<br />

stattfindet, auf <strong>der</strong> Bühne nichts zu suchen. Schärfer könnte die<br />

Grenze zwischen Nicht-Theater <strong>und</strong> Theater, off <strong>und</strong> on, nicht<br />

differenziert werden. Entsprechend scharf <strong>und</strong> eindeutig sind<br />

Auf- <strong>und</strong> Abtreten konturiert <strong>und</strong> die dramatis personae figuriert.<br />

Jede bekommt ihre Rolle zugewiesen, die sie zu spielen hat:<br />

AUTOR: Pero yo, Autor Soberano,<br />

sé bien qué papel hará<br />

mejor cada uno, así va<br />

repartiéndolos mi mano:<br />

haz tú el Rey. (329–333)<br />

SCHÖPFER: Aber ich, <strong>der</strong> souveräne Schöpfer,<br />

weiß sehr gut, welche Rolle<br />

für jeden die beste ist. Und so<br />

teilt meine Hand sie aus.<br />

Spiel du den König. (329–333)<br />

Alle Rollen werden durch ihre Requisiten unzweideutig<br />

bezeichnet. In Cal<strong>der</strong>óns Großem Welt<strong>theater</strong> machen „Kostüm<br />

<strong>und</strong> Schmuck“ (244) Leute, reflektiert die Klei<strong>der</strong>ordnung die<br />

rigide Ständeordnung <strong>der</strong> spanischen Gesellschaft. Umgekehrt<br />

bedeutet dies, <strong>das</strong>s es keine unmarkierten Auftritte gibt. Je<strong>der</strong><br />

Akteur muss als etwas auf die Welt kommen. 5 Somit sind also<br />

alle dramatis personae bei ihrem Auftritt eindeutig lesbar. Es gibt<br />

keine Unsicherheit, wer da auftritt, wenn er auftritt. Alles ist<br />

von Gott in seiner Doppelrolle von Autor <strong>und</strong> Regisseur eindeutig<br />

festgelegt worden. Die einzige Gestaltungsmöglichkeit,<br />

welche die dramatis personae innerhalb dieser rigiden Auftrittsregie<br />

haben, besteht darin, wie sie ihre Rolle spielen.<br />

AUTOR: En la representación<br />

igualmente satisface<br />

el que bien al pobre hace,<br />

can afecto, alma y acción,<br />

como el que hace al Rey, y son<br />

iguales éste y aquél<br />

en acebando el papel:<br />

haz tú bien el tuyo, y piensa<br />

que para la recompensa<br />

yo te igualaré con él.<br />

[…] pues<br />

con cualquier papel se gana,<br />

que toda la vida humana<br />

representaciones es. (409–418/425–428)<br />

5<br />

Das gilt sogar für <strong>das</strong> ungeborene Kind, <strong>das</strong> zwar ohne die Insignien von Stand<br />

o<strong>der</strong> Charakter auftritt, aber eben nur, um abzutreten (vgl. 541ff.). Insofern wird es als<br />

unmarkiert markiert.<br />

94 95


Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

SCHÖPFER: Bei <strong>der</strong> Vorstellung<br />

befriedigt gleicherweise,<br />

wer gut den Armen spielt,<br />

in Haltung, Geist <strong>und</strong> Tat,<br />

wie wer den König spielt, <strong>und</strong> beide<br />

sind gleich, dieser wie jener,<br />

wenn <strong>das</strong> Spiel zu Ende ist.<br />

Spiel du deine gut <strong>und</strong> bedenke,<br />

daß bei <strong>der</strong> Belohnung<br />

ich dich ihm gleich mache.<br />

[…] denn<br />

mit je<strong>der</strong> Rolle kann man gewinnen,<br />

weil <strong>das</strong> ganze menschliche Leben<br />

eine Vorstellung ist. (409–418/425–428)<br />

In Cal<strong>der</strong>óns Großem Welt<strong>theater</strong> ist es nicht so wichtig, was<br />

einer spielt, son<strong>der</strong>n wie. Es kommt nicht auf den Inhalt an,<br />

son<strong>der</strong>n die Darstellung, nicht auf <strong>das</strong> Repräsentierte, son<strong>der</strong>n<br />

die Repräsentation bzw. die Performanz. Ganz folgerichtig ist<br />

<strong>der</strong> Titel des Stücks auch: „Gut handeln, denn Gott ist Gott.“<br />

(438) Alle Differenzen zur Kodierung <strong>der</strong> verschiedenen Auftritte<br />

sind also nur temporär, denn an sich sind alle Akteure<br />

gleich. Es gibt keine Unterschiede, die einen Unterschied<br />

machen. Das gilt auch für die dezidierteste Differenz, <strong>der</strong> zwischen<br />

Leben <strong>und</strong> Tod, Diesseits <strong>und</strong> Jenseits, on <strong>und</strong> off:<br />

MUNDO: Corta fue la Comedia; pero ¿cuando<br />

no lo fue la Comedia de esta vida,<br />

y más para el que está consi<strong>der</strong>ando<br />

que toda es una entrada, una salida?<br />

Ya todos el Teatro van dejando,<br />

a su primer materia reducida<br />

la forma que tuvieron y gozaron,<br />

polvo salgan de mí, pues polvo entraron. (1255–1262)<br />

WELT: Kurz war dieses Schauspiel, aber wann<br />

war <strong>das</strong> nicht so mit dem Schauspiel des Lebens,<br />

<strong>und</strong> mehr noch für den, <strong>der</strong> in Betracht zieht,<br />

daß es alles in allem nur ein Auftreten, ein Abtreten ist.<br />

Schon verlassen alle <strong>das</strong> Theater;<br />

auf ihren ersten Stoff zurückgeführt<br />

ist die Form, die sie hatten <strong>und</strong> genossen,<br />

als Staub gehen sie, denn als Staub sind sie gekommen.<br />

(1255–1262)<br />

Im Vergleich mit <strong>der</strong> Ewigkeit Gottes ist <strong>das</strong> Leben nur sehr<br />

kurz, schrumpft die Spanne, die Geburt <strong>und</strong> Tod trennt, beinahe<br />

zu Nichts zusammen. Damit wird auch <strong>das</strong> Schauspiel, in<br />

dem die Menschen spielen, auf Auf- <strong>und</strong> Abtreten reduziert. 6<br />

Insofern mit dem Auftritt schon fast alles festgelegt ist, besteht<br />

auch die Rolle in wenig mehr. Und mit dem Abtritt, auf den hin<br />

<strong>das</strong> Spiel <strong>und</strong> <strong>das</strong>, was diesem an Freiheit bleibt, orientiert ist,<br />

wird sowieso wie<strong>der</strong> die Differenzialität aller Gestaltwerdung<br />

rückgängig gemacht. So gesehen erweist sich die Dramaturgie<br />

des theatrum m<strong>und</strong>i als Abfolge von Auf- <strong>und</strong> Abtritten, welche<br />

durch einen minimalen Abstand differenziert werden.<br />

Obgleich Auf- <strong>und</strong> Abtreten durch Gott als Autor <strong>und</strong> Regisseur<br />

so streng <strong>und</strong> eindeutig geregelt sind, ist die Wahrnehmung<br />

seitens <strong>der</strong> Akteure natürlich eine an<strong>der</strong>e. Auf die Frage<br />

<strong>der</strong> Schönheit nach <strong>der</strong> Dramaturgie des Auf- <strong>und</strong> Abtritts:<br />

HERMOSURA: Pues el entrar y salir,<br />

¿como lo hemos de saber,<br />

ni a qué tiempo haya de ser? (463–465)<br />

SCHÖNHEIT: Aber die Auf- <strong>und</strong> Abtritte:<br />

6<br />

Deshalb ist <strong>der</strong> abtretende Auftritt des ungeborenen Kindes auch paradigmatisch<br />

für den Auftritt im theatrum m<strong>und</strong>i.<br />

96 97


Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

wie sollen wir wissen,<br />

zu welcher Zeit sie geschehen sollen. (463–465)<br />

antwortet <strong>der</strong> Gott:<br />

AUTOR: Aun eso se ha de ignorar,<br />

y de una vez acertar<br />

cuanto es morir y nacer:<br />

estad siempre prevenidos<br />

para acabar el papel,<br />

que yo os llamaré al fin de él. (466–471)<br />

SCHÖPFER: Auch <strong>das</strong> darf man nicht wissen<br />

<strong>und</strong> muß gleich beim ersten<br />

Geburt <strong>und</strong> Tod wohl treffen:<br />

seid immer vorbereitet,<br />

die Rolle zu beenden;<br />

denn am Ende rufe ich euch. (466–471)<br />

Auf- <strong>und</strong> Abtritte mögen zwar streng geregelt sein, aber diese<br />

Regel ist für die Auf- <strong>und</strong> Abtretenden nicht wiss- bzw. einsehbar.<br />

Kurz: Die Akteure wissen nicht, wann sie auf- <strong>und</strong> abtreten<br />

müssen. Von ihnen werden Kommen <strong>und</strong> Gehen also im<br />

hohen Maße als kontingent empf<strong>und</strong>en. Gerade weil <strong>der</strong> Zeitpunkt<br />

des Abtritts dem Akteur unbekannt ist, muss er stets darauf<br />

vorbereitet sein, muss er spielen, als wäre er schon wie<strong>der</strong><br />

im Abtreten begriffen. Mit an<strong>der</strong>en Worten gehört <strong>das</strong> beständige<br />

memento mori zum richtigen <strong>und</strong> guten Spiel. Damit wird<br />

jedoch die zu spielende Rolle noch mehr ausgeleert <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Finalisierung des Abtritts unterstellt.<br />

Bevor ich mich <strong>der</strong> Auftrittsregie in einigen an<strong>der</strong>en Beispielen<br />

<strong>der</strong> Tradition des theatrum m<strong>und</strong>i zuwende, resümiere ich<br />

kurz: Im Welt<strong>theater</strong> sind die Auf- <strong>und</strong> Abtritte Teil <strong>der</strong> transzendenten,<br />

meist göttlichen Ordnung <strong>und</strong> somit streng geregelt.<br />

Wie alle an<strong>der</strong>en Elemente des Mediendispositivs Theater<br />

hat auch <strong>das</strong> Auf- <strong>und</strong> Abtreten existenzielle <strong>und</strong> ontologische<br />

Dimension, insofern <strong>der</strong> Schauspieler auf <strong>der</strong> Bühne <strong>der</strong><br />

Welt mit Ersterem zu Sein <strong>und</strong> Sichtbarkeit kommt <strong>und</strong> mit<br />

Letzterem zu Nichts <strong>und</strong> unsichtbar wird (zumindest für die<br />

irdischen Blicke des Publikums). Im theatrum m<strong>und</strong>i zeigt sich<br />

somit unmissverständlich, <strong>das</strong>s es ohne Auf- <strong>und</strong> Abtritte kein<br />

Theater gibt, <strong>das</strong>s allein sie dem Schauspieler theatrale Existenz<br />

verleihen. Mit ihrer maximalen Aufwertung <strong>und</strong> Konturierung<br />

werden Auf- <strong>und</strong> Abtritte zu den zentralen dramatischen<br />

Ereignissen auf dem theatrum m<strong>und</strong>i. Sie bestimmen die<br />

Dramaturgie <strong>und</strong> drängen die Handlung (im aristotelischen<br />

Sinne) zurück. Statt als Nexus von Aktionen <strong>und</strong> Reaktionen<br />

erweist sich Drama als streng geregelte Abfolge von Auf- <strong>und</strong><br />

Abtritten, <strong>der</strong>en Logik <strong>und</strong> Ökonomie den Akteuren selbst<br />

meist <strong>und</strong>urchsichtig bleibt. Auch die Theatralität des barocken<br />

theatrum m<strong>und</strong>i lässt sich auftrittstheoretisch bestimmen.<br />

Aufgabe des Theaters ist es, Auftritte – <strong>und</strong> bis zu einem gewissen<br />

Grade auch Abtritte – maximal zu konturieren. Insofern<br />

die Handlung demgegenüber in den Hintergr<strong>und</strong> tritt, gilt es<br />

den Eintritt in die Sichtbarkeit so spektakulär wie möglich auszugestalten.<br />

Insofern ist es sicherlich kein Zufall, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> barocke<br />

theatrum m<strong>und</strong>i so viel Energie in die maschinelle Zubereitung<br />

von Auf- <strong>und</strong> Abtritten investierte. Denn in gewissem<br />

Sinne geschieht je<strong>der</strong> Auf- <strong>und</strong> Abtritt im Welt<strong>theater</strong> ex<br />

machina. Zunächst einmal, weil sie nicht in <strong>der</strong> intradiegetischen<br />

Handlungsfolge gegründet sind, son<strong>der</strong>n einer Instanz<br />

gehorchen, die außer <strong>und</strong> über ihr steht. Die Tradition des theatrum<br />

m<strong>und</strong>i spielt mit dem Umstand, <strong>das</strong>s je<strong>der</strong> Auftritt zwei<br />

Seiten hat: eine Außen- <strong>und</strong> eine Innenseite. Die Außenseite<br />

ist die, die Regisseur <strong>und</strong> Schauspieler im Blick haben <strong>und</strong> die<br />

<strong>theater</strong>praktischen Regeln folgt; <strong>und</strong> die Innenseite ist die, die<br />

sich aus <strong>der</strong> Logik <strong>und</strong> Ökonomie <strong>der</strong> Handlung ergibt.<br />

Obgleich beide miteinan<strong>der</strong> interferieren <strong>und</strong> sich komple-<br />

98 99


Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

mentieren, gehören sie verschiedenen Ordnungen <strong>und</strong> Realitäten<br />

an, die nur selten zugleich sichtbar werden (<strong>und</strong> schon<br />

gar nicht im bürgerlichen Theater <strong>der</strong> Illusion). Entwe<strong>der</strong> kommen<br />

die Akteure als Schauspieler von außen, o<strong>der</strong> sie treten<br />

als dramatische Figuren in die fiktionale Welt ein – aber eben<br />

nicht beides zugleich. Auch die Zuschauer bekommen normalerweise<br />

nur die Innenseite zu Gesicht; die Operationen des<br />

backstage bleiben ihnen dagegen unsichtbar. Nur Gott bzw. <strong>der</strong><br />

Regisseur hat beide Seiten im Blick, kann beide Seiten <strong>der</strong><br />

Unterscheidung, <strong>der</strong> Theater seine Existenz <strong>und</strong> sein Operieren<br />

verdankt, beobachten. Indem <strong>das</strong> theatrum m<strong>und</strong>i die<br />

Zuschauer in die Lage Gottes versetzt, wird für diese erkennbar,<br />

<strong>das</strong>s Auf- <strong>und</strong> Abtreten einer an<strong>der</strong>en Logik <strong>und</strong> Ökonomie<br />

als <strong>der</strong> <strong>der</strong> immanenten Handlung geschuldet ist; <strong>das</strong>s Auf<strong>und</strong><br />

Abtreten transzendent geregelt sind. Insofern hat je<strong>der</strong><br />

Auftritt etwas Epiphanisches <strong>und</strong> je<strong>der</strong> Abtritt etwas Apotheotisches<br />

an sich. An<strong>der</strong>s ausgedrückt: Mechanisch sind die Auf<strong>und</strong><br />

Abtritte auch deshalb, weil sie nie vollkommen ‚natürlich‘<br />

sind, son<strong>der</strong>n von einer übernatürlichen Macht kontrolliert<br />

werden. Insofern ist es nur folgerichtig, <strong>das</strong>s diese übernatürliche<br />

Macht ihren Ursprung in <strong>der</strong> Theatermaschine hat, die<br />

<strong>das</strong> barocke Theater wie kein an<strong>der</strong>es in den Mittelpunkt seiner<br />

Darstellungspraxis stellte. Wie Jan Lazardzig anmerkt, werden<br />

Maschinen „nicht nur aus architektonischer Sicht zum<br />

gestaltgebenden Element <strong>der</strong> Barockbühne, son<strong>der</strong>n zu <strong>der</strong>en<br />

eigentlichem Akteur. Dabei münden Aufführungen nicht selten<br />

in eine regelrechte Orgie maschineller Bewegungskunst“. 7<br />

Mit <strong>der</strong> vollkommenen maschinellen Durchdringung des Bühnenraums<br />

wird <strong>der</strong> auf Überraschung kalkulierte Einsatz von<br />

Theatermaschinen „zum spektakulären Normalfall <strong>der</strong> barocken<br />

Bühne <strong>und</strong> leistet [<strong>der</strong>] Aufhebung <strong>der</strong> aristotelischen<br />

7<br />

Jan Lazardzig, Theatermaschine <strong>und</strong> Festungsbau. Paradoxien <strong>der</strong> Wissensproduktion<br />

im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert, Berlin: Akademie Verlag 2007, S. 45.<br />

Einheit <strong>der</strong> Handlung, Zeit <strong>und</strong> des Ortes Vorschub“. 8 Das gilt<br />

gleichermaßen für die Szenografie, d.h. <strong>das</strong> Bühnenbild, wie<br />

die Dramaturgie, d.h. die Auf- <strong>und</strong> Abtritte. Diese Maschinenmanie<br />

ist jedoch nur die logische Konsequenz <strong>der</strong> Auftrittslogik<br />

im barocken theatrum m<strong>und</strong>i. So gesehen ist auf dem Welt<strong>theater</strong><br />

je<strong>der</strong> Auf- <strong>und</strong> Abtritt ex machina, nicht nur <strong>der</strong> aus <strong>der</strong><br />

buchstäblichen Maschine.<br />

III. Himmlische Stellvertreter: Andreas Gryphius <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />

protestantische Schul<strong>theater</strong><br />

Natürlich variieren Stücke <strong>der</strong> Welt<strong>theater</strong>tradition die Reinform<br />

von Cal<strong>der</strong>óns El gran teatro del m<strong>und</strong>o, indem sie verschiedene<br />

Aspekte des Auf- <strong>und</strong> Abtretens fokussieren <strong>und</strong> figurieren.<br />

So ist es nicht immer Gott, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Maschine kommt,<br />

um Regie zu führen. Mitunter sind es seine Stellvertreter <strong>und</strong><br />

Hilfskräfte, welche die Auf- <strong>und</strong> Abtritte <strong>der</strong> Spielenden<br />

orchestrieren. In Andreas Gryphius’ barocken Trauerspiel<br />

Catharina von Georgien ist es die Allegorie <strong>der</strong> Ewigkeit, welche<br />

den Auftritt <strong>der</strong> Titelheldin dirigiert. Dass es sich auch bei diesem<br />

Beispiel des protestantischen Schul<strong>theater</strong>s um Welt<strong>theater</strong><br />

handelt, wenn auch in kleinerem Maßstab, macht die Bühnenanweisung<br />

deutlich, welche dem Auftritt <strong>der</strong> Ewigkeit den<br />

Boden bereitet.<br />

Der Schauplatz lieget voll Leichen-Bil<strong>der</strong>/Cronen/Zepter/Schwerdter<br />

etc. Vber dem Schau-Platz öffnet sich <strong>der</strong> Himmel/vnter dem<br />

Schau-Platz die Helle. 9<br />

8<br />

Ebd., S. 38.<br />

9<br />

Andreas Gryphius, Gesamtausgabe <strong>der</strong> deutschsprachigen Werke, hg. v. Marian Szyrocki,<br />

Hugh Powell, Tübingen: Niemeyer Verlag 1963ff., Bd. VI, S. 139. Im Folgenden<br />

im Text mit Akt- <strong>und</strong> Verszahl zitiert.<br />

100 101


Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Denn indem <strong>der</strong> Schauplatz zwischen Himmel <strong>und</strong> Hölle<br />

platziert wird, wird aus dem einen lokalen Schauplatz ein universaler,<br />

aus dem persischen Hof die ganze Welt, aus dem<br />

Schicksal <strong>der</strong> georgischen Königin theatrum m<strong>und</strong>i. Der Auftritt<br />

<strong>der</strong> Ewigkeit ist ein Auftritt im emphatischen Sinne, denn sie<br />

landet vom Himmel kommend auf <strong>der</strong> Bühne:<br />

Die Ewigkeit kommet von dem Himmel/vnd bleibet auff dem<br />

Schau-Platz stehen. 10<br />

Buchstäblich sub specie aeternitatis vergeht mit ihrem Auftritt<br />

<strong>das</strong> Sein zu Schein. Körper <strong>und</strong> die Requisiten des Königtums,<br />

Krone, Zepter <strong>und</strong> Schwert, liegen ihr zu Füßen. Deren Macht<br />

<strong>und</strong> Bestand schrumpfen angesichts ihrer unendlichen Dauer<br />

zum Nichts. Der erste einer Serie von Kupferstichen (Abb. 9) 11 ,<br />

welcher anlässlich einer Aufführung am Hofe des Herzogs<br />

Christian von Wohlau entstand, zeigt, wie die Struktur <strong>der</strong> barocken<br />

Verwandlungsbühne dieses Moment des theatrum m<strong>und</strong>i<br />

umsetzt. Auf dem Boden <strong>der</strong> Vor<strong>der</strong>bühne liegen verstreut die<br />

Requisiten <strong>der</strong> Vergänglichkeit, im Bühnenhimmel thront die<br />

Ewigkeit <strong>und</strong> auf <strong>der</strong> Hinterbühne züngelt <strong>der</strong> Höllendrache<br />

hervor. Zusammengehalten wird alles durch die perspektivische<br />

Flucht, <strong>der</strong> alles entspringt <strong>und</strong> gleichzeitig zustrebt.<br />

Ähnlich wie in Cal<strong>der</strong>óns Großem Welt<strong>theater</strong>, in dem ja ein<br />

ganzes Menschenleben auch nicht länger als eine kurze Theateraufführung<br />

dauert, rücken vor den Augen <strong>der</strong> Ewigkeit<br />

Anfang <strong>und</strong> Ende, Geburt <strong>und</strong> Tod, Auf- <strong>und</strong> Abtritt so nahe<br />

10<br />

Ebd., S. 139.<br />

11<br />

Ebd., Abb. 6 zwischen S. VIII <strong>und</strong> S. IX. Zu dieser Aufführung vgl. Harald Zielske,<br />

„Andreas Gryphius’ ‚Catharina von Georgien‘ auf <strong>der</strong> Bühne. Zur Aufführungspraxis<br />

des schlesischen Kunstdramas“, in: Maske <strong>und</strong> Kothurn 17 (1971), S. 1–17; <strong>der</strong>s., „Andreas<br />

Gryphius’ Trauerspiel ‚Catharina von Georgien‘ als ‚Festa Teatrale‘ des Barock-Absolutismus“,<br />

in: Bärbel Rudin (Hg.), F<strong>und</strong>e <strong>und</strong> Bef<strong>und</strong>e zur schlesischen Theatergeschichte,<br />

Bd. 1: Theaterarbeit im gesellschaftlichen Wandel dreier Jahrh<strong>und</strong>erte, Dortm<strong>und</strong>: Veröffentlichungen<br />

<strong>der</strong> Forschungsstelle Ostmitteleuropa 1983, S. 1–32.<br />

Abb. 9<br />

Johann Using, Illustrationen zu Andreas Gryphius’<br />

Trauerspiel ‚Catharina von Georgien‘ (Blatt 1), 1655<br />

zusammen, <strong>das</strong>s zu Handeln <strong>und</strong> Leben eigentlich gar keine<br />

Zeit mehr bleibt, <strong>das</strong>s Leben eigentlich nur noch in Auf- <strong>und</strong><br />

Abtreten besteht. Bei Gryphius ist diese nichtende Wirkung<br />

genauso sehr dem Blick <strong>der</strong> Ewigkeit wie ihrem physischen<br />

Auftreten geschuldet:<br />

EWIGKEIT: Schaut Arme! schaut was ist diß Threnenthal<br />

Ein FolterHauß/da man mit Strang vnd Pfahl<br />

Vnd Tode schertzt. Vor mir ligt Printz <strong>und</strong> Crone<br />

Ich tret auff Zepter vnd auff Stab vnd steh auff Vater vnd<br />

dem Sohne<br />

Schmuck/Bild/Metall vnd ein gelehrt Papir/<br />

Ist nichts als Sprew vnd leichter Staub vor mir.<br />

Hir über euch ist diß waß ewig lacht!<br />

Hir vnter euch was ewig brennt vnd kracht.<br />

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Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Diß ist mein Reich/wehlt/was jhr wündschet zu besitzen.<br />

(I 65–73)<br />

Der Fall hoher Häupter, <strong>der</strong>, wie die barocken Poetiken nicht<br />

müde werden zu betonen, <strong>das</strong> Sujet des Trauerspiels bildet, ist<br />

unmittelbare Funktion des Auftretens <strong>der</strong> Ewigkeit. Diese Dramaturgie<br />

des Fallens wird von ihr in Szene gesetzt <strong>und</strong> orchestriert.<br />

Aber auch <strong>das</strong> Antidot gegen die ubiquitäre Vergänglichkeit,<br />

die Beständigkeit als irdisches Abbild <strong>der</strong> Ewigkeit, folgt<br />

ihrer Regie – <strong>und</strong> auch wie<strong>der</strong> recht buchstäblich. Denn die<br />

Ewigkeit verabschiedet sich bald, da hier ihres Bleibens nicht ist:<br />

EWIGKEIT: Schauplatz <strong>der</strong> Sterbligkeit/Ade! ich werd auff<br />

meinen Thron entrücket<br />

Die werthe Fürstin folget mir die schon ein höher Reich<br />

erblicket/<br />

Die in den Banden frey/nicht jrrdisch auff <strong>der</strong> Erd/<br />

Die stritt vnd lid für Kirch vnd Thron vnd Herd. (I 81–84)<br />

Ihr folgt nach Catharina von Georgien, „die schon ein höher<br />

Reich erblicket“. Somit ist die gesamte Dramaturgie ihres Martyriums<br />

als Nachfolge figuriert, nicht nur als Nachfolge Christi,<br />

son<strong>der</strong>n eben auch als Nachfolge des auftretenden Abtritts <strong>der</strong><br />

Ewigkeit; d.h. eines Auftritts, <strong>der</strong> aufgr<strong>und</strong> <strong>der</strong> im Angesicht<br />

<strong>der</strong> Ewigkeit fliehenden Zeit sogleich zum Abtritt wird. Die<br />

Ewigkeit tritt eigentlich nur auf, um abzutreten, insofern sie<br />

den Boden, auf dem sie zu stehen kommt, zunichtemacht. Im<br />

Vergleich dazu bleibt die sterbliche Catharina etwas länger,<br />

aber nur so lange, um „auff den Schauplatz vnsers Vaterlandes<br />

[zu treten]/vnd […] in jhrem Leib vnd Leiden ein vor dieser Zeit<br />

kaum erhöretes Beyspiel vnaußsprechlicher Beständigkeit<br />

[darzustellen]“, wie die Vorrede eröffnet. Beständigkeit bezeichnet<br />

also <strong>das</strong> kurze Innehalten zwischen Auf- <strong>und</strong> Abtritt; <strong>das</strong><br />

Stehen, <strong>das</strong> sich dem nichtenden Blick <strong>der</strong> Ewigkeit entgegenstemmt<br />

bzw. solange aushält, um, mit Cal<strong>der</strong>ón zu sprechen,<br />

‚gut zu handeln‘ o<strong>der</strong>, mit Gryphius, um ‚ihre heilig-ewige<br />

Liebe mit ihrem Blut herauszustreichen‘ (S. 133). Catharinas<br />

letzter, apokalyptischer Auftritt, welcher sich als Vision von<br />

Chah Abas’ schlechtem Gewissen einstellt, gleicht dem <strong>der</strong><br />

Ewigkeit: Der Himmel öffnet sich, <strong>und</strong> <strong>das</strong> „Beyspiel vnaußsprechlicher<br />

Beständigkeit“ erscheint in <strong>der</strong> transfigurierten<br />

Gestalt ihres wie<strong>der</strong>erstandenen <strong>und</strong> unsterblichen Leibes.<br />

Eingegangen ins ewige Leben, kann ihr Auftritt im Diesseits<br />

<strong>der</strong> Bühne nicht von Dauer sein, <strong>und</strong> so endet <strong>das</strong> Stück, <strong>das</strong><br />

nach ihr benannt ist.<br />

IV. Auftritte von unten: Das Theater Senecas<br />

Insofern <strong>das</strong> theatrum m<strong>und</strong>i zwischen Himmel <strong>und</strong> Hölle eingeschoben<br />

ist, werden die Auf- <strong>und</strong> Abtritte darin nicht nur von<br />

oben orchestriert, son<strong>der</strong>n auch von unten. Die prominenteste<br />

Theatertradition, welche eine solche Auftrittsregie von unten<br />

in Szene setzt <strong>und</strong> damit frühneuzeitliche Theaterkultur über<br />

die Kultur-, Glaubens- <strong>und</strong> Sprachgrenzen hinweg geprägt hat,<br />

ist nicht zufällig <strong>das</strong> senecanische Theater. Auch Senecas Theater<br />

ist Welt<strong>theater</strong>, nur führt nicht Gott die Regie, son<strong>der</strong>n<br />

chtonische Mächte, welche die dramatischen Figuren bei dem<br />

Schmieden ihrer Rachepläne leiten – weshalb man vielleicht<br />

besser von ‚Unter<strong>welt</strong><strong>theater</strong>‘ reden sollte. Statt eine <strong>der</strong> vielen<br />

frühneuzeitlichen Rachetragödien à la Seneca zu behandeln,<br />

sei es mir gestattet, ad fontes zu gehen, <strong>und</strong> zwar zu Senecas<br />

Thyestes, dessen Prolog Auskunft darüber gibt, wie ein Theater<br />

aussieht, <strong>das</strong> von den Mächten <strong>der</strong> Unter<strong>welt</strong> dirigiert wird.<br />

Denn in diesem Prolog inszeniert <strong>das</strong> Stück, wie Allesandro<br />

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Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

Schiesaro elegant gezeigt hat, seine eigene Entstehung. 12 Er<br />

beginnt mit dem Auftritt von Tantalus’ Schatten, dem Ahnvater<br />

des Geschlechts, dessen Verbrechen Gegenstand <strong>der</strong> folgenden<br />

Tragödie ist:<br />

TANTALI UMBRA: Quis inferorum sede ab infausta<br />

extrahit<br />

auido fugaces ore captantem cibos?<br />

quis male deorum Tantalo inuisas domos<br />

ostendit iterum? peius inuentum est siti<br />

arente in <strong>und</strong>is aliquid et peius fame<br />

hiante semper? (Thyestes 1–6)<br />

SCHATTEN DES TANTALUS: Wer reißt aus <strong>der</strong> Unterirdischen<br />

unseligen Stätte ihn, <strong>der</strong> mit gierigem M<strong>und</strong>e nach <strong>der</strong> entschwindenden<br />

Speise hascht? Wer unter den Göttern zeigt Tantalus<br />

sein zum Unheil erblicktes Haus von neuem? Wurde<br />

Schlimmeres erf<strong>und</strong>en als dörren<strong>der</strong> Durst inmitten <strong>der</strong> Wellen,<br />

Schlimmeres als immer gähnen<strong>der</strong> Hunger?“ (Thyestes 1–6) 13<br />

Mit seinen ersten Worten, sozusagen seinen Auftrittsversen,<br />

mit denen er seine Identität, seine Herkunft <strong>und</strong> den Ort des<br />

Geschehens bezeichnet, bek<strong>und</strong>et Tantalus seine Verw<strong>und</strong>erung<br />

über sein Erscheinen in <strong>der</strong> Ober<strong>welt</strong>. Als Toter ist sein<br />

Platz die Unter<strong>welt</strong>, den Augen <strong>der</strong> Menschen verborgen, aber<br />

auf <strong>der</strong> Ober<strong>welt</strong> hat er eigentlich nichts zu suchen. Und doch<br />

ist er hier. Offensichtlich nicht aus eigener Kraft <strong>und</strong> gegen seinen<br />

Willen. Tantalus ist auf die Erde gerufen worden, um die<br />

Verbrechen seiner Nachkommen anschauen zu müssen; ein<br />

12<br />

Für <strong>das</strong> Folgende vgl. die ersten beiden Kapitel seines Buches The Passions in Play:<br />

Thyestes and the Dynamics of Senecan Drama, Cambridge: Cambridge University Press<br />

2003, S. 8–69.<br />

13<br />

Seneca, Sämtliche Tragödien, übers. <strong>und</strong> hg. v. Theodor Thomann, Zürich/Stuttgart:<br />

Artemis Verlag 1969, Bd. II, S. 107. Im Folgenden zitiere ich Original <strong>und</strong> Übersetzung<br />

nach dieser Ausgabe mit Verszahl im Text zitiert.<br />

Anblick, <strong>der</strong> ihn mindestens genauso sehr quält wie die unausgesetzten<br />

<strong>und</strong> unvorstellbaren Torturen, zu denen er im Hades<br />

verdammt ist.<br />

Indem Tantalus sein unfreiwilliges Erscheinen thematisiert,<br />

kommentiert er auch seinen eigenen Auftritt auf <strong>der</strong> Bühne<br />

<strong>und</strong> darüber hinaus seinen Status als dramatische Figur. Dabei<br />

erweist sich Auftreten – paradigmatisch für Senecas Theater –<br />

als Wie<strong>der</strong>kehr von den Toten, als re-entry sozusagen, <strong>und</strong> die<br />

Bühne als liminaler Raum, dessen Grenze auch die Schwelle<br />

zwischen Ober- <strong>und</strong> Unter<strong>welt</strong>, zwischen dem Reich <strong>der</strong><br />

Lebenden <strong>und</strong> dem Reich <strong>der</strong> Toten ist. Wie bei ‚richtigen‘ Geistern<br />

sind dem Auftritt bzw. Erscheinen <strong>der</strong> dramatischen Figuren<br />

enge Grenzen gesetzt. Existenzrecht haben sie nur für die<br />

Dauer ihrer Beschwörung; <strong>und</strong> genau <strong>das</strong> ist, was dramatische<br />

Dichtung bei Seneca tut. Sein Theater ist voll von Figuren, die<br />

die Verwandtschaft von Prophetie <strong>und</strong> Dichtung, von vates <strong>und</strong><br />

carmen, verkörpern <strong>und</strong> ausagieren. Beispielhaft führt <strong>das</strong> Kreons<br />

Schil<strong>der</strong>ung einer Geisterbeschwörung im Oedipus vor. 14 In<br />

einem „Hain, von Steineichen dunkel, im Umkreis eines Tales,<br />

<strong>das</strong> Dirke bewässert“, <strong>der</strong> dem gleicht, in dem Atreus seinen<br />

unaussprechlichen Frevel begeht, spricht ein Priester (sacerdos,<br />

548), <strong>der</strong> zugleich als Seher (vates, 552) bezeichnet wird, die<br />

„gültigen Worte“ (rata verba) <strong>und</strong> eröffnet damit „den Völkern<br />

des Dis […] einen Weg zur Ober<strong>welt</strong>“ (572f.). Es erscheinen die<br />

Geister von Zethus, Amphion, Niobe, Agaue mit den an<strong>der</strong>en<br />

Bacchantinnen, Pentheus: alles Figuren <strong>der</strong> griechischen Tragödie.<br />

Als letztes erscheint Laius, um mit „rasendem M<strong>und</strong>e“<br />

(626) die scelera von Sohn <strong>und</strong> Frau <strong>und</strong> sich als Urheber <strong>der</strong><br />

als Rache geschickten Pest zu offenbaren. So bahnt <strong>der</strong> Dichter<br />

seinen dramatischen Figuren, die ja ausnahmslos <strong>der</strong> Vergangenheit<br />

<strong>und</strong> damit <strong>der</strong> Unter<strong>welt</strong> angehören, einen Weg in<br />

14<br />

Ebd., Bd. II, S. 69. .<br />

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Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

die Ober<strong>welt</strong> <strong>und</strong> lässt sie zum Schrecken <strong>der</strong> Zuschauer auf<br />

<strong>der</strong> Erde auftreten. 15<br />

Im Prolog von Thyestes ist es die Furie, welche diese Funktion<br />

übernimmt <strong>und</strong> für den Auftritt des Tantalus verantwortlich<br />

ist. Sie hat ihn aus <strong>der</strong> Unter<strong>welt</strong> zurückgerufen, um ihr<br />

bei <strong>der</strong> Orchestrierung <strong>der</strong> Ereignisse zur Hand zu gehen. Die<br />

Furie will, <strong>das</strong>s Tantalus neue Verbrechen, neue schreckliche<br />

scelera hier auf Erden bzw. in seinem Haus entfacht:<br />

FURIA: Perge, detestabilis<br />

umbra, et penates impios furiis age.<br />

certetur omni scelere et alterna vice<br />

stringatur ensis. nec sit irarum modus<br />

pudorue; mentes caecus instiget furor,<br />

rabies parentum duret et longum nefas<br />

eat in nepotes. nec vacet cuiquam vetus<br />

odisse crimen: semper oriatur novum,<br />

nec unum in uno, dumque punitur scelus,<br />

crescat. (23–32)<br />

FURIE: Nur immer zu, verabscheuenswürdiger Schatten, laß<br />

die Furien kommen über deine unfrommen Penaten. Sie sollen<br />

wetteifern in jedem Verbrechen <strong>und</strong> wechselweise <strong>das</strong><br />

Schwert zücken; ihr Zorn kenne nicht Maß noch Scham, ihre<br />

Sinne stachle blindes Rasen auf, Tollwut <strong>der</strong> Verwandten<br />

währe, <strong>und</strong> stetige Schuld gehe auf ihre Enkel über, keiner<br />

finde Muße vergangenen Frevel zu hassen: stets erstehe ein<br />

neuer <strong>und</strong> nicht nur in einem: indes ein Verbrechen bestraft<br />

wird, wuchere es weiter. (23–32)<br />

15<br />

Es zeigt sich dabei auch, <strong>das</strong>s Senecas Unter<strong>welt</strong><strong>theater</strong> wie <strong>das</strong> Welt<strong>theater</strong> Cal<strong>der</strong>ons<br />

im Kern Revue<strong>theater</strong> ist, in welchem die Auftritte <strong>der</strong> Figuren eher parataktisch<br />

als hypotaktisch verknüpft sind. Diese Termini verdanke ich Juliane Vogel, mit<br />

<strong>der</strong> ich zusammen ein Buch zur Geschichte des Auf- <strong>und</strong> Abtretens im europäischen<br />

Theater schreibe.<br />

Im Folgenden beschreibt die Furie dann genüsslich <strong>und</strong> ausführlich,<br />

wie um Tantalus zu quälen, die scelera des Tantalidengeschlechts,<br />

die im Trojanischen Krieg <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ermordung von<br />

Agamemnon, dem Sohn von Atreus, münden. Einen Teil dieser<br />

scelera bildet natürlich die Handlung, welche die folgende<br />

Tragödie inszeniert. Die Dramaturgie <strong>der</strong> scelera folgt dabei<br />

einem von <strong>der</strong> Furie genau bezeichneten Gesetz. Es ist <strong>das</strong> <strong>der</strong><br />

überbietenden Wie<strong>der</strong>holung. Je<strong>der</strong> Frevel will gerächt sein,<br />

<strong>und</strong> so wie<strong>der</strong>holt <strong>und</strong> überbietet die Rache <strong>das</strong>, was gerächt<br />

werden soll, <strong>und</strong> wird dabei selbst zum Frevel. Auf diese Weise<br />

werden Opfer zu Tätern, um dann wie<strong>der</strong> Opfer zu werden.<br />

Unter dem Zwang dieser furiosen Wie<strong>der</strong>holung bleibt keiner<br />

frei von Schuld. So pflanzt sich <strong>der</strong> Fluch, <strong>der</strong> auf Tantalus lastet,<br />

auf seinen Enkel Atreus fort, <strong>der</strong> deshalb gar nicht an<strong>der</strong>s<br />

kann als den Frevel seines Großvaters zu reinszenieren – wie<br />

die Furie nicht vergisst zu betonen:<br />

FURIA: Liberum dedimus diem<br />

tuamque ad istas solvimus mensas famem:<br />

ieiunia exple! mixtus in Bacchum cruor<br />

spectante te potetur. inveni dapes<br />

quas ipse fugeres. siste, quo praeceps ruis? (63–67)<br />

FURIE: Wir haben dir einen freien Tag gewährt <strong>und</strong> deinen<br />

Hunger zu diesem Gelage entfesselt: Halte dein Fasten schadlos;<br />

vermischt mit des Bacchus Gabe laß Blut vor deinen Augen<br />

trinken; ersonnen habe ich einen Schmaus, vor dem selbst du<br />

fliehen würdest – halt ein, wohin stürzt du Kopf voran? (63–67)<br />

Auf die furiose Invention <strong>der</strong> Greueltaten seiner beiden Enkel,<br />

beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Schlachtung, Zubereitung <strong>und</strong> Verspeisung <strong>der</strong><br />

Söhne des Thyestes, reagiert Tantalus trotz seines unermesslichen<br />

Hungers mit Ekel <strong>und</strong> Entsetzen <strong>und</strong> will fliehen:<br />

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Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

TANTALI UMBRA: Ad stagna et amnes et recedentes aquas<br />

labrisque ab ipsis arboris plenae fugas.<br />

abire in atrum carceris liceat mei<br />

cubile; liceat, si parum videor miser,<br />

mutare ripas: alueo medius tuo,<br />

Phlegethon, relinquar igneo cinctus freto.<br />

[…] quando continget mihi<br />

effugere superos? (68–73/82–83)<br />

SCHATTEN DES TANTALUS: Zu den Teichen, zu den Strömen,<br />

den zurückweichenden Wassern <strong>und</strong> zum fruchtbeladenen<br />

Baum, <strong>der</strong>, meinen Lippen nahe, flieht. Zurückzukehren<br />

zu meines Kerkers finsterer Lagerstatt sei mir erlaubt, erlaubt,<br />

wenn ich zu wenig elend scheine, zu tauschen die Ufer; mitten<br />

in deinem Bett, o Phlegethon, lasse man mich zurück, von feuriger<br />

Brandung umringt. […] Wann wird mir vergönnt sein, <strong>der</strong><br />

Ober<strong>welt</strong> zu entrinnen? (68–73/ 82–83)<br />

Doch die Furie verhin<strong>der</strong>t seine Flucht <strong>und</strong> Abtreten:<br />

FURIA: Ante perturba domum,<br />

inferque tecum proelia et ferri malum<br />

regibus amorem; concute insano ferum<br />

pectus tumultu. (83–86)<br />

FURIE: Zuerst stürze in Verwirrung dein Haus, bringe mit dir<br />

Kampf <strong>und</strong> seinen Königen böse Liebe zum Eisen, erschüttere<br />

mit wahnwitzigem Aufruhr ihr wildes Herz. (83–86)<br />

Nach kurzem Wi<strong>der</strong>stand kapituliert Tantalus vor den unsubtilen<br />

‚Überredungskünsten‘ <strong>der</strong> Furie: „Sequor (Ich folge dir)“<br />

(100); <strong>und</strong> kommuniziert seinen Enkeln die ihm eigene Wut:<br />

FURIA: Hunc, hunc furorem diuide in totam domum.<br />

sic, sic ferantur et suum infensi invicem<br />

sitiant cruorem. Sentit introitus tuos<br />

domus et nefando tota contactu horruit. (101–104)<br />

FURIE: Solche, ja solche Raserei teile dem ganzen Hause mit.<br />

Wie du, wie du sollen sie sich mitreißen lassen <strong>und</strong> einan<strong>der</strong><br />

feind, je<strong>der</strong> nach des an<strong>der</strong>n Blute dürsten. Deinen Eintritt verspürt<br />

<strong>das</strong> Haus, es erschau<strong>der</strong>te durch <strong>und</strong> durch von <strong>der</strong> ruchlosen<br />

Berührung. (101–104)<br />

Indem sein Furor Einzug in sein Haus hält, hat Tantalus seinen<br />

Dienst getan, <strong>und</strong> die Furie heißt ihn endlich abtreten: 16<br />

FURIA: Actum est ab<strong>und</strong>e. gra<strong>der</strong>e ad infernos specus<br />

amnemque notum; iam tuum maestae pedem<br />

terrae gravantur […]. (105–107)<br />

FURIE: Getan ist übergenug. Geh zu den unterirdischen Höhlen<br />

<strong>und</strong> dem vertrauten Strom; schon erträgt unwillig deinen<br />

Fuß die trauernde Erde… (105–107)<br />

Was <strong>der</strong> Prolog deutlich macht, sind die gegenläufigen kreativen<br />

Kräfte, welche die In-Szene-Setzung <strong>der</strong> Handlung bedingen.<br />

Der Sieg <strong>der</strong> Furie ist <strong>der</strong> Sieg des poetischen Furor, <strong>der</strong><br />

in <strong>der</strong> inventio <strong>der</strong> Furie mit dem <strong>der</strong> Rache zusammenfällt.<br />

Unterlegen sind die Kräfte <strong>der</strong> Mäßigung, welche Tantalus als<br />

Bestrafter <strong>und</strong> Ernüchterter vertritt. Doch behielte Tantalus die<br />

Oberhand, wäre er in <strong>der</strong> Lage, sich <strong>der</strong> Furie zu wi<strong>der</strong>setzen,<br />

gäbe es keine Tragödie. Nur weil die Furie Tantalus überwindet<br />

<strong>und</strong> ihn mit ihrem Furor ansteckt, den er an seine Nach-<br />

16<br />

Die Forschungsliteratur ist sich uneinig, ob Tantalus tatsächlich abtritt o<strong>der</strong> ob er<br />

Zeuge <strong>der</strong> folgenden Handlung wird.<br />

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Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

kommen weitergibt, entspinnt sich die Serie <strong>der</strong> scelera auf <strong>der</strong><br />

Bühne. Dabei gehorchen die Akteure, allen voran Tantalus,<br />

einer furiosen Auftrittslogik. Insofern ‚folgt‘ (100) Tantalus <strong>der</strong><br />

Furie, als er ihr gehorcht; <strong>und</strong> Tantalus’ Furor bekommt „Eintritt“<br />

(103) in seines Enkels Haus. Von <strong>der</strong> Furie inspiriert, von<br />

Zorn <strong>und</strong> Rache getrieben, sind die Aktionen <strong>und</strong> Auftritte <strong>der</strong><br />

dramatischen Figuren, vor allem die von Atreus, dem Regisseur<br />

des Racheplots, in hohem Maße leidenschaftlich. Nie ganz<br />

sich selbst mächtig, unterliegen sie abwechselnd psychologischer<br />

Motivation <strong>und</strong> numinoser Kontrolle.<br />

Kurz: Die Tragödie wird nach dem Skript <strong>der</strong> Furie gespielt.<br />

Atreus, <strong>der</strong> sich als Autor seiner Intrige begreift, ist auch nur<br />

ein ‚player [that] plays his part‘. Zwar glaubt Atreus, die Auftrittsregie<br />

zu führen, doch folgt er nur dem Furor, <strong>der</strong> in sein<br />

Haus eintritt:<br />

ATREUS: Excede, Pietas, si modo in nostra domo<br />

umquam fuisti. dira Furiarum cohors<br />

discorsque Erinys veniat et geminas faces<br />

Megaera quatiens: non satis magno meum<br />

ardet furore pectus, impleri iuvat<br />

maiore monstro. (249–254)<br />

ATREUS: Geh, Erbarmen, wenn je du in unserem Hause<br />

gewohnt hast. Der Furien scheußliche Kohorte, die zwieträchtige<br />

Erinye komme <strong>und</strong> Megära, beide Fackeln schwingend:<br />

nicht groß genug die Raserei, von <strong>der</strong> mein Herz erglüht. Erfüllen<br />

soll mich eine noch größere Ungeheuerlichkeit. (250–254)<br />

Nicht Atreus kontrolliert <strong>das</strong> ‚Abtreten‘ <strong>der</strong> Pietas <strong>und</strong> <strong>das</strong> ‚Eintreten‘<br />

<strong>der</strong> Erinyen, son<strong>der</strong>n eben die Furie. Somit agiert Atreus<br />

mit <strong>der</strong> Verwirklichung seines Racheplans den Wie<strong>der</strong>holungszwang<br />

aus, <strong>der</strong> <strong>das</strong> Denken <strong>und</strong> Handeln des Tantalidengeschlechts<br />

beherrscht <strong>und</strong> hier von <strong>der</strong> Furie implementiert<br />

wird. Damit wird jedoch sein erster ‚großer‘ Auftritt desavouiert,<br />

bei dem er seine absolute Macht an die Verübung von<br />

Rache <strong>und</strong> Frevel knüpft:<br />

ATREUS: Ignave, iners, enervis et (quod maximum<br />

probrum tyranno rebus in summis reor)<br />

inulte […].<br />

Age, anime, fac quod nulla posteritas probet,<br />

sed nulla taceat. aliquod audendum est nefas<br />

atrox, cruentum, tale quod frater meus<br />

suum esse mallet. scelera non ulcisceris,<br />

nisi vincis. (176–178/192–196)<br />

ATREUS: Feiger, Unfähiger, Kraftloser <strong>und</strong>, was ich für die<br />

größte Schmach eines Tyrannen in höchster Machtfülle halte,<br />

Ungerächter! […] Wohlan, mein Mut, verübe, was keine Nach<strong>welt</strong><br />

billigen, keines indes verschweigen mag. Ein Frevel ist zu<br />

wagen, ein greulicher, blutiger, einer, den mein Bru<strong>der</strong> lieber<br />

hätte selbst tun wollen. Verbrechen rächst du nicht, du übertriffst<br />

sie denn. (176–178/192–196)<br />

Auch sein ‚royal entry‘ untersteht somit dieser furiosen Auftrittslogik.<br />

Er ‚folgt‘, nicht an<strong>der</strong>s als sein Bru<strong>der</strong> Thyestes bei<br />

seinem ‚re-entry‘, seinem Nostos in die Stadt, bei dem er aus<br />

Furcht <strong>und</strong> Vorsicht seinen Söhnen den Vortritt gibt: „ich folge<br />

euch, gehe nicht voran“ (489). In gewissem Sinne sind in diesem<br />

Theater <strong>der</strong> Furie entries immer auch re-entries, Handlungen<br />

immer auch Wie<strong>der</strong>holungen <strong>und</strong> alle Inszenierungen<br />

immer auch Heimsuchungen, die einer gespenstischen <strong>und</strong><br />

zwanghaften Logik folgen. Tragisch ist deshalb Senecas Theater<br />

genau in dem Sinne, <strong>das</strong>s es sich als Wie<strong>der</strong>kehr dessen<br />

erweist, was in die Unter<strong>welt</strong> verbannt worden ist <strong>und</strong> am besten<br />

ungezeigt bliebe. Ihren onto-logischen Ort finden diese reentries<br />

<strong>und</strong> revenants im Zwischen, zwischen Ober- <strong>und</strong> Unter-<br />

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Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

<strong>welt</strong>, Diesseits <strong>und</strong> Jenseits, on <strong>und</strong> off, beiden zugehörig <strong>und</strong><br />

in keinem zu Hause, wie <strong>der</strong> Geist von Thyestes deutlich macht,<br />

<strong>der</strong> Senecas Agamemnon eröffnet <strong>und</strong> damit die re-entries des<br />

Atridengeschlechtes seiner Rache unterstellt:<br />

THYESTIS UMBRA: Opaca linquens Ditis inferni loca<br />

adsum prof<strong>und</strong>o Tartari emissus specu,<br />

incertus utras o<strong>der</strong>im sedes magis:<br />

fugio Thyestes inferos, superos fugo. (1–4)<br />

SCHATTEN DES THYESTES: Die dunkeln Räume des unterirdischen<br />

Dis verlassend, bin ich hier, entsandt aus des Tartarus<br />

tiefer Höhle, ungewiß, welchen <strong>der</strong> beiden Sitze ich mehr<br />

hassen soll: ich, Thyestes, fliehe die Unterirdischen, die Irdischen<br />

mache ich fliehen. (1–4) 17<br />

Wir haben es hier also mit einer ganz an<strong>der</strong>en Form von Welt<strong>theater</strong><br />

zu tun, aber mit Welt<strong>theater</strong> nichtsdestotrotz. Was dieses<br />

theatrum m<strong>und</strong>i von dem heiteren <strong>und</strong> gelassenen<br />

Cal<strong>der</strong>ón’scher Prägung unterscheidet, ist seine Furiosität.<br />

Nicht nur die Akteure treten blind <strong>und</strong> leidenschaftlich auf,<br />

son<strong>der</strong>n auch die Autorin <strong>und</strong> Regisseurin dieses Theaters, die<br />

Furie in leibhaftiger Gestalt, hat nur so viel Distanz, um die<br />

Sequenz furioser Auftritte <strong>und</strong> Aktionen loszutreten, indem sie<br />

alle mit ihrem Furor infiziert.<br />

V. Höllische Stellvertreter: Shakespeares Macbeth<br />

Nicht nur Gott hat seine Stellvertreter, die statt seiner Regie<br />

über Auf- <strong>und</strong> Abtritte im theatrum m<strong>und</strong>i führen, son<strong>der</strong>n auch<br />

die Unter<strong>welt</strong> entsendet Helfer, um die Bühnenbewegungen<br />

17<br />

Seneca, Sämtliche Tragödien, Bd. II, S. 185.<br />

<strong>der</strong>er zu dirigieren, die ihr verfallen. Dass sich Shakespeare für<br />

eine solche Auftrittsregie von unten interessierte, macht die<br />

spektrale Dramaturgie von Hamlet deutlich; ein Stück, welches<br />

zudem seine Vertrautheit mit <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> senecanischen<br />

Rachetragödie dokumentiert. 18 In Macbeth sind es die drei<br />

Hexen, die von Anfang an keinen Zweifel daran lassen, wer in<br />

diesem Stück die Regie über Auf- <strong>und</strong> Abtritte führt:<br />

FIRST WITCH: When shall we three meet again?<br />

In th<strong>und</strong>er, lightening, or in rain?<br />

SECOND WITCH: When the hurly-burly’s done,<br />

When the battle’s lost and won.<br />

THIRD WITCH: That will be ere the set of sun.<br />

FIRST WITCH: Where the place?<br />

SECOND WITCH: Upon the heath.<br />

THIRD WITCH: There to meet with Macbeth.<br />

FIRST WITCH: I come, Graymalkin!<br />

SECOND WITCH: Paddock calls.<br />

THIRD WITCH: Anon!<br />

ALL: Fair is foul, and foul is fair.<br />

Hover through the fog and filthy air. (I.1.1–12) 19<br />

ERSTE HEXE: Wann kommen wir drei uns wie<strong>der</strong> entgegen,<br />

Im Blitz <strong>und</strong> Donner, o<strong>der</strong> im Regen?<br />

ZWEITE HEXE: Wenn <strong>der</strong> Wirrwarr stille schweigt,<br />

Wer <strong>der</strong> Sieger ist, sich zeigt.<br />

DRITTE HEXE: Das ist, eh’ <strong>der</strong> Tag sich neigt.<br />

ERSTE HEXE: Wo <strong>der</strong> Ort?<br />

ZWEITE HEXE: Die Heide dort.<br />

DRITTE HEXE: Da wird Macbeth sein. Fort, fort!<br />

18<br />

Zu Letzterem vgl. Robert S. Miola, Shakespeare and Classical Tragedy: The Influence<br />

of Seneca, Oxford: Clarendon Press 1992.<br />

19<br />

William Shakespeare, Macbeth, hg. v. Kenneth Muir, The Arden Shakespeare, London:<br />

Methuen 1957, S. 3. Im Folgenden mit Akt-, Szenen- <strong>und</strong> Verszahl nach dieser<br />

Ausgabe zitiert.<br />

114 115


Christopher Wild<br />

Theatrum M<strong>und</strong>i<br />

ERSTE HEXE: Grau Lieschen, ja! ich komme!<br />

ALLE DREI: Unke ruft: – Geschwind –<br />

Schön ist häßlich, häßlich schön:<br />

Schwebt durch Dunst <strong>und</strong> Nebelhöh’n! (1.1.1–12) 20<br />

Der erste Auftritt <strong>der</strong> drei Hexen <strong>und</strong> damit die erste Szene des<br />

Stücks besteht darin, <strong>das</strong>s sie sich über ihren nächsten Auftritt<br />

verständigen. Mit an<strong>der</strong>en Worten geht es ihnen um die<br />

Bestimmung <strong>der</strong> Bedingungen ihres re-entry; darum, welche<br />

meteorologischen Bedingungen herrschen sollen, zu welchem<br />

Zeitpunkt innerhalb <strong>der</strong> intradiegetischen Handlungssequenz,<br />

nämlich nach <strong>der</strong> Schlacht von Fife, zu welcher Tageszeit, an<br />

welchem Ort <strong>und</strong> schließlich zu welchem Zweck, nämlich um<br />

Macbeth zu treffen, sie wie<strong>der</strong>kommen wollen. Ihre ausführliche<br />

<strong>und</strong> ostentative Diskussion ihres nächsten Auftritts macht<br />

deutlich, <strong>das</strong>s die Hexen in diesem Stück die Regie führen; <strong>das</strong>s<br />

sie zuständig dafür sind, wer, wann, wo <strong>und</strong> – vielleicht am<br />

wichtigsten – als was auftritt. 21 Dass die Hexen die traditionellen<br />

Auftrittsprotokolle beherrschen, zeigt sich am Anfang ihres<br />

re-entry, wenn sie sich gegenseitig erzählen, woher sie kommen<br />

<strong>und</strong> was sie gemacht haben. Die erste Hexe will sich nämlich<br />

für eine Beleidigung an einer „sailor’s wife“ damit rächen, <strong>das</strong>s<br />

sie die Heimkehr ihres Mannes, <strong>der</strong> „master o’ th’ Tiger“ ist,<br />

durch <strong>das</strong> Heraufbeschwören eines Sturmes verhin<strong>der</strong>t o<strong>der</strong><br />

zumindest verzögert. Dabei ist nicht klar, ob dieser Plan viel-<br />

20<br />

William Shakespeare, Macbeth, übers. v. Dorothea Tieck, in: Dramatische Werke,<br />

Bd. 3, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg 1957. Im Folgenden mit Akt-, Szenen<strong>und</strong><br />

Verszahl nach dieser Ausgabe zitiert.<br />

21<br />

Wie Stephen Orgel bemerkt hat, sind die Hexen eng mit dem Theater assoziiert. Sie<br />

tanzen <strong>und</strong> singen, erscheinen <strong>und</strong> verschwinden plötzlich, fliegen, produzieren W<strong>und</strong>er<br />

<strong>und</strong> Visionen – kurz, sie tun all <strong>das</strong>, was ein frühneuzeitlicher Zuschauer vom<br />

Theater erwarten konnte. In ähnlicher Weise spiegelt ihre unbestimmbare geschlechtliche<br />

Identität die Mobilität von Geschlechterrollen im elisabethanischen Theater. Vgl.<br />

Stephen Orgel, „Macbeth and the Antic Ro<strong>und</strong>“, in: <strong>der</strong>s., The Authentic Shakespeare,<br />

and Other Problems of the Early Mo<strong>der</strong>n Stage, New York: Routledge 2002, S. 162.<br />

leicht schon zur Ausführung gekommen ist, denn sie zeigt<br />

ihren zwei Schwestern:<br />

a pilot’s thumb<br />

Wrecked as homeward he did come. (I.3.28–29)<br />

[den] Daum ’nes Lotsen; sinken sah<br />

Ich sein Schiff, dem Land schon nah. (1.3.28–29)<br />

Indem sie die Heimkehr des Seefahrers sabotieren, manipulieren<br />

die „weird sisters“ eines <strong>der</strong> wichtigsten Auftrittsprotokolle<br />

des europäischen Theaters, nämlich <strong>das</strong> des Nostos bzw. <strong>der</strong><br />

Rückkehr, wie es die griechische Tragödie, angefangen mit Aischylos’<br />

Persern <strong>und</strong> seiner Orestie, unzählige Male durchgespielt<br />

<strong>und</strong> an die Epigonen weitergegeben hat. 22<br />

Für keine Figur gilt diese malefikante Auftrittsregie mehr als<br />

für den Titelhelden: Macbeth, dessen Begegnung mit den<br />

Hexen Zweck ihres re-entry ist. Der zukünftige König von<br />

Schottland wird von den Hexen regelrecht herbeizitiert. So bildet<br />

<strong>das</strong> Oxymoron „Fair is foul and foul is fair“ im Abtrittscouplet<br />

<strong>der</strong> Hexen Macbeths erste Worte, als er zum ersten Mal<br />

auf die Bühne tritt:<br />

MACBETH: So foul and fair a day I have not seen. (I.3.38)<br />

MACBETH: So schön <strong>und</strong> häßlich sah ich nie ’nen Tag. (I.3.38)<br />

Damit erweist sich Macbeths Auftritt gewissermaßen als<br />

Echo dieser Worte. Doch die Auftrittsregie <strong>der</strong> Hexen setzt sich<br />

fort: Auf Macbeths Auffor<strong>der</strong>ung an die „weird sisters“, sich zu<br />

22<br />

Vgl. hierfür <strong>das</strong> erste Kapitel <strong>der</strong> Monographie zum Auf- <strong>und</strong> Abtreten im europäischen<br />

Theater, die ich zusammen mit Juliane Vogel schreibe. .<br />

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